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Leibniz Universität HannoverPhilosophische Fakultät Institut für Sportwissenschaften Modul: Vertiefung der Sportwissenschaft: Erziehungs- sozial- und gesellschaftswiss.
Sporttheorie (Sport und Erziehung)Seminar: Trendsport in der Schule Dozent: Dr. Arno MeyerSommersemester 2013
Parkour als Trendsportart?
Eine sportsoziologische und -pädagogische Annäherung
Steffen Winkelmann Matrikelnummer: [email protected]ächerübergreifender Bachelor Deutsch/Sport7. Semester
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung .................................................................................................................. S. 3
2. Definition und Verortung …........................................................................................ S. 4
2.1. Parkour – Historie und heutige Ausprägung …....................................................... S. 4
2.2.1. Semiotisches Modell und allgemeine Merkmale von
Trendsportarten .................................................................................................. S. 8
2.2.2. Trendportfolio ….................................................................................................. S. 11
2.3. Übertrag ................................................................................................................. S. 13
3. Schulpädagogische Potenziale …............................................................................. S. 17
4. Resümee …............................................................................................................... S. 19
Literaturverzeichnis ....................................................................................................... S. 21
Erklärung der Selbstständigkeit …................................................................................. S. 22
1. Einleitung
Die vorliegende Hausarbeit beinhaltet eine Auseinandersetzung mit Parkour. Es ist anzu-
nehmen, dass eine breite Masse von Menschen zumindest eine Vorstellung zu diesem
Begriff hat, und auch in der sportpädagogischen und -wissenschaftlichen Diskussion ist
diese Bewegungsform zum Gegenstand gereift. Nicht zuletzt die Fülle von Publikationen
aus variierenden wissenschaftlichen Gebieten belegt dies.
Es werden die Schwerpunkte Parkour und Trendsport fokussiert, die nicht nur in der
Literatur, sondern auch im alltäglichen Sprachgebrauch und den Medien häufig in
Kombination genannt werden. Die Akteure der Bewegungsform stehen dem oftmals ableh-
nend gegenüber, man befürchtet eine Entwicklung ähnlich dem Snowboarden, das mittler-
weile in verschiedenen Variationen zur olympischen Disziplin gemacht wurde (vgl. DI PO-
TENZA, 2010, S.4). Doch woher rührt dieses Unbehagen, sobald ein Trend thematisiert
wird? Welche definitorische Arbeit kann geleistet werden, um mehr Klarheit und
Differenzierung in die Begrifflichkeiten zu bringen?
Um einerseits ein solides Informationsfundament zu gewährleisten und andererseits einen
Neueinstieg in die Materie zu erleichtern, werden in der Arbeit diverse thematische
Unterteilungen vorgenommen. So soll zunächst die Genese von Parkour nachgezeichnet
und heutige Ausprägungen als Bewegungskultur dargestellt werden. Im weiteren Verlauf
soll eine Näherung an den Trendbegriff und das resultierende Kompositum Trendsport
erfolgen. Der diese beiden historisch bzw. soziologisch orientierten Ausführungen
enthaltende Teil bildet die Grundlage, auf der die weiteren Überlegungen aufbauen und
eine pädagogische Perspektive eingenommen wird. Es soll aufgezeigt werden, inwieweit
sich gerade Parkour als Unterrichtsgegenstand im Rahmen der Einbettung von
Trendsportarten ins Schulleben eignet, welche Kontroversen dabei entstehen und welche
pädagogischen Potentiale genutzt werden können.
Als griffig formuliertes Ziel sei genannt, einen fundierten theoretischen Zugang zu
Parkour zu schaffen, den Diskurs um den Gebrauch des Tendsportbegriffs in diesem
Kontext zu beleuchten und eine differenzierte Auseinandersetzung mit
(schul)pädagogischen Fragestellungen zu präsentieren.
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2. Definition und Verortung
In einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung bedarf es klarer Definitionen der Gegen-
stände, über die gesprochen wird. Sie gewährleisten, dass alle Teilnehmer einer Debatte
ihre Position auf gleicher Grundlage entwickeln. Eine absolute und allgemeingültige Be-
deutung des Begriffes Parkour festzulegen ist schwer möglich. Im Folgenden sollen
ausgewählte Ansätze angeführt werden, um aufzuzeigen, wie facettenreich sich ein Zu-
gang gestalten kann. Dabei kann nicht auf Instanzen verwiesen werden, deren Standpunk-
te oder Erklärungen als final und übergreifend verbindlich anzusehen sind. Vielmehr wird
neben Fachliteratur genauso auf die Ausführungen und Darlegungen von Personen und
Organisationen Bezug genommen, die als exemplarisch und in besonderem Maße rele-
vant angesehen werden. Die Auswahl jener stellt zu einem gewissen Grad einen Akt sub-
jektiver Färbung dar, somit ist an dieser Stelle kein Anspruch auf uneingeschränkte Objek-
tivität gegeben. Zudem heben die folgenden Ausführungen Aspekte in der Entwicklung die-
ser Bewegungsform hervor, auf die in der gängigen Literatur nach Meinung des Verfassers
dieser Arbeit nicht ausreichend eingegangen wird.
2.1. Parkour – Historie und heutige Ausprägung
Als historische Wurzel gilt die Méthode Naturelle des französischen Offiziers George Hé-
bert, der von 1875 bis 1957 lebte. Es handelt sich um eine Verbindung von körperlichem
Training in natürlichem Terrain mit Idealen wie Mut, altruistischem Handeln und einem
Nützlichkeitsgedanken (vgl. WITFELD, GERLING, PACH, 2010, S. 20). Der Übertrag der Ideen
Héberts in die Ausbildungspraxis des französischen Militärs war grundlegend dafür, dass
im Vietnam der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts Raymond Belle begann, seine
körperlichen und mentalen Fähigkeiten zu trainieren. Im Alter von sieben Jahren wurde er
von seinem Onkel als Kindersoldat in einer Militärschule untergebracht (vgl. BELLE, 2009a,
S. 10). Als treibende Motivation des Bewegungstrainings galt für den jungen Belle, in
Übereinstimmung mit der militärischen Linie, die Entwicklung zur Wehrhaftigkeit. Da er von
seinem Onkel wiederholt körperlich missbraucht wurde, schwor er sich: „From now on, no
one will ever touch me again“ (ebd., S. 12). Nach dem Krieg halfen ihm seine körperlichen
Fähigkeiten den Dienst in einer renommierten Abteilung der Pariser Feuerwehr anzutreten
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und dort als erste Instanz für risikoreiche und gefährliche Einsätze zu gelten (vgl. ebd., S.
11).
Dieser Exkurs ist obligatorisch, um den Werdegang seines Sohnes David Belle nachvoll-
ziehen zu können, der im Großteil der Publikationen (vgl. u.a. WITFELD, GERLING, PACH,
2010, S. 19; EDWARDS, 2009, S. 8, ROCHHAUSEN, 2010, S. 10) als auch im breiten
Konsens der heutigen Bewegungskultur Parkour als ihr Initiator gilt. Ihm wird zuge-
schrieben, die Bewegung und das Überwinden von Hindernissen aus dem natürlich
gewachsenen Terrain in den urbanen Raum übertragen zu haben. Dass ihn der Fernseh-
bericht des Senders Stade 2 Ende der 90er Jahre als Protagonisten zeigte, ihn gar als
einzigen „maître“1 inszenierte, trug zur Entstehung dieses Bildes bei. Bemerkenswert
hierbei erscheint, dass er diesen Status als Pionier von sich weist: „Some people
nowadays tell me: 'Hey David, you are the creator of Parkour', but I am not! […] I didn't
invent anything“ (BELLE, 2009a, S. 9). Vielmehr unterstreicht er seine Auffassung, im
körperlichen und geistigen Training seines Vaters liege der erste Funke:
„For many, nowadays, parkour is something fun but for my father, it was vital – a matter of life and death. This training would help him get tough, survive through war and protect himself against all odds. My father was very patient, willing, tenacious and dedicated. He would take each obstacle coming his way and find the best way to go across.“ (ebd., S. 21)
Für David Belle handelt es sich bei der körperlichen Überwindung von Hindernissen um
eine explizite Methode des Trainings, die einen Übertrag auf andere Lebensbereiche for-
ciert und zur Handlungsfähigkeit in Problemsituationen befähigen soll (vgl. BELLE, 2009b).
Er weitet den Wirkungsbereich dessen auf seine Mitmenschen aus und verortet sich so in
der Tradition des Altruismus der Méthode Naturelle.2
Der Sportwissenschaftler Markus Luksch wählt einen schlichten Weg, wenn er Parkour als
Idee beschreibt, „[n]ur mit den Fähigkeiten des Körpers von Punkt A effizient zu Punkt B
[zu] gelangen“ (LUKSCH, 2009, S. 5). Im Kern deckt sich dies mit dem Verständnis der im
deutschen Sprachraum etablierten Gemeinschaft ParkourONE, die Parkour als „die Kunst
der effizienten Fortbewegung nur mit den Mitteln des menschlichen Körpers“ (ParkourONE,
2014, S. 1) begreift. Noch knapper spricht Dan Edwards, Mitbegründer der internationalen
Organisation Parkour Generations, von „art of displacement“ (EDWARDS, 2009, S. 8) – der
Kunst der Fortbewegung. Diese Titulierung findet ihre französische Entsprechung in der
1 Der Bericht ist zugänglich unter: http://www.youtube.com/watch?v=_x8kgefaPlk – Zugriff am 12.02.20142 „If you have to use your physical strength, do it for good reasons: rather than robbing a home, use this
energy to help people.“ (BELLE, 2009, S. 16)
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art du déplacement, heute unter anderem vertreten durch die ADD-Academy der französi-
schen Gruppierung Yamakasi.
Eine auf von außen beobachtbare Elemente reduzierte Beschreibung des Phänomens,
das heute weltweit unter der Bezeichnung Parkour stattfindet, kann folgendermaßen lau-
ten: Parkour ist körperliche Fortbewegung durch zumeist urbanen Raum, im Zuge derer
der Praktizierende aufkommende Hindernisse überwindet. Es geht um das Zurücklegen ei-
ner Strecke auf selbstgewähltem Weg, ohne sich dabei durch die vorgegebenen Bewe-
gungsarrangements städtischer Umgebung (bspw. Treppen zur Überwindung von Höhen-
unterschieden, Geländer und Mauern als Begrenzung oder sinngebende Strukturierung
des Raums) einschränken zu lassen.
Eine möglichst holistische Annäherung an Parkour kann sich jedoch nicht auf die beob-
achtbare Bewegung beschränken, sondern muss den Fokus ebenfalls auf die mentale
Komponente richten. Die Mehrheit der Praktizierenden rückt die ganz persönliche
Komponente in den Vordergrund. Dies ermöglicht das Erleben des individuellen Trainings
und aller dabei stattfindenden mentalen Prozesse (wie z.B. Angst, Hemmungen,
Zuversicht, Erfolg und Scheitern) als Zweck an sich, ohne sich an formale Normierung
halten zu müssen. Stéphane Vigroux, ebenso wie Edwards Mitbegründer von Parkour
Generations, kommt zu folgendem Schluss:
„It's more about the attitude you should have during training rather than the exercise itself. The reason we work with Parkour Generations is to make sure people have a better understanding of what is art du déplacement and parkour. […] So we try to keep the values and for us it's a school of life. It is an art where we practice every day. Not only physically, but mentally also. […] Be honest with yourself, face your fears, and share and help people, and just be human, you know?“ (VIGROUX, 2009)
Darüber hinaus gilt Parkour oftmals als untermauert mit ethischen Werten und Selbstver-
ständnissen, die durch die Metapher der fünf Finger bzw. Kernelemente3 Konkurrenzfrei-
heit, Vorsicht, Respekt, Vertrauen, Bescheidenheit (vgl. WIDMER, 2010) pointiert benannt
werden können. Es herrscht ein breiter Konsens der Ablehnung des Wettkampfgedan-
kens, um „unüberlegtes und destruktives Verhalten zu vermeiden“ (LUKSCH, 2009, S. 14)
und die Zuwendung zu einem „Miteinander, was zu weitaus größerer Bereicherung führen
3 In diesem Modell wird jedem Finger eine Symbolkraft zugeschrieben. Der Daumen erinnert an die Abwesenheit von Wettbewerb, der Zeigefinger entspricht der Mahnung zur Vorsicht, der Mittelfinger steht sinnbildlich für den Respekt vor sich, der Umwelt und den Mitmenschen, der Ringfinger symbolisiert Bindung, Beziehung und Vertrauen und der im direkten Vergleich kleinste Finger regt zur Bescheidenheit an.
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kann“ (WITFELD, GERLING, PACH, 2009, S. 32). Zurecht betont ROCHHAUSEN (2010, S. 10)
jedoch, dass dies keinesfalls die vollkommene Abwesenheit von Leistungsvergleichen
bedeutet, vielmehr bezieht sich genannte Ablehnung auf organisierte Wettkämpfe, die im
klassischen Sinne Gewinner und Verlierer definieren müssen. Parkour sei im Rahmen die-
ser Arbeit also als eine zweckgebundene Vereinigung von körperlicher Bewegung mit welt-
anschaulicher Komponente verstanden. Es lassen sich mit der Entstehung von Parcouring
als wettkampfbasierte Sportart und vor allem Trakour als Konzept der didaktisch-methodi-
schen Aufarbeitung für Sportvereine (vgl. Bayerischer Turnverband, 2011) Indikatoren für
eine partielle Integration in das „Teilsystem Sport“ (BREUER u. SANDER, 2003, S. 39) fest-
stellen. Eine Einbettung als offizielle Sportart in Verbände oder die Repräsentation in den
Angeboten klassischer Sportvereine liegen aber nicht in dem Maße vor wie für etablierte
Sportarten.4
2.2. Theoretischer Zugang zum Begriff des Trendsports
Im Folgenden wird die Begrifflichkeit des Trendsports bzw. der Trendsportarten konkreter
gefasst. SIELAND weist darauf hin, dass eine „Annäherung aus etymologischer Sicht“
(2002, S. 29), also ein Übertrag von soziologischer Annäherung der Trend- und Modebe-
griffe auf eine (Trend-)Sportart, nur selten zu einem klareren Verständnis führt. Sie begrün-
det dies mit der im allgemeinen Sprachgebrauch geläufigen „Vermischung der Begriffe
Trend, Mode, Stil usw.“ (ebd., S. 30) und deutet auf die Notwendigkeit hin, Trendsportarten
danach zu kategorisieren, ob sie anhand von feststellbaren Kriterien als „Ausprägung fest-
gestellter Trends gedeutet“ (ebd., S. 31) werden können. Die Publikationen und die öffent-
liche Auseinandersetzung im Diskurs, vor allem in den 90er Jahren, machen diverse Ange-
bote, dem gerecht zu werden. Die Konzepte von Jürgen Schwier und Christian Wopp ge-
hören zu den prominentesten. Durch ihre Darstellung und Gebrauch erfolgt eine klare For-
mulierung der grundlegenden Annahmen, von welchen ausgehend die kritische Auseinan-
dersetzung des Themas Parkour und Trendsport stattfinden kann.
4 In diesem Aspekt bestätigen Ausnahmen die Regel, bspw. sei hier darauf verwiesen, dass an vielen deutschen Universitäten Parkour fester Bestand des Hochschulsportangebots ist.
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2.2.1. Semiotisches Modell und allgemeine Merkmale von Trendsportarten
Den Beitrag SCHWIERs zu einem differenzierten Umgang mit dem Themenkomplex des
Trendsports zeichnen zwei Elemente aus. Zunächst präsentiert er mit seinem Semioti-
schen Modell (SCHWIER, 2000a, S. 60)5 eine Theorie des Entwicklungsprozesses von
Trendsportarten. Außerdem publiziert er eine Aufstellung „allgemeiner Merkmale von
Trendsportarten“ (ebd., S. 81), mit Hilfe derer nicht nur eine potentielle Klassifizierung ei-
nes sportiven Phänomens als Trendsportart ermöglicht wird, sondern die „mitunter zu-
gleich auf Verwandtschaftsbeziehungen zwischen einigen Bewegungsformen schließen
lassen“ (ebd.). Mittels dieser Ausführungen ist dann gegebenenfalls aufzeigbar, dass
grundverschiedene sportive Praktiken Produkte ähnlicher Entwicklungstendenzen sein
können. Bemerkenswert daran erscheint, dass die Publikation dieses Schemas
unabhängig und nahezu zeitgleich zusammenfiel mit jener der Arbeit von LAMPRECHT und
STAMM zu selbigem Thema. Den weiteren Ausführungen sei der Hinweis vorangestellt,
dass sich SCHWIERs Semiotisches Modell und das Modell des Produktlebenszyklus
letztgenannter Autoren in entscheidendem Maße entsprechen (vgl. ebd., S. 58). Dies kann
als Bekräftigung der jeweiligen Ergebnisse gedeutet werden und die Verwendung der
Schemata so zusätzlich legitimieren.
Das Modell teilt die Entwicklung von Trendsportarten in sechs Phasen ein und benennt
dabei (1) die Phase der Erfindung und/oder Innovation, (2) die Phase der Verbreitung im
eigenen Milieu, (3) die Phase der Entdeckung durch etablierte Milieus, (4) die Phase der
kulturindustriellen Trendsetzung, (5) die Phase der Trenddiffusion und (6) die Phase der
Etablierung. Sie lassen sich folgendermaßen näher erläutern (vgl. SCHWIER, 2000a, S. 63
ff.):
Phase der Erfindung und/oder Innovation: Die Erfindung einer neuartigen Bewegungspra-
xis kann sowohl zufällig als auch intendiert geschehen, wenn Akteure sich auf innovative
Art mit Materialien, Räumen und Ideen auseinandersetzen. Der Prozess der Entstehung
wird dabei bedingt durch die jeweils vorliegenden soziokulturellen Rahmenbedingungen.
Retrospektiv gesichert festzustellen, wann, wo und durch wen eine betrachtete Bewe-
gungspraxis ihren Ursprung fand, gilt meist als nicht möglich, nur in Ausnahmefällen ge-
lingt eine zweifelsfreie Datierung.
5 Dort dargestellt nach SCHWIER (1998)
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Phase der Verbreitung im eigenen Milieu: Die Bewegungspraxis gewinnt zwar über ihr
Entstehungsumfeld hinaus an Bekanntheit, dies beschränkt sich jedoch zunächst auf spe-
zifische Milieus und Kleingruppen. Prägend ist vor allem die Bildung von subkulturellen
Kreisen, deren Akteure sich entsprechend stilisieren und „nach innen Zugehörigkeit und
zugleich nach außen (Geschmacks-)Unterschiede anzeigen“ (ebd., S. 65).
Phase der Entdeckung durch etablierte Milieus und der kulturindustriellen Trendsetzung:
Heute kann das multiplikatorische Potenzial des Internets mehr denn je unterstrichen
werden. Während die Akteure sich einerseits selbst medial inszenieren, sind mittlerweile
auch breiter angelegte Medien auf das Phänomen aufmerksam geworden und bieten ihm
im Rahmen von Nischenprogrammen eine Plattform. Die Kultur- und Handelsindustrien
sowie der Markt beginnen, auf die Entwicklungen zu reagieren und sorgen so für eine öko-
nomische Dynamik. Im organisierten Sportkosmos positioniert man sich zwiegespalten, es
kommt zur „Stigmatisierung der Szene und dem Versuch ihrer Vereinnahmung“ (ebd., S.
67). Mittlerweile lassen sich szeneintern unterschiedliche Verständnisse und Definitionsan-
gebote erkennen. SCHWIER betont, dass es innerhalb dieser Phase endgültig zur Etablie-
rung und Benennung als Trendsportart kommt, wobei er anmerkt, die Bewegungspraxis
würde gemeinhin noch eher als „juveniler Lebensstil“ und weniger als Sportart (ebd., S.
68) verstanden.
Phase der Trenddiffusion: Die Zentrierung auf die oftmals jugend(sub-)kulturellen gepräg-
ten Szenen lässt nunmehr nach und die Bewegungspraxis rückt immer näher an die Mitte
der Gesellschaft. Sie findet im Vergleich zu vorangegangenen Phasen überproportional
häufig in Fernseh- und Medienübertragungen statt. Die Sportindustrie nimmt Kurs, kauft
bisherige Szenelabels und -produktionen auf und versucht eine flächendeckende Erschlie-
ßung neuer Märkte. Dies trägt seinen Teil dazu bei, dass auch die organisierte Sportwelt
ihre Abwehrbestrebungen aufgibt und beginnt, das Phänomen in ihrem System zu institu-
tionalisieren. Die ersten Diskrepanzen zwischen Akteuren der ursprünglichen In-Group, die
den „genuinen 'Spirit' ihrer bewegungskulturellen Szene“ (ebd., S. 71) in der jetzigen Aus-
prägung nicht mehr finden können, und den nachrückenden Ausübenden treten auf.
Phase der Etablierung: Die Bewegungspraxis ist endgültig zu einem in der Gesellschaft
akzeptierten Phänomen geworden, das keinerlei Anstoß mehr erregt und eine breite Mas-
se von Akteuren anspricht. Es lassen sich oftmals neue Trends ausmachen, die zu ihr in
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Gegenposition stehen und die Phase der Trenddiffusion noch nicht erreicht haben.
SCHWIER bietet nicht nur ein Entwicklungsmodell an, sondern gibt auch die Möglichkeit zur
Charakterisierung von Trendsportarten. Er stellt die Trends (1) zur Stilisierung, (2) zur
Beschleunigung, (3) zur Virtuosität, (4) zur Extremisierung, (5) zum Event und (6) zum
Sampling fest (vgl. ebd., S. 81 ff.).
Trend zur Stilisierung: Mit der Bewegungspraxis ist ein Lebensgefühl verbunden, das über
das reine Sporttreiben hinaus geht. Die Akteure nutzen die darum entstandenen soziokul-
turellen Dynamiken zur Identitätsbildung.
Trend zur Beschleunigung: SCHWIER schreibt Trendsportarten einen erhöhten Grad an
Schnelligkeit, Dynamik und Rasanz zu. Mit Verweis auf SCHILDMACHER erwähnt er die Re-
duzierung von Spieleranzahl, Spielfläche und Regelwerk als Faktor, der die Erhöhung von
Tempo und Intensität des sportlichen Tuns begünstigt.
Trend zur Virtuosität: Trendsportarten kennzeichnet eine erhöhte Prozessorientierung mit
Fokussierung auf der „kreativen Auseinandersetzung mit der Bewegungsaufgabe“ (ebd.,
S. 84). So entfernen sich die Akteure vom traditionellen Sportverständnis, das geprägt ist
durch die Struktur von Bewertung. Vielmehr wird der Weg zu und die öffentliche
Demonstration von Könnenserlebnissen akzentuiert, der Sinn entspringt der Bewegung
selbst und nicht länger dem System von Sieg und Niederlage.
Trend zur Extremisierung: Im Bereich der Trendsportarten kommt es zum stetigen Auslo-
ten und Verschieben der eigenen Grenzen, häufig ist dabei die Tendenz zu gesteigerter
Risikobereitschaft (z.B. durch Modifizierung der Absicherung oder der Austragungsorte der
Bewegungspraxis) erkennbar. Wenn durch das Meistern von teilweise im Fall von Kontroll-
verlust lebensgefährlichen Bewegungsaufgaben ein Gefühl von Lebendigkeit entsteht,
zeigt sich eine Verbindung zwischen den Trends zur Stilisierung und zur Extremisierung.
Trend zum Event: Das steigende Interesse der Kulturindustrie und Marketingagenturen be-
günstigen die Etablierung von sportlichen Events mit Happeningcharakter als wichtige
Plattform der Bewegungspraxis. Nach wie vor gilt das Event aber ebenso als Schnittstelle
von Szenezugehörigen und interessierten Zuschauern, bei dem jedoch „die jeweilige Be-
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wegungspraxis […] mit den Marketing-Interessen der Industrie verbunden“ (ebd., S. 86)
wird. Häufig zu beobachten sind professionelle, sportive Darbietung in Verbindung mit ei-
ner Party-Kultur auf einem konsumorientierten Fundament.
Trend zum Sampling: Der Prozess des Samplings beschreibt das Herauslösen von Cha-
rakteristika einer bestimmten Sportart und ihre Einbettung in neue Kontexte. So
entstanden laut SCHWIER gerade im Fitnessbereich zahlreiche Hybride verschiedener
Bewegungsformen (vgl. ebd., S. 89).
2.2.2. Trendportfolio
WOPP legt in seinem „Handbuch zur Trendforschung im Sport“ die zentrale Annahme dar,
bei Trends handele es sich um „von Menschen bewirkte Grundrichtungen von Entwicklun-
gen in der Gesellschaft, durch die Handlungen großer Bevölkerungsgruppen nachhaltig
beeinflusst werden“ (WOPP, 2006, S. 14). Dieses Verständnis unterstreicht vor allem, dass
potentielle Trends sowohl nach dem Grad ihrer Verbreitung innerhalb gesellschaftlicher
Gruppen als auch nach dem Zeitraum bewert- und kategorisierbar sind, in dem sie in der
Gesellschaft wirksam stattfinden. Um diese greifbarer zu machen und mit ihnen operieren
zu können, formuliert WOPP sie als Wirkungsbreite und Wirkungsdauer und entwickelt ba-
sierend darauf sein Trendportfolio:
Abb. 1 Trendportfolio nach WOPP (2006, S. 15)
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Das Modell eignet sich aus zweierlei Gründen zur Findung eines verlässlichen Trendbe-
griffs, denn neben den explizit formulierten Kriterien zur Bestimmung, ob etwas zurecht als
Trend bezeichnet wird, bietet es vor allem die Möglichkeit zur Differenzierung verschie-
dener Phänomene, die im allgemeinen Sprachgebrauch häufig unter den Sammelbegriff
des Trends fallen. So entfalten Moden und Hypes zwar unterschiedliche ausgeprägte Wir-
kungsbreiten6, werden aber im Kontext der Trendforschung als relativ kurzlebig definiert.
Die Trendschwelle der Wirkungsdauer legt WOPP bei ungefähr fünf Jahren fest, da im
Kontext der Trendforschung „eine mehr als fünf Jahre andauernde Entwicklung eine ge-
wisse Stabilität aufweist“ (ebd., S. 15)7. Kann einem beobachteten Phänomen also eine
kontinuierliche Wirkungsdauer über fünf Jahre hinaus attestiert werden, ohne dass seine
Wirkungsbreite eine gesetzte Ausprägung überschreitet, greift die Bezeichnung des Ni-
schentrends. Sobald sich über einen genügend langen Zeitraum ein Phänomen in hinrei-
chendem Ausmaß in den entsprechenden Teilen der Gesellschaft verankert, zeigt und An-
hänger bzw. Ausübende findet, ist es anhand des Portfolios als Megatrend verstanden.8
Von den 'echten' Trends spricht man mit WOPP dann, wenn „Entwicklungen mit einer
Wirkungsdauer von mindestens fünf Jahren und einer mindestens mittleren
Wirkungsbreite“ (ebd., S. 17) zu verzeichnen sind.9
Zusammenfassend wird dieser Arbeit der Begriff des Trendsports als eine sportive
Praxis zugrunde gelegt, auf welche die pointierte Definition WOPPs und in grundle-
gendem Maße die von SCHWIER formulierten Tendenzen übertragbar sind.
6 In Anlehnung an WOPP führt MEYER (2010, S. 17) jedoch zurecht an, dass sich eine empirische Erhebung der Wirkungsbreite häufig als problematisch erweist, da die zu untersuchenden Entwicklungen innerhalb der Gesellschaft häufig von Charakteristika geprägt sind, die nur schwer oder gar nicht mess- und erheb-bar sind. Im Grunde muss für jede zu betrachtende Entwicklung die Trendschwelle der Wirkungsbreite von Neuem definiert werden.
7 Dort inhaltlich zitiert nach Horst W. Opaschowski.8 Das Modell gibt an dieser Stelle jedoch keinen Aufschluss darüber, wann sich ein Megatrend in dem Maß
gesellschaftlich etabliert hat, dass er zu einer festen Institution (wie beispielsweise das Geräteturnen im Kosmos der klassischen Sportarten) geworden ist und somit die Kategorisierung als Megatrend nicht län-ger als zutreffend erscheint.
9 MEYER (2010, S.18) verweist in dem Kontext allerdings darauf, dass sich gerade in den trendbezogenen Diskursen der Sportwissenschaft prominente Vertreter nicht auf zwangsläufig auf die Schwelle der fünf Jahre festlegen.
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2.3. Übertrag
Das Trendportfolio, das Semiotische Modell und im Besonderen SCHWIERs Auflistung all-
gemeiner Charakteristika von Trendsportarten bieten Orientierung, um ein Bewe-
gungsphänomen einer Überprüfung zu unterziehen. So kann eine Tendenz festgestellt
werden, ob es gemäß der zugrunde liegenden Annahmen als Trendsportart kategorisiert
werden kann. Im Folgenden soll dies für Parkour geschehen.
(1) Die Auswahl einer passenden Klassifizierung nach dem Konzept WOPPs gelingt zwar,
kann sich jedoch nicht gänzlich vom Vorwurf der Beliebigkeit frei machen. In jedem Fall ist
der Existenz von Parkour eine weitaus längere Wirkungsdauer zuzuschreiben als fünf Jah-
re. Dies trifft sowohl zu, wenn man das Handeln David Belles als Initiation sieht, als auch
wenn erst die fortschreitende Verbreitung und Etablierung der Bewegungspraxis außer-
halb Frankreichs als Orientierung dient. Problematischer gestaltet sich die Beurteilung, ob
die Trendschwelle überschritten worden ist oder nicht. Dem Wesen von Parkour als
Bewegungsform, die im Grunde ohne Gerätschaften und speziell anzufertigende Arrange-
ments auskommt, ist es geschuldet, dass keine aussagekräftigen Verkaufszahlen oder
sportindustrielle Statistiken herangezogen werden können, Parkour also nicht überzeu-
gend als 'marktgängig' beschrieben werden kann. Dann griffe zwar WOPPs Einschätzung,
bei nicht marktgängigen Trends handele es sich in der Regel
„nur um Nischentrends, weil es sich in vielen Fällen um Produkte, Stile oder Inszenierungen [...], die zunächst nur von einer Minderheit entwickelt, erprobt und praktiziert wurden, die nicht marktgängig waren und je teilweise aus Sicht der Handelnden es bewusst auch nicht sein soll-ten.“ (WOPP, 2006, S. 18)
Für die Kategorisierung als Megatrend spricht aber die weltweite und multimediale Verbrei-
tung, das Trainingsangebot in unzähligen Großstädten z.B. im deutschen Sprachraum so-
wie der wachsende Altersquerschnitt der Akteure. Somit bedingt Wahl der Perspektive
(ökonomisch oder sportsoziologisch) die treffende Bezeichnung. Diese Arbeit legt sich auf
das Verständnis von Parkour als Megatrend fest, da sie in sportsoziologischer bzw.
-pädgogischer Perspektive verfasst ist.
(2) Die Entwicklung von Parkour erscheint durchaus kongruent zu dem von SCHWIER skiz-
zierten Verlauf. Die auf David Belle zurückgeführten Innovationen der Bewegung im urba-
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nen und natürlichen Raum10 entsprechen zunächst einem „kreativen Umgang mit
Materialien, Räumen und Ideen“ (SCHWIER, 2000a, S. 63), man kann von Umdeutung der
architektonischen Gegebenheiten und neuer Sinngebung sprechen. Auch war es gewiss
kein „Schaffen aus dem Nichts“ (ebd.), bedenkt man das Aufgreifen der körperlichen und
idealistischen Prinzipien der Méthode Naturelle sowie die Biographie Raymond Belles, von
dem sich sein Sohn in mühsamer Arbeit das Bewegungswissen erfragen musste.11 Die Be-
kanntheit erstreckte sich zunächst nicht über die Grenzen der Pariser Vororte Lisses und
Evry hinaus, die Gruppe der Akteure blieb überschaubar.
Es folgte dann die sukzessive Verbreitung in subkulturellen Gefilden, die z.B. in
Deutschland auf die frühe Mitte der Nuller Jahre zu datieren ist. Da im Gegensatz zu
zahlreichen Trendsportarten abgesehen von funktionaler Kleidung und Schuhwerk kein
Materialaufwand zum Ausüben von Parkour nötig ist, blieb die als signifikant eingestufte
„professionell[e] Herstellung von Sportgeräten“ (ebd., S. 65) aus der Szene aus.
Nichtsdestotrotz begann sich ein Absatzmarkt für Bekleidung herauszubilden. Namenhafte
Sportartikelfirmen (z.B. Adidas, Five Ten, Inov-8, K-Swiss) konzentrierten sich hauptsäch-
lich auf die Produktion von Schuhmodellen, die aber keine langfristige Markttauglichkeit
entwickelten und mit der Zeit wieder vom Markt genommen wurden.
Als Indikator für den Verlauf der Phase der Etablierung kann vor allem die zunehmende
mediale Repräsentation gedeutet werden. Nachdem die Entwicklung mit der akteureige-
nen Anfertigung und Verbreitung von Videomaterial und der nur sporadischen Präsenz in
(lokalen) Medienformaten begann, lief im Jahr 2001 mit dem Film Yamakasi – Die Samurai
der Moderne die erste professionelle, cineastische Produktion an. Das breiteste Publikum
dürfte allerdings die mittels Parkourelementen inszenierte Verfolgungsjagd in James Bond
- Casino Royale im Jahr 2006 erreicht haben, oftmals wird dies als Beginn der
massenmedialen Präsenz genannt. Es folgten popkulturelle Produktionen wie die MTV
Parkour-Challenge und auch der österreichische PR-Gigant Red Bull eventisierte mit der
Art of Motion die Elemente der Bewegungspraxis, die innerhalb der konsumorientierten
Medienwelt als spektakuläre Publikumsmagneten eingestuft wurden.12
Hervorzuheben ist, wie verschieden schnell Parkour geographisch „in der Mitte der Gesell-
10 „For instance, in an urban environment, you can go around the architectural elements and turn it into a training element in order to evolve in a positive way.“ (BELLE, 2009a, S. 33)
11 „My father never told me, 'Here, my son. Now that you’ve turned fifteen, I am going to share a great secret with you,' no. I had to dig, search, nose around, a bit like a journalist.“ (ebd., S. 21)
12 Einer Abhandlung, dass bereits diese popkulturellen Ausformungen gravierende Unterschiede zum We-sen und der idealistischen Grundlage der ursprünglichen Bewegungspraxis aufwiesen, bietet diese Arbeit keinen Raum.
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schaft“ (SCHWIER, 2000a, S. 69) angelangt. Eine empirische Erhebung dessen kann zwar
nicht als Evidenz vorgelegt werden, jedoch ist die Tendenz zu bemerken, dass im
europäischen Kulturraum breitere „gesellschaftliche Fraktionen“ (ebd.) die Potenziale
von Parkour erkennen als bspw. in weiten Teilen der USA.13
Zusammenfassend wird an dieser Stelle der momentane Entwicklungsstand der Bewe-
gungspraxis in den Übergang SCHWIERs dritter in die vierte Phase verortet. Es sind ei-
nerseits ein Großteil der für die dritte Phase charakteristischen Faktoren in der entwick-
lungsgeschichtlichen Perspektive beobachtbar. Andererseits scheint die große Sportindus-
trie nicht so „massiv in den Zukunftsmarkt“ (ebd., S. 70) zu drängen, wie SCHWIER es
vorzeichnet. Die Phase der Etablierung kann (noch) nicht erkannt werden. Dennoch kann
mit MEYER vom Entwicklungsverlauf einer Trendsportart „im engeren Sinne […] die Rede
sein, [da] […] sie zumindest die ersten drei Phasen und den Anfang der Phase vier
durchläuft“ (2010, S.30).14
(3) Aus der von SCHWIER aufgestellten Liste sind insbesondere die Trends (3.1.) zur Stili-
sierung, (3.2.) zur Virtuosität, (3.3.) und zur Extremisierung hervorzuheben.
(3.1.) Die Diplomarbeit des Schweizers Roger Widmer lautet „Parkour – C'est un art de
vivre“ (WIDMER, 2008) und fasst prägnant zusammen, was zahlreiche Akteure als gemein-
samen Konsens empfinden: Parkour ist Bewegungsform und Gesamtkonzept eines
Lebensentwurfes in einem. Wer Parkour ausübt begegnet mit Sicherheit „bestimmte[n]
Körperbilder[n] […] und Dresscodes“ (MEYER, 2010, S. 32), die sich in den häufig durch
das holistische Training athletisch geformten Körpern in Turnschuhen, weiten Sweatpants
und themenbezogenen T-Shirts zeigen. Eine Reduktion auf äußere Merkmale wie
Kleidungs- und Sprachcodes ist dennoch nicht angebracht, da sich für die Akteure erst die
Gesamtheit aus Bewegung, (Um-)Weltsicht und zuweilen prototypischen Formen des
Szenelebens zu einem „(originären) Lebensstil“ (ebd.) manifestiert.
(3.2.) Obgleich sich mit der Zeit Tendenzen zur Bewegungsnormierung aufgetan haben
(was unter anderem die Nomenklatur des parkourtypischen Bewegungsrepertoires zeigt),
13 Während sich in Amerika viele Ausübende beim Training im öffentlichen Raum regelmäßig mit Platzverweisen oder gar Anzeigen konfrontiert sehen, steht dem als markantes Beispiel die (kommunal-)politische Förderung von Parkour in Dänemark und Teilen Deutschlands sowie die stetig steigende Präsenz im deutschen Sportunterricht gegenüber.
14 MEYER nimmt damit zwar Bezug auf das Produktlebenszyklusmodell, da sich dies aber entscheidend mit dem Semiotischen Modell deckt gelingt hier ein Übertrag.
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stehen „kreative und individualisierende Strategien zur Lösung von Bewegungsaufgaben“
(ebd., S. 34) im Vordergrund. Die dem Grundgedanken innewohnende Negierung von
Wettkampf und (nicht spielerischer) Überbietungsmentalität ermöglicht so die konsequente
Arbeit an sich selbst und maximiert dabei die Intrinsität der Handlungsmotivation. „Bewe-
gungsgesteuerte Selbstausbildungsprozesse“ (SCHWIER, 2000a, S. 84) finden im Rahmen
von Trendsportarten generell und bei Parkour im Besonderen einen geeigneten Nährbo-
den.
(3.3.) Der Trend zur Extremisierung ist im Parkourkontext zwar zu finden, bedarf dort aber
näherer Erläuterung, um einer semantische Fehlverwendung vorzubeugen. Große Teile,
gerade des Anfängertrainings, finden in Höhen und Umgebungen statt, die zwar für kör-
perliche Herausforderung sorgen, aber letztlich zumeist keine ernsthaften Risiken bergen.
Hier tut sich allerdings eine feine, entscheidende Nuance auf, die von jenen Akteuren des
Öfteren nicht ausreichend betont wird, laut denen Parkour generell kein Verletzungsrisiko
innewohnt. David Belle statuiert treffend: „You don't come to Parkour thinking there is no
danger or risks to be hurt – there is!“ (2009a, S. 47) Sobald das Trainingsniveau gewisse
Grade erreicht und die Sprungdistanzen und -höhen zunehmen, steigt das Risiko – bei
Kontrollverlust. Dieser Zusatz ist wichtig, um die Motivation derer nachvollziehen zu kön-
nen, die diese Situationen bewusst eingehen. „Parkour is no sport of nutcases“ (ebd., S.
46), sondern bietet den Akteuren einen „Rückbezug auf den eigenen Körper [als] [...] er-
fahrbare Erlebnisinstanz“ (MEYER, 2010, S. 35). Dabei herrscht Gewissheit, durch pedan-
tisch wiederholtes Training in gesicherten Situationen die Fähigkeit entwickelt zu haben, in
Extremsituationen die Handlungskontrolle zu bewahren. Deshalb spricht David Belle expli-
zit von Parkour als Trainingsmethode (vgl. BELLE, 2009b).
Dass der Begriff der Trendsportart von vielen Akteuren abgelehnt wird, kann an dieser
Stelle auf die negative Konnotation des Trendbegriffs zurückgeführt werden als etwas
lediglich Vorübergehendes, Unverbindliches und Beliebiges. Gerade das Phänomen der
Stilisierung, der Verbundenheit von Parkour und Identitätsbildung, bedingt die Ablehnung
von Bezeichnungen, die als Gegenteil dessen verstanden werden, als was man die
eigenen Lebensentwurf ernst nimmt. Ein Vorwurf ist den Akteuren jedoch nicht zu machen,
wird 'Trendsport' doch häufig vorschnell und ungeachtet der definitorischen Bestimmungen
der Sportwissenschaft gebraucht.
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3. Schulpädagogische Potenziale
Das Verhältnis von Sportunterricht und Trendsport war und ist Gegenstand eines angereg-
tem Diskurses (vgl. u.a. SCHWIER, 2000b; SÖLL, 2000; MEYER, 2010; SIELAND, 2002),
dessen Nachzeichnung an dieser Stelle den Rahmen der Arbeit sprengen würde. Es sei
an dieser Stelle eine befürwortende Haltung zur Frage der Behandlung von
Trendsportarten, im Besonderen auch Parkour, im Unterricht eingenommen und mit
SCHWIER postuliert:
„Schule kann den den Umgang mit den Trendsportarten und anderen Facetten der populären Kultur nicht den Medien und dem Sportsystem überlassen […], sondern ist verpflichtet, von der Selbsttätigkeit der Heranwachsenden ausgehend in die vielfältigen und widersprüchlichen Be-wegungskulturen unserer Gesellschaft einzuführen.“ (2004, S. 67)
Charakteristisch für Trendsportarten ist, wie im Verlauf der Arbeit gezeigt wurde, häufig die
Verknüpfung mit einem bestimmten Lebensgefühl und subkultureller Dynamik. Unter Be-
rücksichtigung dessen stellt sich die Frage, ob es gelingen kann, Trendsportarten als Un-
terrichtsinhalte aufzuarbeiten, ohne dass ihr originärer Charakter verloren geht. SIELAND
weist auf die Gefahr der Vermethodisierung und Verschulung hin (vgl. 2002, S. 47) und
SCHWIER betont, Wolfgang Söll habe zurecht darauf hingewiesen, „dass eine falsch ver-
standene Vermethodisierung der Trendsportarten ebenso sinnlos ist wie eine didaktisch
aufbereitete Vortäuschung des Szenelebens im Unterricht“ (2004, S. 67). Folglich muss
jede Auswahl einer Trendsportart als Unterrichtsgegenstand legitimiert werden. In dieser
Begründungspflicht steht eine Lehrkraft aber generell, denn kein Inhalt ist an sich als päd-
agogisch sinnvoller zu erachten als andere. Vielmehr verhält es sich so, dass „erst […] die
Art und Weise, wie er zum Unterrichtsthema wird, den individuellen Bildungsprozess berei-
chern kann“ (ebd., S. 68).
Für Parkour leitet sich daraus ab, dass nicht versucht werden sollte, den gesamten Kos-
mos dieses Bewegungsphänomens inklusive des weltanschaulichen Zugangs im Unter-
richt aufzubereiten. Stattdessen ist der Fokus auf die reinen Bewegungsarrangements zu
legen und so die Chance zu ergreifen, für die von SCHWIER geforderte „kontrastierende
Thematisierung von innovativen und traditionellen Bewegungsformen“ (ebd., S. 67) zu sor-
gen. So entdecken die Schülerinnen und Schüler im optimalen Fall eigenständig die Ver-
wandtschaftsbeziehung mancher parkourtypischer Bewegungen zu dem ihnen bereits be-
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kannten Feld des Turnens. Es besteht ebenfalls eine große Möglichkeit zu begreifen, dass
das Sich-Bewegen unter Berücksichtigung bestimmter biomechanischer Prinzipien je nach
Akzentuierung kraftvoller, effizienter, effektiver o.ä. gestaltet werden kann. So können
bspw. die Anlauf- und Absprungprinzipien der klassischen leichtathletischen Disziplinen
vor einem gänzlich neuen Hintergrund beleuchtet werden.
Um diesen Zugang zu schaffen muss gewährleistet sein, dass dem Unterrichtsinhalt ein
gewisses Maß an Exemplarität inne ist. ROCHHAUSEN (2010, S. 11) listet die
Bewegungssituationen, die bei einem Parkourarrangement elementar sind,
folgendermaßen auf:
– laufen (horizontal und vertikal mit Abdruck an Wänden o.ä.)
– balancieren (Lauf über Geländer etc.)
– drehen (vertikal – horizontal, mit oder ohne Sprung)
– springen (mit oder ohne Stützphase, […])
– landen (Rolle, Präzisionslandung im Stand)
– hangeln (nach dem Anspringen von Gegenständen)
– klettern (Wände, Bäume o.ä.)
In jeder Sportart des traditionellen Unterrichtskanons werden sich ein oder mehrere dieser
Elemente finden lassen, somit bergen erfolgreiche Lernprozesse im Bereich parkourtypi-
scher Bewegung auch immer das Potenzial zur Verbesserung a) der allgemeinen körperli -
chen Konstitution und b) anderweitiger, sportartspezifischer Fertigkeiten.
Des Weiteren scheint lohnenswert, Parkourstunden in der Schule als Gelegenheiten zu
„Lehrverfahren der 'offenen Aufgabenstellung' und der aktiven Mitgestaltung der Schülerin-
nen und Schüler“ (WITFELD, GERLING, PACH, 2010, S. 267) aufzubereiten. Eine
„aufgabenorientierte Strukturierung des Unterrichts“ (ebd.) bietet genügend Spielraum, um
die Schüler aktiv in den Gestaltungsprozess einzubinden. So kann bspw. auch schon der
Entwurf einer abwechslungsreichen und kreativen Gerätelandschaft in den Auf-
gabenbereich der Schüler fallen. Dennoch steht die Lehrperson als Arrangeur nach wie
vor im Fokus, besonders da sichergestellt sein muss, dass a) die Verletzungsgefahr durch
adäquate Absicherung der Aufbauten minimiert wird, b) die Angemessenheit der Bewe-
gungsmöglichkeit für die Lerngruppe gegeben ist und c) das enorme Potenzial zur Diffe-
renzierung bei leistungsheterogenen Gruppen genutzt wird. Durch die maßgebende Offen-
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heit in der Lösung der Bewegungsaufgaben und die Variationsmöglichkeit, in Form von Di-
stanz- und Komplexitätsvariationen der Bewegungsabläufe, werden Schülern verschiede-
ner Leistungsniveaus Momente von Erfolg ermöglicht. In diesen empfinden sie das Sich-
Bewegen als zweckdienlich – gerade, weil eine endgültige Normierung der Art und Weise,
wie man ein Hindernis überwindet, im Parkour nicht existiert. Warum sich dennoch eine
Tendenz zu einem festen Bewegungsrepertoir erkennen lässt, kann zum Gegenstand
theoretischer und reflexiver Arbeit der Klasse gemacht werden, als deren Ergebnis
Überleitungen zu allgemeinen biomechanischen Prinzipien und Funktionsweisen des
Körpers, Kraftübertragung und -weiterleitung sowie Impulsverschaltung in Aussicht stehen.
So bieten sich auch Schülern, die nicht in das Muster des motorisch begabten, männlichen
Jugendlichen fallen (gemäß SCHIWER das typische Klientel der Trendsportarten [vgl. 2004,
S. 68]), motivierende Zugänge zum Bewegungserleben. Wenn sich dies insofern auswirkt,
dass Schüler einen Anstoß zur Erschließung außerschulischer Bewegungskulturen
erhalten, erfüllt sich der Doppelauftrag des Schulsports und dann ist letztlich auch MEYERs
Forderung Genüge getan, der Sportunterricht lasse sich „nur legitimieren, wenn von ihm
auch außerunterrichtliche Wirkungen zu erwarten sind“ (2010, S. 49).
Abschließend sei die Position ROCHHAUSENs bekräftigt, der dafür plädiert, die Struktur und
Organisation von Sportunterricht zu überdenken und infolge dessen bewertungsfreie Inhal-
te anzubieten (vgl. 2010, S. 12). Sollte dies nicht möglich sein, scheint letztlich ein Bruch
mit einer Konstitutiven von Parkour unumgänglich und es fällt in den Verantwortungsbe-
reich der Lehrkraft, transparente und sowohl den Schülern als auch der Bewegungsform
angemessene Bewertungskriterien aufzustellen. Diese können allerdings ebenfalls dazu
beitragen, den hohen Aufforderungscharakter nachhaltig zu unterstreichen, weshalb deren
Auswahl „letztlich der jeweilige Übungsleiter individuell in Verbindung mit der Lerngruppe
treffen“ (ebd.) muss.
4. Resümee
Die vorliegende Arbeit hat die Begriffe Parkour und Trendsport definitorisch aufgearbeitet
und einen Standpunkt entwickelt, von dem aus die populäre, heutige Ausprägung von
Parkour in sportwissenschaftlicher Perspektive legitim als Trendsportart bezeichnet wer-
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den kann. Dies ist möglich, insofern sie 1. gemäß WOPP einen sportiven Megatrend dar-
stellt, 2. in weiten Teilen ihrer Entwicklungsgeschichte dem Semiotischen Modell nach
SCHWIER entspricht und 3. mindestens drei Merkmale zur Kategorisierung nach SCHWIER
in besonderem Maße auf sie anwendbar sind.
Die Integration in den Schulsport kann durchaus gelingen, wobei sich konstitutive Elemen-
te der Bewegungspraxis, mitsamt des Lebensgefühls in der jeweiligen Bewegungskultur,
und die Unterrichtssituation als nicht miteinander vereinbar zeigen können. Als
pädagogische Handreichung wird formuliert, sich im durch Normen und Konventionen
geprägten Sportunterrichts auf den reinen Bewegungsaspekt zu beschränken und nicht zu
versuchen, die Lehrsituation 'lifestylegerecht' zu inszenieren. Letzteres ist nicht notwendig,
da die Auseinandersetzung mit der Bewegungsform eine Fülle an Lernpotenzialen bietet
und eine ausgesprochen geeignete Ergänzung zum kanonischen Sportartenrepertoir der
Schule darstellt.
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Erklärung der Selbstständigkeit
Der Unterzeichnende versichert, dass er die vorliegende schriftliche Arbeit selbstständig
verfasst und keine anderen als die von ihm angegebenen Hilfsmittel benutzt hat. Die
Stellen der Arbeit, die anderen Werken dem Wortlaut oder dem Sinn nach entnommen
sind, wurden in jedem Fall unter Angabe der Quellen kenntlich gemacht.
Ort, Datum Unterschrift
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