Perspektiven des Lernens in der Berufsbildung: Forschungsberichte der Fr¼hjahrstagung 1997

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A. Schelten P.F.E. Sloane G.A. Straka (Hrsg.) Perspektiven des Lemens in der Berufsbildung

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A. Schelten P.F.E. Sloane G.A. Straka (Hrsg.)

Perspektiven des Lemens in der Berufsbildung

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Schriften der Deutschen Oesellschaft fiir Erziehungswissenschaft (DOtE)

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A. Schelten P.F.E. SIoane G.A. Straka (Hrsg.)

Perspektiven des Lemens in der Berufsbildung Forschungsberichte der Friihjahrstagung 1997

Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH

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Gedruckt auf săurefreiem und altersbestăndigem Papier.

ISBN 978-3-8100-2034-5 ISBN 978-3-663-01413-3 (eBook)

DOI 10.1 007/978-3-663-01413-3

© 1998 Springer Fachmedien Wiesbaden

Ursprunglich erschienen bei Leske + Buderich, Opladen 1998

Das Werk einschlieBlich aHer seiner Teile ist urheberrechtlich geschiitzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulăssig und strafbar. Das gilt insbesondere fiir Vervielfaltigungen, Ubersetzungen, Mi­kroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Redaktion: Uwe Girke, Lehrstuhl fiir Pădagogik der TU Miinchen

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Inhaltsiibersicht

VOnNort 7

Ingrid Lisop Schulentwicklung, Schulmanagement und padagogische ProfessionaliUit 9

Friedheim Sehiitte Technische Bildung in Preussen-Deutschland 1890 - 1938. Methodologische Anmerkungen in theoretischer Absicht 21

Philipp Gonon Die Genese und "Wirksamkeit" der technischen BerufsmaturiUit im Spannungsfeld bildungspolitischerInteressenaushandlung 37

AlJons Backes-Haase Der Beitrag einer systemisch-konstruktiven Wirtschaftsdidaktik zu aktuellen Diskussionspunkten in der Didaktik der Wirtschaftslehre 57

Gerald A. Straka Selbstgesteuertes Lemen im ProzeJ3 der Arbeit: Konzeptionelle Uberlegungen - empirische Befunde

Annette Ostendorf Das Verhaltnis Individuum - Organisation als Grundsatzfrage betriebspadagogischer Foschung - ein Beitrag im Kontext des Diskurses zur 'Lemenden Org;lllisation'

ArnulJZoller Synergieeffekte nutzen durch eine verbesserte Kooperation zwischen Berufsschullehrem und Ausbidem

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RalfTenberg Schiilerurteile tiber einen handlungsorientierten Metalltechnikunterricht

Volker Brettschneider Die Bedeutung von Netzwerken flir die Vermittlung von Zusammenhangswissen im Rahmen wirtschaftsberuflicher Umweltbildung

Martin Fischer Gestaltung von Informationstechnik flir das Lemen im Arbeitsprozefi

Autorenverzeichnis

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Vorwort

Die Kommission Berufs- und Wirtschaftspadagogik der Deutschen Gesell­schaft fur Erziehungswissenschaft hat ihre Frlihjahrstagung 1997 in Magde­burg durchgefuhrt. 1m Mittelpunkt dieser Tagung standen Berichte aus der Forschungsarbeit der Mitglieder der Kommission. Es solltendabei Ergebnisse und weniger Prob1emaufrisse vorgestellt wtrden.

Der vorliegende Band gibt die Beitrage der Referenten wieder. Mit die­sem zweiten Band nach der Herbsttagung der Kommission 1996 in Kassel leitet die Kommission fur Berufs- und Wirtschaftspadagogik eine Entwick­lung ein, in der die Forschungsarbeit ihrer Mitglieder kontinuierlich in den wissenschaftlichen Austausch gestellt wird.

Die Magdeburger Tagung folgte einem offenen Aufruf von Beitragen der Mitglieder. So ist die Themenfolge breit nach Forschungsinhalt und For­schungsmethodik gefachert. An dem vorliegenden Band ist die Spannweite der Berufs- und Wirtschaftspadagogik erkennbar.

Allen Referenten, die sich der Diskussion gestellt und zum Gelingen der Tagung sowie zum Entstehen dieses Bandes beigetragen haben, sei an dieser Stelle gedankt. Ein besonderer Dank gilt Herrn Uwe Girke yom Lehrstuhl fur Padagogik der Technischen Universitat Mlinchen, der sehr strukturiert und zligig die im Nachhinein doch noch recht aufwendige redaktionelle Heraus­gabe dieses Bandes libemommen hat.

Mlinchen, im Oktober 1997 Andreas Schelten Peter F.E. Sloane Gerald A. Straka

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Schulentwicklung, Schulmanagement und padagogische Professionalitat

Ingrid Lisop

Schulentwicklung ist fiir berufliche Schulen im Grunde - urn es salopp zu formulieren - ein alter Hut. Zwar hat die Dynamik der technisch-okonomi­schen und sozialen Entwicklung seit der Einfiihrung der rechnergesttitzten Fertigung und Verwaltung zugenommen. Auf die qualitativen Veranderungen der Ausbildungs- und Erwachsenenberufe, aber auch auf die zahlenmaBigen Veranderungen haben die beruflichen Schulen seit eh und je rasch reagieren mtissen. Die Grtinderjahre der Berufsschule zu Anfang unseres Jahrhunderts waren geradezu gepragt von Auseinandersetzungen daruber, welche Inhalte und Organisationsformen diese Schulen im Zeitalter der Industrialisierung haben mtiBten (vgl. Lisop, Greinert, Stratmann 1990). Heute konnen und mtissen wir emeut tiber den padagogischen Sinn einer Ausrichtung an Beru­fen nachdenken, weil die Berticksichtigung der Vemetzungs-Trends dies er­fordert.

Auch die Veranderungen der Schularten und AbschluBmoglichkeiten, insbesondere die Zunabme vollschulischer Ausbildungsgange ist nicht so ganz neu und zumindest ein Vierteljahrhundert alto Ihre Dynamik geht zurtick auf die Einrichtung der Fachhochschulen und die Neukonstituierung eines entsprechenden schulischen Unterbaues, durch den die Zugangsvoraussetzun­gen geschaffen wurden.

Stehen wir also vor einer echten Neuentwicklung, wenn von Schulent­wicklungsplanung I Programmplanung, Evaluierung und Schulautonomie ge­sprochen wird, oder sind dies nur modemistische Schlagworte fur Altbe­kanntes (vgl. z. B. Buhren/Rolff 1996; Daschner, Rolff, Stryck 1995)?

In Hessen handelt es sich bei Schulentwicklung und Schulautonomie zu­nachst einmal urn ein politisches Programm, an dem seit drei Jahren in einer Pilotphase gearbeitet wird. Diese Phase hat vergangenen Herbst einen ersten AbschluB erhalten, und sie wird auf der Grundlage entsprechender Erlasse tiber den Bildungsauftrag der Berufsschule, tiber die Zielvorgaben fur den Unterricht und tiber Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Berufsschulen im Laufe des Jahres flachendeckend verpflichtenden Charakter erhaten.

An der Schnittlinie zwischen Pilotphase und Gesamtimplementierung ist das Forschungs- und Entwicklungsprojekt entstanden, tiber das ich hier be­richte.

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Es handelt sich urn eine kombinierte Forschungs- und Entwicklungsko­operative zwischen Universitat, als erster Phase der Lehrerbildung, Studien­seminaren als zweiter Phase, dem Hessischen Institut fUr Schulentwicklungs­planung und Lehrerfortbildung und dem Kultusministerium. Diese Institutio­nen haben mitje einem Vertreter ein Projekt-Kollegium gebildet, dessen Vor­sitz ich innehabe. Dieser institutionelle Theorie-Praxis-Verbund ist neuartig. Dies nicht nur an sich, sondern vor allem, weil Lehre, Forschung und Bera­tung verknUpft sind.

AniaB ist einerseits eine wissenschaftsbasierte Evaluation der Pilotphase der Schulentwicklung, also eher eine klassische Forschungsaufgabe. Hier wird mit den verschiedenen empirischen Methoden erhoben und dokumen­tiert, allerdings auch durch Sekundarstudien erganzt und kommentiert. FUr die Forschungslandschaft liegt hier, insbesondere im Hinblick auf die klassischen Modellversuche, ein gewisses Novum insofern, als die Literaturarbeit namlich nicht am Anfang steht (wo sie nur zu oft exkommuniziert stehen blieb und nicht weiter beriicksichtigt wurde). Sie wird nachtraglich herangezogen, urn als korrigierender Impuls fur den zweiten, wissenschaftsbasierten Praxisan­lauf zu dienen.

Der bildungspolitisch praktische Kern des Projektes laBt sich als eine wissenschaftliche Fundierung der Programmplanung an ausgewahlten Schu­len charakterisieren. Parallel daw erfolgt die organisatorische Planung und inhaltliche Abstimmung fUr ein Netzwerk der ersten, zweiten und dritten Pha­se der Lehrerbildung. Hier liegt das Schwergewicht darauf, Weiterbildungs­module zu erarbeiten, die fur eine kurzfristige, dem jeweiligen schulischen Bedarf und aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechende Wei­terbildung der Lehrerlnnen zur VerfUgung gestellt werden konnen. Persona­lentwicklung wird demnach in direktem Kontakt zur Universitat anvsiert.

Von der universitaren Forschungsseite her gesehen handelt es sich dam it urn ein Projekt, das empirische Feldforschung unter Einsatz quantitativer und qualitativer Verfahren mit Consulting (Beratung) bezUglich organisationaler Schulentwicklung, Curriculumplanung und Weiterbildung verbindet. Anders formuliert handelt es sich urn ein Projekt im Kontext des wechselseitigen Wissenschafts- und Praxistransfers. Damit sind gleichzeitig neuartige wissen­schaftstheoretische Fragen berUhrt. Sie betreffen die Neubestimmung der bis­herigen Grenzziehung zwischen den drei Bereichen Wissenschaft, Bildungs­politik, padagogische Arbeitspraxis und Consulting und hierin die aiteren methodologischen Probleme der Veranderung nicht nur des Forschungsob­jektes, sondern auch der Forscher selbst wahrend des ForschungsproztSses.

Hier soli nicht auf diese methodologischen Probleme eingegangen wer­den. Dies wiirde den Umfang sprengen. Die Ziel- und Inhaltsfragen des Pro­jektes und damit die Moglichkeiten der entwicklungsbezogenen Kooperation von Schule und Universitat sollen im Vordergrund schen.

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1m folgenden schildere ich:

1. die veranderten Rahmenbedingungen, auf welche die Schulen und damit die Lehreraus- und fortbildung zu reageren haben

2. Beispiele fUr eingeschlagene Wege bei der Schulentwicklung und Pro­grammplanung in Hessen

3. die Aktivitaten im Forschungsprojekt und die damit verkniipften wissen­schaftlichen Belange.

1. Die veranderten Rahmenbedingungen der Arbeit an beruflichen Schulen

1.1 Strukturveranderung, neue Beruflichkeit und permanente Curriculumreform

Der grundsatzliche Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schulen wird allge­mein in den Landerverfassungen geregelt. Da es sich hierbei nur urn iiberge­ordnete Leitlinien handelt, gibt es stets erganzende Schulgesetze sowie Ver­waltungsvorschriften, die auf dem ErlaBwege die Zielvorgaben an die Schul­typen anpassen. Die konkrete Umsetzung muB aber von jeder einzelnen Schule, von jedem Lehrer, von jeder Lehrerin im Hinblick auf den speziellen Ausbildungsauftrag einerseits und ihre besondere Schiilerschaft andererseits immer emeut schulspezifisch eingelost und konkretisiert wtrden.

Hierzu verpflichtet in Hessen § 3 des Schulgesetzes. Dies ist eine relativ alte juristische Grundsituation, die in allen Bundes­

landem gilt, und die in der Rechtsprechung - insbesondere im Hinblick auf die Auslegung und Konkretisierung von Rahmenlehrplanen - immer wieder bestatigt wurde. Zwar gibt es landerspezifische Differenzen, doch gilt grund­satzlich, daB den Schulen und auch den Lehrem und Lehrerinnen ein breiter Konkretisierungsspielraum nicht nur gewahrt ist, sondem daB sie sogar die Pflicht haben, entsprechend ihrer Professionalitat die Konkretisierung immer wieder neu zu gestalten.

Die entscheidenden Fragen lauten dabei: Entsprechen die Lemangebote dem Stand der wissenschaftlichen Ent­

wicklung und - was speziell bei beruflichen Schulen von Bedeutung ist - den Erfordemissen des technisch-okonomischen Strukturwandels und der Organi­sationsentwicklung in den Betrieben? Vermitteln sie auch zwischen den so­zio-kulturellen Gegebenheiten, aus denen Lemende kommen, und in die sie entlassen werden?

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Anders ausgedrtickt: Die beruflichen Schulen mtissen sich immer emeut Rechenschaft dartiber

ablegen, ob sie noch realitatsnah genug ausbilden, da die Lehrplane inhaltlich oft genug Patina angesetzt haben.

Die Erstellung und Verabschiedung von Curricula war bisher ein relativ langwieriges Verfahren. Auch kann nicht verschwiegen werden, daJ3 die Lan­derregierungen sowie die Schulaufsicht nie gentigend Wert auf die Nutzung der curricularen Gestaitungsfreiheit und -pflicht durch die Lehrerschaft gelegt haben. Die Grtinde sind vielfaitig und im beruflichen Schulwesen deshalb be­sonders brisant, weil es urn den Autonomiekampf zwischen Staat und Wirt­schaft geht. Doch braucht uns das hier nicht zu beschaftigen.

Ich kann hier auch nicht naher auf die Problematik des fatalen Zusam­menhangs von Schltisselqualifikationen und Handlungsorientierung eingehen. Die Kritik hat inzwischen belegt, daJ3 diese zu Schein-Paradigmen geraten sind, welche die Forschung wie die Qualifikations- bzw. Schulentwicklung eher verstellt denn gefOrdert haben.

Das Paradigma Handlungsorientierung bedarf dringend einer Uberprti­fungo Nicht nur eine grtindlichere Rezeption der Lempsychologie ist angesagt, sondem auch eine der sozio-okonomischen Strukturforschung, der Hand­lungsphilosophie und -soziologie sowie der Geschichte der Erziehungswis­senschaft, speziell der Didaktik. Die Kritik der Handlungsorientierung kon­statiert fur die Berufs- und Wirtschaftsplidagogik Einseitigkeiten, Ausblen­dungen und Verktirzungen in der wissenschaftlichen Rezeption. Die Foige davon sei eine Reduktion des Verstandnisses von komplexer Praxis auf Un­terrichts- und Unterweisungsprojekte, wie z. B. Ubungsfirmen, und von Ganzheitlichkeit auf Ablaufschemata, wie z. B. den methodischen Sechs­schritt.

Nicht zu leugnen ist, daJ3 die Handlungsorientierung, als didaktisches Pa­radigma von Subjektbildung verstanden, ein TrugschluJ3 ist, weil die Be­schrankung auf die Kategorie des zweckrationalen Handelns aufgrund der Lehr-/Lemarrangements unabwendbar bleibt. Speziell die Berticksichtigung der beruflichen und gesellschaftlichen Rationalitaten, wie z.B. aile Fragen von okonomisch-technischem Kalktil, von Folgeabschatzungen, von Kombi­natoriken der Arbeits- und Produktionsmodelle bleiben aufgrund der unter­stellten Theorie-Praxis-Linearitat und des psychologischen MiJ3verstandnisses von Transfer auf der Strecke. Es sind aber diese Fragen, aus denen sich, wenn Uberhaupt, heute in beruflicher Bildung die Generalia gewinnen und Bildung im o. a. Sinne anstoJ3en laJ3t.

Die dimensionsreiche Verflechtung der Handlungstheorien im interdiszi­plinaren Gefuge von Theoriebildung wie im Rahmen gesellschaftspolitisch relevanter Strukturveranderungen konnte fur die Berufs- und Wirtschaftspad­agogik ein ergiebiger Ansatzpunkt sein, die Erorterung ihres Selbstverstand­nisses und ihre Zukunftschancen voranzutreiben. Freilich mtiJ3te sie dazu ihr

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"Korsett" ablegen. Es heiBt u. a. Berufsfixierung und Ausblendung der Ent­wicklung, welche im Zuge der computerintegrierten Fertigung und der Ver­zahnung von dispositiver und ausfUhrender Tatigkeit die Dimensionen von Wissen und Konnen verandert. Normatives, strategisches und operatives Denken, Entwickeln und Gestalten reicht liber Bliro-Arrangements hinaus und verlangt zumindest die Verschrankung der betrieblichen Arbeit mit volkswirt­schaftlichen Dimensionen (vgl. Huisinga 1994 und 1996, Minmmeier 1997).

"Im Hessischen Schulgesetz ist die einzelne Schule als padagogische Handlungs­einheit aus grundsatzlichen Uberlegungen im Sinne einer weiteren Demokratisie­rung und Partizipation im Offentlichen Schulwesen mit verstarkter Autonomie ausgestattet worden. Die Schulen werden dadurch auch aus der Dominanz einer traditionellen Verwaitungsorganisation entlassen. Hiermit ist die Auflage ver­bunden, fUr die Organisation von Lern- und Entwicklungsprozessen effizientere und insbesondere flexiblere Arbeits- und Organisationsstrukturen zu schaffen." (Hessisches Kultusministerium: Die Berufsschule, Grundlagenheft 1995, S. 53)

Berufliche Schulen mlissen demnach in Hessen permanent und immer wieder emeut eine Interpolation zwischen Rahmenlehrplanen, dem Stand der empiri­schen Forschung und Theoriebildung in den zu den Fachem gehorenden Fachwissenschaften und der Qualifikations- und Strukturforschung vomeh­men. Sie mlissen tendentiell nach offenen Curricula arbeiten. Sie konnen sich sogar in Kooperation z. B. mit Betrieben und Kammem urn vollig neuartige Qualifikationsabschllisse bemlihen und daflir Klassen ehrichten.

Es ist also falsch, die Autonomisierung der Schulen und die Pflicht zur Schulentwicklungsplanung lediglich als Foige bildungspolitischer Deregulie­rung zu betrachten, bei welcher der Staat sich eines Teils seiner Verantwor­tung entledigt und es den Schulen zuschiebt, mit den knapper werdenden Mitteln umzugehen.

Berufliche Schulen brauchten zu allen Zeiten Freiraume; finanziell, per­sonell und didaktisch-curricular. Und zu allen Zeiten haben es Schulleitungen und Kollegien mit einem Handchen fUrs Management und fUr Kontakte ver­standen, sich die notigen Freiraume und Entwicklung;raume zu schaffen.

Neu ist, daB dies nun zur offiziellen und standigen Aufgabe von Schulen gehOren wird, wodurch der Riickbezug zur Wissenschaft ebenso wie Praxis­Kooperativen ein neues Gewicht erhalten. SchlieBlich mlissen die neuen Auf­gaben auch quantitativ bewaltigt werden. Das geht nur, indem Arbeitsentla­stungen geschaffen wa-den.

Unter den gegebenen Bedingungen heiBt dies dreierlei: Erstens: Es muB aufgabenspezifische Teams geben. Zweitens: Die Rolle

der Schulleitung wird sich neu definieren und organisieren miissen. Die Dele­gation von Verantwortung wird sich notgedrungen juristisch niederschlagen mlissen und Schulleitungen auf Zeit rucken ins Blickfeld. SchlieBlich mlissen drittens neue Kombinatoriken von standardisiertem Unterricht einerseits und

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experimentelIen, individualisierenden Vorgehensweisen andererseits gefun­den werden. In der Didaktik ist hierzu durch die Exemplarik sicherlich bereits eine tragfahige Brucke gebaut (vgl. Lisop/Huisinga 1994).

1.2 Neuartiges Gewicht von Schul- und Lernkultur

Entsprechend der sogenannten methodischen Leitfrage ist in allen padagogi­schen Prozessen zu prufen, ob die Lemangebote, das Schulleben und die Schulkultur die Schiilerinnen und Schuler in ihrem soziokulturellen Entwick­lungs stand abholen.

Hier sei nur an die veranderten sozialen Bedingungen des Aufwachsens in der Familie unter den Bedingungen von Massenmedien, der Veranderung der Arbeitswelt und Arbeitsmarkte erinnert, aber auch an die neue Armut und soziale Angst, an Radikalismus, an Multikulturalitat und nicht zu letzt an die veranderten Altersstrukturen der Schuler und Schulerinnen.

Dieses FaktorengefUge der schulischen Umwelt bezeichnen wir verkurzt mit Pluralisierung der Lebenslagen und Lebenseinstellungen, aber auch als Heterogenitat der Schiilerschaft und ihrer Lemerwartungen. Durch dies alles ergeben sich fUr die professionelle Identitat der Lehrerschaft und die Corpo­rate Identity von Schulen groBe Herausfordermgen.

Waren z. B. die SchUler und Schulerinnen von Berufsfachschulen frtiher eher eine gut vorgebildete und lemwillige Gruppe, die tiber die Berufsfach­schule den Weg zum mittleren AbschluB nahm, so ist die Berufsfachschule heute weithin bereits zum Sammelbecken fUr potentiell ausgegliederte Ju­gendliche geworden.

Dies verlangt z. B., daB die Lehrer und Lehrerinnen ihre berutliche Iden­titat neu justieren mtissen. Sie pendelt heute in einer Bandbreite zwischen dem Fachexperten einerseits und dem sozialpadagogisch orientierten Forder­padagogen andererseits.

AuBer fachspezifischem Wissen wird daher zunehmend ein breites Know-how tiber Lebens- und Arbeitswelten gefordert. Auch das Methodenre­pertoire und die Kommunikationsstile der Lehrer und Lehrerinnen mtissen breiter werden, wie das Schaubild zeigt.

SchlieBlich ist der Umgang mit den schulischen Ressourcen in den Blick zu nehmen, wobei nicht nur an verschlankte Budgets zu denken ist. Wollen speziell die berutlichen Schulen sich der demographischen Entwicklung und den Veranderungen auf dem Arbeitsmarkt - speziell in strukturschwachen Re­gionen - nicht einfach ausliefem, dann sind Kreativitat und neuartige Koope­rativen erforderlich.

Der hiiufigste und einfachste Weg ist die Grundung von gemeinntitzigen Vereinen, denen auch die Betriebe, die Kammem, Jugendamter, Verbande und Vereine der Region, therapeutischer Dienst u.a. angehOren und die so-

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wohl als Trager von schulnahen Sozialmal3nahrnen auftreten, z. B. Wohnhei­me fUr obdachlose Jugendliche oder sogar Firmen betreiben, als auch als Ausbildungstrager in neuartigen Berufen fungieren (z. B. Familienpflege, So­zialpflege, Mechatronik, Medienkaufmannl-kauffrau).

Evaluierung und Programmentwicklung bestehen somit aus der Bestands­aufnahrne, aus der Analyse und kritischen Einschatzung der Gesamtpraxis der Schule einschlieJ31ich ihrer Voraussetzungen im Hinblick auf die Sicherung und Weiterentwicklung des Bildungs-, Erziehungs- und Ausbildungsauftrags, aber auch der Mitarbeit an der okonomischen Sicherung in der Regon.

Hier nun liegt ein sozialpolitischer Auftrag, der vollig neu ist. Geht es doch urn die wirtschaftliche Stiitzung und innovative Verbesse­

rung der Lage der Jugendlichen und jungen Erwachsenen wie der Region selbst.

Hierin liegt auch, unternehmerisch gedacht, der Kern der Autonomisie­rung der Schulen. Sie bekommen dadurch eine neuartige aktive Funktion in der Strukturentwicklung.

Von hier aus begreift man, dal3 es sich bei der Autonomisierung urn einen tiefgreifenden Wandel der schulischen Identitat, des schulischen Selbstver­standnisses und der Lehrerrolle handelt. Es geht namlich nicht mehr darum, mehr oder minder gut versorgt mit Ressourcen nach mehr oder minder detail­lierten Vorgaben des Staates in einem mehr oder minder grol3en Schonraum ausfuhrend tatig zu sein. Die Herausforderung liegt vielmehr darin, in neuen Kooperativen quasi unternehmerisch tatig zu werden und dennoch die Per­sonlichkeitsentwicklung und die Qualifizierung der Schiiler und Schtilerinnen sowie ihre Integration auf dem Arbeitsmarkt als oberste padagogische Leit­ziele zu verfolgen.

FUr die verschiedenen Phasen der Lehrerbildung folgt hieraus, dal3 Schul­und Bildungsmanagement sowie Konfliktmanagement ebenso wie Curricu­lum-Konstruktion zentrale Bausteine der Qualifizierung zu werden haben. FUr das Schulmanagement gehoren dazu im einzelnen: Finanzierung (Geldbeschaffung), Budgetierung, Personalentwicklung, Personalrekrutie­rung, Personaleinsatzplanung, organisationale Strukturierung und Entwick­lung, Verwaltungsmanagement, Teamentwicklung und Gremien-Kultur sowie nicht zuletzt padagogische Profilbildung und HerstellungIPflege von Ver­bundsystemen.

2. Beispiele fUr eingeschlagene Wege im Projekt

Zunachst einrnal mul3 man in der horizontalen Schulentwicklung nach Innen­und Aul3enprozessen unterscheiden. Sodann vertikal nach dem grundlegenden

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WiliensprozeB, der in die Entwieklung und ZielkHirung fUhrt, sowie den dar­aus abgeleiteten ProzeBschritten.

Was die AuBenprozesse angeht, so hat sich in Hessen gezeigt, daB fast tiberall Kooperativen, die dann in die Institutionalisierung als Verein einmtin­den, das Mittel der Wahl sind. Die von den Vereinen getragenen Aktivitaten erreichen im Extremfall untemehmerische Aktivitat nieht nur bis hin zur Her­stellung und zum Vertrieb von Produkten und Dienstleistungen ( Produkti­onsschul-Idee).

Ich nenne als Beispiel die Erstellung, den Druck und Vertrieb von regio­nalen Wander- und RestaurantfUhrem, Informationsdienste beztiglich Ju­gendarbeit und Stadtverwaltung (z. B. Info-Busse), Reparatur- und Verleih­dienste, Partyservices und Multimedia-Werkstatten, Betreiben von Gastebau­sem, Planung und Entwurf okologischer Anlagen (Solar). Ich konnte diese Liste verlangem bis zum Beschicken von Markten, Messen und Ausstellun­gen, bei denen tiber die Schule und ihre Ausbildungsgange informiert und da­fur geworben wird.

1m InnenprozeB lag bislang der AnstoB bei drei Faktorenkomphen. Entweder die Schule sah sich aufgrund okonomischer, auch demographi­

scher Veranderungen in ihrer Existenz beschnitten oder sogar bedroht und ging mit neuen Schulformen und Ausbildungsgangen in die Offensive oder Lehrstil und Ausstattung waren veraltet, die Betriebe beschwerten sich oder das Lemverhalten der SchUler, speziell die Disziplinprobleme, hatten Druck erbracht. Absentismus, Verweigerung von Hausaufgaben, StOrverhalten im Unterricht und Aggressionen gegen Sachen, SchUler und Lehrer sind die Hauptphanomene, gegen die padagogisch Abhilfe gesucht wurde, auch und gerade an kaufmannischen Schulen.

1m Rahmen des Forschungsprojektes sind wir damit befaBt, diese ver­schiedenen FaktorengefUge im Detail, auch statistisch und bis in die Regio­nalentwicklung hinein zu rekonstruieren, weil die beteiligten Schulen solches nicht dokumentiert haben. Eine solide Entwicklungsplanung und die Bil­dungspolitik, aber auch die Lehrerbildung, sind davon abhangig, daB die Ur­sachengefUge intersubjektiv nachpriifbar geklart werden.

Man konnte diesen Teil der Forschung auch als sozio-okonomische Hi­storiographie in bildungspolitischer und professionstheoretischer Absicht be­zeichnen. Nur bezieht sieh Historie in diesem Fall auf die unmittelbare Ver­gangenheit wie die begrnnene Zukunft.

Schulen, die sich bereits seit Hingerem in einem dynamischen Entwick­lungsprozeB befinden, nutzen diese Dokumentationschance mit Hilfe des ex­temen Forschungsteams auch dazu, schulspezifische Praxishandbticher er­stellen zu lassen, in denen die BedingungsgefUge und Vorgehensweisen ins­besondere bei der Haushaltsplanung, bei der Currieulumplanung, beim Perso­naleinsatz, bei der Stundenplanerstellung und beim Projektmanagement fest­gehalten werden.

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Was die innerschulischen Prozesse der Willensbildung und Program­mentwicklung betrifft, so lassen sich drei prototypische Wege ausrrnchen.

Erstens: Uber padagogische Tage, Gesamtkonferenzen und Arbeitsgrup­pen werden zunachst Optionen erarbeitet, die dann etappenweise realisiert werden.

Zweitens: Es werden BeraterInnen in die Schule geholt werden, die zu­nachst auf der Basis von Supervisionskonzepten arbeiten.

Drittens: Ein dritter Weg liegt darin, nach padagogischen Tagen oder padagogischen Konferenzen mit Hilfe von Extemen Zukunftswerkstatt-Arbeit zu leisten, urn danach die Schwergewichte der Programmentwicklung und die erforderliche Weiterbildung der Kolleginnen und Kollegen einer Schule zu bestimmen und in die Wege zu leiten. Dabei dienen immer wieder die folgen­den Koordinaten als MeBlatte.

Mit dem Entwicklungsdruck hin zu einer neuen Schulidentitat konnen latente Konflikte, wie sie in allen Kollegien bestehen, einen dynamischen Schub erhalten und akut werden. Dies muB nicht zu offenen Kampfen ftihren. Es kann genau so gut geschehen, daB abwehrende Verhartungen stattfinden und tiberhaupt nichts mehr vorwarts geht. In solchen Fallen wird Supervision oder Konfliktberatung von auBen unvermeidbar. Es hat sich aber gezeigt, daB Schulen, die den Weg tiber die Zukunftswerkstatt wahlen, ihre latenten Kon­flikte besser produktiv wenden.

Die klassischen Supervisionsansatze, wie sie auch in den Schulen zu fin­den sind und wie sie vor allem aus dem Kontext des Dortmunder Institutes filr Schulentwicklungsplanung angeboten werden, greifen, das ist eine zweite wichtige Erfahrung in unserem Projekt, auf signifikante Weise zu kurz. Zwar helfen sie, gerade an gewerblichen Schulen oder dort, wo die gewerblichen Abteilungen dominieren, mit Verfahrenstechniken in Haushaltsangelegenhei­ten, bei der Moderation von Konferenzen und im Konfliktmanagement mit Hilfe von gemeinsamen Regeln und Methoden effizienter miteinander umzu­gehen. Eine Gesamtsystematik der Schulentwicklung und des Schulmanage­ments wird aber nicht erreicht. Die Supervisionsansatze sind in Fragen der Arbeitsorientierung noch nicht gentigend entwickelt. Wir versuchen daher im Projekt durch die Kombination von Consulting und Weiterbildung neue Wege einzuschlagen.

Ich will dies an zwei kleinen Beispielen schildem. Konferenzen sind nur dann sinnvoll, wenn sie Informationsklarheit er­

bringen und/oder Probleme so losen bzw. auf den Losungsweg geben, daB klar ist, wovon und wie nach einer gegebenen Zeitspanne der Erfolg bemes­sen und evtl. eine Nachbesserung angeschoben wird.

Wenn das Feedback-Blatt (von Konferenzen in einer Schule durch einen Supervisionskurs empfohlen) aber nur das kommunikative Klima abfragt, muB die professionelle Effizienz auf der Strecke bleiben, weil die konkreten Arbeitsauftrage, ihre Durchfilhrung und Evaluierung auf der Strecke bleiben

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und damit die Arbeit selbst entwerten. Das belastet Wohlbefinden und Psy­che, und es entsteht ein Sog in Negativstimmung.

Urn ein Beispiel zu geben, das aus dem Unterricht stammt: Die Frage, warum eine Klasse sich am Unterricht mehr oder minder dis­

zipliniert beteiligt oder ihn fur den Lehrer zum Chaos-Management werden laBt, verlangt zumindest die KJarung der folgenden Fragen:

1. Welches Grundverstandnis hat der/die Lehrende bezUglich des Lehrbe­rufs? Fuhlt erlsie sich z. B. als Proviantmeister fur Fachwissen, als ho­heitliche Instanz, als Berater, Forderer oder Verwaltungsagent?

2. Welche Einstellung hat erlsie gegenUber dem Realitatsbezug der Lemin­halte?

3. 1st erlsie in der Lage, sie realitatsnaher zu machen? 4. Welche didaktischen Planungs- und Realisierungsinstrumentarien stehen

zur Verfugung? Welches Kommunikationsrepertoire? 5. Wie breit ist das angewandte Methodenrepertoire? Werden Kunstfehler

gemacht? 6. Was weiB erlsie Uber die Sozialisationsprozesse der SchUler und ist erlsie

sich der tiefenpsychologischen Obertragungsmechanismen bewuBt, wel­che die eigene Sozialisation psychodynamisch in Bewegung geraten las­sen, wenn man mit bestimmten Schtilergruppen zu tun hat? 1st Biogra­phiearbeit erfolgt (vgl. Lisop 1994)?

Hieran konnen Sie ersehen, daB Evaluierung, Programmplanung und Fortbil­dungsbedarf mehrschichtig ineinandergreifen und immer die Schule als Gan­zes, das Kollegium oder Teilgruppen als Ganze wie auch Lehrerinnen und Lehrer ganz individuell betreffen. Insofem sind die vier Ebenen des Koordi­natensystems der Schulentwicklung immer auf komplizierte Weise gleichzei­tig betroffen, weshalb es extemer Beobachter, solider Kommunikation unter anderem mit Video-Aufnahmen von Konferenzen und Unterricht und eines differenzierten Konfliktmanagements bedarf, bei dem psychosozial kommu­nikative und professionell fachliche Belange aufgezeigt, aus falschen Ver­schrankungen gelost und in eine neue Korrelation gebracht werden mitsen.

Dies kann z. B. heiBen, bei einer undisziplinierten, aggressiven, die Hausaufgaben verweigemden Schulklasse nicht direkt an diesen Phanomenen anzusetzen, sondem zunachst die obigen Fragen abzuarbeiten.

SWrungen im Lem- und Unterrichtsverhalten sind immer codierte Infor­mationen darUber, daB die Lehrangebote schlecht in die kognitive Struktur und in die Psychodynamik der Lemenden passen. Die GrUnde dafur sind den Lemenden selbst oft nicht greitbar. Die SWrphanomene enthalten sie aber wie eine Geheimbotschaft. So deutet die Verweigerung von Hausaufgaben immer darauf, daB schulische und nicht schulische Lebenswelt sich konkurrierend oder gar konfliktuos zueinander verhalten.

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Dies kann damit zusammenhangen, daB die Ziele, Inhalte und Methoden des Unterrichts mit den Mentalitaten und Lebensformen des nichtschulischen Milieus konfligieren. Aggression und Wut, urn ein anderes Beispiel zu nen­nen, sind VerhaltensauBerungen, deren Geflihlsbasis mit dem Stau und der Unterdrilckung von Lebenskraften und Lebensbedilrfnissen und gleichzeitig mit dem Erleben sozialer Ungerechtigkeit, und das heiBt auch mit Akzeptanz­problemen zusammenhiilgen.

Die entsprechenden selbstkritischen Fragen der LehrerInnen sowie die der BeraterInnen milssen daher u. a. anhand objektivierten Materials wie Vi­deo-Aufzeichnungen danach suchen, an welchen Punkten der Unterricht nach Zielstellung, Inhalten, Methoden und Lehrerverhalten die Lebensweltproble­me der SchillerInnen so tangieren konnte, daB Lemverweigerung die Folge ist.

Zusammenfassung

Schulorganisationsentwicklung bewegt sich damit, erziehungswissenschaft­lich betrachtet, in einem Schnittfeld von Strukturforschung, Didaktik und Curriculumtheorie via Lem- und Verhaltenspsychologie, Sozialisations- und Mentalitatentheorie sowie Organisationstheorie.

Damit ist ein Feld konstituiert, das die padagogische Professionalitats­theorie bislang nicht in dieser Komplexitat in den Blick genommen hat. Prak­tisch stehen wir damit allerdings vor der Tatsache, daB Unterrichten und Schule-Halten aufwendiger, komplexer und komplizierter geworden sind. Ich habe bereits erwahnt, daB hierzu neue Wege in der Kombination von standar­disierter Arbeit und Entwicklungsleistungen zu finden sind und daB vor aHem Team-Arbeit an Schul en keine Forderung aus bildungspolitischen Sonntags­predigten ist, sondem Gebot der Stunde. Es mag paradox klingen, aber der padagogische Auftrag beruflicher Schulen kann nur erflillt werden, wenn sie begreifen, daB sie hochkomplexe Produktionsstatten sind, deren gutes Mana­gement und deren Wissenschaftlichkeit erst die Freiraume flir die padagogi­sche Arbeit schafft.

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Literatur

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Technische Bildung in Preussen-Deutschland 1890-1938. Methodologische Anmerkungen in theoretischer Absicht*

Friedheim Schutte

Die seit Beginn der 1990er Jahre gefiihrten Debatten urn die Krise des dual en Systems der Berufsausbildung lassen zwar vollig kontrare Meinungen hin­sichtlich der Transformation der Beruflichen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland erkennen, weitgehender Konsens besteht jedoch darin, die At­traktivitat des Dualen Systems zu steigern und eine engere institutionelle, di­daktische und curriculare Verbindung von beruflicher Erstausbildung und Weiterbildung bildungs- und schulpolitisch anzustreben. Die Umsetzung al­lerdings wirft weitreichende Fragen auf. Wie entwickelt sich das Verhaltnis von Allgemeinbildung und Beruflicher Bildung? Obernimmt die Weiterbil­dung in Zukunft nicht die Funktion der Erstausbildung? Wird die Europaisie­rung der nationalen Bildungssysteme nicht das Ende des bildungspolitischen »deutschen Sonderwegs« markieren. Kritisiert die hohe Staatsquote in den ostdeutschen Landern und die Ausblendung spezifischer DDR-Traditionen im Sektor der Beruflichen Bildung nicht die Grundlagen des berufliche Bil­dungssystems. Blockiert das Berechtigungswesen und das daraufrekurierende deutsche Beamtenrecht nicht jeden Reformversuch. Hochst unterschiedliche Perspektiven auf die bildungspolitisch zentrale Frage: Wohin soli sich das System der Beruflichen Bildung entwickeln (neuerdings: Arnold & Dobischat 1997, Arbeitsgemeinschaft 1996; Euler & Sloane 1997)?

Das an der TU Berlin angesiedelte DFG-Forschungsprojekt »Umstruk­turierung und Verstaatlichung. Aufstieg und Etablierung des niederen Fach­schulwesens in Deutschland 1890-1938« hat sich diesen unterschiedlichen Problemhorizonten zugewandt (Greinert & SchUtte 1994). DaB die Histori­sche Berufsbildungsforschung nur spezifische Argumente beizubringen ver­mag und Interpretationsangebote in Anschlag bringt, die den sozialen Wandel von Institutionen zunachst nur im Riickspiegel betrachten, ist insofern ein

Der vorliegende Text ist eine Uberarbeitete Fassung meines Vortrags, der am 25. April 1997 auf der FrUhjahrstagung der Kommission Berufs- und Wirtschaftspadagogik der Deutschen Gesellschaft fur Erziehungswissenschaft in Magdeburg gehalten wurde. Der Charakter der Rede wurde weitgehend beibehalten.

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doppelter Vorteil, als damit einerseits die Entwicklung des deutschen Berufs­bildungssystems als eine long duree zu analysieren ist, andererseits qualitative Faktoren und nationale Besonderheiten deutlicher in den Vordergrund treten.

Durch einen historisch-systematischen Zugriff hoffen wir, den Blick auf die einzelnen bildungssoziologischen Phanomene und unterschiedlichen be­rufspadagogischen Argumentationsmuster, die die aktuelle Kontroverse be­gleiten, zu erweitern, urn damit bildungspolitische Positionen und veraIlge­meinernde Deutungen auch empirisch fundierter absichern zu konnen.

Erste Ergebnisse sollen nunmehr zur Diskussion gestellt werden. Ich werde mich im folgenden auf methodologische Aspekte konzentrieren, die sich aus der Konfrontation aktueller bildungssoziologischer Fragestellungen und einer als Historische Sozialforschung verstandenen Historischen Beruf­spadagogik ergeben. Sie stehen in Zusammenhang mit einer der zentralen Fragen, die am Anfang des Forschungsprojekts standen: Wie gestaltete sich im historischen ProzeB einerseits das institutionelle Verhaltnis von beruflicher Erstausbildung und Weiterbildung, andererseits das von Berutlicher Bildung und Allgemeinbildung (zur Erlauterung des Forschungsansatzes: Greinert & SchUtte 1994, 1997; siehe auch: Lipsmeier 1991; SchUtte 1996a; Greinert 1997).

In methodologischer Absicht werde ich mich zunachst (I) auf das institu­tionelle Verhaltnis von beruflicher Erstausbildung und Weiterbildung kon­zentrieren. In einem zweiten Schritt (II) werde ich auf der Basis ausgewahIter historischer Befunde Vorschlage zur Interpretation der Institutionalisierung und des sozialen Wandels des Systems Berutlicher Bildung zwischen 1890 und 1938 entwickeln. AbschlieBend will ich die am historischen Material ge­wonnenen methodologischen Befunde mit den eingangs angesprochenen Pha­nomene konfrontieren und einige, vorlaufige Generalisierungen zur Diskussi­on stellen.

I. Wohin solI sich das deutsche System Berutlicher Bildung entwickeln? Diese Frage setzt einen Begriff davon voraus, wodurch das System Berufli­cher Bildung, im Gegensatz zum System der Allgemeinbildung, reprasentiert wird (Harney & Zymek 1994). Es auf das Duale System zu beschranken ware eine unzulassige und methodisch zu begrundende Reduktion. Fragen der Ab­grenzung von Schultypen und Bildungswegen, von UnterrichtsinhaIten und Bildungsgangen treten folglich in den Vordergrund.

Die historische Analyse der Berutlichen Bildung in Preussen-Deutsch­land und damit die Abgrenzung zwischen Weiterbildung und berutlicher Er­stausbildung hat der Tatsache Rechnung zu tragen, daB dessen Entwicklung nur "schwer entwirrbar" (Lundgreen & Grelon 1994, S.22) ist. Damit wird ein methodologisches Problem benannt, das sich bei naherer Analyse als ein be-

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rufspadagogisch-historisch manifestes erweist (Lex is 1904; Kuhne 1929; Thyssen 1954; Blattner 1963).

In systematischer Perspektive lassen sich dafiir drei Grtinde benennen: Erstens - und das trifft vor aHem fUr die Entwicklung des Fachschulwesens im 19. Jahrhundert zu - hat sich das ,berufliche Bildungssystems' naturwuchsig entwickelt und eine ausgepragte Heterogenitat sowohl hinsichtlich der Typen als auch der Berufs- und Branchenorientierung hervorgebracht. Zweitens hat die (preussische) Berechtigungspolitik der 1890er Jahre der Unubersichtlich­keit eine neue Qualitat verliehen. Das Ende der Krise der Fachschulen 1878/90 fur das der Niedergang der preuss is chen Provinzial­Gewerbeschulen ein synonym ist (Schiersmann 1979; Jost 1993) -, das mit der Typendifferenzierung des Gymnasiums und der formalen GleichsteHung von Oberrealschule, Realgymnasium und humanistischem Gymnasium (Lundgreen 1981; Kraul 1984; Zymek 1985) zusammenfiel, war der Anfang der "Typendifferenzierung" des beruflichen Bildungswesens (-systems). Erst mit der Reformierung des Gymnasiums wurde die Berechtigungsfrage und damit die institutionelle Abgrenzung auf die (berufs-)bildungspolitische Agenda gesetzt. Eine von der Allgemeinbildung relativ autonome institutio­nelle Struktur, die sich hinsichtlich Bildungsgangziel, Vorbildung, Berechti­gung, Schulkultur und sozialem Status abgrenzte, entwickelte die technische Bildung seit den 1890er Jahren.

Das Abgrenzungsproblem, zwischen Technischen Hochschulen, Techni­schen Mittelschulen (Baugewerkschule u. niederenlhoheren Maschinenbau­schule resp. Ingenieur- und Bauschule) und beruflicher Erstausbildung zu dif­ferenzieren und damit einen bildungspolitischen »deutschen Sonderweg« zu markieren, pragte die Berufsbildungspolitik im ersten Drittel des 20. Jahrhun­derts. Mit der Reorganisation der das deutsche technische Fachschulwesen tragenden Typen Baugewerkschule und Maschinenbauschulen zu Hoheren Technischen LehranstaIten zu Beginn der 1930er Jahre und der Etablierung der 'neuen' Berufsschule in der Weimarer Republik war die Typendifferenzie­rung des beruflichen Bildungswesen de jure 1929, unter Berticksichtigung der reichsweiten Vereinheitlichung 1932 weitgehend ab~schlossen.

Drittens hat die berufspadagogische und bildungshistorische Forschung den Gegenstandsbereich der mittleren technischen Bildung systematisch aus­geblendet. Seit den I 890er Jahren ist die Kommentierung des Fachschulwe­sens uber staatliche Berichterstattung nicht wesentlich hinausgekommen. Mit dem Autbau der modemen Berufsschule und der Etablierung der Berufs- und Arbeitspadagogik in der Weimarer Republik einerseits sowie dem chroni­schen Facharbeitermangel und der ideologisch bedingten Praferierung der in­dustriellen Nachwuchspflege im Nationalsozialismus andererseits wurde das

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Fachschulwesen als wissenschaftlicher Gegenstandsbereich der Berufs- und Wirtschaftspadagogik zusehends marginalisiert.

War die Fachschule bis in die 1960er Jahre mutais mutandis in West­deutschland in Vergessenheit geraten - ubrigens anders als in der DDR (Hande 1996) -, sollten fortan im reformpolitischen Kontext der Integration von allgemeiner und beruflicher Bildung auf der Basis einer "Praktischen Vorbildung" neue Bildungsgange und neue Karrierewege erschlossen werden. Die berechtigungspolitische Dimension dieses Reformvorhabens knupfte, wenngleich vor einem anderen gesellschaftspolitischen Hintergrund und mit einer anderen Zielsetzung, an die Abgrenzungsdebatte im spaten Kaiserreich an.

Die von Klaus Harney in historiographischer Absicht verfolgte Strategie, die Entwicklungslinien der preussischen Fortbildungsschule in ein "Gesamtsystem beruflicher Schulen" (Harney 1980, S.67) einzubetten und die "Systemfindung" dieses Schultyps als kontinuierlichen ProzeB parallel zur In­dustrialisierung darzustellen, ist methodologisch insofern richtungsweisend, als sie das Verhaltnis von Erstausbildung und Weiterbildung zum Gegenstand historischer Berufsbildungsforschung erklart. Der von Harney vorgelegte hi­storische Befund, wonach die (Pflicht-)Fortbildungsschule ein "Abfallprodukt" (1980, S.67) der vor dem Kaiserreich, namentlich zwischen 1850 und 1870 entstandenen Strukturen sei, steht hier, obwohl wir zu anderen Ergebnissen gelangt sind, nicht zur Diskussion. Vielmehr interessiert der da­hinter stehende methodische Ansatz.

Der Gesamtsystem-Ansatz unterstellt nicht nur eine ideelle Gesamtpla­nung, die auf Basis ordnungspolitischer Kriterien und bildungspolitischer Vorstellungen ein neues Bildungssystem generiert, er beansprucht daruber hinaus einen institutionellen Zusammenhang aller Schultypen, Bildungswege sowie Bildungsgange des Systems Beruflicher Bildung.

Die jungst von Klaus Harney und Peter Storz (1994) im systemtheoreti­schen Kontext analysierte und interpretierte Systemintegration des dualen Sy­stems reflektiert hingegen nur ein Teilsystem der Beruflichen Bildung. »Berufsbildung« wird theoretisch als Subsystem der Wirtschaft betrachtet und historisch in der Tradition des Handwerks, der Stande und der Meisterlehre des 19. Jahrhunderts interpretiert.

Ein derart vorgetragener historisch-systematischer Ansatz verengt die Etablierung und den sozialen Wandel der Beruflichen Bildung auf die "institutionelle Durchsetzung des Berufs" (Harney & Storz 1994, S.355). Die ordnungspolitische Interpretation der "Institutionalisierung und Systemfin­dung der Berufsbildung" (S. 355ff.) wird zum methodischen Rahmen Histori­scher Berufspadagogik erklart. Wolf-Dietrich Greinerts funktionsanalytischer

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(1995a 1996) und GUnter Kutschas (1992, 1995) dualistischer Ansatz lassen eine ahnliche methodische Begrenzung erkennen.

Der dam it angesprochene theoretische Reduktionismus, der vor aIIem von der "zweiten Generation" der Berufspadagogen befdrdert wurde und der in der Zwischenkriegszeit mit der Konzentration auf den Betrieb als zentralen berufspadagogischen art seinen ersten Hohepunkt erlebte, ist einer der Ursa­chen dafUr, daB das Fachschulwesen und damit die Genese der institutioneIIen Weiterbildung und deren Verhaltnis zur beruflichen Erstausbildung aus dem Blick geriet. Er verengt insofem den Gegenstandsbereich Historischer Be­rufsbildungsforschung und arbeitet sich, direkt oder indirekt, an der vorfind­baren "Dualitat" des dualen Systems ab (Stratmann & Schlosser 1990), als er Berufliche Bildung einzig aus der Perspektive der Erstausbildung und den daraus ableitbaren ordnungs-, bildungs- und schulpolitischen Faktoren inter­pretiert.

SolI die historische Rekonstruktion daruber hinaus gehen und den bil­dungspolitischen "deutschen Sonderweg" analysieren, dann ist im methodo­logischen Horizont der ,doppelten Dualitat' Rechnung zu tragen.

Mit doppelter Dualitat ist einerseits die staatliche und privatwirtschaftli­che Logik und in curricularer Perspektive die Lemortproblematik angespro­chen, andererseits die sich irn Berechtigungssystem widerspiegelnde Konkur­renz zwischen "Berufsbildung" und "AIIgemeinbildung". Die doppelte Dua­litat laBt im Horizont geseIIschaftstheoretischer und sozialhistorischer Ober­legungen einen "deutschen Sonderweg" erkennen, der charakteristisch fUr die "Sozialintegration" in Deutschland ist und in forschungsstrategischer Hinsicht auf das "System der sozialen Ungleichheit" verweist (Wehler 1989, S.11; SUnker & Timmermann 1994).

Die historische Rekonstruktion der institutioneIIen Entwicklung und des sozialen Wandels der Beruflichen Bildung in Deutschland ist vor diesem Hintergrund nicht nur auf die Erstausbildung zu beschranken, sondem auf die institutionalisierte Weiterbildung auszuweiten. Zwei Forschungsbefunde er­mutigen nachgerade dazu.

Erstens ermoglichen die jUngst von Johannes Meyser (1995), Frank Wehrmeister (1995) und Robert Hasfeld (1995) vorgelegten Dissertationen zur Genese und Entwicklung der beruflichen Erstausbildung in Preussen­Deutschland, Sachsen und Baden im 19. und fiiihen 20. Jahrhundert erstmals den bildungspolitischen Sonderweg Preussen-Deutschlands kritisch zu re­flektieren.

Nicht nur die preussenlastige Forschung wird dam it Uberwunden, sondem durch einen Vergleich der deutschen Staaten untereinander wird einerseits der ProzeB der Institutionalisierung in Preussen relativiert, andererseits die Optik

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fur einen internationalen Vergleich der Berufsbildungssysteme geschfu"fi. Die Bildungssystemforschung wird damit zu einem berufspadagogischen Gegen­standsbereich sui generis.

Zweitens fordern neueste Untersuchungen zur regionalen Entwicklung gymnasialer Bildungsgange dazu auf, das Bildungsverhalten der Jugendlichen und die Systemkonkurrenz zwischen Allgemeinbildung und Beruflicher Bil­dung historisch zu rekonstruieren (Tosch 1997; Herrmann 1996) und im Ho­rizont arbeitsmarktpolitischer Entwicklungen die Wechselwirkungen zwi­schen den Systemen zu analysieren.

Urn die Transformation des "traditionellen Kern(s) des beruflichen Schulwesens" (Kutscha 1982, S.215) in dem Untersuchungszeitraum in den Blick zu nehmen, wurde von uns, in typologischer Absicht, auf ein Modell, bestehend aus den drei Saulen, »Berufsfachschule« (Produktionsschule, Fach­schule fur Metallindustrie, Gewerbeschule, Kollegschule etc.), "Berufs­schule" (Teilzeit-BS, Sonder-BS, ,Ungelernten-Schule' und "Fachschule" (niedere u. hOheren Fachschule, Privattechnika, Technikerschule) - siehe Obersicht -, die auf unterschiedlichen Ebenen miteinander korrespondieren, zuruckgegriffen (Georg 1984; SchUtte 1996a).

Wahrend die ,Berufsfachschulen' (Handwerker- und Kunstgewerbeschu­len und die Fachschulen fur die Metallindustrie grosso modo, vorausset­zungslos berufliche (Fach-)Bildung vermittelten und als berufliche ,Primar­schulen' agierten, waren die Fachschulen insofern berufliche ,Sekundar­schulen', als sie nach der Reorganisation von 1878/90 zum einen in Konkur­renz zur gymnasialen Bildung traten, zum anderen durch den Nachweis einer "Praktischen Vorbildung" sich von diesem Bildungsweg distinguierten und schlieBlich erfolgreich emanzipierten.

II. Nimmt man die Realgeschichte als Diskurshorizont, dann bieten sich mit Blick auf den gewahlten Untersuchungszeitraum drei Interpretationsfolien an. I Auf den von Detlef K. MUller und Bernd Zymek entwickelten Systembil­dungs-Ansatz, der mit Blick auf den InstitutionalisierungsprozeB schulischer Bildungswege resp. Bildungsgange zwischen "Systemfindung", "Systemkonstituierung" und "Systemkomplementierung" differenziert, soll hier nicht naher eingegangen werden (MUller & Zymek 1987). Er erweist sich als unterkomplex. M.a.W.: der soziale Wandel des Systems Beruflicher Bil­dung laBt sich damit methodisch nicht einfangen. Vielmehr ist im Horizont einer "starker hermeneutisch gewendete(n), symbolorientierte(n) Sozialge-

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In diesem Zusammenhang hat Klaus Hamey unHlngst die Frage aufgeworfen, wie die Be­rufsplldagogik "mit der Vielfalt der Kontextbindungen ihrer Themen umgeht, wie sie sie in eine auf sie selbst bezogene Bestimmung ihrer Aufgabe Ubersetzt und einrahmt" (Hamey 1997, S.2).

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schichte" (Daniel 1994, S.60) das Verhaltnis von beruflicher Erstausbildung und institutioneller Weiterbildung zu untersuchen. Mit diesem Forschungsan­satz, der mit dem Anspruch einer "integrierten historischen Sozial- und Kul­turwissenschaft" auftritt (Daniel 1993, S.84), lassen sich sowohl schulstruktu­relle Veranderungen und bildungssoziologische Phiinomene rekonstruieren als auch die "Praxis", "die komplexe Einheit von Gedanken und Handeln" (ebd.) in den Blick nehmen. Methodisch gewendet ware dernnach das Ver­Mltnis von Bildungsinstitution und Individuum als Handlungsebene sozialin­tegrativer Aktivitaten (Politiken) zu ,verfliissigen'. Anders formuliert: Unter­richtspraxis als "Teil der Lebenswelt der Individuen" (Siinker & Timmer­mann 1994, S.23) und die geforderte "Realitatskontrolle padagogischer Theo­rien" (Herrmann 1991, S.274) lassen sich derart in einem Interpretationsrah­men aufeinander beziehen.

Wenden wir uns der ersten Interpreationsfolie zu und blicken auf das Kaiserreich. Die Sozialgeschichte des Systems der Beruflichen Bildung in der zweiten Halfte des Kaiserreichs wurde von zwei Faktoren gepragt: der Eta­blierung und Formalisierung des technischen Fachschulwesens einerseits und der Abgrenzung der technischen Bildungsgange innerhalb des Systems ande­rerseits. Wahrend der Proze13 der Institutionalisierung der technischen Fach­schulen am Vorabend des Ersten Weltkriegs weitgehend abgeschlossen war, gestaltete sich die Abgrenzung als ein politisch iiberaus schwieriger Vorgang. Bildungspolitische und weitaus bedeutender, berechtigungspolitische Kontro­versen bestimmten Verlauf und Zeitrahmen der horizontal en und vertikalen Typendifferenzierung (Lundgreen 1994; Greinert & SchUtte 1997).

1m Kern ist der soziale Wandel des beruflichen Bildungssystems, na­mentlich die yom Deutschen Ausschu13 gepragte Abgrenzungsarbeit, im Kontext einer Mittelstandspolitik zu interpretieren (Lundgreen 1977; Greinert 1995, S.32). Vor dem bildungspolitischen Hintergrund der Diversifizierung des gyrnnasialen Bildungssystems einerseits und der 1910 vorlaufig abge­schlossenen Reorganisation der preussischen Baugewerk- und Maschinenbau­schulen andererseits, ist die institutionelle und curriculare Autonomisierung der (Pflicht-) Fortbildungsschule zu deuten.

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Obersicht: BS (Berufsschule); BGS (Baugewerkschule); FBS (Fortbildungs­schule); FM (Fachschule fur die Metallindustrie); H (Hohere Maschinenbau­schule); HGY (Humanistisches Gymnasium); HKS (Handwerker- und Kunst­gewerbeschule); HTL (Hohere Technische Lehranstalt); IS (Ingenieurschule); MBS (Maschinenbauschule); N (Niedere Maschinenbauschule); ORS (Oberrealschule); PGS (Provinzial-Gewerbeschule); RGY (Real­Gymnasium); SFS (Schiffahrts- Fachschule); TFS (Textil- Fachschule); VMS (Vereinigte Maschinenbauschule).

Die Fortbildungsschule in Preussen konnte erst zu dem Zeitpunkt eine relative Autonomie entwickeln, als die Reorganisation des technischen Fach­schulwesens abgeschlossen und mit der vertikalen Differenzierung der Fach­schultypen eine mittlere Ebene im deutschen Bildungssystems, die sich zu­dem als Alternative zum System der Allgemeinbildung prasentierte, installiert war. Das "UberfUllungsproblem" war damit erledigt (Lundgreen 1981) - die Bildungsinteressen des industriell-gewerblichen Mittelstands befredigt.

DaB die Entwicklung in Sachsen ordnungspolitisch, nicht aber strukturell einen anderen Verlauf nahm, hat Frank Wehrmeister (1995) Uberzeugend herausgearbeitet. Der von Robert Hasfeld (1995) fUr den badischen Raum vorgelegte historische Befund bestatigt, wenngleich methodisch anders ak­zentuiert, die am gewerblichen Mittelstand orientierte Fach- und Fortbil­dungsschulpolitik im spaten Kaiserreich. DaB der Verein Deutscher Ingenieur

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(VDI) in AlIianz mit dem Deutschen AusschuB diese Politik promovierte, be­statigt den hier vertretenen Interpretationsansatz. Namentlich der VDI trat fUr eine scharfe Abgrenzung ein und forderte sowohl die Profilierung der "Technische Mittelschule" als auch die der Technischen Hochschule. An dem ,dualen System' zeigte er keinerlei Interesse.

In der Weimarer Republik hatte die Mittelstandspolitik keine Konjunk­tur. Insofern veranderte sich auch das Verhaltnis von Erstausbildung und Weiterbildung grundlegend. AngestoBen durch das Stinnes-Legien-Abkom­men und die Rezeption der in den USA entwickelten "wissenschaftlichen BetriebsfUhrung" wurde aus dem vormals asymmetrischen Verhaltnis zwi­schen Berufs- und Fachschule ein, tiber den gesamten Zeitraum der Weima­rer Republik betrachtet, gleichwertiges. Die fur das spate Kaiserreich cha­rakteristische Inferioritat wurde nach dem Ersten Weltkrieg nicht nur ein­drucksvoll tiberwunden (Schtitte 1992, 1994, 1995; Harney 1996), sondern vielmehr in ein systemkonstituierendes, von Konkurrenz gepragtes Verhalt­nis tiberfUhrt. Die schleichende Verdrangung der "Niederen Maschinenbau­schule" durch die "neue Berufsschule" war ein Resultat dieses Prozesses. Die Verlagerung der Abendschule von den Fach- an die Berufsschulen ein weite­res (SchUtte 1996a).

Vor allem die in Berlin und Essen in den fruhen Zwanziger Jahren als Pilotschulen gegrundeten "Betriebsfachschulen" und die sich tiber einen Zeit­raum von acht Jahren erstreckende dritte Reorganisation der maschinentech­nischen Fachschulen lassen einen bildungspolitisch gemeinsamen Nenner er­kennen: die Verbetrieblichung der Ausbildung. Mit Blick auf die hoheren und niederen Maschinenbauschulen wurde tiber die Ausrichtung der Lehr­plane zur "betriebswissenschaftlichen Seite hin" gestritten. Der formale Sta­tus der Praktischen Vorbildung wurde neu fixiert - die "Werkstattstatigkeit" damit faktisch und symbolisch aufgewertet. Erstmals wurde die "neue Be­rufsschule" als vorbereitende Lehranstalt technischer Bildungsgange aner­kannt.

Eine Interpretation dieses historischen Phanomens im Kontext einer auf demokratischen Imperativen aufbauenden Reformpolitik ist insofern plausi­bel, als sie eine Deutung fUr die kontinuierliche Annaherung der beiden Bil­dungsgange ermoglicht, die weder funktionalistisch ausfiillt noch modernisie­rungstheoretisch ins Leere lauft. Die in der Weimarer Republik zu beobach­ten de widerspruchliche Entwicklung, neben bemerkenswerten Niederlagen stehen beachtliche Reformerfolge, ist u.E. auf dieser Folie zu erklaren.

Die Bereitschaft der sozialen Akteure, die Berufliche Bildung als reale Alternative zur Allgemeinbildung aus- und in ein Gesamt- Bildungssystem einzubauen, war auf allen Ebenen - in Administration, Wirtschaft, Gewerk-

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schaft und Verbanden -, sptirbar. Die dritte Reorganisation der Baugewerk­und Maschinenbauschulen, die zwischen 1927 und 1933 realisiert wurde und neue didaktische Impulse lieferte, und der berufsschuldidaktische Aufbruch, der mit der "Frankfurter Methodik" (Wissing 1954; Pukas 1988, S.429ff.) verbunden ist, sind dafiir zwei Beispiele unter anderen.

Das System Beruflicher Bildung wurde trotz asymmetrischer Reformen transformiert. Die vom "Reichsgutachterausschuss" seit 1922 betriebene Standardisierung der technischen Bildung an Hoheren Maschinenbauschulen war ein Pilotprojekt zur Vereinheitlichung beruflicher Bildungsgange, das Auswirkungen auf das gesamte berufliche Bildungssystem hatte. Die am En­de der Weimarer Republik gefundene begriffliche "Einteilung" der Schulty­pen war sowohl Ausdruck als auch indirektes Ziel dieser Initiative (SchUtte 1996a). Von allen diesen, vor all em in der zweiten Halfte der zwanziger Jah­re initiierten Reformprojekten zehrte das NS-Regime.

Der mit der Errichtung des Reichserziehungsministeriums im Mai 1934 vom Nationalsozialismus vollzogene ordnungspolitische Traditionsbruch, dem administrative Agonie2 (Mommsen (1990, S. 38f.), eine politische Radi­kalisierung des Schulalltags und Ideologisierung der Bildungspolitik voraus­gegangen war, markiert nicht nur eine scharfe Zasur - die auch personalpoli­tische Konsequenzen zeitigte - hinsichtlich des Institutionalisierungsprozes­ses, sondem evoziert auch einen neuen Interpretationsrahmen. Dberblickt man die Bildungspolitik des NS-Regimes im Bereich des Berufs- und Fach­schulwesens zwischen 1933 und 1938, dann zeigt sich im sozialgeschichtli­chen Horizont eine von wechselnden Imperativen bestimmte Programmatik.

Die Polykratie der Zustandigkeit, die vergleichsweise einfluf310se Positi­on des Reichserziehungsministeriums, die Ideologisierung der technischen Bildung und die kriegspolitische Instrumentalisierung des Systems Berufli­cher Bildung legen in methodischer Absicht den SchluB nahe, den sozialen Wandel des Gesamtsystems auf der Folie einer von Widersprtichen gekenn­zeichneten De-Professionalisierungs- und De-Standardisierungspolitik zu in­terpretieren.3

Diese Politik, die sich in drei Etappen vollzog, hinterlieB ein beschadig­tes Berufs- und Fachschulwesen, das fiiih jtidische Mitbtirger aus Lehrkolle-

2 Hans Mommsen spricht in diesem Zusammenhang von "Entprofessionalisierung" (S.33) des Regierungssystems resp. der Administration.

3 Die gllngigen Interpretationen sind damit insofem zu korrigieren, als die dem NS-Regime zugeschriebene Modemisierung des System (Facharbeiter-PrUfung und Reichs- Berufs­schulgesetz) einerseits auf die bereits in der Weimarer Republik geleistete Vorarbeit zu­rUckgriff, andererseits dem "wehrpolitischen" Diktat des Reichskriegsministeriums und der Vierjahresplan-Politik folgte.

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gien und Schulklassen ausgrenzte, die berutliche Weiterbildung vernachHis­sigte, berechtigungspolitische Initiativen ankUndigte, nicht aber umsetzte, AusbiidungspHitze versprach und Anlernverhaltnissen tolerierte (Harney 1996, S.50; SchUtte 1997) und vor einer systematisch organisierten Absen­kung des Bildungsniveaus an den technischen Fachschulen nicht zuriick­schreckte.

Von arbeits- und riistungspolitischen Imperativen gepragt, die von der Industrie in jeder Hinsicht bedenkenlos mitgetragen wurden, scheiterte die NS-Berufsbildungspolitik an einem kurzfristigen Effizienzdenken. Die in der Weimarer Republik begonnene und teilweise realisierte ,Systembildung' ge­riet mit jedem Jahr mehr aus dem Blick. Andere Prioritaten pragten den Wandel.

III. Ich komme zum dritten Punkt: zur Konfrontation der zu Beginn vor­getragenen aktuellen Phanomene mit den im historischen Rekonstruktions­prozeB gewonnenen Erkenntnissen. Drei Generalisierungen sind abschlie­Bend zur Diskussion zu stellen:

l. Die historische Entwicklung von berutlicher Erstausbildung und Weiter­bildung ist auf vielfache Weise miteinander verbunden. Sie ist nur ana­lytisch voneinander zu trennen. Eine Reformpolitik, die sich dieses Zu­sammenhangs bewuBt ist und eine Steigerung der Attraktivitat des dua­len Systems fordert, hat deshalb das gesamte System der Berutlichen Bildung zum Ausgangspunkt zu wahlen. Insofern sind berechtigungspo­litische und didaktische Fragen zunachst innerhalb des Gesamtsystems im Horizont einer Integration von Schultypen und Bildungsgangen auf­einander abzustimmen (SchUtte 1996).

2. Das System Berutlicher Bildung ist integraler Bestandteil des Gesamt­Bildungssystems. Durchschlagende Reformen sind nur in diesem Rah­men zu denken. Wie die historische Analyse zeigt, sind die politischen Konjunkturen der Berutlichen Bildung immer unmittelbar in einem all­gemeinen Bildungs- und Reformdiskurs eingebunden und darauf ange­wiesen. Das war im spaten Kaiserreich nicht anders als in der Weimarer Republik. Selbst der Niedergang der Berutlichen Bildung in den 30er Jahren spiegeJte die bildungspolitische Orientierungslosigkeit des NS­Regimes wider. Der erfolgreiche Autbruch in den 60er Jahren ist ein weiterer Beweis, das System der Berutlichen Bildung nicht isoliert zu betrachten.

3. 1st der bildungspolitische "deutsche Sonderweg" mit der Trennung von "Allgemeinbildung" und "Berufsbildung" an sein Ende gelangt? Die Be­antwortung dieser Frage ist nicht losgelost yom sozialpolitischen Cha-

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rakter der Beruflichen Bildung zu betrachten (Georg 1994; Greinert 1997). Ais gesellschaftspolitisches Instrument reprasentiert es eine spezi­tisch deutsche Variante sozialer Konfliktl5sung (Giddens 1997, S. 192ff.). In the long run waren in der Auseinandersetzung urn Weiterent­wieklung und fmanzielle Ressourcen die wirtschafts-, arbeitsmarkt- und qualitikationspolitischen Faktoren der Beruflichen Bildung symbolisch, nieht aber faktisch wirklich von politischem Gewieht. Eine Fixierung auf das Duale System negiert nicht nur die Struktur und Potentiale des Sy­stems Beruflicher Bildung, sie verkennt vor aHem die gesamtgeseH­schaftliche Bedeutung der Beruflichen Bildung.

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Genese und "Wirksamkeit" der technischen Berufsmaturitat im Spannungsfeld bild ungspolitischer Interessena ushandlung

Philipp Gonon

1m Januar 1993 wurde in der Schweiz eine Verordnung erlassen, die erst­mals doppelqualijizierende Ausbildungsgange in der Berufsbildung erm6g­licht. Neben einem traditionellen Lehrabschluss kann gleichzeitig mit der be­ruflichen Erstausbildung durch zusatzlichen Unterricht die "Berufsma­turitat", die einer Fachhochschulreife entspricht, erworben werden.

Anhand des analytischen Instrumentariums der Policy-Forschung wer­den Entstehung und Perspektive dieser Berufsbildungsreform rekonstruiert. Es zeigt sich hierbei, dass insbesondere die Ingenieurschulen im Gefolge ih­rer Umwandlung zu Fachhochschulen als treibende Kraft dieser Innovation im Berufsbildungsbereich ausgemacht werden k6nnen. Db die erfolgten Massnahmen zu den erwunschten Wirkungen fuhren, ist Gegenstand dieser Ausfuhrungen, die auf einer vom Verfasser als Koautor durchgefuhrten Stu­die beruhen'.

Fragestellung und theoretischer Bezugsrahmen

1m deutschen Sprachraum sind seit Claus Offes Fallstudie zur Berufsbil­dungsreform (Offe 1975) kaum grossere berufsbildungspolitische Untersu­chungen durchgeflihrt worden. Es finden sich hingegen Gutachten zu den Perspektiven des Berufsbildungswesens (vgl. Stratmann & Schlosser 1990) und VerOffentlichungen, die die Steuerung des beruflichen Bildungsberei­ches analysieren (Streeck u.a. 1987IHilbert u.a. 1990IKoch & Reuling 1993).

Kiener, U. & Gonon, Ph.: Die Berufsmatur als Fallbeispiel schweizerischer Berufsbil­dungspolitik. (Unveriiff. Typoskript. WinterthurlBern 1997). Die Studie wurde als Teil­projekt im Rahmen des Nationalen Foschungsprogrammes NFP 33 "Die Wirksamkeit un­serer Bildungssysteme" (vgl. we iter unten) im Zeitraum von 1993 his 1997 erstellt.

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Wenig gewichtet in bildungspolitischen Analysen wird hierbei allerdings die EinfUhrung von Neuerungen und generell der bildungspolitische Prozess der Interessenaushandlung von Innovationen.

Die im folgenden prasentierten Uberlegungen und Teilergebnisse sind letzterem Anliegen verpflichtet. Sie beziehen sich auf eine Reform, welche nach einer langeren bildungspolitischen Stagnationsphase in einem kurzen Zeitraum eine bedeutsame Veranderung der beruflichen Erstausbildung in der Schweiz einleitete. Durch zusatzlichen allgemeinbildenden Unterricht wird mit dem Lehrabschluss gleichzeitig auch eine Fachhochschulreife ver­mittelt: die "Berufsmaturitat". Fur Lehrlinge mit "gehobenen" schulischen Ansprlichen wurde bereits mit dem Berufsbildungsgesetz von 1978 (BBG) die Moglichkeit einer erweiterten schulischen Allgemeinbildung festgehalten. Jugendliche konnten einen zweiten Tag Berufsschulunterricht beanspruchen. Nur eine Minderheit der Lehrlinge machte allerdings von diesem Angebot eines so genannten Berufsmittelschulbesuches Gebrauch. Nicht nur zeigten sich viele vorwiegend klein ere Betriebe gegenuber einer zusatzlichen Be­triebsabwesenheit skeptisch, unklar war auch der Nutzen eines solchen "BMS"-Abschlusses. Mit der Einfuhrung der "Berufsmaturitat", wie der neue und nun reformierte Berufsmittelschulabschluss in Anlehnung an die gymna­siale Maturitat (Abitur) genannt wird, sollen bedeutend mehr lugend1iche fiir diese Variante der Berufslehre mit erweitertem Berufsschulbesuch gewonnen werden. War ein bisheriges BMS-Zertifikat von geringem oder zweifelhaf­tern Wert im Bezug auf ein Weiterstudium an einer hoheren Fachschule, so wird durch die neue "Verordnung uber die Organisation, die Zulassungsbe­dingungen, die Promotion und die Abschlussprlifung der Berufsmittelschule" vom 18. Januar 1993 eine allgemeine fachgebundene Zugangsberechtigung zu den seit 1995 durch ein entsprechendes Gesetz geregelten Fachhochschu­len festgehalten.

Der in unserer Untersuchung naher beachtete Zeitraum umfasst die Jahre 1989 bis 1993, als sich das Reformkonzept einer "Berufsmaturitat" heraus­schalte, welches schliesslich in einer neugeschaffenen Rechtsgrundlage auf Verordnungsebene mundete. Es wird in den weiteren AusfUhrungen aus­schliesslich die technische Berufsmaturitat behandelt, deren EinfUhrung eine Vorreiterrolle fUr die Schaffung weiterer Berufsmaturitaten im kaufmanni­schen, gestalterischen und gewerblichen Bereich - und darliber hinaus auch fUr zusatzliche Innovationen mit ahnlicher Stossrichtung fur Sozial- und Pflegeberufe - innehatte. Gleichsam wird die Geschichte der technischen Be­rufsmaturitat prasentiert als chronologische Abfolge einer Projektierung und anschliessenden normativen Fixierung auf nationaler Ebene, beruhend auf ausgehandelten Perspektiven unterschiedlicher Akteure.

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Die Analyse basiert auf einer Auswertung von Dokumentationen und Artikeln aus Fachzeitschriften und der Tagespresse und auf einer direkten Expertenbefragung nach Massgabe der Standards der qualitativen Sozialfor­schung2•

Die Interpretation der vorgefunden und erhobenen Daten richtete sich -gemass den Vorgaben des nationalen Forschungsprogrammes - auf das Krite­rium der "Wirksamkeit"3. Mit dieser Bezeichnung sollte ein Zusammenhang zwischen Reformabsicht und "Reformerfolg" hergestellt werden. Eine un­mittelbare Uberprtifung der Zielkonformitat der getroffenen Massnahmen mit den Reformabsichten lasst sich in komplexen bildungspolitischen Zusam­menhangen jedoch nur bedingt bewerkstelligen. Ein solches Unterfangen legt eine zeitlich ausholende Perspektive nahe. Erst in einem grosseren Zeitraum von 20 lahren liesse sich rtickblickend die "Wirksamkeit" einer bildungspo­litischen Neuerung eruieren. Da das Projekt jedoch auf einen beschrankten Zeitraum und auf knappe Ressourcen verwiesen war, ist der Fokus eher auf kurzfristig sichtbare Effekte und mogliche Folgewirkungen, wie sie aktuell wahrgenommen werden, ausgerichtet. Zur Zeit befindet sich das "Berufsmaturitatsprojekt" in Umsetzung4; erst in dieser Implementationspha­se wird sich weisen, inwiefem tiber die geschaffenen legislativen Grundlagen hinaus, die Reform "greift". 1m Falle der Berufsmaturitat kann die bildungs­politische Innovation dann als "wirksam" bezeichnet werden, wenn sie als "legitimer Zubringer" der Fachhochschulen anerkannt ist, und zwar in einem rechtlichen wie auch institutionellen Sinne. Ausserdem mtissen potentielle Benlitzer dieses Ausbildungstyps nicht nur davon Kenntnis haben, sondem gleichzeitig ist erforderlich, dass die Moglichkeit besteht, tatsachlich diesen

2 Es wurden leitfadenorientierte Interviews mit 50 kantonalen und eidgenl)ssischen Exper­ten, bzw. interessenpolitischen Akteuren durchgefUhrt. Ein Teil der Daten wurde mit Ton­band erhoben, transkribiert und ausgewertet. Auf die Ergebnisse dieses Auswertungs­schrittes wird jedoch in diesem Artikel nicht nalter eingegangen.

3 Das sogenannte NFP 33 "Wirksamkeit unserer Bildungssysteme" ist ein mit 15 Mio Sfr. dotiertes Rahmenforschungsprogramm des Schweizerischen Nationalfonds, in welchem 30 Forschungen zwischen 1993 und 1998 durchgefuhrt werden, mit der Ubergreifenden Fragestellung, "Wirkungen" von Lemprozessen, Bildungseinrichtungen und bildungspo­litischen Massnahmen im gesamten Bildungsbereich zu eruieren (vgl. Trier 1995). Aus­schlaggebend fUr dieses Programm waren iiffentliche Debatten Uber die Zukunft der Bil­dung, die dann auch von der Bildungsforschung aufgegriffen wurden (vgl. Gonon & Oel­kers 1993).

4 Waltrend der Beitrag des Autors sich auf die nationale Ebene der BerufsmaturiUit konzen­trierte, untersuchte Urs Kiener die ersten UmsetzungsbemUhungen in den Kantonen ZU­rich und Baselland. Gerade in dieser Phase zeigten sich WidersprUchlikeiten, die einer weiteren bildungspolitischen Bearbeitung bedUrfen.

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Ausbildungsweg einzuschlagen, was unter anderem auch eine zustimmende Haltung der Ausbildungsbetriebe miteinschliesst.

Untersucht wurden demgemass primar die Einschiitzungen und Stand­punkte hinsichtIich Problem- und Losungsformulierung der am Prozess be­teiligten Akteure, bzw. die sie reprasentierenden Institutionen und Gruppie­rungen. Diese aussem sich in der Regel in fachspezifischen Publikationen und in bereichsbezogenen Gremien, was fUr das fortlaufende Handeln im Re­formprozess von entscheidender Bedeutung ist. Ein in der Policy-Forschung so genanntes Akteurmodell dient hierbei der Identifzierung eines solchen Per­sonenkreises und der Analyse des Reformverlaufs. Akteure sind Personen, bzw. Reprasentanten von Institutionen und Verbiinden, welche sich zu unse­rem untersuchten Gegenstand, namlich der Berufsmaturitat als bildungspoli­tischem Reformprojekt, ausserten. Diese Akteure handeln in einer "Arena" bildungspolitische Perspektiven aus, wobei sie tiber unterschiedliche Res­sourcen und damit Gewichtung ihrer Argumente bzw. Durchsetzungsmacht verfligen (vgl. Weber 1995). Der art der Auseinandersetzung und des Aus­handelns kann im Verlaufe des Reformprozesses variieren, dementsprechend gilt es auch unter Umstanden mehrere Arenen in ihrer moglichen Parallelitat und zeitlichen Abfolge zu erfassen. Es wird hierbei eine in der bildungspoli­tischen Forschung eher wenig problematisierte Perspektive geteilt, dass niim­lich die Akteure des bildungspolitischen Prozesses meist auch identisch sind mit denjenigen, welche tiber Bildungspolitik und Reformen sich aussem. Die Aussagen und Optionen aus diesem Personenkreis, den en man in der Oef­fentIichkeit und auch im Forschungsverfahren einen Expertenstatus zu­spricht, werden als "context of influence" bezeichnet (Bowe u.a. 1992). Es sind diese bildungspolitischen Akteure, die aufgrund einer spezifischen Posi­tion tiber Expertenwissen verfligen, welches ihnen selbst erlaubt, bildungs­politisch und das heisst fUr unseren Zusammenhang fUr die Reform der Be­rufsmaturitat, relevant in Erscheinung zu treten.

Die zentralen Akteure der Berufsmaturitatsreform

Als aktive Krafie lassen sich auf Seiten des Bundes das Bundesamt flir Indu­strie Gewerbe und Arbeit (BIGA) im besonderen die Abteilung Berufsbil­dung, und die Kantone in bildungspolitischen Angelegenheiten vertretend, die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) ,

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dann aber auch die in der Berufsbildungsamterkonferenz vertretenen kanto­nalen Berufsbildungsamter (DBK) ausmachen5. Eine wie zu zeigen sein wird eminent wichtige Rolle spielen weiter die in der Direktorenkonferenz verei­nigten Ingenieurschulen (DIS) und weniger markant schliesslich die Berufs­schulen, bzw. die Berufsmittelschulabteilungen an den Berufsschulen6•

Abb.: Akteure im Zusammenhang mit der (technischen) Berufsmaturitat

Akteure im Zusammenhang mit der Berufsmaturitiit

Auffallig ist hierbei die eher passiv-kritische Haltung der traditionell domi­nanten Verbande aus gewerblichen, industriellen und gewerkschaftlichen Kreisen in der Berufsbildung. Sie treten erst im Zusammenhang mit den 1992 stattfindenden Vemehmlassungen7 in Erscheinung. Dies liberrascht insofem, als sich aIle von uns angesprochenen Person en wie auch die Oeffentlichkeit daruber einig sind, dass es sich nicht urn eine "kleine" Reform handelt. Dar-

Der Einfachheit halber wird diese, je einen west- und deutschweizer Verbund einschlie­ssende Konferenz "DBK" abgekUrzt, da sich die Dokumentenanalyse auf die deutschspra­chigen VerOffentlichungen konzentriert.

6 Die Berufsschulen sind reprllsentiert in der Direktorenkonferenz der Berufs- und Fach­schulen (SDK). Da auch zu einem splUeren Zeitpunkt sich die Berufsmittelschulrektoren als eigenstllndiger Verband konstituierten wird die summarische Bezeichnung Berufs­schul en verwendet.

7 Eine Vemehmlassung ist eine "AnhOrung" und Beratschlagung von Verbllnden, Institu­tionen und weiteren als relevant erachteten Personen zu einem Thema, welches legiferiert wird. 1m Vorfeld der Rechtsetzung werden mtigliche Einwllnde und Anregungen bearbei­tet und wenn immer mOglich in modifizierter Form in bestehende EntwUrfe integriert.

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auf weisen bereits die beigefugten Attribute hin, die mit der Reformdiskussi­on einhergehen: Die "Attraktivitat der Lehre" solI gesteigert, die prestigebe­zogene Benachteiligung gegeniiber den Gymnasiasten behoben und die Be­rufslehre insgesamt auf eine hOhere Stufe gehoben werden; ausserdem sol1 die Kompatibilitat des Schweizerischen Bildungswesens mit Europa gesucht und erreicht werden.

Berufsmaturitat als "neue" Problemkonstruktion und Begrifflichkeit

Dem a11seits beschworenen Reformbedarf zum Trotz ist es dennoch iiberra­schend, dass die Genese der Berufsmaturitat als solche ziemlich im Dunkeln liegt. Niemand - auch die Protagonisten der Reform - vermag im Nachhinein genau zu sagen, wie etwa der Begriff "Beruf' und "Matura" sich miteinander verbinden konnten. Es wird verschiedentIich auf die Zeitbedingtheit der all­gemeinen Diskussion in der Schweiz im Zusammenhang mit Europa und auf giinstige, ja einmalige Umstande verwiesen, dass es gelang, solche ehemals als dem schweizerischen Bildungssystem wenig gemasse SchOpfungen in die Welt zu setzen und dazu noch in "unschweizerischem Tempo" zu etablieren. An einem im Januar 1991 yom Schweizerischen Institut fur Berufspadagogik (SIBP)8, den "Ingenieure(n) fUr die Schweiz von morgen" und dem multina­tionalen Konzem ABB organisiertem Symposium, veranstaltet, urn den Dia­log zwischen Ingenieurschulen und Berufsschulkreisen zu "intensivieren", taucht der Begriff "Berufsmaturitat" noch nicht auf, statt dessen wird aller­dings von einer Fachmatura und von einer Fachhochschulreife gesprochen.

Das Verhiiltnis Ingenieurschulen-Berufsbildung als Reformthema der bildungspolitischen Arena

Es sind Tagungen und Arbeitsgruppen, die als Arenen fungieren und in de­nen sich die zentralen Akteure begegnen, austauschen und konfrontieren,

8 Am Schweizerischen Institut fur Berufsplldagogik (SIBP), mit Filialen in Zollikofen bei Bern, Lausanne und Lugano, wird die Berufsschullehreraus- und -fortbildung grtlsstenteils organisiert und durchgefuhrt.

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welche im Nachhinein als entscheidende Eck- und Kenndaten flir die Genese der Berufsmaturitat zu nennen sind. Neben der bereits erwahnten Tagung am Schweizerischen Institut flir Berufspadagogik gilt es hier insbesondere die Arbeitsgruppe Schnittstelle BMSIHTL zu nennen. In dieser Arbeitsgruppe wurde die Ubertrittsproblematik Berufsbildung-Ingenieurschulen (die vor­gangig als Hohere Technische Lehranstalten bezeichnet wurden) seit Beste­hen des 1980 in Kraft getretenen Berufsbildungsgesetzes jahre lang ohne greitbare Ergebnisse diskutiert. Die Vertreter der Berufsschulen drangten auf eine verbesserte Anerkennung ihrer Berufsmittelschulabschliisse, wahrend­dem die Ingenieurschulseite zusatzliche inhaltliche Anspriiche an die Adresse der Berufsschulen anmeldete. Es waren jedoch die von den Kantonen jiihrlich organisierten Konferenzen, die die Volkswirtschafts- und Erziehungsdepar­tementsvorsteher vereinigten, welche dem Verhaltnis Berufsbildung und Ho­here Fachschulen mehr Gewicht und Brisanz verliehen.

Erh6hte Durchlassigkeit nach oben fur BMS-Absolventen versus "Emanzipation" aus dem Berufsbildungsbereich der Ingenieurschulen

Bereits 1984 fand eine gemeinsame Arbeitstagung der EDK mit den flir die in den meisten Kantonen flir Berufsbildung verantwortlichen Volkswirt­schaftsdirektoren statt. An dieser Sitzung war der Ubertritt Berufmittelschule - Hohere Technische Lehranstalt (den spater umbenannten Ingenieurschulen) ein Thema. Der Vertreter des BIGA nannte als Problem aus der Sicht der Be­rufsbildung die beschrankten Platzzahlen an den Ingenieurschulen, welche einem Numerus clausus gleichkamen. Gefordert wurde yom Referenten, die Kapazitaten an den Ingenieurschulen auszubauen und eine iiberregionale Freiziigigkeit der Absolventen zu gewiihrleisten. Ausserdem wurde festge­halten - dies gegen Ingenieurschulen, die trotz einem BMS-Abschluss Ein­trittspriifungen verlangten - dass die vorbereitende Stufe, namlich die Be­rufsbildung, durchaus in der Lage sei, die Reife flir die hohere Schulstufe festzustellen.

In der daran sich anschliessenden Diskussion wurde teilweise der Nume­rus Clausus als vertretbar erachtet, denn eine weitere Oeffnung koste Geld. Demgemass wurden weitergehende Anspriiche oder gar "Weisungen" von Seiten des BIGA zuriickgewiesen, es sollten hingegen mehr Abkommen auf regionaler Basis stattfinden (EDKNDK 1984).

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Bereits in dieser GegentibersteUung des BIGA und der HTL, bzw. Inge­nieurschulen, markieren sich zwei Optiken, die auch im weiteren Verlaufe der Reform bedeutsam blieben. Wahrend das BIGA Ansprilche auf mehr Durchlassigkeit nach oben anmeldete und eine weitere Offnung des hoheren Bildungstragers flir die Berufsbildung forderte, verteidigten die Hoheren Fachschulen unter den damaligen Umstanden den eingeschrankten Zugang zu ihren Institutionen. Die Ingenieurschulen wiederum drangten seit lange­rem auf eine Statusaufwertung im schweizerischen Bildungsgeflige, was eine Umdefinition ihrer dem Berufsbildungsgesetz untersteUten Institutionen im­plizierte.

Die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) als Unterstutzer einer Integration der Hoheren Fachausbildung in den Hochschulbereich

Eine Bewegung von dritter Seite erfuhr diese festgefahrene KonsteUation da­durch, dass die EDK die oben formulierten Anliegen aufgriff. 1m Februar 1988 wurde von Seiten der EDK mit HTLlHWV-Vertretem eine Tagung or­ganisiert, die tiber die Bedeutung der "Hoheren Fachausbildung" und tiber ih­re bildungspolitische Positionierung Auskunft geben soUte. Der Status der bis anhin so benannten "Hoheren Berufsbildung" wurde somit in einer weiteren Arena diskutiert. Gefordert wurde eine Gesamtkonzeption fur einen eher iso­lierten hoheren Ausbildungsbereich und ein verbesserte Zusammenarbeit im tertiaren Bildungswesen. Die EDK ging hierbei von der Einschatzung aus, dass der Hochschulbereich in der nachsten Zeit das "Zentrum der Bildungs­politik" ausmachen wtirde. Die Kantone und der Bund, sprich die EDK und das BIGA, mtissten sich "zusammenraufen", und ein gemeinsames Konzept flir die Hohere Ausbildung in der Schweiz bilden und flir diese den Fach­hochschulstatus prufen (EDK 1988).

Die EDKlVDK-Konferenzen als sich etablierende Arena fur die Forderung einer Schaffung von Fachhochschulen

In der Folge wurde an den jahrlich stattfindenden EDKlVDK-Konferenzen das Thema Hohere Fachbildung und Bildungspolitik emeut aufgegriffen. 1m Marz 1988 wurde wiederum die Uebertrittsproblematik Berufsbildung und Ingenieurschulen aufgrund von Referaten von Vertretem der Hoheren Tech-

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nischen und Wirtschaftlichen Lehranstalten diskutiert. Die in der seit 1985 bestehenden Direktorenkonferenz der Ingenieurschulen der Schweiz (DIS) organisierten Vertreter beklagten einhellig die heterogenen Eingangsvoraus­setzungen ihrer Kandidaten und die daraus sich ergebende Ueberlastung des Pensums flir ihre Dozenten. Daher seien flir Absolventen der Berufslehre in verschiedenen Kantonen einjahrige obligatorische Vorbereitungskurse notig. Nicht nur die Frage der schulischen Eingangsvoraussetzungen, sondern auch das Verhaltnis zu den Hochschulen kam zur Sprache. In der Diskussion meinte der damalige Vertreter der Schweizerischen Hochschulkonferenz (SHK), dass ein "Gesprach" zwischen Universitaten und den Ingenieurschu­len bzw. den hoheren Fachschulen, dringlich sei. Er begrtlndete dies mit in­ternationalen Bestrebungen, die dazu flihrten, neben den Universitaten, ande­re Institutionen in den Bereich der Tertiarstufe zu integrieren (vgl. EDKNDK 1988).

Internationale Bezuge als Argumente fur die Einfuhrung von F achhochschulen

Von EDK-Seite wurde in der Neuen Zurcher Zeitung im Februar 1989 ein Artikel unter dem Titel "Schweizerische Bildungspolitik und Europa" publi­ziert, der das offizielle Abseitsstehen der Schweiz von internationalen Ab­kommen im Bildungsbereich beklagte. Es gehe insgesamt darum, auch in der Bildung "europafahiger" zu werden. Der Autor analysierte einen direkten und indirekten Anpassungsdruck, mit welchem sich das schweizerische Bil­dungssystem durch die "neueren Entwicklungen" in Europa konfrontiert se­he. Dies tangiere nicht nur die Zusammenarbeit nach aussen und die gegen­seitige Anerkennung von Abschlussen, sondern betreffe auch Fragen der in­ternen Freizugigkeitsregelungen. Auch die Berufsbildung und die Inge­nieurausbildung seien betroffen:

"Aller Voraussicht nach fOrdert Europa die Tendenz, un sere HTL und HWV etwas weniger funktionalistisch zu gestalten, sie also nicht bloss als Berufs-, sondern auch als allgemeinbildende Schulen zu definieren und ihnen zunehmend auch Aufgaben in Forschung und Entwicklung zu iibertragen. In der gewerblichen und industriellen Be­rufsbildung wird generell auf eine grossere Flexibilitat, anstelle der heutigen extre­men Spezialisierung, zu achten sein" (Arnet 1989, S. 5).

Das Pladoyer fur eine bildungspolitische Neubewertung der Hoheren Fach­schulen als Hochschultrager basierte auf einer internationalen Lagebeurtei­lung, deren Folgerungen, einen erhOhten bildungspolitischen Handlungsbe­darf wahrzunehmen, von allen Akteuren geteilt wurden. Die Uebertrittspro-

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blematik Berufslehre -Ingenieurschulen, wie auch die Frage der kiinftigen Stellung der HTLs und HWVs in der bildungspolitischen Landschaft wurden durch die intemationale Dimension gleichsam globalisiert.

Aufwertung der BMS statt Ausbau der Ingenieurausbildung au/vier Jahre

1m gleichen Monat, im Februar 1989, fand emeut eine EDKlVDK­Arbeitstagung statt, in welcher wiederum urn Reformen rund urn die Inge­nieurschulen diskutiert wurde. Die offenbar heftig gefiihrte Debatte konzen­trierte sich hierbei auf die Frage, ob die bis anhin auf drei Jahre konzipierten HTL-Studiengange auf vier Jahre auszuweiten seien. Die Mehrzahl der Teil­nehmer befUrwortete die Beibehaltung eines dreijahrigen Bildungsganges. Statt des sen miisste die Vorbildung - sprich die Berufsbildung - reformiert werden; wobei andere wiederum vor einer Verschulung der Lehre wamten. Der BIGA-Vertreter hingegen sah in der damaligen Berufsmittelschule im­mer noch "die beste Voraussetzung" fUr den Besuch einer Ingenieurschule (EDKlVDK 1989).

An einer von den kantonalen Berufsbildungsamtem (DBK) organisierten Konferenz im Mai des gleichen Jahres, kritisierte die EDK das BIGA, wel­ches iiber kein umfassendes bildungspolitisches Konzept verfUge. Die Zeit sei gekommen, fur die Hoheren Fachschulen den Fachhochschulstatus zu priifen, was wiederum mit der Ausrichtung auf "Europa" begriindet wurde. Die kiinftigen Fachhochschulen seien in den Tertiarbereich einzubeziehen.

Die Bildungspolitik, das heisst der Bund und die Kantone, diirften dem­gemliss die "Hoheren Fachschulen" nicht mehr lediglich als "Weiterbildung" betrachten. Der Zugang zu diesen Institutionen miisste jedoch - im Gegensatz zum Ausland - vomehmlich fur Absolventen der Berufslehre offenbleiben.

Die "Berufsmaturitat" aIs Scharnier zwischen Berufsbildung und Fachhochschule

1m Februar 1990 fand wiederum eine Arbeitstagung der EDKlVDK statt, die sich dem Thema "Reform der Hoheren Berufsbildung" widmete. Von BIGA­Seite wurde positiv die Bereitschaft der Ingenieurschulen hervorgehoben,

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dass sie inzwischen die Formel "BMS-Abschluss= HTL-Aufnahmeprufung" weitgehend akzeptiert hatten. Dies Offne den Weg, durch flexible rechtliche Losungen, das heisst durch Anpassung von Verordnungen zu den Berufs­mittelschulen und HTL, Reformen unmittelbar einzuleiten (EDKlVDK 1990).

Von Berufsbildungsseite schien damit die Anerkennung der Berufsschu­len als Gewahrer des ktinftigen Fachhochschulzuganges kaum mehr bestrit­ten zu sein.

Die veroffentlichten " 6 Thesen" der Ingenieurschulen als Katalysator der Berufsbildungsreform

1m Marz 1990 verOffentlichte die Direktorenkonferenz der Ingenieurschulen der Schweiz (DIS) jedoch ein brisantes Dokument, betitelt mit "Die Inge­nieurschulen im schweizerischen Bildungssystem: 6 Thesen". Diese Thesen wurden direkt an die oberste Landesbehorde gesandt, mit dem Anliegen, ein Fachhochschulgesetz auszuarbeiten. Der Bundesrat solle ausserdem prtifen, ob Massnahmen zu treffen seien, die den Diplomen der Ingenieurschulen ei­ne reelle Chance auf eine stufengerechte Anerkennung durch die EG und an­dere Lander, wie den USA, geben wtirden. Wahrend das Anliegen der Ho­hereinstufung und Neupositionierung der Ingenieurschulen bereits formu­lierte Anliegen in Thesenform verdichtete, sorgte insbesondere die Kritik an den Berufsschulen, welche ungentigende, je nach Beruf unterschiedliche und fragmentierte Kenntnisse vermitteln wtirden, fiir Ztindstoff (DIS 1990, S. 3). Zwar wurde ausdrucklich festgehalten, dass die Berufslehre als solche positiv beurteilt werde, da sie den Praxisbezug, eine auch international anerkannte Starke der schweizerischen Ingenieurausbildung, gewahrleiste (ebd., S. 18). Andererseits wurde "ein betrachtliches Defizit an allgemeinbildendem und theoretischem Wissen" den Absolventen der Berufslehre bescheinigt, ein Grund dafiir, dass die Unterrichtsbelastung und der Stoffdruck an den Inge­nieurschulen selbst hoch sei (ebd., S. 25). Daher sei eine "Fachmatura", die "ungeHihr der deutschen Fachhochschulreife" entspreche, anzustreben (ebd., S. 32). Die Lancierung dieser Thesen, welche direkt an den Bundesrat sich richtete und dam it die traditionellen Ansprechpartner in der berufsbildungs­politischen Arena umging, erregte Widerspruch. Die Wirkung des Thesenpa­pieres indessen war enorm.

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Die Konferenzen mit Bundesratsvertretern als neue Arena

Tatsachlich fand kaum einen Monat spater, im Mai 1990, eine Aussprache mit Spitzen aus der Verwaltung und der Regierung statt: mit Bundesrat Cotti, damals zustandig flir das Eidgenossische Departement des Innem (EDI), weiteren Vertretem aus dem EDI zugeordneten Bildungs- und Wissen­schaftsbereieh, dann mit BIGA- und EDK-Vertretem und Exponenten der Schweizerischen Hochschulkonferenz (SHK).

In Zentrum standen die Themen Bildungspolitik und Europa und die Ge­samtkonzeption im tertiaren Bildungsbereich. Folgende Losungsmoglichkei­ten wurden yom damaligen BIGA-Direktor Klaus Hug erortert: Es sei eine Aenderung des Berufsbildungsgesetzes (BBG) und die Schaffung eines eige­nen Gesetzes flir die Ingenieurschulen und weitere Hohere Fachschulen zu bewerkstelligen. Die Zukunft der Ingenieurschulen mtisste hierbei im natio­nalen und intemationalen Rahmen gesehen werden. Ftir das BIGA ware - wie mit deutlicher Spitze gegen die Ingenieurschulen festgehalten wurde - die EDK prioritarer Gesprachspartner; es sollte ausserdem ein tibergreifendes Gremium, in welchem die involvierten Akteure vertreten waren, geschaffen werden. Insgesamt wurde die Atmosphare -gem ass Protokoll - als erfreulich offen bezeiehnet (EDK 1990).

Politische Einigung auf hochster Ebene und Absegnung der bildungspolitischen Reformagenda

1m gleiehen Jahr, im Herbst 1990, finden zwei weitere Konferenzen auf "hochster" Ebene statt. Die erste, am 21. September mit Vertretem aus der EDK, dem BIGA und Bundesrat Delamuraz, befasste sich mit der Frage der ktinftigen Stellung der Ingenieurschulen. Das Treffen diente zur Vorberei­tung einer Aussprache mit einer Delegation der DIS und den zustandigen kantonalen Erziehungs- und Volkswirtschaftsdirektoren. Die EDK-Seite be­tonte, dass es darum gehe, den Ingenieurschulen, aber nicht nur diesen, son­dem auch weiteren Hoheren Fachschulen den Status einer Fachhochschule zuzugestehen. Die notige Gesetzgebung mtisste eidgenossisch geregelt wer­den, wahrend die eigentliche Studienreform den Kantonen als Trager der Schulen zu tiberlassen sei. Das BIGA hob hingegen hervor, dass es in den EWR-Verhandlungen nieht urn Schultypen gehe, sondem urn generelle Richtlinien. Man mtisse einerseits durch eine Legaldefinition die Institutio­nen der Hoheren Berufsbildung als Hochschulen aufwerten, andererseits aber

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auch eine Hebung der Vorbildung der Studienanfanger zu bewerkstelligen. Ais substantielle Zusage an die DIS wird im Protokoll festgehalten, dass an einem Bundesgesetz iiber die Hoheren Fachschulen verwaltungsintem bereits gearbeitet wiirde (BIGA 1990).

Am 13. November 1990 fand eine weitere Konferenz statt. Neben den bisherigen Teilnehmem waren kantonale Vertreter fUr Erziehung aus Luzem und St. Gallen einerseits und eine Delegation der DIS anwesend. Ais Auslo­ser dieses Treffens wurde die Zusendung der Thesen der DIS an Bundesrat Delamuraz bezeichnet, was zu kritischen Bemerkungen Anlass gab. Die DIS habe - so wurde moniert - den Dienstweg umgangen und habe auch die EDK nicht anvisiert. Unabhangig davon wurden jedoch die Anliegen der Inge­nieurschulen als legitim erachtet und ein Handlungsbedarf auch angesichts der Europadiskussion als dringlich empfunden; eine Sicht, die sowohl das BIGA wie auch die EDK teilten. Die EDK-Seite hob jedoch hervor, dass die weitere "Planung und politische Willensbildung" gemeinsam erfolgen miiss­teo Auf rechtlicher Basis seien Reformen durchzufUhren. Es solie ein Fach­hochschulgesetz geschaffen werden, das iiber die Anliegen der Ingenieur­schulen hinausgreifen miisste, indem der gesamte ausseruniversitare Bereich einzubeziehen sei. Gleichzeitig sei die Vorbildung zu verbessem. Neben den Arbeiten an der Gesetzgebung miissten in der Zwischenzeit "Reformen" vor­angetrieben werden, und zwar so weit als moglich auf Verordnungsstufe. 1m wesentlichen betreffe dies den erweiterten Auftrag an die Ingenieurschulen wie auch die Zutrittsregelung der Absolventen der Berufsmittelschulen. Der Aufwertung der Berufsmittelschulen gaben die Berufsbildung vertretenden Kreise gegeniiber einer auch anders erwerbbaren Fachmaturitat den Vorzug. Voraussetzung zur Losung der Uebertrittsfrage sei allerdings wie es hiess ein "bis jetzt anscheinend nicht gesuchter - Dialog zwischen HTL und Berufs­schule". Bundesrat Delamuraz fasste die Bilanz des Treffens folgenderma­ssen zusammen: Kurzfristig seien die BMS- und HTL-Verordnungen zu ver­andem. Mittelfristig miissten sich Bund und Kantone im Hinblick auf eine Legiferierung des Fachhochschulbereiches einigen. Dem Bund obliege gleichzeitig die Aufgabe, auf der Ebene der bilateralen Verhandlungen und im Rahmen des Europaischen Wirtschaftsraums auf eine Anerkennung der Ingenieurschulen und weiterer Hoherer Fachschulen als Hochschulen hinzu­wirken (BIGA 1990).

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Die Berufsmaturitdtsreform im Windschatten der Fachhochschulgesetzgebung

Die im Jahre 1990 erreichte Einigung im Hinblick auf die Modifzierung be­stehender Verordnungen verlagerte die AQfmerksamkeitsrichtung der zu­sUindigen Akteure. Nun stand, nachdem die institutionellen Voraussetzungen eines kiinftigen Fachhochschulbesuches gekHirt schienen, die Frage der Fachhochschulgesetzgebung selbst im Zentrum. Dazu wurde von einer "verwaltungsintemen" Arbeitsgruppe (unter Federflihrung des BIGA, mit Beteiligung der EDK, dem Bundesamt flir Bildung und Wissenschaft und anderen) ein recht informatives Dokument erarbeitet, welches die "Stellung der Hoheren Fachschulen im nationalen Bildungsangebot" problembezogen darstellen sollte (BIGA 1991). In dieser Studie wird als Fazit eine Fachhoch­schulgesetzgebung, die sich auf die bestehenden Verfassungsgrundlagen stUtzt, beflirwortet. Ein eigenes Kapitel ist der Frage der Berufsmaturitat ge­widmet. Urn einer Aufwertung der hOheren Fachschulen zu Fachhochschulen zu gentigen, miissten die Berufslehren mehr "intellektuell-allgemeinbildende Qualifikationen" bereitstellen (ebd., S. 30). Die damit erreichte Ausbildungs­stufe der Berufsmaturitat entsprache einer "Fachhochschulreife".

FUr vierjahrige Berufslehren etwa wurde ein Pensum von 1440 Stunden festgelegt, was gegeniiber einer herkommlichen Ausbildung ein deutliches Plus von ca. 1000 Stunden mehr Allgemeinbildung in Fiichem wie Mutter­sprache, Zweite Landessprache, Mathematik, Physik und weitere Wahlfacher umfasst, jedoch gegentiber einem vergleichbaren gymnasialen Pensum von 3-4000 Stun den deutlich tiefer liegt (vgl. Gonon 1994, S. 401).

Die Arbeitsgruppe vermied eine deutliche Festlegung von Eckdaten und betonte, dass es neben der lehrbegleitenden Variante der Berufsmaturitat auch die Moglichkeit geben sollte, nach Abschluss der Berufslehre diese nachzuholen (BIGA 1991, S. 32).

Mit dem Berufsbildungsgesetz, und den Verordnungen zur Berufsschule, Berufsmittelschule und den Hoheren Fachschulen seien die materiellen Rechtsgrundlagen einer Berufsmaturitat gegeben; in einem spliteren Fach­hochschulgesetz wliren allenfalls weitere Verdeutlichungen festhaltbar (ebd. S. 33). Die Arbeitsgruppe bekrliftigte mit diesem Dokument den Willen, die Fachhochschulfrage weiterzutreiben und diese in einem speziellen Gesetz zu verankem, andererseits aber auch am dualen Berufsbildungswesen festzu­halten.

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Das Vernehmlassungsverfahren zur technischen Berujsmaturitat als Beitrag zur Absicherung des vorangegangen bildungspolitischen Aushandlungsprozesses

Nachdem eine weitgehende Einigung der zentralen Akteure hinsichtlich Be­rufsmaturiUit und Fachhochschule in den Jahren 1990 und 1991 erfolgte, ging es nun darum, die zustimmende Basis fUr dieses Reformprojekt zu ver­breitem. Unter dem Titel "Vemehmlassung Technische Berufsmaturitat -Auswertung" fasste der fUr den Bereich Fachhochschulreform und Berufs­maturitat federfUhrende BIGA-Mitarbeiter, Dr. Andri Giere die Resultate des im Verlauf des Jahres 1992 stattgefundenen Vemehmlassungsverfahrens zu­sammen. Das yom BIGA organisierte Verfahren gestattete hierbei - uber ei­nen bis anhin eher exklusiven Kreis von Akteuren - diversen Kreisen kanto­naler und schulischer Herkunft, wie vor al1em auch den Verbanden, zum An­liegen der Berufsmaturitat explizit Stel1ung zu nehmen. Es wurden eine Viel­zahl von Stel1ungnahmen verfasst, mit uberwiegend zustimmendem Charak­ter.

Betont wird in der Auswertung insbesondere das Provisorium der einge­fUhrten Reform. Aus einem akuten Handlungsbedarf heraus werde als "Sofortmassnahme", quasi als erster Schritt, die Modifizierung bestehender Verordnungen an die Hand genommen (Giere 1992, S. 2). Langerfristig musste die Berufsmaturitat jedoch gesetzlich verankert werden. Dennoch findet auch die sofortige EinfUhrung einer Berufsmaturitat die breite Zu­stimmung von den Kantonen, Schulen, Verbanden und Parteien.

Aufgrund des erfolgten Vemehmlassungsverfahrens war der Weg frei, eine Verordnung zur Berufsmaturitat zu erlassen. Gleichzeitig konnte ein Rahmenlehrplan fUr die Berufsmittelschulen erarbeitet werden, der die in­haltlichen und didaktischen Vorgaben des Unterrichtes weiter prazisieren konnte.

Berufsmaturitat als Fachhochschulreife

Wie eng das Berufsmaturitatsprojekt mit der Reform der bisherigen Hoheren Fachschulen zu Fachhochschulen zusammenhangt, wird auch aus dem weite­ren Verlauf der bildungspolitischen Stel1ungnahmen deutlich. Schon kurz nach der 1993 neu revidierten BMS-Verordnung fand wiederum eine EDKlVDK-Konferenz statt, welche aufgrund der Vorarbeiten einer Arbeits­gruppe "Fachhochschulen" der EDK ein Thesenpapier zum Thema Berufs-

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maturitat und Fachhochschulen verabschiedete. Auf diesen engen Konnex wird auch im Begleittext zur Vemehmlassung des Fachhochschulgesetzes verwiesen. Die Berufsmaturitat wird als "eine Form der Fachhochschulreife" bezeichnet. Weiter wird prazisiert, dass die Berufsmaturitat neben dem eid­genossischen Fahigkeitszeugnis ein Ausweis sei, "tiber eine erfolgreich be­standene allgemeinbildende Erganzung in sprachlicher, mathematisch­naturwissenschaftlicher und historisch-gesellschaftskundlicher Hinsicht". 1m Rahmen einer notigen Anpassung an das Fachhochschulgesetz sei dann auch im Berufsbildungsgesetz die Berufsmaturitat gesetzlich zu verankem (Giere 1993, S. 26).

Folgerungen

Die prasentierte chronologische Darstellung der Positionsbeztige von Akteu­ren in Arenen im Zusammenhang mit der Einflihrung der Berufsmaturitat gibt Aufschluss tiber die sich modifizierende Gestalt der Berufsmaturitat. Ais "Fachhochschulreife" wurde sie durch spezifische Interessenkonstellationen in ihrer zur Zeit gtiltigen Form gepragt. Sie ist - dies im Unterschied zur Fachhochschulreife anderer Lander - stark im Berufsbildungswesen veran­kert. Dies war nicht von Beginn an allen Beteiligten klar, gab es doch auch Ansatze, ein entsprechendes Propadeutikum der Fachhochschulausbildung an diesen selbst anzugliedem. Auch neben der traditionellen Berufsbildung als gewichtigster Zubringer zur Fachhochschule wird wohl ktinftig der Erwerb einer Fachhochschulreife an Vollzeit- Schulen beruflicher und allgemeinbil­dender Ausrichtung, und selbst ein Zugang, der auf gymnasialer Vorbildung beruht, moglich sein.

Wie die anhand einer Dokumentenanalyse erstellte Genese der Berufs­maturitat zeigt, trafen sich in diesem Reformprojekt mehrere Anliegen unter­schiedlicher Protagonisten. Tatsachlich spielte hierbei, ausgelost durch den Aktivismus der Ingenieurschulen, die technische Berufsmaturitat eine Vor­reiterrolle in der bis zum heutigen Zeitpunkt noch lange nicht abgeschlosse­nen und seit mehreren Jahren bedeutendsten Innovation des Bildungswesens auf der Stufe der Sekundarstufe II. Mit der revidierten BMS-Verordnung von 1993 wurde in der Schweiz erstmals eine Doppelqualifikation, welche beruf­liche Befahigung und Studierfcihigkeit in einem gewahrt, auf nationaler Ebe­ne in gesetzlicher Hinsicht sanktioniert. Die Ingenieurschulen leiteten erfolg-

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reich eine Aufwertung ihrer Institutionen ein, das Bundesamt fur Industrie, Gewerbe und Arbeit sah in der Berufsmaturitlit einen wichtigen Beitrag zur Steigerung der Attraktivitlit der Berufslehre, die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren konnte hierbei ihre eigene Rolle einer koordinierenden Instanz des Bildungswesens substantiell stlirken und auch die Berufsschulen bzw. die Berufsmittelschulen erkannten die Moglichkeit, ihrer Institution ein neues Gewicht in der Bildungslandschaft beizumessen. Der Einigung der bildungspolitischen Akteure entsprach auch ein giinstiges politisches Umfeld, welches dem Projekt der Berufsmaturitlit viel "goodwill" entgegenbrachte. Diese Zusammenflihrung unterschiedlicher Anliegen ver­schiedener Akteure in der Gestalt der Berufsmaturitlit und einer entsprechen­den Verordnung erfolgte in einem ausserordentlich kurz bemessenen Zeit­raum. Interessenkonflikte und Unstimmigkeiten wurden aus so genannten Sach- und Zeiterfordemissen marginalisiert. Damit sind sie jedoch nicht aus der Welt geschafft. Insbesondere der Anspruch der Berufsschulen, einen bei­nahe exklusiven Zugang zur Fachhochschule zu gewlihren, kann durch eine sich wandelnde Rekrutierungspolitik oder durch eine Hebung der Aufnahme­anforderungen des hoheren Bildungstrligers in Frage gestellt werden.

Die Schaffung der legislativen Grundlagen war - wie anhand der rekon­struierten Chronologie aufgewiesen werden kann - in kiirzester Zeit nach ei­ner Einigung der bildungspolitisch in Erscheinung tretenden Akteure reali­siert worden. Das Vorgehen, ein normatives Provisorium zu schaffen, wel­ches eine Weiterflihrung des intendierten Reformprojektes Berufsmaturitlit erJaubt, erwies sich demgemass - fUr die Phase der EinfUhrung und legislati­yen Absicherung - als "wirksam". Die Legitimitlit der "Berufsmaturitlit" wurde von den Akteuren wie auch von der Oeffentlichkeit kaum bestritten; dennoch bleibt offen, wieviele Jugendliche fahig und willens sind, neben der traditionellen Berufslehre eine erhebliche Erhohung des schulischen Pensums bei im Vergleich zum Gymnasium deutlich geringeren Wahloptionen in Kauf zu nehmen. Auch die bis anhin wenig in Erscheinung tretenden Interessen­vertreter der Betriebe miissen davon iiberzeugt sein, dass sich ein vermehrter Berufsmaturitlits- und Fachhochschulbesuch auch fur sie zumindest langfri­stig "lohnt".

Von Interesse aus berufsbildungspolitischer Sicht ist die in dieser Studie eruierte herausragende Bedeutung, welche Akteure und Argumentationen eriangten, die ausserhalb des traditionellen Berufsbildungsgefliges anzusie­deln sind. Wurde etwa noch 1989 die "Berufsmaturitlit" als ein unvorstellba­res, ja utopisches Projekt angesehen, so stiess kaum vier Jahre spliter, begiin­stigt durch die Intemationalisierung der Bildungsdebatte, das gleiche Anlie­gen, auf eine iiberwiegend positive Resonanz. Die Integration von Berufsbil-

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dungsfragen in einen bildungspolitisehen Gesamtkontext verlindert nieht nur traditionelle Akteurkonstellationen, sondem offen bar aueh den Charakter der berufliehen Bildung selbst.

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EDKlVDK (1988): Stand und Probleme der Hoheren Fachschulen HTL und HWV. In: EDK (Hg.): Protokoll der gemeinsamen Arbeitstagung der Erziehungsdirek­toren und der mit der Berufsbildung betrauten Volkswirtschaftsdirektoren yom 24. Mlirz 1988. Bern; UnverOff. Typoskript; S. 6-7

EDKlVDK (1989): Studienreform an den HTL. In: EDK (Hg.): Protokoll der gemein­samen Arbeitstagung der Erziehungsdirektoren und der mit der Berufsbildung betrauten Volkswirtschaftsdirektoren yom 23. Februar 1989. Bern; UnverOff. Typoskript: S. 7-9

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Glossar

BBG BIGA

BMS

DBK DIS EDK

EDI/EVWD

HTLIHWV

SDK SIBP SHK

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Berufsbildungsgesetz (seit 1980 in Kraft) Bundesamt flir Industrie, Gewerbe und Arbeit (Abt. BerufsbildunglKoordinations- und Regulierungsinstanz) Berufsmittelschulen (Abteilungen an Berufsschulen mit erhohtem Anteil an Allgemeinbildung) Deutsschweiz. Berufsbildungsamterkonferenz Direktorenkonferenz der Ingenieurschulen Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren Eidgenoss. Departement des Innem/Eidgenoss. Volkswirtschaftsdepartement Hohere Technische Lehranstalt (spater in Ingenieurschulen umbenannt) IHohere Wirtschafts- und Verwaltungsschule: die ktinftigen Fachhochschulen Schweiz. Direktorenkonferenz der Berufsschulen Schweizerisches Institut fUr Berufspadagogik Schweizerische Hochschulkonferenz

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Der Beitrag einer systemisch-konstruktiven Wirtschaftsdidaktik zu aktuellen Diskussions­punkten in der Didaktik der Wirtschaftslehre

Alfons Backes-Haase

1. Einleitung

1.1 Ausgangspunkt: Verunsicherung der Praxis

Blickt man in die Zeitschriften der Handelslehrerschaft, besonders in die ih­rer Standesorganisationen, so stellt man fest, daB Handelslehrerinnen und -lehrer in wichtigen Fragen der Gestaltung wirtschaftsberuflichen Unterrichts derzeit verunsichert sind. l Diese Verunsicherung hat unterschiedliche Griln­de. Sie ist Folge des umfassenden Wandels wirtschaftsberuflicher Arbeit heute (vgl. Backes-Haase 1997a) wie der damit zusammenhangenden aktu­ellen berufsbildungspolitischen Diskussion im Umfeld der Standortdebatte (vgl. z.B. zuletzt Stihl 1997). Verscharft wird die Unsicherheit nach Ein­schatzung vieler Handelslehrer (vgl. z.B. Riickwart 1996, bes. S. 3) derzeit noch durch die mangelnde Orientierung, welche sie angesichts dieser Her­ausforderungen von seiten der hochschulischen Wirtschaftsdidaktik in grundlegenden Fragen der Unterrichtsgestaltung erfahren. Diesem Problem mochte ich im Rahmen meiner Themenstellung in einem m.E. zentralen Punkt naher nachgehen.

Dazu werde ich zunachst auf den moglichen Zusammenhang zwischen der Verunsicherung der Praxis und dem Charakter der derzeitigen wirt­schaftsdidaktischen Diskussion hinweisen (1.2). AnschlieBend konzentriere ich mich zur Gewinnung neuer orientierender Perspektiven auf den Beitrag einer systemisch-konstruktiven Fachdidaktik zur wirtschaftsdidaktischen

Vgl. nur die kontinuierliche und bis in die Gegenwart hinein immer wieder neu intensi­vierte Diskussion der Handlungsorientierung in der yom Verband der Lehrer an Wirt­schaftsschulen herausgegebenen Zeitschrift "Wirtschaft und Erziehung" sowie die ein­schiligigen Verbandsstellungnahmen. z.B. in Bundesverband d. Lehrer an Wirtschafts­schul en 1996, S. 11 0-118.

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Methodendiskussion (2.). Dazu arbeite ich Differenzen in der Auslegung des Konstruktivismus durch die Wirtschaftsdidaktik heraus (2.1), umreiBe Grun­daspekte einer systemisch-konstruktiven Wirtschaftsdidaktik (2.2-2.4) und schlieBe mit Uberlegungen zum situierten Lemen (2.5).

1.2 Unterrichtskonzeptionen im Bekenntnisstreit?

Aus der Sicht der Praxis dokumentiert sich das Dilemma der Wirtschaftsdi­daktik darin, daB man in der Offentlichen Diskussion den Eindruck gewinnen muB, sie offeriere derzeit zwei divergierende Gesamtkonzeptionen wirt­schaftsberuflichen Unterrichts, von denen umstritten ist, welcher Konzeption die Zukunft gehort:

Auf der einen Seite stehen nach Einschatzung der Praxis die Konzeptio­nen, die von zahlreichen Praktikem und ihren Standesvertretungen mit so groBen Vorbehalten bedacht werden. Diese Konzeptionen fordem - so zu­mindest ihre Resonanz in der Offentlichen Diskussion - den Ubergang zu ei­nem schiiler- oder auch zu einem streng situationszentrierten Wirtschaftsleh­re-Unterricht in einem umfassenden Sinn und dominieren damit diese Dis­kussion.2 Auf der anderen Seite finden sich Konzeptionen, die eine Fortent­wicklung des gegebenen Wirtschaftslehre-Unterrichts unter Uberwindung bestimmter Nachteile - z.B. seines seriell-additiven Stils - durch Berucksich­tigung neuer Erkenntnisse z.B. aus lemtheoretischen und wissenspsychologi­schen Forschungen postulieren.3

Hinter diesem, Offentlich so wahrgenommenen, Konflikt steht jedoch primar ein ungekHirter Streit unter Wirtschaftsdidaktikem urn grundla­gentheoretische Fragen. Dieser hat sich jUngst mit dem Eindringen der Kon­struktivismus-Diskussion in die Wirtschaftsdidaktik wieder verscharft, ja, -im Blick auf seine Praxisfolgen - ZUge eines kontraproduktiven Bekennt­nisstreits4 angenommen.5 1m folgenden gehe ich am Beispiel der Methoden-

2 Vgl. z.B. als besonders pointierte Vertreter in der Wirtschaftsdidaktik: S(jltenfuB 1983 u. Halfpap 1986; vgl. dazu kritisch u.a. Aff 1993. Hierftlr expl. kann das Werk von R.Dubs stehen.

4 So z.B., wenn Sembill Dubs vorhalt, ein in theoretischer Hinsicht unambitioniertes "pragmatisches, wenn auch sympathisches sowohl-als-auch der Lernorganisation" anzu­streben. Sembill 1996, hier S. 63; vgl. u.a. Dubs 1996b, S. 1-5 u. ders. 1995a.

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Dies gilt auch, wenn man der Auffassung ist, daB die von konstruktivistisch begrUndeten lerntheoretischen Ansatzen ausgehenden Wirkungen grundsalzlich als fruchtbare "Irrita­tion" der Praxis zu begreifen sind; vgl. zur Konzipierung des Theorie-Praxis-Bezuges als Verhaltnis der "Irritation" Backes-Haase 1993, 1992a u. 1996a, S. 138; vgl. auch Euler 1996.

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diskussion daher theorieorientierf> der Frage nach, inwiefem durch ein er­ganzendes grundlagentheoretisches Angebot ein Beitrag zu einer Neube­wertung der Positionen in dies em Streit zu leisten ist. Dabei ziele ich beson­ders auf eine Erganzung der derzeit stark durch die Wirtschaftsdidaktik rezi­pierten wissenspsychologisch ausgerichteten Unterrichtsforschung urn ein so­ziologisches, jedoch ebenfalls konstruktivistisch fundiertes Theorieangebot. 7

2. Die wirtschaftsdidaktische Methodendiskussion aus der Sicht einer systemisch-konstruktiven Fachdidaktik

2.1 Konstruktivistische DifJerenzen

Die Methodendiskussion steht im Brennpunkt der Auseinandersetzungen urn adaquate Konzeptionen flir einen zeitgemiillen Wirtschaftslehre-Unterricht.8

Einer ihrer Hauptgegenstande ist derzeit die Frage, wie die Ergebnisse neue­rer Forschungen zum EinfluB unterschiedlicher methodischer Szenarien auf den Lemerfolg zu beurteilen sind. Stichworte: Problem des "tragen Wissens" (vgl. Whitehead 1929) bzw. "die Kluft zwischen Wissen und Handeln" (Renkl 1996), 9 die durch konventionelle Methodenwahl durchgangig begiln­stigt werde. Methodenwechsel bzw. -freiheit oder (zwingende) Handlungso­rientierung? (vgl. Backes-Haase 1997b) - dieser in der Offentlichkeit ausge­fochtene Streit desorientiert die Praxis in besonderem MaB.

6 Ich optiere ausdrUcklich nicht einfach fiJr einen aus PraxisgrUnden als plausibel erachteten und von daher als praxisorientierend begriffenen KompromiB, der Argumente beider Streitparteien vermischt. Auf einem sol chen Weg ist das "Obel" gewissermaBen nicht an seiner" Wurzel" zu fassen. Dazu ist es jedoch nicht nlltig, wie teilweise, bes. aus der Sicht des Kritischen Rationalismus gefordert wird, hinter den Erkenntnisfortschritt, den der Konstruktivismus im Blick auf lemtheoretische Fragen erbracht hat, zuruckzufallen. Vgl. z.B. Minnameier 1997.

7 Vgl. als Standortbestimmung der fiJr die Wirtschaftsdidaktik bedeutenden wissenspsy­chologischen Forschungen Reinmann-Rothmeier & Mandl 1996.

8 Vgl. als derzeit wichtigste Konzepte: Achtenhagen 1992, Kaiser & Kaminski 1994 u. Reetz 1991 u. Dubs 1996a sowie zur Diskussion: Schneider 1993, Metzger & Seitz 1995 u. Beck u.a. 1996 u. zur Kritik der Handlungsorientierung: Beck u.a. 1989 sowie Czycholl & Ebner 1995, Czycholl1996 u. Aff 1993.

9 Vgl. z.B. aktuell auch Mandl u.a. 1996 mit Ergebnissen, die eine umfassende Handlungso­rientierung auch aus empirischer Sicht in Frage stellen.

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Die angespannte Diskussionslage urn lerntheoretische Grundlagenfragen in der Wirtschaftsdidaktik, welche hinter dieser Praxisfrage steht, mutet auf den ersten Blick unversUindlich an. Wichtige Vertreter der beiden opponie­renden Parteien beziehen sich namlich inzwischen in zentralen Punkten auf einen lerntheoretisch akzentuierten Konstruktivismus. Dessen Grundaussa­gen, die in ihren Hauptpunkten wie ihrer Spannweite in zwischen vielfach dokumentiert sind, brauchen an dieser Stelle nicht im einzelnen nachgezeich­net zu werden.10 ledoch haben sich im BemUhen, diese gemeinsame Basis flir lerntheoretische Problemstellungen auszulegen, in der wirtschaftsdidakti­schen Diskussion scharfe DifJerenzen herausgebildet, die an den US­amerikanischen Instruktionismus-Konstruktionismus-Streit erinnern, der auch durch die Wirtschaftsdidaktik rezipiert wurde (vgl. zuletzt Kafai & Res­nik 1996).

Die Differenzen haben ihren Kern im Dissens dariiber, wie "radikal"ll oder "moderat"12 die erkenntnistheoretischen Annahmen des Konstruktivis­mus im Blick auf lerntheoretische Fragen verstanden werden sollen: MUssen Lernprozesse in einem strengen Sinn als reine Selbst-Konstruktionsprozesse des Lernenden begriffen werden, und ist daraus gar die Konsequenz zu zie­hen, ihm diese Selbstkonstruktion moglichst umfassend in handlungsorien­tierten oder sog. konstruktivistischen Lernszenarien zu ermoglichen? - Oder ist ein solcher erkenntnis- und damit "lerntheoretischer Fundamentalismus" unangebracht, ein "KurzschluB" (vgl. z.B. Stommel 1997), und vielmehr da­von auszugehen, daB Lernprozesse, zumindest in gewissen kritischen Phasen, gesteuerter "Wissensbei- oder -eingaben" bedtirfen, Selbstkonstruktion von Wissen im wirtschaftsberuflichen Unterricht also auf instruktive Untersttit­zung in der Form z.B. von Grundlagen- und Orientierungswissen angewiesen und dafiir auch zuganglich ist?13 Allein: Der hinter diesen Divergenzen ste-

10 Vgl. nur Dubs 1995a; Gerstenmaier & Mandl 1995, Law 1995 u. DOrig 1994 sowie zur generellen Diskussion expl. Fischer 1995 u. zu einer kritischen Obersicht der amerikani­schen Diskussion Hoops 1996.

II Besonders nachdrUcklich wird diese Position in der amerikanischen Forschung vertreten; vgl. z.B. Grennon-Brooks & Brooks 1993.

12 Ein ausdrUckliches Bekenntnis zu einer moderaten Auslegung des konstruktivistischen Angebots geben z.B. Dubs sowie die wissenspsychologisch arbeitenden Forscher Rein­mann-Rothmeier und Mandl ab; vgl. Dubs 1996a, S. 162; vgl. auch Dubs 1995c.

13 Dubs hat in diesem Zusammenhang der in der amerikanischen Debatte so akzentuierten Unterscheidung zwischen WIG- und BIG-Konstruktivisten in der wirtschaftsdidaktischen Diskussion zur Verbreitung verholfen. Damit werden einander entgegengesetzte erkennt­nis- und damit wissenstheoretische Grundsatzpositionen bezeichnet: Entweder geht man davon aus, die Selbstkonstruktion von Wissen im LemprozeB nehme (auch) Bezug auf vorgegebenes Wissen - "within information given" - und kOnne dieses operativ mitver­wenden. Oder man nimmt an, Selbstkonstruktion von Wissen bleibe ausschlieBlich auf

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hende Streit zwischen sog. Objektivisten und sog. Subjektivisten ist auf die­ser grundsatzlichen Ebene nicht entscheidbar. la, er spitzt sich vielmehr, be­sonders wenn er allzu frtihzeitig und unmittelbar mit einer Praxis in Beriih­rung gebracht wird, die nach Orientierung sucht, zu einer Frage des weltan­schaulichen Bekenntnisses zu, welche diese eher desorientiert.

2.2 Grundlagen einer systemisch-konstruktiven Wirtschaftsdidaktik

In der Absicht, einen solchen kontraproduktiven Effekt zwischen Theorie und Praxis vermeiden zu helfen, wende ich mich einem Theorieangebot zu, das, wie angedeutet, ebenfalls zum Umkreis der Konstruktivismusdiskussion gehort. Es handelt sich urn die Allgemeine Systemtheorie, speziell die moder­ne Theorie sozialer Systeme. 14 Ihr Grundtheorem ist das Konzept der Selbstorganisation. Seine Hauptmerkmale sind:

• Es steht jenseits der Entwicklungsphasen der Theorie geschlossener und der Theorie ofJener Systeme, kenntlich an Bezeichnungen wie Theorie selbstreferentieller oder autopoietischer Systeme (vgl. Fischer 1991); die­se Begriffe signalisieren ein Verstandnis von System, in dem OfJenheit und Geschlossenheit nicht mehr verdinglicht und statisch i.S. eines Ent­weder-oder begriffen werden, sondem vielmehr als einander wechselsei­tig bedingende GroJ3en.

• Das Selbstorganisationskonzept der Allgemeinen Systemtheorie bietet ei­ne homogene Grundlagentheorie fur unterschiedliche Systemtypen, so etwa fUr soziale wie fur sog. Gedankensysteme (vgl. Luhmann 1988, S. 15f.). Dadurch wird eine einheitliche Theorie der systemischen Bedin­gungen des Unterrichts- wie des Lemprozesses moglich und:

• Das Konzept fokussiert, last, not least, just das Problem des Zusammen­wirkens unterschiedlicher Systemtypen. Dabei zielt es auf eine difJeren­zierte Theorie ihres wechselseitigen Aufeinander-Angewiesenseins,15 die auch tiber den ProzeB des Lehrens und Lemens weiterfUhrende Ergebnis­se verspricht.

selbstgeschaffene Voraussetzungen angewiesen - "beyond information given". Vgl. Dubs 1995, S. 30.

14 Arnold sieht in diesem Angebot "die derzeit wohl aktuellste Hintergrundtheorie Lebendi­gen Lernens"; Arnold 1996b, hier S. 5. Vgl. auch zu Aufarbeitungen dieser "Hintergrund­theorie" im Blick auf allgemeindidaktische Fragestellungen aktuell R.Voss 1996, v. Saldern 1996 u. Backes-Haase 1997c.

15 Zum wirkungsmllchtigsten Konzept der strukturellen Kopplung vgl. Maturana & Varela 1987. S. 85ff. Zur Diskussion vgl. Riegas & Vetter 1990.

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• Ich kann im weiteren nur auf einen Ausschnitt aus diesem umfangreichen Theorieangebot eingehen und konzentriere mich daher auf Aussagen der Allgemeinen Systemtheorie zu sozialen und Gedankensystemen (2.3). Dann verfolge die Frage ihrer Vermittlung in 6konomischen Lehr-/ Lem­prozessen weiter (2.4), bevor ich zum "situierten Lemen" komme (2.5).

2.3 Soziale und Gedankensysteme als "Sinn benutzende Systeme"

Die modeme Theorie sozialer Systeme als Zweig der Allgemeinen Sy­stemtheorie (zu Einordnung und Gegenstand vgl. Backes-Haase 1996a, S. 116-118) konzipiert soziale Systeme, also Interaktionssysteme (z.B. wirt­schaftsberuflicher Unterricht) und sog. Gedankensysteme (z.B. Lehrende und Lemende)16 als "Sinn benutzende Systeme" (vgl. Luhmann 1988, S. 92; vgl. auch ders. 1990; vgl. dazu Willke 1991, S. 29-50). Sinn als "Ordnungsform mensch lichen Erlebens" (Luhmann 1990, S. 31) dient in dieser Konzeption primar der Reduktion von Komplexitiit; er weist dabei jedoch stets zugleich auch einen offenen Verweisungshorizont l7 flir die Bildung von Anschlilssen auf. Zu veranschaulichen ist dies etwa mit einer komplexen Problemstellung, von der wirtschaftsberuflicher Unterricht seinen Ausgang nimmt: Zwar um­reiBt z.B. das Problem der Zieldefinition der Untemehmung im Verhaltnis zu ihrer Umwelt in der Form eines Untemehmensleitbildes ein Problemfeld (und reduziert damit Komplexitat), er6ffnet jedoch zugleich auch einen prinzipiell unbegrenzten Horizont flir Anschlilsse, der durch weitere Bedingungen dann wiederum eingeschrankt werden muB.

Interaktions- und Gedankensysteme verarbeiten Sinn aufgrund ihrer un­terschiedlichen Organisation verschieden, und zwar in Form von Kommuni­kationen bzw. von Gedanken. Deutlich wird dies am Beispiel des Gegensat­zes zwischen der Vielzahl der Gedanken, die einem Lemenden in einer Un­terrichtssituation durch den Kopf gehen, und der einzelnen artikulierten Fra-

16 In der aktuellen didaktischen Diskussion wird im AnschluB an Maturana und Varela teil­weise der Bezeichnung "lebende Systeme" der Vorzug gegeben (R.Arnold); z.T. wird auch im AnschluB an P.Hejl von "kognitiven (Sub-)Systemen" gesprochen (v.Saldern). Indem ich hier im AnschluB an Luhmann die Bezeichnungen Gedankensystem, BewuBt­seinssystem oder psychische Systeme wahle, rUcke ich den Differenzgesichtspunkt zu so­zialen Systemen ins Zentrum, verbinde damit aber keine strenge Begrenzung auf kogniti­ve Operationen, sondern sehe vielmehr Einstellungen und Werthaltungen wie auch affek­tive Komponenten mit in den "Gedankenstrom" dieser Systeme einbezogen.

17 Luhmann spricht davon, daB Sinn "in der Form eines Oberschusses von Verweisungen auf weitere MOglichkeiten des Erlebens und Handelns" erscheint. Luhmann 1988, S. 93.

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ge, die er zum Unterricht beitragt. Kommunikation und Gedanken gehen al­so, obwohl es sich bei beiden urn Formen der Sinnverarbeitung handelt, nicht bruchlos ineinander auf Es ergibt sich vielmehr ein Kopp/ungsproblem, das als Grundproblem der Theorie des Lehrens und Lernens aus systemisch­konstruktiver Sicht gilt. Ich komme darauf zuruck. Zunachst jedoch noch ei­nige generelle Anmerkungen zum Sinnkonzept der Theorie sozialer Systeme:

• Sinnsysteme entwickeln aufgrund komplexer innerer Abstimmungen ei­nen sog. Eigen-Sinn. 18 Er regelt, wie Anschlusse gebildet werden kon­nen. Der Eigen-Sinn wirtschaftsberuflicher Bildung ist durch die einem standigen Wandel unterliegende interne Reflexion ihrer Funktion be­stimmt (vgl. dazu naher Backes-Haase 1997a). Sie schlagt sich z.B. in wechselnden Reflexions-Semantiken oder sich wandelnden Zielsetzun­gen nieder (vgl. zu einem historischen Exempel Backes-Haase 1996b). Am Beispiel: Mit der Thematik Unternehmensleitbild sind heute Zielset­zungen wirtschaftsberuflichen Unterrichts wie systemisches Denken oder okologisches BewuBtsein verknupft, die aus einem aktuellen Wandel des Funktionsverstandnisses wirtschaftsberuflicher Bildung resultieren.

Weitere Kennzeichen selbstreferentiell geschlossener Sinnsysteme sind ihre Offenheit auf der Grundlage eines geschlossenen Operationszusammen­hangs l9 sowie ihre daraus folgende spezijische Sensibilitat fur Umweltande­rungen.

• Systemische Offenheit ist, z.B. im Blick auf das Interaktionssystem, nicht i.S. eines sog. zieloffenen und damit Grenzen-losen Unterrichts zu ver­stehen (vgl. auch Heid 1992). Ein solches Konzept stellt vielmehr aus der Sicht einer systemisch-konstruktiven Wirtschaftsdidaktik einen Wider­spruch in sich dar: Mit professionellen Interaktionssystemen wie dem wirtschaftspadagogischen entsteht notwendig eine Rollendifferenz, an die zumindest implizite, die internen Operationen regulierende ZieI- und Zweckorientierungen des professionell Handelnden gebunden sind. Of­fenheit wirtschaftsberuflicher Bildung aIs Sinnsystem besagt aus sy­stemtheoretischer Sicht vielmehr: Kunftige Anschlusse im System sind

18 Dieser auf O.Negt zuruckgehende Begriff verweist auf eine in der allgemeinen Sy­stemtheorie derzeit in gro8em Umfang geftlhrte Diskussion urn sog. Eigenwerte von Sy­stemen, die nicht mit dem klassischen Begriff der HomOOstase zusammenfallen; vgl. z.B. v. Foerster 1993.

19 Hintergrundtheorie zu diesem Konzept ist die von MaturanalVarela eingeftlhrte und von Luhmann auf soziale Systeme "Ubertragene" Unterscheidung zwischen operationaler Ge­schlossenheit und metabolischer Offenheit von Systemen; vgl. Maturana & Varela 1987, 53, Luhmann 1988, S. 25 u. Backes-Haase 1996a, S. 139.

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das Produkt seines eigen-sinnigen Bezugs auf seine Umwelt. Damit wer­den zwar auch Umweltimpulse im System "wirksam", weshalb es auch seine eigene Zukunft nicht im einzelnen direktiv bestimmen kann (vgl. Backes-Haase 1996a, S. 150). Dies bedeutet jedoch nicht: Beliebigkeit seiner Zukunftsentwicklung, auch nicht die Moglichkeit ausschlieBlicher Bindung an die Sinnorientierungen nur der Lemenden etwa - wie dies eine machtige reformpadagogische Tradition (un-)miBverstandlich po­stuliert. Vielmehr handelt es sich urn ein evolutives Geschehen (vgl. ahnlich Arnold 1994; vgl. auch Backes-Haase 1996a, S. 168-177), in dem Zielsteuerung und Riicksichtnahme auf Sinnangebote aller Betei­ligten sich in einer Art Oszillieren vollziehen. Dessen "Richtung" ver­sucht der Handelslehrer in Orientierung an wechselnden Modellen der Steuerung und aufgrund seiner Professionalitat zumindest maBgeblich mitzubestimmen.

• In spezifischer Weise umweltsensibel sind Sinnsysteme, wei! es sich bei ihnen urn Ad-hoc-Systeme handelt. Sie zerfallen von Moment zu Mo­ment und miissen sich daher immer wieder neu aufbauen. Dies bestimmt auch den prozessualen Charakter von Unterricht und Lemen. Die ange­sprochene oszillierende Bewegung, die sich im Wechselbezug auf Lem­bedingungen, Unterrichtsziele wie etwa auch Praxisanforderungen voll­zieht, ist so nur moglich, wei I sich das System mit jedem geleisteten Beitrag immer wieder neu ausrichtet. Dies macht auch die Starke dieses kommunikativen ProzeBsystems zur Unterstiitzung von Lemen aus: Es kann sich von Moment zu Moment auf variierende Umgebungsbedin­gungen einstellen und damit als lemanregende Umgebung wirtschaftsbe­rujliches Lernen als Selbstanpassungsleistung des Menschen20 effektiv fordem.

2.4 Wirtschaftsberufliches Lernen als systemische Kopplung

Eine den systemischen Aspekt wirtschaftsberuflichen Lemens fokussierende Theorie setzt, wie angedeutet, bei der differenten Verarbeitung von Sinn durch soziale und sog. Gedankensysteme an. Entsprechend muB auch zwi­schen zwei Erscheinungsformen des Sinnes, differenziert nach ihrer Verar­beitungsform, unterschieden werden. 1m wirtschaftspadagogischen Interakti-

20 Analog zum Selbstsozialisationsbegriff der modernen Systemtheorie; vgl. Gilgenmann 1986; vgl. auch das Konzept einer Ermoglichungsdidaktik resp. -plldagogik z.B. bei Len­zen 1991 u. 1992 u. Arnold 1994.

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onssystem werden danach aufgrund von Zielentscheidungen, Methodenwahl u.a. Einfltissen durch rollenverteilte Kommunikation sozial vereinbarte Be­deutungen21 konstruiert. Diese gelten als Voraussetzung fUr eine Befahigung der Lemenden zur Losung wirtschaftsberuflicher Problemstellungen. Urn wirtschaftsberufliches Lemen auszulosen, sind sie jedoch auf erfolgreiche ei­gen-aktive gedankliche Re-Konstruktion im Horizont pers6nlicher Sinnbezii­ge des Lemenden angewiesen. In guter kybemetischer Tradition muB zwi­schen diesen beiden Formen der konstruktiven Verarbeitung von Sinn in be­zug auf wirtschaftsberufliches Lemen dann ein komplexer Rtickkopplungs­prozeB angenommen werden. Dieser kann jedoch - entgegen traditioneller kybemetischer Vorstellung - nicht als direktiv steuerbar begriffen werden.22

Vielmehr muB eine Theorie der Kopplung zwischen unterrich­lich-sozialer und personlicher Konstruktion wirtschaftsberuflicher Problem­stellungen als systemisch-konstruktive Theorie der Steuerung dieses Prozes­ses nach dem Denkmodell der Anregung zur Selbststeuerung konzipiert wer­den - ein Modell, das derzeit in der interdisziplinaren Diskussion urn Fragen der Steuerung komplexer Systeme z.B. in Politik, Wirtschaft oder Therapie aufgrund des wachsenden Einflusses der modemen Systemtheorie stark dis­kutiert wird (vgl. z.B. Willke 1995, bilanzierend S. 335f. sowie Arnold 1995 u. Backes-Haase 1997a). Es beruht auf der Einsicht, daB die Kopplung zwi­schen komplexen System en auf Provozierung einer nicht in ihren Einzelhei­ten direktiv festlegbaren Resonanz im Horizont des Eigen-Sinns des zu steu­emden Systems setzen muB.

Hinzu kommt eine weitere Komplizierung: Da es sich bei wirtschaftsbe­ruflicher Bildung urn zwei komplexe Systemzusammenhange handelt - Ge­danken- und Interaktionssysteme -, ist Steuerung von Lemen zudem als zwei­stufiger Vorgang der Anregung zur Selbststeuerung zu konzipieren: einmal mtissen nach diesem Denkmodell der Kontextsteuerung die Lemvorausset­zungen fur den Lemenden als komplexes System entworfen werden.23 Dar­tiber hinaus bildet aber auch das wirtschaftspadagogische Interaktionssystem selbst ein komplexes System, einen relativ autonomen Sinnzusammenhang, in dem eigendynamisch Beitrage an Beitrage anschlieBen.

Eine zentrale Konsequenz aus diesen Uberlegungen ist aus Sicht einer systemisch-konstruktiven Wirtschaftsdidaktik: Als komplexe offen-dynami-

21 Vgl. zur Unterscheidung von sozialer Bedeutung und pers()nlichem Sinn im AnschluB an L.S.Wygotski: Frindte 1995; vgl. auch v.Cranach 1995.

22 An dieser Stelle fUhrt die allgemeine Systemtheorie die Unterscheidung zwischen trivialen und nicht-trivialen Systemen ein; vgl. v.Foerster 1993, Luhmann 1985, Backes-Haase 1992b.

23 I.S. einer "Konditionalisierung von Kontextbedingungen"; Willke 1989, S. 129.

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sche und umweltsensible Sinnsysteme transfonnieren sich sowohl die Ler­nenden selbst, als auch das Interaktionssystem. Damit konnen und mUssen beide komplexen Systemzusammenhange als selbsttransformations- u.d.h. lernfahige Systeme begriffen werden (vgl. grundlegend Senge 1996). Das wirtschaftspadagogische Interaktionssystem lemt immer, wenn es sich an Umwelterfordemisse anpaBt: so wenn es sich auf die Lembesonderheiten einzelner Lemender besser einstellt oder durch Lemortkooperation mehr Praxisnahe erzielt. Eine systemisch-konstruktive Wirtschaftsdidaktik sieht eine ihrer wichtigsten Aufgaben darin, die Sensibilitat aller Beteiligten fur den spezijischen Charakter und die wechselseitige Bedingtheit dieser beiden Lernprozesse zu wecken und Anregungen zu ihrer Forderung zu geben. Die­ses soli im folgenden am Beispiel noch etwas naher erlautert werden.

2.5 Systemisch-konstruktive Fachdidaktik und "situiertes Lernen"

1m Bereich der Methodik des Wirtschaftslehre-Unterrichts gehort das situ­ierte Lemen zu den derzeit am meisten diskutierten Praxiskonzepten.24 Al­lerdings bestehen auch im Blick auf dieses Konzept noch groBe Unsicher­heiten daruber, wie hoch sein Stellenwert im Wirtschaftslehre-Unterricht der Zukunft sein wird. Zu dessen kritischer Einschatzung kann m.E. eine syste­misch-konstruktive Wirtschaftsdidaktik einen fruchtbaren Beitrag leisten. Urn dies hier noch anzudeuten, refonnuliere ich abschIieBend zunachst das Konzept des situierten Lemens systemtheoretisch. Daran knUpfe ich Anmer­kungen zu seiner Bewertung aus der Sicht einer systemisch-konstruktiven Wirtschaftsdidaktik, verbunden mit einigen Forschungsfragen: Zunachst zur systemtheoretischen Refonnulierung des situierten Lemens:

• Beim situierten Lemen werden Lemende mit einer problemhaltigen Si­tuation konfrontiert, welche diese aIs personlich bedeutsam erfahren. Der dabei entwickelte personliche Sinngehalt wirtschaftsberuflicher Pro­blemstellungen soli umfassend zum Ausgangspunkt des Lemprozesses werden.

• Die in dieser Phase gewonnenen Problemerfahrungen und Losungsstra­tegien bleiben jedoch zunachst noch stark personlich gefarbt und situati­onsgebunden. Deshalb wird unter Berucksichtigung wissenspsychologi-

24 Vgl. grundlegend Duffy & Jonassen 1992 u. Cognition and Technology Group at Vander­bilt 1993 sowie zur deutschen Diskussion: Mandl, Gruber & Renk1 1995, Mandl & Rein­mann-Rothmeier 1995, Renkl, Gruber & Mandl 1996, Dubs 1996a, Reetz 1996, Breyde 1995 u. Euler 1997.

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scher Forschungsergebnisse (vgl. z.B. Mandl, Gruber & Renkl 1995 u. Dubs 1996a) als weiteres Vorgehen - hier wieder in systemtheoretischer Reformulierung - empfohlen:

• Losung des engen personlichen Sinnbezugs von der Ausgangssitua­tion durch ihre Variation (sog. multiple Perspektive);

• Entwicklung sozial konstruierter Bedeutungsaspekte tiber die je per­sonliche Konstruktion des Lemproblems durch Austausch zwischen Lemenden wie Lehrenden (kommunikative Validierung);

• Verallgemeinerung des im person lichen Problemhorizont als bedeut­sam erfahrenen Wissens in generelle Probiemlosungsstrategien, Be­griffe etc. sozialer Bedeutungskonstruktion (Dekontextualisierung).

Diese differenztheoretische Reformulierung der unterschiedlichen Sinnbezti­ge des situierten Lemens macht deutlich, worin aus systemtheoretischer Sicht sein zentrales Problem liegt, das offen diskutiert werden soBte, urn im Hin­blick auf dieses Konzept nicht alten Illusionen wieder neu aufzusitzen (vgl. z.B. Law 1994). Es ist die oftmals in der Praxis scharfe Differenz zwischen der ursprunglich-personlichen Sinnzuschreibung der Lemenden zu einer als problemhaltig erfahrenen Situation und dem meist komplex-rational struktu­rierten sozialen Bedeutungskonstrukt, das "Ergebnis" der Selbsttransformati­on ihrer ProblemlOsungskompetenz im ProzeB des situierten Lemens sein soB. ZweifeBos muB die Losung des mit dieser Differenz verbundenen Pro­blems angesichts der Herausforderungen, vor den en wirtschaftsberufliche Bildung heute steht, eine ihrer wichtigsten Aufgaben sein. ABerdings: Allein mit dem Schlagwort "situiertes Lemen" ist aus systemtheoretischer Sicht noch nicht geklfut, wie die Authebung der ursprunglichen Differenz im LemprozeB vorzustellen ist.

Dabei scheint es mir aus systemisch-konstruktiver Sicht derzeit angera­ten, zwei Tendenzen in der Wirtschaftsdidaktik kritisch zu wtirdigen, die das mit dem situierten Lemen verkntipfte systemische Spannungsverhliltnis zwi­schen personlicher und sozialer Sinnkonstruktion eher verktirzend behandeln: Eine Tendenz liiuft auf ein eher formales Komplexitiitsmanagement bei der Variation von Problemstellungen fUr das situierte Lemen hinaus. Hier gelten Problemstellungen fUr wirtschaftsberuflichen Unterricht in einem starken MaB als "objektiv" gegeben. Zu ihrer Losung muB man sich die nOtigen tools zwar "problembezogen" aneignen; tiber die tools selbst und ihre Funktionen gibt es aber keine Zweifel. Dabei bleibt die personliche Sinnzuweisung durch die Lemenden zumindest stark ausschnitthaft. Es dominiert der Aspekt eines Lemens, das primiir an der baldigen "Vermittlung" sozialer Bedeutungskon-

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strukte fUr die Bewaltigung wirtschaftsberuflicher Problemstellungen orien­tiert ist.

Auf der anderen Seite steht eine Tendenz, die den Aspekt der sozial­konstruktiven Verallgemeinerung des Gelemten eher vemachlassigt und die Selbstentfaltung des personlichen Sinngehalts aus der handelnden Proble­merfahrung ins Zentrum ri.ickt. Hier wird, gut reformpadagogisch, Leben (resp. Arbeiten) und Lemen verwechselt und auf einen allzu unmittelbaren Lem-Kurzschlu/3 vertraut, der aus der direkten Konfrontation des Lemenden mit einer Lemsituation nach dem Vor-Bild beruflich relevanter Situationen entspringt.

GegenUber solchen Losungsvorschlagen ist aus der Sicht einer syste­misch-konstruktiven Wirtschaftsdidaktik folgendes hervorzuheben:

Beim situierten Lemen sind personliche Problemkonstruktionen tatsach­lich als nicht hintergehbare Ausgangsbedingungen von Lemen ernst zu neh­men, da wirtschaftsberufliches Lemen notwendiges Selbstlemen ist. Das -systemtheoretisch gesprochen - Lemsystem ist in Hinblick auf seine Sinn­konstruktionen struktur- und zustandsdeterminiert (nach Maturana & Varela 1987; vgl. Backes-Haase 1996a, S. 141). FUr weitere Forschungen zum situ­ierten Lemen ist jedoch davon auszugehen, daB die Individualitat und Sin­gularitat der person lichen Problemkonstruktion im wirtschaftsberuflichen Unterricht nur in dem Sinne, wie es das situierte Lemen verspricht, aufgeho­ben werden kann, wenn sie auf eine kontinuierliche und kooperative Re-Kon­struktion ihres Ausgangssinns im wirtschaftspadagogischen Interaktionssy­stem trifft. Dies entspricht auch den Ergebnissen empirischer Forschungen, die im untersrutzenden Bezug auf die individuellen Konstruktionsleistungen der Lemenden einen entscheidenden Beitrag zum Erfolg situierten Lemens sehen (vgl. Stark u.a. 1995 u. Dubs 1996a).

Diese Oberlegung bedeutet - gegen beide kritisch gewUrdigten Tenden­zen gewandt - dann: eine Betonung der Re-Naissance kommunikativer Stra­tegien beim situierten Lemen, dies jedoch im ausdri.icklichen Bezug auf die Ko-Konstruktion von Problemstellungen im wirtschaftsberuflichen Unter­richt in einem umfassenden wie einzelfallbezogenen Sinn, wie dies in Mo­dellen der ausdrUcklichen StUtzung von Lemstrategien wie der Forderung von metakognitiven Strategien schon diskutiert wird (vgl. z.B. Metzger in Metzger & Seitz 1995 und Witt in Beck & Heid 1996). Dabei steht nicht so sehr die Frage im Vordergrund, ob im Rahmen dieses Prozesses vom Lehren­den Wissen angeboten oder die Aneignung von Wissen durch den Lemenden (au/3erlich besehen) aktiv geschieht. Vielmehr ri.ickt in den Vordergrund, da/3 der zunachst personlich-konstruktive Problembezug des Lemenden durch die

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Unterstiitzung, welche er erfahrt, nicht in einer Weise uberformt werden darf, so daB lemnotwendige Anschliisse abreiBen.

Eine solche Aufgabenbeschreibung entspricht auch ganz den dargestelI­ten systemischen Merkmalen von Interaktionssystemen wie dem wirtschafts­padagogischen. Ais Sinnsysteme konnen sie ihren wirtschaftspadagogischen Eigen-Sinn in stark momentbezogener und individuelIer Form an sich wan­delnde Umweltbedingungen, also z.B. Lementwicklungen anpassen. SolI daraus jedoch als Leistung die kooperative Unterstiitzung individuelIer Kon­struktionsprozesse resultieren, so muB sich auch der AnpassungsprozeB des sozialen Systems als stets stark situationsbezogener LemprozeB begreifen lemen. Nur wenn das situierte Lemen seinerseits zum Gegenstand des Ler­nens des Interaktionssystems wirtschaftsberuflicher Unterricht selbst wird, einem Lemen, das sich auf Verbesserung der Unterstiitzung von Selbstlem­leistungen im situierten Lemen richtet, hat dieses wirklich Aussicht auf Er­folg.

Damit bleiben natiirlich einige Fragen offen, die jedoch m.E. der naheren Forschung wiirdig sind. Fiir besonders relevant halte ich die folgenden:

1. Wie ist die Grenze zwischen einer Unterstiitzung der Selbstausformung des person lichen Problemsinns und seiner sozial-konstruktiven Oberfor­mung fur Lehrende erfahrbar zu machen?

2. Wie muB ein Konzept von Unterstiitzungen der selbstkonstruktiven Ta­tigkeit des Lemenden aussehen, das als Referenz das soziale System wirt­schaftsberuflicher Unterricht hat - und nicht nur den Lehrenden als Zen­traigestalt?

3. Wie laBt sich das fUr selbstkonstruktive Leistungen notwendige Wissen im wirtschaftsberuflichen Unterricht etwa in medial unterstiitzten Ler­numgebungen so anbieten, daB Lemende es als Angebot zur Unterstiit­zung selbstkonstruktiver Leistungen wahmehmen und nicht als unabhan­gig von ihren personlichen Problembeziigen verdinglicht-objektiv exi­stierendes Schul-Wissen?

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Selbstgesteuertes Lernen im Proze8 der Arbeit: Konzeptionelle Uberlegungen -empirische Befunde

Gerald A. Straka

Lemen hat derzeit Konjunktur:

• In der Theorie und Praxis der Personal- und Organisationsentwicklung nimmt das Thema "lemende Organisation" (Senge, 1990) breiten Raum ein.

• Die Europaische Union hatte 1996 zum "Jahr des lebensbegleitenden Lemens" ausgerufen.

• Das Vereinigte Konigreich hat 1996 ein groBes Forschungsprogramm mit dem Titel "Learning Society" in Gang gesetzt.

In diesem Zusammenhang bildet das selbstgesteuerte Lemen ein zentrales -wenn nieht das zentrale - Thema. Diese Form des Lemens scheint seine Reise urn die Welt angetreten zu haben, wie die folgenden Tagungen andeuten:

• das erste asiatisch-pazifische Seminar tiber selbstgesteuertes Lemen im Juli 1995 in Seoul

• das dritte europaische Kolloquium fiber Autoformation im November 1996 in Bordeaux

• das 11. Intemationale Symposium fiber selbstgesteuertes Lemen im Marz dieses Jahres in den USA

• die erste Weltkonferenz zum selbstgesteuerten Lemen im September 1997 in Montreal.

Auch wenn selbstgesteuertes Lemen anscheinend weltweit diskutiert wird, besagt das noch keineswegs, daB dieser Diskussion ein fibereinstimmendes Verstandnis von selbstgesteuertem Lemen zugrunde liegt. Ein Indikator da­fur ist die groBe Zahl von Bezeichnungen fur dieses Phiinomen. So machte beispielsweise Philippe Carre (1994) weit fiber 20 unterschiedliche Bezeich­nungen fUr selbstgesteuertes Lemen ausfindig. Roger Hiemstra (1996) hat fUr das 10. Intemationale Symposium zum selbstgesteuerten Lemen die bis da­hin vorliegenden Konferenzbande analysiert. Er ermittelte fiber 200 Bezeich-

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nungen flir diesen Sachverhalt. Die Vielfalt von Bezeichnungen und von Verstandnissen ist allerdings nicht nur ein Problem jenseits der bundesdeut­schen Berufsbildungsforschung. Beispielsweise sei auf das zweite Forum Be­rufsbildungsforschung im September 1995 in Berlin verwiesen. Dort stellte ein Teilnehmer des Workshops "Selbstorganisiertes Lemen" resiimierend fest "ich bleibe weiterhin verwirrt, aber auf einem hOheren Niveau" (Straka, 1996a).

Was ist also selbstgesteuertes Lemen, wie laBt es sich beschreiben? Eine Antwort liefert Knowles (1975), der mit Tough (1971) entscheidend dazu beitrug, daB diese Form der Selbstbildung in Theorie und Praxis der Erwach­senenbildung die ihr gebiihrende Aufmerksamkeit erfuhr. Er beschreibt selbstgesteuertes Lemen als einen ProzeB, in dem Individuen die Initiative ergreifen, urn mit oder ohne Hilfe anderer ihren Lembedarf festzustellen, ihre Lemziele zu formulieren, menschliche und materielle Lemressourcen zu er­mitteln, angemessene Lemstrategien auszuwahlen und umzusetzen und ihre Lemergebnisse zu beurteilen (Knowles 1975). Allerdings erfolgt keine wei­tergehende theoretische Herieitung oder systematische Beschreibung dessen, was Initiative bedeutet und welche Aktivitaten von der Ermittlung des Lem­bedarfs bis zur Beurteilung der Lemergebnisse stattfinden konnen (Straka & Nenniger, 1995). Auch meBmethodische Evaluationen der "Self-Directed Readiness Scale" (Guglielmino, 1977) sowie des "Oddi Continuing Learning Inventory" (Oddi, 1984) - beides Instrumente, die im anglo-amerikanischen Bereich sehr verbreitet sind - trugen bedingt zur begrifflichen Klarung selbstgesteuerten Lemens bei (Straka 1996a, 1996b, Straka & Hinz 1996).

Nachdem dieser "virtuelle Ausflug" wenig zur Klarung des Begriffs "selbstgesteuertes Lemen" beitrug, soli am Beispiel der "AlIgemeinen Unter­richtslehre" Franz Hubers (1972) an die hiesige Tradition didaktischen Den­kens angekniipft werden. Dort ist u.a. zu lesen:

"Lemen ist immer Begegnung mit einem Lemgegenstand; ... Zwischen dem lemenden SchUler und dem zu erfassenden Lemgegenstand findet ein Wechsel­verhtiltnis statt: Der Schiller interessiert sich flir den Gegenstand, er wendet sich ihm zu und vertieft sich in ihn; umgekehrt erregt der Lemgegenstand das Interes­se des SchUiers, ... ". (Huber, 1972,28, Hervorhebungen im Original).

Diese Sichtweise steht nicht im Widerspruch zum lemtheoretischen Ver­standnis von Lemen, nach dem Lemen allgemein die Interaktion eines Indi­viduums mit seinen historisch-gesellschaftlich gepragten Umgebungsbedin­gungen, mit iiberdauemden Veranderungen im Individuum ist (Klauer, 1973). Unter Bezug auf Knowles und Huber konnte selbstgesteuertes Lemen demnach wie folgt beschrieben werden: Selbstgesteuertes Lemen findet statt,

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wenn ausgehend von einem Lembedarf bzw. einem Lemziel, die Interaktion zwischen Lemendem und Gegenstand durch Interesse gekennzeichnet ist, der Lemende Strategien einsetzt, urn sich den Inhalt anzueignen, den Einsatz die­ser Strategien einer Kontrolle unterzieht und sein erreichtes Lemergebnis ei­ner Evaluation unterzieht (Nenniger et aI., 1996; Straka et ai, 1996).

Konzepte und Konstrukte selbstgesteuerten Lernens

Vnter Riickgriff auf Theorien und Befunde verwandter Forschungsfelder soli versucht werden, die Konzepte Interesse, Strategien, Kontrolle und Evaluati­on genauer zu bestimmen. Ein erstes Zwischenergebnis sind die in Abb. 1 aufgefiihrten Konstrukte, die - so un sere Annahme - motiviertes selbstgesteu­ertes Lemen kennzeichnen. Sie werden, wie an anderer Stelle ausgefiihrt und wie graphisch angedeutet, mit "dimensionalen Skalen" weiter konkretisiert (Nenniger et aI., 1996; Straka et aI., 1996).

Wenden wir uns zuerst dem Konstrukt Implementation innerhalb des Konzepts Strategien zu. Die Differenzierung und empirische Validierung dieses Konstrukts war und ist ein Schwerpunkt der Lemforschung. Mit ihm werden zum einen Aktivitaten zusammengefaBt, mit denen Informationen verdichtet und geordnet (= Strukturierung) werden. Zum anderen gehort dazu das Erarbeiten von Unterschieden und Gemeinsamkeiten, die kritische Aus­einandersetzung (Brookfield, 1989) mit Information (= Elaboration) sowie das Wiederholen zwecks Einpragen des Erlemten.

Beim selbstgesteuerten Lemen erfahren Aktivitaten, die der Implemen­tation vorgelagert sein konnen, einen hoheren Stellenwert. Sie werden mit den Konstrukten Sequenzierung und Ressourcenmanagement zusammenge­faBt. Beim Ressourcenmanagement lassen sich Aktivitaten unterscheiden, die der Informationsbeschaffung, der Gestaltung des Arbeits- bzw. Lemplatzes und der Zusammenarbeit mit Kollegenlinnen als der sozialen Dimension des Lemens im ProzeB der Arbeit dienen. Der Sequenzierung wird die Planung von Zeit, Lemschritten und Entspannungsphasen zugeordnet.

Implementation, Ressourcenmanagement und Sequenzierung sind einer Kontrolle der entsprechend tatigen Person unterworfen. Dieses Konzept wird nach kognitiven (Beispiel: Wenn ich Ierne, lasse ich mich nicht ablenken), metakognitiven (Beispiel: Ich unterbreche mein Lemen manchmal, urn tiber

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mein bisheriges Vorgehen nachzudenken) und motivational en (Beispiel: Fur mich ist es wichtig, das Lemziel zu erreichen) Gesichtspunkten differenziert.

Das Konzept Evaluation besteht aus den Konstrukten Diagnose und At­tribution. Die Diagnose bezieht sich auf die abschlieBende individuelle und damit subjektive Einschatzung des Lemergebnisses als Differenz zwischen dem gedanklich vorweggenommenen Ziel und dem erreichten Lemergebnis. Bei der Attribution werden die Griinde fUr das Zustandekommen des festge­stellten Lemergebnisses ermittelt. Nach attributionstheoretischen Uberlegun­gen (Weiner, 1986) werden drei Dimensionen unterschieden: Die Dimension "Kontrollierbarkeit" beinhaltet die Frage, ob Handeln und Lemen zwangslau­fig eingetreten war oder nicht. Die Dimension "Personenabhangigkeit" bein­haltet die Einschatzung, ob ein Lemergebnis durch personliches Einwirken erreicht wurde oder nicht. Die Dimension "Stabilitat" beinhaltet die Frage, ob die Bedingungskonstellation, unter der ein Lemergebnis erreicht wurde, kon­stant bleibt oder nicht.

Die Realisation der bislang beschriebenen Aktivitaten setzt voraus, daB der Lemende sich schon auf Lemen ausgerichtet hat, er sozusagen "unter Strom" steht. Knowles hat dies en Sachverhalt mit Initiative bezeichnet. Unter Bezug auf Traditionen didaktischen Denkens (beispielsweise Huber, 1972) wurde dieser Sachverhalt mit dem Konzept Interesse zu fassen versucht. Unter Riickgriff auf interessentheoretische (Deci & Flaste, 1995; Krapp, 1992; Prenzel, 1986) und leistungsthematische Uberlegungen und Befunde (Heckhausen & Rheinberg, 1980) wird nach Interesse am Inhalt und am Vorgehen unterschieden (Nenniger et aI, 1996).

Das inhalt1iche Interesse und das Vorgehensinteresse wurde auf der Grundlage eines Wert-x-Erwartungsmodells gefaBt, in das die Wert- und die Erwartungskomponente als unabhangige Dimension eingehen.

• Beim inhalt1ichen Interesse bezieht sich die Wertkomponente auf die in­dividuelle Bedeutsamkeit, die einem antizipierten Lemziel unter inhaltli­chen Gesichtspunkten beigemessen wird; die Erwartungskomponente umfaBt die Einschatzung der inhaltlichen ErschlieBbarkeit dieses antizi­pierten Lemziels.

• Das Vorgehensinteresse ist in Analogie zum inhaltlichen Interesse gefaBt und bezieht sich in seiner Wertkomponente auf die personliche Bedeut­samkeit, die bestimmtem Verhalten fUr das Realisieren des angestrebten Lemziels beigemessen wird, die Erwartungskomponente auf die indivi­duelle Einschatzung der Realisierbarkeit dieses Verhaltens. Sowohl die Wert- als auch die Erwartungskomponente konnen auf die Konstrukte der inneren Schale - also dem Ressourcenmanagement, der

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Abb. 1: Konzepte und Konstrukte motivierten selbstgesteuerten Lemens

Konzepte

Interesse

Strategien

Kontrolle

Evaluation

Konstrukte

Inh. Interesse

Vorgehensinteresse

Ressourcen­management

Sequenzierung

Implementation

Kognitive Kontrolle

Metakognitive Kontrolle

Motivation ale Kontrolle

Diagnose

Attribution

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Sequenzierung, der Implementation, den Arten der Kontrolle und der Eva­luation - bezogen sein.

Das Zwei-Schalen-Modell motivierten selbstgesteuerten Lernens

Werden die Konzepte angeordnet, erhalten wir das - wie wir es bezeichnen -"Zwei-Schalen-Modell motivierten selbstgesteuerten Lemens". Es unter­scheidet gesellschaftlich-historisch gepragte Umgebungsbedingungen, innere Bedingungen (z.B. das zum Zeitpunkt des Lemens ausgebildete deklarative Wissen, Werte etc.) und Aktivitaten, die mit den Konzepten Interesse, Lem­strategien, Kontrolle und Evaluation zusammengefaBt sind (vgl. Abb. 2).

Auf der Grundlage dieser Modellvorstellung ist selbstgesteuertes Lemen ein ProzeJ3, in dem eine Person einem Lemgegenstand ein inhaltliches und ein Vorgehensinteresse entgegenbringt, Strategien des Ressourcenmanage­ments, der Sequenzierung und Implementation einsetzt, ihren Einsatz kogni­tiv, metakognitiv und motivational kontrolliert sowie das erreichte Lemer­gebnis evaluiert und attribuiert.

U mgebungsbedingungen

Lemen allgemein und damit auch selbstgesteuertes Lemen in der Arbeits­und Lebenswelt steht mit historisch-gesellschaftlich gepragten Umgebungs­bedingungen in Beziehung. Unter der Bedingung Arbeitswelt sind das die Arbeitsplatze, die mit verschiedensten Formen der Organisation aufeinander bezogen sind. Sie konnen von den dort tatigen Personen unterschiedlich auf­genommen werden. Damit verbunden ist die Frage, welche Bedingungen am Arbeitsplatz fUr selbstgesteuertes Lemen der dort Bescbaftigten bedeutsam sein konnen. In Anlehnung an die theoretischen Uberlegungen von Deci & Ryan (Deci & Ryan, 1985; Deci & Flaste, 1995) wird in diesem Zusammen­hang die These aufgestellt, daB Interesse am selbstgesteuerten Lemen mit

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Abb. 2: Konzeptorientierte Darstellung des Zwei-Schalen-Modells motivier­ten selbstgesteuerten Lemens

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individuellem Erleben von Autonomie, Kompetenz und sozialer Einbindung in Beziehung steht.

Ftir die Bedingungen des Arbeitsplatzes wurden die Konstrukte Erleben von Autonomie, Kompetenz und sozialer Einbindung wie folgt konkretisiert:

• Autonomieerleben am Arbeitsplatz liegt vor, wenn eine Person den Ein­druck hat, Handlungsspielraume zu haben bzw. ihre Arbeitsaufgaben nach eigenen Planen erledigen zu konnen.

• Kompetenzerleben am Arbeitsplatz wird einer Person gewahr, sobald sie den Eindruck hat, ihre Arbeitsaufgaben sachverstandig sowie erfolgreich zu erledigen und wenn sie sich selbst wirksam erlebt.

• Erlebte soziale Einbindung am Arbeitsplatz wird einer Person gegen­wartig, wenn ihre Arbeiten durch Vorgesetzte und Kollegen/innen aner­kannt werden und sie sich in die Betriebsgemeinschaft eingebunden wagt.

Diese drei erlebten Arbeitsplatzbedingungen stehen - so eine Annahme -nicht nur mit Interesse am selbstgesteuerten Lemen in Beziehung, sondem auch - so eine zweite Annahme - mit Strategien und Kontrolle des Lemens in Beziehung.

Empiriscbe Befunde

Erlebte Arbeitsplatzbedingungen und Selbstlerninteresse'

1m Rahmen einer Potentialanalyse wurden 194 Sachbearbeiter/innen einer Allgemeinen Ortskrankenkasse im norddeutschen Raum nach ihrem Erleben von Autonomie, Kompetenz und sozialer Einbindung am Arbeitsplatz sowie ihrem Selbstleminteresse befragt. Von den Befragten waren 53% weiblich und 47% mannlich, 64% unter und 35% tiber 40 Jahre alt. 68% hatten Real­oder HauptschulabschluB und 32% hOhere Schulabschltisse.

Eine Strukturanalyse (Joreskog & Sorbom, 1993) im Lichte der ersten Annahme ergab das folgenden Ergebnis (Vgl. Abb. 3).

Der Abbildung ist zu entnehmen, daB die Variable "erlebte Arbeitsplatz­bedingungen" aus den Variablen "Erleben von Autonomie, Kompetenz und sozialer Einbindung" gebildet wurde. Die Variable "Selbstleminteresse" wird

Es handelt sich hier urn einen Teildatensatz aus dem DFG-Projekt Str 266/10-1.

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hier durch Vorgehensinteresse bestimmt. In Anlehnung an Atkinson (1964) wird dieses bestimmt durch die Wertschatzung und Erwartung, jeweils bezo­gen auf das Vorgehen beim selbstgesteuerten Lemen. Der Pfadkoeffizient zwischen den "erlebten Arbeitsplatzbedingungen" und dem "Selbstleminteresse" betragt 043, was einer Varianzautklarung von knapp 19% entspricht und darauf verweist, daB die Bereitschaft zum selbstgesteu­erten Lemen mit anderen Bedingungen - hier erlebten Arbeitsplatzbedingun­gen - in Beziehung stehen kann.

Erlebte Arbeitsplatzbedingungen, Selbstlerninteresse und Lernstrate­gien

1m Rahmen des Wirtschaftsmodellversuchs "Selbstorganisiertes Lemen am Arbeitsplatz" (SELA), der mit dem Bildungszentrum der Wirtschaft, Unter­wesergebiet (BWU) und der Forschungsgruppe "Lemen, Organisiert und Selbstgesteuert" (LOS) derzeit durchgefuhrt wird, werden in der ersten Phase u.a. Erhebungsinstrumente entwickelt und erprobt, mit denen spater eine WeiterbildungsmaBnahme evaluiert werden solI. Mit diesem Instrument wer­den sowohl "erlebte Arbeitsplatzbedingungen", "Interesse am selbstgesteu­erten Lemen" als auch "Lem- und Kontrollstrategien" erfaBt.

67 Sachbearbeitemlinnen aus der Fischverarbeitungsindustrie bearbeite­ten das Erhebungsinstrument. 46% hatten RealschulabschluB und 54% eine hohere Schulausbildung, 58% waren weiblich und 73% unter 40 Jahre alt. Zur Uberprtifung der Hypothese tiber einen Zusammenhang zwischen "erlebten Arbeitsplatzbedingungen", "Selbstleminteresse" und "Lemstrate­gien" wurde das in AbbA dargestellte Strukturmodell entworfen und mit LISREL8 tiberprtift. In Erweiterung zu der zuvor dargestellten Analyse wur­de die latente Variable "Lemstrategien" aus den Variablen "metakognitive Kontrolle", "Ressourcenmanagement", "Implementation", "Sequenzierung" und "motivationale Kontrolle" gebildet.

Die Ergebnisse der Analyse zeigen, daB die Ergebnisse dieser Stichprobe nicht im Widerspruch zu den zuvor gemachten Annahmen stehen. Demnach konnte sowohl ein verhaltnismaBig starker Zusammenhang zwischen "erlebten Arbeitsplatzbedingungen" (.74, R2= 54,7%) als auch zwischen dem "Selbstleminteresse" sowie den "Lemstrategien" (,.71; R2 = 50,4%) ermittelt werden.

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Zusammenfassung und Ausblick

Selbstgesteuertes Lemen kann zum einen als dynamisches Wechselspiel zwi­schen Interessen, Motivation, Strategien, KontroUe und Evaluation aufgefaBt werden (Straka et aI., 1996; Nenniger et aI, 1996). Zum anderen scheint es dartiber hinaus mit erlebten Umgebungsbedingungen in Beziehung zu stehen, wie die zuvor dargesteUten Ergebnisse aus Untersuchungen nahelegen. SoU­ten sich diese, fUr selbstgesteuertes Lemen von Erwachsenen und die hier untersuchten Bedingungen ihrer Arbeitswelt auch in weiteren und reprasen­tativeren Untersuchungen als tragfahig erweisen, sind nicht nur differenzier­tere Ergebnisse, sondem auch begrtindete und Empfehlungen zur maBge­schneiderten Personal- und Organisationsentwicklung in Untemehmen des dritten lahrtausends zu erwarten.

Literatur

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Das Verhaltnis Individuum - Organisation als Grundsatzfrage betriebspadagogischer Forschung - ein Beitrag im Kontext des Diskurses zur ,Lernenden Organisation'

Annette Ostendorf

1 Ausgangsproblem

Die intensive Auseinandersetzung mit dem Phanomen des Lernens von und in Organisationen impliziert unausweichlich und in verschiedenen Facetten die Frage nach dem Verhaltnis von Individuum und Organisation. Dies zeigt sich schon beim Lernbegriff, dessen Transformation auf Organisationen und damit auf Systeme aus padagogischer Sicht als eher anmaf3end empfunden werden kann. Ferner verweisen die theoretischen Entwlirfe zum Wissensma­nagement darauf, daf3 individuelles Wissen in kollektives und organisatori­sches Wissen der Organisation Uberftihrt werden soli, was den Verdacht einer Instrumentalisierung des Einzelsubjektes nahelegt. Es scheint also dringend angebracht, das Verhaltnis Individuum - Organisation im Rahmen der Kon­zepte der Lernenden Organisation, wie sie in der Betriebspadagogik und ih­ren Nachbardisziplinen, vor allem in der Betriebswirtschaftslehre, diskutiert werden, genauer in den Blick zu nehmen.

Dies gilt zumal fur die Betriebspadagogik, die von jeher in ihrer Theorie und Praxis in einer Art Spagat zwischen Bildungsanliegen und betrieblich­okonomischer Verwendungsabsicht steht. Ausdruck dieses Spagats, oder vielleicht besser Balanceaktes, sind die verschiedenen Differenzierungs- und GewichtungsentwUrfe der betriebspadagogischen Perspektiven wie sie z.B. von Arnold (1990, S. 16 ff.) beschrieben wurden. Zu prlifen ist im Rahmen der gewahIten Themenstellung, inwieweit es durch die Konzepte der Lernen­den Organisation mit den darin implizit oder explizit enthaltenen Grundan­nahmen zu Individuum und Organisation zu einer Bestatigung oder Modifi­kation betriebspadagogischer Perspektiven hinsichtIich Theorie und Bil­dungspraxis kommen konnte.

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Page 87: Perspektiven des Lernens in der Berufsbildung: Forschungsberichte der Fr¼hjahrstagung 1997

2 Das Verhaltnis Individuum - Organisation als Problem der Moderne

Sowohl der Begriff des Individuums1, als das "Einzelseiende in seiner Ein­zigkeit gegenUber dem Allgemeinen" (Halder & MUller, 1993, S. 145), als auch der der betrieblichen Organisation, verstanden als Typus einer kapitali­stisch gepragten Institution, eriangten eine besondere Pragung im Kontext der europaischen Aufklarung. Die Anspruche der Aufklarung, zum einen hinsichtlich der individuellen Selbstentfaltung und Emanzipation des Men­schen, zum anderen der rationalen Gesellschaftsgestaltung, fuhrten in ihren wirklichkeitsbezogenen Umsetzungsformen zu einem Phanomen, das ge­meinhin in Anlehnung an Horkheimer und Adorno (1971) als ,Dialektik der Aufklarung' bezeichnet wird. Mittels dieser Kategorie laBt sich auch das mo­derne Verhaltnis Individuum - Organisation beschreiben. Die formal­rationale ,Organisation' (als Institution und Instrument) mit ihrem Sach­zwang funktionalistischer Vernunft flihrt in gewissem MaBe zur Unfreiheit des Individuums und beschrankt damit dessen Entwicklungsmoglichkeiten -so der Ausgangspunkt dieser dialektischen Betrachtungsweise (Stolz & TUrk, 1992, Sp. 842).

Die Dialektik zwischen individualistisch-bUrgeriicher Freiheitsidee und formal-rationalem Prinzip der Organisation ist ein Grundproblem jegJicher Organisationstheorie. Die zentrale Frage ist, inwieweit die formal-rationale Vergesellschaftungsform ,Organisation' dem 'subjektiven Eigensinn' als Voraussetzung individueller Willens- und Entscheidungsfreiheit zuwiderlauft (Stolz & TUrk, 1992, Sp. 847). Zur moglichen zumindest teilweisen Authe­bung dieses Dilemmas fuhren Stolz und TUrk (1992, Sp. 843)2 aus, daB nur die Ablosung des Rationalitatspostulats yom ,Trivialmaschinenparadigma' eines ,homo oeconomicus' Le.S. hierflir Optionen bieten konnte. "Inwieweit sich eine derartige Neukonzeptualisierung des Verhaltnisses von ,subjektivem Eigensinn' und ,rationaler gesellschaftlicher Ordnung' im Rahmen des aufklarerischen Denkens und der es ,tragenden' Gesellschafts­formation Uberhaupt widerspruchsfrei entwickeln laBt, ist ein zentraler Streitpunkt des gegenwartigen gesellschaftstheoretischen Diskurses urn Kon-

Zwischen den Begriffen Individuum und Subjekt wird in Kenntnis ihrer philosophischen Bedeutungsdifferenz im Fortgang trotzdem nicht weiter unterschieden.

2 Stolz und TUrk werfen auch dem vertrags- und austauschtheoretischen Modellen eine VernachHlssigung ,subjektiven Eigensinns' vor (1992, Sp. 844).

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tinuitat oder Ende der ,Modeme'" (Stolz & TUrk, 1992, Sp. 843). Mit der Frage nach der Bestimmung des Verhliltnisses Individuum - Organisation verbinden sich also auch Fragen Ubergreifender, gesellschaftlicher Art, die in der Diskussion urn Wesen und Zukunft der Modeme gipfeln. An dieser Stelle kann nicht vertieft in die Diskussion urn Modeme oder Postmodeme einge­gangen werden, dies wUrde zu we it fUhren. Dennoch ist zu bedenken, daB eben auch eine Diskussion urn die Lemende Organisation gesellschaftstheo­retische und -politische Fragen streift.

Das Grundproblem des Verhaltnisses Individuum - Organisation muB zunachst auch fUr die neueren Konzepte zur Lemenden Organisation ange­nommen werden. In diesem Kontext laBt sich auch die vehemente Skepsis von GeiBler und Orthey (1996) oder Wittwer (1995) bezUglich dem Kontrukt der Lemenden Organisation verstehen. Sie erheben den Vorwurf einer In­strumentalisierung des Subjektes unter dem Deckmantel einer Schein­Padagogisierung der betrieblichen Lebenswelt. In diesem Beitrag soIl an die­ser Kritik angesetzt werden. Sie solI aber auch in einer genaueren Betrach­tung der Konzepte zur Lemenden Organisation unter dem Aspekt des Ver­haltnisses Individuum - Organisation hinterfragt werden. Folgende Fragen sind dabei erkenntnisleitend:

• Wie kann das Verhaltnis Individuum - Organisation in den theoretischen und praktischen EntwUrfen zur Lemenden Organisation charakterisiert werden?

• We1che Konsequenzen kann dies fur die betriebliche Bildungsarbeit ha­ben?

• MuB im Kontext der Lemenden Organisation das Verhaltnis zwischen padagogischer und okonomischer Rationalitat in bezug auf die betrieb­spadagogische Theorieentwicklung Uberdacht werden?

Urn diese Fragen diskutieren zu konnen, ist es notwendig, den Blickwinkel der Betriebspadagogik auch speziell auf organisationstheoretische Grundan­nahmen der Konzepte der Lemenden Organisation zu lenken.

3 Der Begriff der Lernenden Organisation

Bevor Uber Konzepte zur Lemenden Organisation, deren Fundierung in der Organisationstheorie und die sich aus dem Verhaltnis Individuum - Organi­sation ergebenden betriebspadagogischen Folgerungen diskutiert werden

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kann, muB zunachst der Terminus der Lemenden Organisation differenziert und definiert werden.

Zur Lemenden Organisation gibt es eine Flut von wissenschaftlichen Abhandlungen und Praxisberichten, die teilweise in ihren amerikanischen Wurzeln bis in die 60er und 70er 1ahre zurUckreicht. Den Hohepunkt ihrer Diskussion scheint sie jedoch in Deutschland erst in den 90er 1ahren (in den USA schon etwas friiher) erreicht zu haben. 1m deutschsprachigen Raum sind in letzter Zeit einige Dissertationen und Forschungsschwerpunkte an Institu­ten und etliche Praxisprojekte entstanden, die die amerikanische Theoriedis­kussion rezipieren und gedanklich weiterflihren. Daraus kann man u.a. auch schlieBen, daB die Lemende Organisation ein emstzunehmendes theoreti­sches und praktisches Konstrukt ist. Auffallend ist dabei, daB sich die Dis­kussion fast nur auf groBere Industrie- und Dienstleistungsuntemehmen be­zieht und ansonsten weder nach BetriebsgroBe, kultureller betrieblicher Um­welt und wenig nach Branchen differenziert wird. Dies stellt m.E. ein groBes Manko der bisherigen Diskussion dar. Auch betreffend das Verhaltnis Indi­viduum - Organisation ist dies problematisch, da den plural en situativen Komponenten des Verhaltnisses damit nicht Rechnung getragen werden kann.

Neben dem Problem der mangelhaften Differenzierung sind Probleme der unzureichenden empirischen Fundierung und des interkulturelIen Theo­rietransfers kennzeichnend fur den derzeitigen Stand der Diskussion urn die Lemende Organisation. Aus letzterem resultiert z.B. die Ignoranz hinsichtlich der divergierenden Bildungssystemstrukturen einzelner Lander. Dies ist vor aHem flir Lander wie Deutschland, die eine ausgepragte Berufsbildungstradi­tion aufzuweisen haben, problematisch. Damit wird eine wesentliche Varia­ble fur das Lemen von Individuen, Wissensgemeinschaften (wie Berufsgrup­pen) und auch der Gesamtorganisation (z.B. Grundlegung einer ,Wissensgenerierungs- und transformationskultur') ausgeklammert.

Allen Beschaftigungen mit Phanomenen organisationalen Lemens ist gemein, daB die Begriffe Lemende Organisation, organisationales Lemen, Lemfiihigkeit von Organisationen relativ undifferenziert verwendet werden. In diesem Beitrag solI von der Theorie und Praxis der Lemenden Organisati­on gesprochen werden, wobei zu den anderen Termini keine Trennscharfe er­reicht werden kann. Der Begriff der Lernenden Organisation ist eine Art Kunstbegriff (Probst & BUchel, 1994, S. 17). Das Metaphorische dieses Be­griffes gibt ihm einen nebulosen, aber auch interessanten Charakter. Wenn man die Theoriediskussion und die immer haufiger werdenden Praxisbeitrage (Bsp. Mai, 1996, Nonaka, 1994) betrachtet, so kann man jedoch einige Ge­meinsamkeiten in der begrifflichen Verwendung des Terminus ,Lemende

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Organisation' erkennen. Folgende Schlagworte tauchen dabei stets wieder auf:

• Organisationaler Wandel oder Evolutionfahigkeit

• Lernkultur • Wissensmanagement • EbenendifJerenzierendes und -iibergreifendes Lernen in und von Organ i­

sationen

In bezug auf einen Wirtschaftsbetrieb kann eine 'Lemende Organisation' gemaB der Hauptdiskussionsstrange in einer ersten Annaherung folgender­maBen definiert werden:

Eine Lemende Organisation ist ein primar okonomisch orientiertes Sinnsy­stem, dessen auf allen organisationalen Ebenen intemalisierte Lemkultur eine kontinuierliche Wissensgenerierung und -transformation ermoglicht.

In den folgenden Ausflihrungen soli das Verhaltnis Individuum - Organisati­on anhand der Hauptdiskussionsstrange organisationaler Wandel, Lemkultur, Wissensmanagement und ebenenUbergreifendes Lemen (Punkte 5 bis 7) un­tersucht werden. Vorher soli aber noch ein kurzer Blick auf die organisation­stheoretische Basis der Konzepte der Lemenden Organisation geworfen wer­den.

4 Organisationstheoretische Grundannahmen der Diskussion urn die Lernende Organisation im Hinblick auf das Verhiiltnis Individuum - Organisation

Es ist nicht das Ziel dieses Beitrages, den vielfaltigen Systematisierungsver­suchen (z. B. GeiBier, 1995, SchUppel, 1996, Shrivastava, 1983, Wahren, 1996) noch einen weiteren hinzuzufligen. Vielmehr geht es darum, das fast allen Ansatzen zur Lemenden Organisation direkt oder indirekt zugrundelie­gende organisationstheoretische Fundament zu betrachten. Wiegand (1995, insb. s. 131 ff. und S. 312 f.) hat in einer akribischen und sehr umfassenden Untersuchung herausgestellt, daB allen Theorieentwiirfen zur Lemenden Or­ganisation mehr oder weniger ein interpretatives Paradigma der Organisati­onsforschung zugrundeliegt.

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Interpretative Organisationstheorie (V gl. hierzu insb. Wollnik, 1992 und 1993 sowie Putnam, 1983) basiert auf dem umfassenden interpretativen Pa­radigma der Sozialwissenschaften. Sie ist im zeitlichen Sinne nieht 'neu', aber durch die Diskussion urn die Lemende Organisation erhalt sie eine neue Ausdrucksform. Die Ansatze interpretativer Organisationstheorie gelten als Gegenentwurf zum traditionell vorherrschenden funktionalistischen Para­digma der Organisationstheorie, das als objektivistisch, positivistisch und normativ gekennzeichnet werden kann. Dies bedeutet jedoch nicht, daB funktionalistische und interpretative Organisationsforschung in ihrer Gegen­satzlichkeit vollig isoliert und unvereinbar nebeneinander stehen (Putnam, 1983, S. 34 ff.).

Besondere Bedeutung kommt in interpretativen Ansatzen dem sozialen Handeln (lnteraktionen) der Organisationsmitglieder und deren Konstruktion und Interpretation von Wirklichkeit zu. Wenn auch die Pluralitat der For­schungsansatze, die zum interpretativen Paradigma der Organisationstheorie gezahlt werden, recht ausgepragt ist, so kann nach Wollnik (1992, Sp. 1784) doch folgendes festgehalten werden: "Die meisten interpretativen Forscher diirften der Auffassung zustimmen, daB das, was in organisierten Sozialsy­stemen als Wirklichkeit erlebt wird und woran das Handeln orientiert wird, (. .. ) durch soziales Handeln (Interaktionen) der Mitglieder herbeigeruhrt und nur durch fortgesetzte Interaktionen aufrechterhalten wird." Die Organisati­onsmitglieder konstruieren also durch ihre Interaktionen und Interpretationen die organisationale Wirklichkeit. Die organisationale Realitat ist eine kontin­gente Realitat von Bedeutungen, die durch Interaktionen produziert und re­produziert werden (Wollnik, 1992, Sp. 1784). Hier zeigt sieh die Nahe zum Symbolischen Interaktionismus. Die Organisationsmitglieder werden als ,Agenten der permanenten Sinnkonstitution' bezeichnet (Wollnik, 1992, Sp. 1785 in Anlehnung auf Johnson und Weick). Eine relative Vereinheitlichung dieser individuellen Sinnkonstitutionen und Bedeutungszuweisungen entsteht aus den Kommunikationsprozessen der Organisationsmitglieder (lntersubjek­tivitat). Der Kommunikation kommt ein besonderer Stellenwert in Organisa­tionen zu (Wollnik, 1992, Sp. 1785 f.).

Eine Variante der interpretativen Organisationsforschung, die kognitive Organisationstheorie, befaBt sich insbesondere mit der kognitiven Reprasen­tation intersubjektiver Bedeutungs- und Erwartungsmuster (Wollnik, 1992, Sp. 1786). Kognitive Organisationstheorie impliziert nieht, daB nur das Indi­viduum betrachtet wird. Auch die Organisation selbst kann im Vordergrund kognitiver Organisationsforschung stehen (Wiegand, 1996, S. 122).

Anhand des relativ prominenten und ausgereiften Konzepts der Lemen­den Organisation von Agyris & ScMn (1978) laBt sich der Background eines

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interpretativen Paradigmas gut veranschaulichen. Zum Verstandnis muB vor­her kurz eine sprachliche Differenzierung dieser beiden Autoren geklart wer­den. Argyris und SchOn (1978, S. 15 f.) unterscheiden zwischen sog. ,espoused theories' und ,theories-in-use'. Espoused theories sind eher explizit und manifestieren sich z. B. in Organigrammen, Untemehmensleitbildem oder Arbeitsplatzbeschreibungen. Theories-in-use sind meistens implizit oder tacit bleibende real praktizierte Handlungstheorien. Diese sind ausschlagge­bend fur organisationale Identitat und Kontinuitat und werden durch Soziali­sationsprozesse transformiert. In bezug auf das Organisationsverstandnis stellen Argyris & Schon (1978, S.16) fest: "Each member of the organization constructs his or her own representation, or image, of the theory-in-use of the whole. ( ... ) the organization members strive continually to complete it, and to understand themselves in the context of the organization." Sie folgem daraus: "Organisation is an artifact of individual ways of representing organizati­on"(Argyris & SchOn, 1978, S. 16).

Nicht nur Theoretiker der Lemenden Organisation sind einem interpre­tativen Organisationsverstandnis zugeneigt. Auch in manchen der beschrie­ben en Praxisbeispielen lassen sich Spuren dieses Paradigmas wiederfinden. Dabei darf jedoch nicht die harmonistische Illusion entstehen, daB betriebli­che Organisationen nun nicht mehr unter dem Primat okonomischer Rationa­litat stilnden. Der Unterschied Iiegt in der Sichtweise auf die Relation indivi­duellen Handelns zu Organisationszielen und betrifft damit das dialektische Verhaltnis von Individuum und Organisation. D. h., die eingangs erwahnte grundsatzliche Dialektik zwischen Individuum und Organisation hat in der Innenperspektive der Organisation eine Modifikation erhalten, nicht aber in der AuBenperspektive. Es ist in der Sichtweise des Individuums eine Abkehr yom Trivialmaschinenparadigma zu erkennen. Dies kann zu einem Bedeu­tungsgewinn fUr die betriebliche Bildungsarbeit und zu einer Erweiterung de­ren Gestaltungsmoglichkeiten fuhren. Von daher ist es sehr wichtig, daB die Betriebspadagogik die Entwicklungen der Theorien und Praxis der Lemen­den Organisation in kritischer Abwagung beobachtet und selbst aktiv in die GestaItungspraxis eingreift.

Nach diesem Exkurs in die organisationstheoretische Basis der Konzepte der Lemenden Organisation sollen die Hauptdiskussionsstrange, die vorher auch in die Arbeitsdefinition zur Lemenden Organisation eingegangen sind, nochmals etwas genauer untersucht werden.

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5 Organisationaler Wandel

Wandel wird in der Diskussion urn die Lemende Organisation als Normalfall organisationaler Realitat, als Teil der Systemprozesse gesehen. Anstatt der Annahme einer Steuerbarkeit von Wandel wird der Fokus auf die Schaffung der Bedingungen der Moglichkeit, also auf Potentialitat gerichtet. 1m Wan­delverstandnis wird auch die Abgrenzung zwischen Lemender Organisation und traditioneller Organisationsentwicklung (OE) deutlich (Schreyogg & Noss, 1995, S. 178 ff.). Lemen wird zum Kemstiick produktiver Ttitigkeit und organisationalen Fortschritts.

Dadurch, daB das Lemen in und von Organisationen nicht 'gemacht' werden kann, sondem als Selbst-ProzeB betrachtet werden muB, stellt sich die Frage nach der Gestaltung lemfreundlicher Untemehmensstrukturen. An­forderungen an derartige Organisationsstrukturen sind nach Probst (1995, S. 176 ff.) Autonomie, Heterarchie und Flexiblitat. "Es geht bei Autonomie und Lemen urn das Reflektieren und die Gestaltung des Bezugsrahmens durch diejenigen, die auch in und mit diesem Bezugsrahmen leben miissen" (Probst, 1995, S. 177). Kern der Heterarchie ist das Prinzip der fluktuieren­den hierarchischen Beziehungen je nach Situation und Bedarf. Diese Organi­sationsform kann auch mit der Metapher einer Amobe beschrieben werden, die ihre Form und ihr Zentrum standig variiert (Probst, 1995, S. 179). Unter Flexibilitat versteht man einen Balanceakt zwischen Entkoppelung und Ver­bindung, wie er z.B. in Holdingstrukturen oder Profitcenter-Organisationen deutlich wird. "Flexibilitat erlaubt, Veranderungen wahrzunehmen und zu realisieren, Strukturen und Routinen aufzubrechen, Handlungsmoglichkeiten zu erhOhen und zu nutzen" (Probst, 1995, S. 181). Lemfreundliche Organi­sationsstrukturen basieren dam it auf dem Motto: structure follows learning.

Betrachtet man die Diskussion urn den Organisationalen Wandel unter dem Gesichtspunkt des Verhaltnisses Individuum - Organisation, so wird deutlich, daB im Innenverhaltnis der Organisation der Freiraum fur Lempro­zesse von Individuen tendentiell erweitert wird. Gerade in der Diskussion urn die Reform von Organisationsstrukturen konnen neue, erweitere Gestaltungs­spielraume fur betriebliche Qualifizierungsprozesse entstehen. Auch in die­sem Zusammenhang kann man sich fragen, " ... warum Berufsbildungstheorie und -forschung den EinfluB der Untemehmensorganisation ( ... ) auf die be­rufliche Bildung, insbesondere unter einer integrativen Betrachtungsweise von Arbeit und Lemen, bis heute kaum thematisiert haben, obwohl sie gro-

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Ben EinfluB auf Selbstverstandnis und spezifische Auspragung betrieblicher Bildung hat ... " (Buck, 1996, S. 100).

Gleichwohl bleibt im AuBenverhaltnis des Untemehmens gerade in der Diskussion urn den organisationalen Wandel der Gedanke der okonomischen Uberlebensfahigkeit in einer Komplexen, dynamischen wirtschaftlichen Umwelt zentraler Zielaspekt und determiniert in gewisser Weise so auch das Innenverhaltnis.

6 Lernkultur

Ein weiterer Kritallisationspunkt der Diskussion urn die Lemende Organisa­tion ist die Bedeutung und Generierung einer betrieblichen Lemkultur. Am Beispiel des texanischen Stahlwerks Chapparal Steel beschreibt Leonard­Barton (1994) die Umwalzungen zwischen einer traditionellen Fabrik und ei­ner Fabrik als Lemstatt mit einer ausgepragten Lemkultur. Der Aufbau einer organisationalen Lemkultur erfordert eine Anderung der Denk- und Hand­lungsweisen der Organisationsmitglieder, der Gruppen, Wissensgemein­schaften (Bsp. Berufsgruppen) und der Gesamtorganisation in Richtung:

• Selbstverantwortung • Offenheit • Experimentierfreudigkeit und • Distanz zum Regelkonformismus.

Ein interpretatives Arbeits- und Lemverstandnis, unkonventionelles Lemen, Distanz zum Regelkonformismus, eigenverantwortliches Handeln und die Fahigkeit zur Regelgenerierung sind fUr Lemende Organisationen kenn­zeichnend (Buck, 1996, S. 103 ff.). Mit diesen neuen Anspriichen an Unter­nehmen ist ein Wandel im Selbstverstandnis des arbeitenden Subjekts zur Gesamtorganisation zu verzeichnen. Das Individuum erhalt mehr individuel­len Freiraum, aber auch mehr individuelle Verantwortung.

Neben der zunehmenden Eigenverantwortung des Individuums tritt auch eine Art Zwang lemen zu mUssen, was in extremer Form zu einem deutlichen Autonomieverlust des arbeitenden Subjekts ftihren kann. Allerdings bleibt genauer zu durchdenken, ob ein Lemzwang in seiner ethischen Dimension auf der gleichen Stufe steht wie z.B. der Produktivitatszwang. Hier werden Fragen nach der Qualitat von Lemprozessen und damit von Bildung ange­sprochen, die in der Diskussion urn die Lemende Organisation bisher noch

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kaum erortert wurden (Ausnahmen sind z.B. GeiJ3ler (1996) und Arnold (1995, insb. S. 14 f.)). Ferner werden didaktische Fragestellungen bisher ge­nerell ausgeklammert. FUr die Betriebspadagogik tun sich hier wichtige zu­kunftstrachtige Forschungsfelder auf.

An dieser Stelle wird deutlich, daB der Diskurs urn die Lemende Organi­sation bisher zwar in verschiedensten Disziplinen gefUhrt wurde, jedoch ohne einen zielfUhrenden Erkenntnisaustausch. In der betriebswirtschaftlichen Re­zeption werden z.B. neuere Forschungsergebnisse der kognitions-psycho­logischen Lemforschung sowie insbesondere Konzepte der berufs- und ar­beitsbezogenen Didaktik ignoriert. Es ware die Aufgabe der Betriebspadago­gik hierfUr BrUcken zu bauen und vor allem auch die Berufspadagogik in die Diskussion zu involvieren. Es gibt schon zu denken, wenn in einem US­amerikanischen Beispiel fUr eine Lemende Organisation die EinfUhrung einer geordneten beruflichen Ausbildung (3,5 Jahre Dauer, Meister als Ausbilder) als ein bedeutender Beitrag flir den Autbau einer Lemkultur gefeiert wird (Leonard-Barton, 1994, S. 114) und in Deutschland vor dem Hintergrund der ausgepragten Tradition und des hohen Professionalisierungsgrades von be­ruflicher Bildung in Theorie und Praxis z.B. das gesamte berufliche Erstqua­lifizierungswesen in der Diskussion urn eine Lemende Organisation ausge­klammert wird.

7 Wissensmanagement und ebeneniibergreifendes Lernen

Das Lemen bezieht sich auf aIle Ebenen der Organisation. Insbesondere die Transformation zwischen individuellem und organisationalem Lemen und wie man sich das Uberhaupt vorstellen kann, ist ein zentraler Diskussions­punkt in der Theorie der Lemenden Organisation. Kim (1993, S. 42) nennt dies ,the missing link'. An diesem Charakteristika zeigen sich groBe termi­nologische Probleme der Thematik. Der Lembegriff, aus der Psychologie stamm end und somit auf Individuen fixiert, wird einfach auf die Systemebe­ne der Gesamtorganisation Ubertragen. Dies stiftet vie I Verwirrung auch in den einzelnen Theoriekonzepten. Der Lembegriff wurde Ubertragen, ohne daB er im neuen Kontext definiert worden ware. FUr die Systemebene hatte vielleicht besser ein anderer Begriff wie ,evolutive Fahigkeit' o.a. gesucht werden sollen. Die Setzung kann jedoch angesichts der Flut an Publikationen im In- und Ausland nicht mehr ruckgangig gemacht werden.

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Wesentlicher Punkt fUr die Betrachtung des Verhaltnisses Individuum -Organisation ist die Diskussion urn die OberfUhrung individuellen in organi­sationales Wissen (Pautzke, 1989, S. 113 f.). Die Frage ist, ob durch die Ab­gabe individueller Wissensmonopole an betriebliche Dokumentationssysteme eine ,Entwertung' des Subjektes stattfindet. Vieles spricht im ersten Anschein dafUr, daB das betriebswirtschaftliche Wissenstransformationsziel weg yom Individuum hin zur Organisation dazu beitragt. Andererseits sind individuelle kognitive Strukturen zur Dekodierung dokumentierten Wissens notwendig, urn Uberhaupt Wissen handlungswirksam werden lassen zu konnen. Willke (1995, S. 298) bezeichnet dies als das Handikap sozialer Systeme. Die Indi­viduen halten nach wie vor das Wissensgenerierungsmonopol und sind damit in gewisser Weise unumgehbar im Lemen von Organisationen. Dies zeigen auch Forschungen zu Expertensystemen (Bsp. MYCIN, vgl. Holzapfel, 1996, S. 266). Die Frage nach dem Verhaltnis Individuum - Organisation in der Diskussion urn das Wissensmanagement ist also nieht eindeutig zu beant­worten. Das Individuum kann als Opfer, aber auch - insbesondere vor dem Hintergrund einer konstruktivistischen Lemtheorie - als Monopolist betrach­tet werden.

8 Betriebspadagogiscbe Tbeorieentwicklung und das Konzept der transversalen Vernunft

Die vorangegangenen AusfUhrungen haben gezeigt, daB im Diskurs urn die Lemende Organisation noch ein hohes MaB an Trennungsdenken und gegen­seitiger Niehtbeachtung der mit der Thematik befaBten Disziplinen zu ver­zeiehnen ist. Dies gilt auch fUr so eng verwandte Disziplinen wie die Be­triebswirtschaftslehre und die Betriebspadagogik. Einerseits ignoriert die be­triebswirtschaftliche Rezeption Erkenntnisse der Lemtheorie und Didaktik und nutzt den diesbezUglichen Erfahrungsschatz der Betriebs- und Beruf­spadagogik zu wenig. Interessante Verbindungslinien gabe es z. B. zu der Modellversuchsreihe "Dezentrales Lemen" (Vgl. hierzu Dehnbostel, 1995, S. 482 ff.). Ferner existiert das bislang im Kontext der Lemenden Organisation noch unhinterfragte Problem des interkulturellen Transfers von Manage­mentvorstellungen, speziell im Hinblick auf kulturgebundene Bildungssy­sterne. Andererseits findet in der Betriebs- und Berufspadagogik zu wenig Auseinandersetzung mit betriebswirtschaftlichen Theorien, insb. der Organi-

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sationstheorie, statl. Das Verhaftetsein der Betriebs- und Berufspadagogik im nationalen Rahmen fUhrt dazu, daB der Forschungsstand dieser Disziplinen in der nachbarwissenschaftlichen und auslandischen scientific community kaum rezipiert wird.

In der Orientierung sowohl der Individuen als auch der Gesamtorganisa­tion am 'Lemen' ergibt sich im Diskurs urn die Lemende Organisation ein gemeinsamer Kristallisationspunkt der Interessensverschrankung, der eine Dichotomisierung des okonomischen und padagogischen Anliegens nicht mehr rechtfertigt. Es ist vielmehr in Kategorien eines koevolutiven Dialogs zu denken. Die Bestimmung der Relation zwischen unterschiedlichen Ratio­nalitaten ist eine Frage der Vemunft. Welsch (1996, S. 626) bestimmt die Relation zwischen Vemunft und Rationalitat wie folgt: "Vemunft ist flir die Bestimmung der Grenzen der einzelnen Rationalitaten und flir deren Ord­nung im ganzen zustandig." Dabei ist Vemunft den Rationalitaten (Rl..n) sowohl eingebaut, als auch eine eigenstandige Dimension (Welsch, 1996, 629 ff.).

Welsch (1996, S. 761) proklamiert ein Konzept der transversalen Ver­nunft, das Pluralitat der Rationalitatsformen zur Voraussetzung und Uber­gange zwischen den Rationalitatstypen zum Ziel hat. Der Begriff ,trans­versal' bezieht sich auf Ubergiinge, auf die querlaufenden Verbindungen zwischen unterschiedlichen Komplexen. "Er bringt ein zentrales Desiderat gegenwartigen Denkens zum Ausdruck: Heterogenitat und Vertlechtung, Pluralitat und Obergang zusammendenken zu konnen" (Welsch, 1996, S. 762).

Die Pluralitat der Rationalitatstypen haben ihre Entsprechung in den wis­senschaftlichen Disziplinen. Diese sind durch Vertlechtungen bestimmt und von Ubergangen durchzogen (Welsch, 1996, S. 946). Besonders augen­scheinlich wird dies in ,Zwitlerdisziplinen' wie der Betriebspadagogik. Pro­klamiert man eine transversale Vemunft fUr diese Disziplin, so ist es notwen­dig, die Uberwindung des Disziplinendenkens (in dem FaIle vorwiegend zwi­schen der Erziehungswissenschaft und den Wirtschaftswissenschaften) vor­anzutreiben und von einer Interdisziplinaritat zu einer Transdisziplinaritat tiberzugehen. "Die Disziplinen sind in Wahrheit nicht durch einen >Kem< konstituiert, sondem urn netzartige Knoten organisiert. Die Aufgabe lage darin, deren Strange auszuarbeiten und ihre Verbindungslinien zu verfolgen. Man wird eine Disziplin veritabel nicht anders als transdisziplinar betreiben konnen. Erst im Modus der Transdisziplinaritat lassen sich die Hoffnungen der Interdisziplinaritat einlosen" (Welsch, 1996, S. 947)

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Diese Transdisziplinaritat und die damit verbundene Aufgabe eines Den­kens in Trennungskategorien3 stellt eine gro/3e Herausforderung flir die Be­triebspadagogik dar. Sie ist flir solche Ubergange zwischen Rationalitatsfor­men durch ihre Tradition des Umgangs mit divergierenden disziplinaren Standpunkten sicherlich gut gewappnet. Der triigerische Vorteil darf aber nicht dazu verleiten, neue Wege der Transdisziplinaritat nicht zu beschreiten. Die Theoriediskussion urn die Lemende Organisation bietet eine gute Gele­genheit flir Ubergange zwischen den Disziplinen, aber auch eine gewisse Verpflichtung, diese auch wirklich zu nutzen. Dies bedeutet flir die Betrieb­spadagogik insbesondere, sich nicht nur auf die Seite des Subjekts zu kon­zentrieren im Sinne einer Erwachsenenpadagogik, sondem auch gerade oko­nomische Theorien in ihre Forschung einzubeziehen. Das heiJ3t nicht, da/3 sich die Betriebspadagogik yom okonomischen Anliegen dominieren lassen solI. Dies widersprache auch dem Kemgedanken transversaler Vemunft, die sich ausdrUcklich gegen eine Majorisierung bestimmter Rationalitatstypen wendet. Dieses Verstandnis des betriebspadagogischen Forschungsanliegens ist auch kein ,RUckschritt' zu kulturpadagogischen Mustem wie sie z.B. bei Abraham (1957) zu finden sind. Oem Phanomen funktionaler Erziehung so lIte im Kontext der Lemenden Organisation jedoch durchaus Beachtung geschenkt werden. Nur so kann die Padagogik auch hier ihren Einflu/3 in Parteinahme flir das Individuum und die Effizienz der Organisation geltend machen.

Wenn man die drei Ausgangsfragen (Punkt 2.) nochmals aufgreift, so la/3t sich folgendes zusammenfassend konstatieren:

• Das Verhaltnis Individuum - Organisation erhalt durch die Ablosung der Theorie der lemenden Organisation yom Trivialmaschinenparadigma hin zu einem interpretativen Modell eine Form, in der beide Begriffe sich nicht mehr dichotomisierend sondem eher relational zueinander verhal­ten. Zur Bestimmung des Verhaltnisses ist jedoch ein kritischer Blick auf die Differenzierung in ein Innen- und ein Au/3enverhaltnis der Organisa­tion notwendig. 1m Innenverhaltnis steht das Individuum den organisa­tionalen Regeln mit mehr Freiraumen, aber auch mit mehr Verantwor­tungspflicht gegenUber. Uber das Au/3enverhaltnis dominieren Organisa­tionszwecke nach wie vor das Individuum. Deutlich wird dies am Zwang in einer Lemenden Organsiation standig lemen zu mUssen. Dies kann aus

3 Welsch zeigt auf, daB dieses Trennungsdenken tief in der Philosophie verankert ist und sich bei Descartes, Pascal, Leibnitz, Kant und den Denkem der franzosischen Postmoder­ne besonders eindrucksvoll nachweisen lliBt. Vg\. Welsch (1996), S. 766-773

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betriebspadagogischer Sicht als ein Manko, oder aber auch als eine be­sondere Herausforderung und Chance betrachtet werden. Zu beachten ist hierbei, daB Innen- und AuBenverhaltnis der Organisation in wechselsei­tiger Bedingtheit stehen und somit tiber be ide Perspektiven das Verhalt­nis Individuum - Organisation beeinfluBt werden kann.

• Ftir die betriebliche Bildungsarbeit wird es bedeutsam sein, inwieweit Theorien, Konzepte und Erfahrungen der Betriebs- und Berufspadagogik in die Diskussion urn die Lemende Organisation eingebracht werden konnen. 1m derzeitigen Diskussionsstadium werden z. B. didaktische Ge­sichtspunkte noch stark ausgegrenzt.

• Die Betriebspadagogik als Disziplin muB neue Wege der Transversalitat zwischen den disziplinaren Rationalitatsformen der Erziehungs- und Wirtschaftswissenschaften suchen. Sie ist insbesondere aufgefordert, die betriebswirtschaftliche Diskussion kritisch, aber nicht voreingenommen zu beobachten, und generell auch ihre Forschungsergebnisse der intema­tionalen scientific community zuganglich zu machen. Andererseits ist die Betriebswirtschaftslehre aufgefordert, den aktuellen Forschungsstand der Betriebs- und Berufspadagogik starker zur Kenntnis zu nehmen, urn fur ihre Konzepte weitere Impulse zu erhalten.

Die Diskussion urn die Lemende Organisation bietet fUr einen transdiszipli­naren Diskurs sehr gute AnschluBmoglichkeiten.

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Synergieeffekte nutzen durch eine verbesserte Kooperation zwischen Berufsschullehrern und Ausbildern

Arnulf Zoller

Beim nachfolgenden Beitrag handelt es sich urn die Vorstellung eines lau­fenden Modellversuchs der Bund-Uinder-Kommission (BLK) mit dem Titel "Verbesserung der Kooperation zwischen Berufsschulen und Ausbildem im dualen System der Berufsausbildung".

1 Ausgangslage

Das System der dualen Berufsausbildung steht aufgrund struktureller Veran­derungen im Umfeld der Berufsausbildung zunehmend in der Offentlichen Diskussion und damit einhergehend vor beachtlichen Herausforderungen:

• Neue Technologien und veranderte Arbeitskonzepte in den Untemeh­men verlangen nach einem neuen Verhaltnis von Arbeiten und Lemen.

• Neue Lemkonzepte erschweren eine klare Trennung betrieblicher und schulischer Ausbildungsaufgaben.

• Viele Ausbildungsordnungen und Rahmenlehrplane werden, bedingt durch veranderte Qualifikationsanforderungen, zunehmend anspruchs­voller. An beiden Lemorten bedarf es damit einhergehend steigender fi­nanzieller Investitionen und standiger Weiterbildung der Akteure.

• Die Heterogenitat hinsichtlich Vorbildung, Lemvoraussetzung und Eig­nung von Jugendlichen flir eine berufliche Erstausbildung nimmt zu.

• Ausbildungsleistung durch Betriebe wird in jlingerer Zeit auch unter Ko­stengesichtspunkten gesehen. Damit sehen sich die verschiedenen Ler­norte mit einer wachsenden Forderung nach wirtschaftlicher Effizienz konfrontiert.

Vor diesem Hintergrund wird in erster Linie von betrieblicher Seite, aber auch von staatlichen Institutionen die Frage nach der Innovationsfahigkeit

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des Systems der dualen Berufsausbildung, insbesondere im Hinblick auf eine Modemisierung und Flexibilisierung der systemimmanenten Strukturen, ge­stellt.

Unter der Voraussetzung, daB man das duale System der Berufsausbil­dung, oder, allgemeiner formuliert, ein System der Berufsausbildung an mehreren Lemorten, als weiterhin sinnstiftendes Ausbildungssystem akzep­tiert, stellt sich damit sehr schnell die Frage nach den Moglichkeiten einer das System stiitzenden bzw. optimierenden, effektiven Kooperation der Ler­norte, welche die vorhandenen Ressourcen der jeweiligen Lemorte sinnvoll nutzt. Dies ist die globale Fragestellung, der der hier beschriebene Modell­versuch "Verbesserung der Kooperation zwischen Berufsschulen und Aus­bildem im dualen System der Berufsausbildung" (kobas) nachgeht.

Der aus dieser generellen Problemlage resultierende Handlungsbedarf wurde im konkreten Fall unseres Modellversuchs durch weitere Punkte ver­starkt:

• Die Optimierung der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Ler­norten wurde von den unmittelbar Betroffenen (Ausbilder- und Lehrer­verband) als Anliegen an den Modellversuchstrager herangetragen. Da­bei erwartet man sich insbesondere Hilfen bei Industriebetrieben mit klein- und mittelstandischer Struktur sowie bei Handwerksbetrieben.

• Trotz mehrerer abgeschlossener und z.T. noch laufender Modellversuche zur Lemortkooperation wird die Zusammenarbeit auch nieht annahemd als befriedigend, geschweige denn als das Ausbildungssystem wirksam ilirdemd angesehen.

• FUr eine funktionierende, gleichberechtigte Zusammenarbeit verschie­dener Institutionen mUssen sich deren Akteure ihrer jeweiligen Rollen bewuBt sein, was bedeutet, daB die beteiligten Institutionen ein klares und gegenseitig akzeptiertes Profil haben mUssen. Zumindest fUr die Be­rufsschulen ist dies zur Zeit nieht eindeutig erkennbar.

2 Organisatorische Struktur des Modellversuchs

Wird bisher von dem Modellversuch gesprochen, so ist dam it der schulische Modellversuch gemeint, der am Staatsinstitut fUr Schulpadagogik und Bil­dungsforschung (ISB), Abt. Berufliche Schulen, MUnchen, durchgeflihrt wird. Der Thematik des Vorhabens entsprechend wird dieser Modellversuch

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durch einen betrieblichen Modellversuch erganzt. Dessen Trager ist die Ab­teilung Bildungsforschung der Beruflichen Fortbildungszentren der Bayeri­schen Arbeitgeberverbande (bfz) in Ntimberg. Beide Modellversuche sind inhaltlich, zeitlich und organisatorisch abgestimmt und arbeiten in standiger enger Kooperation. Als gemeinsame wissenschaftliche Begleitinstanz wirkt das in Regensburg ansassige Institut flir sozialwissenschaftliche Beratung (isob) mit. Alle weiteren Ausflihrungen beziehen sich deshalb auf diesen Modellversuchsverbund; wird von den Modellversuchstragem gesprochen, so sind jeweils alle o. g. Institutionen gemeint.

3 Zielsetzung der Modellversuche

Die zentrale Zielsetzung der Modellversuche kommt in ihrem Titel zum Ausdruck: "Verbesserung der Kooperation zwischen Berufsschulen und Ausbildem im dualen System der Berufsausbildung". Eine Verbesserung der Kooperation umfaBt im Sinne der hier beschriebenen Vorhaben insbesondere die Verstetigung von Kooperation bis hin zur Institutionalisierung unter­schiedlicher Kooperationsformen zur Untersttitzung einer bedarfs- und zeit­gerechten (Erst)ausbildung. Dabei sind es folgerichtig in erster Linie die Ko­operationsstrukturen und nicht die Kooperationsinhalte, auf die sich das Au­genmerk richten wird. Wesentlich erscheint auch, allen Beteiligten - die Auszubildenden eingeschlossen - den Mehrwert derartiger Kooperationsak­tivitaten starker bewuBt zu machen. Dieser Mehrwert kann sich dabei - wie bereits oben gesagt - aus sehr unterschiedlichen Kooperationsinhalten erge­ben und sich insbesondere flir die Beteiligten vor Ort sehr unterschiedlich konkretisieren. 1m einzelnen verfolgen die Modellversuche folgende konkrete Ziele:

• Auf der Grundlage der an den ausgewahlten Versuchsstandorten beob­achteten Kooperationsstrukturen sowie der vorhandenen Kooperati­onserfahrungen soll ein Verfahren entwickelt und erprobt werden, durch dessen Anwendung die Einbindung der Lemorte und die Wahl von Aus­bildungsinhalten und Ausbildungsmethoden unter Berticksichtigung der ausbildungsspezifischen Anforderungen flexibler gehandhabt werden konnen und damit besser auf die didaktischen Potentiale der jeweiligen Lemorte abgestimmt werden konnen.

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• Die oben skizzierten Beobachtungen bzw. Erfahrungen sollen so aufbe­reitet werden, daB sie auf andere potentielle Kooperationsorte transfe­riert werden konnen.

• Zur Verwirklichung dieser Zielvorgaben sollen an verschiedenen Stand­orten Kooperationsstellen geschaffen werden, in den en die Akteure die konkreten Fragen ihrer Zusammenarbeit thematisieren konnen.

Neben diesen aus der Sicht der Akteure formulierten Zielsetzungen wird ins­besondere auch ein Ziel verfolgt, das die Kooperationsthematik aus der Sicht der Auszubildenden beleuchtet. Die berufliche Ausbildung soli sich fur die betroffenen Auszubildenden starker als bisher als Einheit darstellen. Diese Zielsetzung - und darauf wurde bereits verwiesen - bedarf eines klaren Pro­fils der verschiedenen Lemorte und eines bewuBten Rollenverstandnisses ih­rer Akteure. Damit ergeben sich folgende weitere Themenfelder, denen sich zumindest der schulische Modellversuch widmen mochte und widmen muB:

• Personal- und Organisationsentwicklung am Lemort Berufsschule (Berufsschule als "lemendes Untemehmen")

• Qualitatssicherung in der Berufsschule • Zusammenwirken bzw. Verkniipfung von Erstausbildung und Weiterbil­

dung (im Sinne der Schaffung von Strukturen des lebenslangen Ler­nens).

Die Zielsetzung der Modellversuche geht damit weit iiber den Kooperati­onsaspekt hinaus und schlieBt die innovativen Themenfelder der Berufsbil­dungsdiskussion ein. Sie entsprechen daher auch der Aussage der Rahmen­vereinbarung der BLK, daB durch Modellversuche einerseits Bestehendes fortentwickelt, andererseits Neues erprobt werden solI.

4 Methodische Struktur der Modellversuche

Ein wesentIicher Gesichtspunkt der Modellversuche ist es, daB sie hinsicht­lich der Unterstiitzung und Verbesserung von Kooperationsaktivitaten von bestehenden und funktionierenden Kooperationen ausgehen. Zur Identifizie­rung derartiger Kooperationen war zu Beginn eine umfassende Datenerhe­bung bei beiden Partnem des dualen Systems erforderlich.

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4.1 Datenerhebung und Standortfindung

Zielgruppen der durchgeflihrten Datenerhebung waren auf der einen Seite die bayerischen Berufsschulen, auf der anderen Seite in Bayem ansassige Ausbildungsbetriebe. Bei der Befragung der Berufsschulen bot es sich we­gen der Uberschaubaren Gesamtheit und der Zielsetzung, die dort erhobenen Daten fur die Standortfindung heranzuziehen, an, eine Totalerhebung durch­zuflihren. Die betriebliche Befragung basierte auf einer Zufallsstichprobe. Die Betriebe wurden auf der Grundlage von Mitgliedsiisten unterschiedli­cher Verbande ausgewahlt, sie rekrutierten sich jedoch Uberwiegend aus der Elektro- und Metallindustrie, was wiederum bei der Standortfindung zu einer eingeschrankten Zugriffsmoglichkeit flihrte.

Obersicht 1: Daten der Betriebs- und Schulbefragung

Lemort Erhebungs- Zahl der be- RUcklauf Interesse an umfang fragten In- einer Mitar-

stitutionen beit1

Berufsschule Totalerhe- 93 98% 39% bung

Ausbildungs- Zufallsstich- 540 31,1% 71% betriebe probe

Ais Erhebungsinstrument dienten zwei von den Modellversuchstragem ent­wickelte und aufeinander abgestimmte Fragebogen, welche zum einen die aktuellen Kooperationsaktivitaten der Zielpopulation, zum anderen deren generelle Einschatzung von Nutzen, Problemen und Verbesserungsmoglich­keiten zum Thema Lemortkooperation abfragte. Beide Fragebogen enthiel­ten zudem die Frage, ob bei der jeweiligen Institution ein Interesse an einer Mitarbeit an den Modellversuchen bestiinde. FUr die weiteren Oberlegungen im Hinblick auf die Standortwahl sollten dann nur noch die Institutionen in Betracht gezogen werden, die sich zu dieser Frage positiv geauBert hatten. Ober die Auswertung dieser Fragebogen sowie einen Abgieich der schuli­schen und betrieblichen Daten sollten die in das Modellvorhaben einzubin­den den Standorte gefunden werden.

Dazu wurde von schulischer Seite eine Vorauswahi an Schulstandorten getroffen, wobei folgende Kriterien Beriicksichtigung fanden:

Der Prozentwert fUr den Lernort Berufsschule umfaBt ausschlieBlich die Antwort "ja" auf die Frage "Haben Sie Interesse an dem Modellversuch kobas mitzuarbeiten?", wahrend der Wert fUr den Lernort Ausbildungsbetrieb die Antworten ,ja" und "weiB nicht" zu­sammenfaBt.

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• Positive Rtickmeldung zur Modellversuchsfragestellung durch die Schule

• Klein- und Mittelbetriebe aus Handwerk und Industrie im Sprengelbe­reich der Schule

• Streuung der Standorte in Bezug auf SchulgroBe und Region (Stadt, Land, Regierungsbezirk)

Ergebnis dieser Vorauswahl waren 19 Schulstandorte, die fur eine Einbin­dung in die Modellversuche in Frage kamen. Aus dieser Standortliste wurden dann unter Einbeziehung der betrieblichen Daten 7 Modellversuchsstandorte (vgl. Ubersicht 2) ausgewahlt.2 Dabei ermoglichte ein einfacher Abgleich der schulischen und betrieblichen Daten nur in zwei Fallen eine eindeutige Standortentscheidung. In den anderen Fallen muBten entweder auf schuli­scher oder betrieblicher Seite weitergehende Nachfragen stattfinden. Insbe­sondere stellte sich heraus, daB die Stichprobe der Ausbildungsbetriebe sich hauptsachlich auf Institutionen aus dem Bereich der Metall- und Elektroin­dustrie konzentrierte, so daB sich speziell zur Findung von Betrieben anderer Branchen bzw. von Betrieben klein- und mittelstandischer Struktur sowie aus dem Handwerk die Notwendigkeit eines Nachfassens ergab. Dies ge­schab - nach der Nennung von Betrieben durch die jeweiligen Schulen -durch gezielte Experteninterviews.

Nach der Fixierung der Modellversuchsstandorte und der Findung der jeweiIigen schulischen und betrieblichen Akteure werden diese zu Works­hops eingeladen, die an den jeweiJigen Standorten stattfinden. Dabei werden - an den verschiedenen Standorten unterschiedlich ausgepragt - auch weitere Akteure, die im Bereich der beruflichen Erstausbildung Verantwortung tra­gen, eingeladen. Dies sind in der Regel Vertreter der verschiedenen Kam­mem und Innungen, der Arbeitgeberverbande und Gewerkschaften sowie fur die schulische Seite die zustandigen Schulaufsichtsbeamten der Bezirksre­gierungen. Ziele dieser von den Modellversuchstragem moderierten Arbeitstreffen sind:

• die Schaffung eines vergleichbaren Informationsstands tiber die Ziele des Modellversuchs,

• ein Austausch tiber die bisher erJebten Kooperationserfahrungen, die Identifizierung weiterer Kooperationsbedarfe,

2 Begrllndet durch die finanzielle Ausstattung der jeweiligen Modellversuche, war es fUr das bfz nicht mOglich, aile sieben Standorte zu betreuen. lwei der sieben Standorte laufen deshalb als sog. "assoziierte Standorte", was bedeutet, daB diese ausschlieBlich yom schulischen Modellversuchstrliger betreut werden. Die verbleibenden fUnf Standorte wer­den von beiden Modellversuchstrligem betreut.

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• die Verstandigung auf eine zuktinftige Vorgehensweise in der jeweiligen Kooperationsstelle.

Obersicht 2: Modellversuchsstandorte

Modellversuchs- Eingebundenes Berufs- Eingebundenes Berufs-standort feid in Phase 1 feid in Phase 2

Aichach-Friedberg3 Elektro Wirtschaft u. VerwaI-tung

Erlangen EIektrolMetall Farbtechnik Kulmbach4 Bautechnik Metall Mtinchen Wirtschaft u. VerwaI- Wirtschaft u. VerwaI-

tung tung Passau Metall HoteI- u. Gastgewerbe

Schwandorf Elektro Korperpflege Wtirzburg HoteI- u. Gastgewerbe Elektro

Zur Vorbereitung der angestrebten Kooperationsvertiefung und -verstetigung werden die Kooperationsstellen gebeten, tiber ihre Aktivitaten ein sog. Ko­operationstagebuch zu fUhren, in dem die vereinbarten Zielsetzungen, aber auch die Wege und Verfahren ihrer Realisation sowie die dabei aufgetrete­nen Schwierigkeiten im Hinblick auf eine spatere Auswertung dokumentiert werden.

4.2 Feldphase 1

In einer ersten Phase, die sich zeitlich auf das Schuljahr 1997/98 konzentrie­ren wird, ist die Zielsetzung der Modellversuchstrager, die benannten Mo­dellversuchsstandorte sowie die dort eingerichteten bzw. vorgefundenen Ko­operationsstellen kennenzulemen, d. h.

• ihre strukturellen (erfolgspragenden) Merkmale zu isolieren (z. B. Moti­vationen, Hindemisse, Institutionalisierungsgrad, Beziehungsgeflechte),

• ihre Kooperationsinhalte zu betrachten (z. B. Ausbildungsinhalte, didak­tisch-methodische Aktivitaten wie lemortiibergreifende Unterrichtspro­jekte, gemeinsame Ressourcennutzung),

3 Assoziierter Standort 4 Assoziierter Standort

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• wesentliche Aspekte flir einen Erfahrungstransfer zu identifizieren, zu dokumentieren und im Sinne eines Abbaus von Implementierungs­hemmnissen zu nutzen.

Dariiber hinaus sollen - im Sinne einer Verstetigung von Kooperationsarbeit - weitere in den o. g. Eroffnungsworkshops identifizierte Kooperationsakti­vitaten untersrutzt und gef6rdert werden.

Als methodisches Inventar werden in dieser Phase neben den bereits er­wahnten moderierten Workshops, insbesondere Methoden der Handlungs­forschung (Leitfadeninterviews) und, falls notwendig, weitere Erhebungen zum Einsatz kommen.

4.3 Feldphase 2

Zielsetzung dieser zweiten Phase, die schwerpunktmiil3ig das Schuljahr 1998/99 umfassen wird, ist der Transfer der Kooperationserfahrungen auf andere zu institutionalisierende Kooperationsstellen. Hierflir gibt es die Moglichkeit, innerhalb der o. g. Standorte auf andere Berufsfelder auszuwei­chen bzw. neue Standorte aufzunehmen.5 Von den in der ersten Feldphase eingebundenen Standorten, in diesem Fall von den Schulen, wurden bereits Berufsfelder benannt, die Untersuchungsgegenstand der zweiten Feldphase sein konnten.

5 Bedeutung der Modellversuche fUr die Berufsschule

Wie bereits an anderer Stelle erwahnt, steht das duale System und insbeson­dere die Institution Berufsschule zur Zeit in der Offentlichen Kritik. Das Spektrum der Kritik erstreckt sich vom Vorwurf der mangelnden Flexibilitat tiber die Aussage, daB die Berufsschule eine ausbildungshemmende MaB­nahme sei, bis hin zur grundsatzlichen Infragestellung des dualen Systems als Ganzes.

Der Modellversuchsverbund "Verbesserung der Kooperation zwischen Berufsschulen und Ausbildem im dual en System der Berufsausbildung" geht

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Bereits zum jetzigen frUhen Zeitpunkt liegen von vie len Schulen und Betrieben Interes­sensbekundungen im Hinblick auf eine gewUnschte Beteiligung an diesem Modellversuch vor, die dann aufgegriffen werden konnen.

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von der das duale System bejahenden These aus, daB das System selbst un­genutzte Ressourcen hat, die durch eine optimierte Zusammenarbeit der Ak­teure an den verschiedenen eingebundenen Lemorten freigelegt und nutzbar gemacht werden konnen. Dazu muB Kooperation zu einem integrativen Cha­rakteristikum des dual en Systems werden und sowohl den personellen und organisatorischen als auch den didaktisch-methodischen Bereich umfassen. Kooperation muB zu einer institutionalisierten Aufgabe aller in die berufliche Bildung eingebundenen Akteure werden.

Geht man davon aus, daB eine dauerhafte und erfolgreiche Kooperation nur zwischen gleichwertigen Partnem mit gemeinsamen Interessen und Zie­len moglich ist, so bedeutet dies, daB die Institution Berufsschule ihre Rolle im dualen System der Berufsausbildung neu definieren muB. Die tradierte Auffassung, daB Berufsschule fUr die theoretischen und Ausbildungsbetrieb fUr die praktischen Inhalte der Berufsausbildung verantwortlich sind, war in dieser Eindeutigkeit noch nie zutreffend und ist heute vor dem Hintergrund geanderter Qualifikationsanforderungen und Arbeitsorganisationsformen vollig obsolet. Es ist daher notwendig, einen neuen Bildungsauftrag und, daraus abgeleitet, ein neues Rollenverstandnis der Berufsschule zu entwik­keln.

Der hier vorgestellte Modellversuchsverbund mochte zu dieser Rollen­findung beitragen. 1m Sinne einer lemenden Organisation muB Berufsschule vor dem Hintergrund eines geanderten Selbstverstandnisses zu einem sich an Kooperation orientierenden Dienstieistungsuntemehmen werden. Ober die Aufforderung zur kreativen Kooperation mit den Partnem im dual en System, durch die Bereitstellung eines Kooperationsforums und durch die UnterstUt­zung bei der Anpassung der dazu notwendigen Rahmenbedingungen ist der Modellversuchsverbund bestrebt, die Berufsschule in ihrem ProzeB der Ver­anderung zu fordem. AuBerdem versucht er, einen Beitrag zur Steigerung der Attraktivitat des dual en Systems der Berufsausbildung zu leisten.

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Schiilerurteile fiber einen handlungsorientierten Metalltechnikunterricht

RalfTenberg

Abstract

Ein handlungsorientierter berufsschulischer Unterricht wird mit dem Ziel untersucht, Einblicke in dessen Planung, Ablauf und Wirkung zu gewinnen. Dazu werden 26 SchUler einer metalltechnischen Fachklasse tiber einen Zeit­raum von zwei mal acht Wochen beobachtet und anschlieBend tiber den Un­terricht befragt. Die SchUlerinterviews werden in Form von modalen Netzen autbereitet.

Es wird festgestellt, daB dieser Unterricht motiviert und kooperatives, in­dividuelles sowie anwendungsnahes Lemen fordert. Probleme ergeben sich vorwiegend in organisatorischen Details. Handlungsorientierter Unterricht erweist sich vor allem fur die Umsetzung und Anwendung bereits erworbe­nen Grundwissens als besonders geeignet.

1 Forschungsfeld und Forschungsgegenstand

Untersucht wird, im Gesamtrahmen eines Modellversuchs des Freistaats Bayem, ein facheriibergreifender und handlungsorientierter Unterricht mit Hilfe einer Konzeptanalyse, einer videogestUtzten Verlaufsbeobachtung und der Erhebung von Schtilerurteilen (s. Ubersicht 1). Zwei Lehrer der Dr.­Georg-Schafer-Schule in Schweinfurt befassen sich dazu mit dem metall­technischen Themengebiet Kraftiibertragungstechnik. Dieses von den beiden Lehrem erschlossene Lemfeld erscheint als geeignet, eine Vielzahl von Fa­chern zu integrieren und die darin enthaltenen Lemziele und -inhalte hand­lungsorientiert zu vermitteln. In diesem Bereich lassen sich fur die zweite Fachstufe der Industriemechaniker Maschinen- und Systemtechnik bzw. Ma­schinenbaumechaniker in den Fachem Fachtheorie, Praktische Fachkunde,

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Fachrechnen und Arbeitsplanung groBe Ubereinstimmungen im Lehrplan feststellen. Zudem deuten ,Hinweise zum Unterricht, im entsprechenden Lehrplan darauf hin, daB praxisnahen und facherverbindenden bzw. -libergreifenden, konkreten Probiemstellungen der Vorzug zu geben sei, und eine Erarbeitung von Losungswegen in Gruppen unterstlitzt werden solle.

Die Unterrichtskonzeption

Der liberwiegende Teil der im Unterricht zu erarbeitenden Leminhalte kann von den Lehrem als bekannt vorausgesetzt werden, da diese bereits Gegen­stand des vorausgehenden fachergetrennten Unterrichts waren. Der hand­lungsorientierte Unterricht sollte nicht der ErschlieBung neuer, sondem der vertiefenden und zusammenfuhrenden Wiederholung bereits vorgestellter Einzelthemen dienen. Die yom Lehrplan vorgegebene Fachsystematik wird flir dieses Unterrichtsvorhaben teilweise aufgehoben. Obere Zielsetzungen sollte die Bewaltigung berufsbezogener Aufgabenstellungen sein. Dabei steht die praktische, berufsbezogene Handlung im Mittelpunkt der Unterrichtspla­nung. Diese Handlungen sind die Demontage und die Montage eines Stim­rad- und eines Schneckengetriebes, die Herstellung verschiedener Welle­Nabe-Verbindungen sowie die Einstellung und Prlifung eines Getriebe­bremsmotors. Entsprechend den einzelnen Handlungsfeldem werden auch der Unterrichtsautbau sowie die Schiilergruppen strukturiert. Dadurch erge­ben sich die ,Lemplatze' Stimradgetriebe, Schneckengetriebe, Getriebe­bremsmotor und Welle-Nabe-Verbindungen. In Verbindung mit offenen Schreib- und Zeichenplatzen sollten an praktischen ,Lemplatzen' aIle Tatig­keiten durchgefuhrt werden konnen, die zur Losung der Aufgabenstellungen notwendig sind. Urn die Schiilerzahl in den Gruppen gering zu halten, wird jede Aufgabenstellung von zwei Gruppen gleichzeitig behandelt. Demzufol­ge arbeiten acht Lemgruppen an acht Lemplatzen mit jeweils zwei parallelen Lemplatzen. Die Planung sieht dabei die vollstandige Bearbeitung einer ge­samten Aufgabenstellung an einem Unterrichtstag vor. Ein Paket aus Leit­hinweisen und Leitfragen solI eine Minimierung der direkten Beteiligung der Lehrer am Erarbeitungs- und LemprozeB ermoglichen, wobei den Schlilem eine breite Auswahl an Fachliteratur und Spezialunteriagen zur Verfligung gestellt wird. Dabei streben die Lehrer einen Rlickzug in eine vorwiegend be­ratende und im Einzelnen helfende und untersrutzende Rolle an. Flir diese komplexe Unterrichtssituation wird (phasenweise) eine Betreuung der unge­teilten Klasse durch die gemeinsame Prasenz eines Theorielehrers (Lehrer

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mit Hochschulstudium) und eines Praxislehrers (Lehrer mit Fachlehreraus­bildung) vorgesehen. Rahmendaten der Klasse

Der Unterrichtsversuch wird in einer 12. Klasse fUr Industriemechaniker Ma­schinen- und Systemtechnik (Industrie, IMMS) und Maschinenbaumechani­ker (Handwerk) durchgefUhrt. Die Klasse setzt sich aus 4 Schiilerinnen und 22 Schiilem unterschiedlicher Kammem und Betriebe zusammen, wobei 24 Auszubildende der Firma Fichtel & Sachs den Hauptanteil der Klasse bilden.

Die Ausbildung zum Industriemechaniker Maschinen- und Systemtech­nik zielt auf einen spateren Metallfacharbeiter hin, der im Bereich industriel­ler Werkzeug- und Spezialmaschinen sowie groI3technischer Anlagen flex i­bel eingesetzt wird. Der Maschinenbaumechaniker im Handwerk hat ein ahnliches Aufgabenspektrum, das sich jedoch gegentiber den Betreuungs­und Wartungstatigkeiten in der Industrie mehr in die Montagearbeiten er­streckt. In der beobachteten Klasse befinden sich 26 Schtilerinnen und SchU­ler im Alter von 17 bis 23 Jahren. Davon verfUgen 5 tiber den Hauptschulab­schluI3, 15 tiber den Qualifizierenden HauptschulabschluI3, 4 tiber den Real­schulabschluI3, Fachrichtung Technik und ein Schiiler tiber den Realschulab­schluI3, Fachrichtung Wirtschaft. Ein Schtiler hat den mittleren Schulab­schluI3 durch Absolvieren der zehnten Klasse des Gymnasiums erworben.

Schulorganisation

Die Industriemechaniker werden in Schweinfurt prinzipiell in Teilzeitform unterrichtet. Ftir den handlungsorientierten Unterricht wurden sechs in Folge liegende Unterrichtstage yom 10.3.1993 bis zum 21.4.1993 (unterbrochen durch zwei Wochen Osterferien) aus dem Jahresplan ausgewahlt, an denen die Fachertrennung aufgehoben und handlungsorientiert unterrichtet werden sollte. Dabei rechnete man vier Tage fur die Durchfuhrung des Unterrichts und zwei weitere Tage fur die Beseitigung von Unklarheiten, Zusammenfas­sungen und die Nachbesprechung.

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Obersicht 1: Einordnung der beschriebenen Untersuchung in den Modellver­such ,Facherlibergreifender Unterricht in der Berufsschule':

DurchgefUhrt wurde der Modellversuch an 26 Schulen im Freistaat Bay­em in den Berufsfeldem Wirtschaft und Verwaltung, Chemie, Metalltechnik und Elektrotechnik im Zeitraum yom Oktober 1991 bis zum September 1995. Wissenschaftlich betreut durch die Abteilung ,Berufliche Schulen' des Bayerischen Staatsinstituts fUr Schulpadagogik und Bildungsforschung. Wis­senschaftlich begleitet durch die Abteilung ,Allgemeine Wissenschaften' des Bayerischen Staatsinstituts fUr Schulpadagogik und Bildungsforschung in Form einer Gesamtevaluation und den Lehrstuhl fUr Padagogik der Techni­schen Universitat Mtinchen in Form von gezielten Detailanalysen. Eine der gezielten Evaluationen erfaBt die Unterrichtskonzeption der Lehrer Klinger und Other in Schweinfurt. Kemstlick dieser Untersuchung ist die Erhebung von Schtilereinschatzungen bezliglich des handlungsorientierten Unterrichts tiber strukturierte Interviews.

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Tafel projektl~. 7

Obersicht 2: GrundriB des Fachraumes (im ,Normalbetrieb' fUr Praktische Fachkunde)

Vorbereitung, Organisation und DurchfUhrung des Unterrichts wurden fUr diesen Zeitraum von einem Praxislehrer und einem Theorielehrer groB­tenteils gemeinsam geleistet. Den dabei zwangslaufig auftretenden Differen­zen gegentiber den Lehrerstundenplanen des restlichen Iahres sollte durch ei­ne gezielte Vorausplanung entgegengewirkt werden. Dies gelang jedoch auf­grund schulorganisatorischer Erfordemisse nur bedingt. Der Fachlehrer konnte zumeist erst nach der 2. Unterrichtsstunde anwesend sein.

Berufsschulunterricht in Teilzeitform bedeutet, daB im Gegensatz zu ei­ner blockweisen Beschulung in der innerhalb eines Schuljahres neun Block­wochen zu absolvieren sind, die Auszubildenden pro Woche einen Tag die

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Berufsschule besuchen. Die Gesamtstundenzahl dieses Unterrichtstages be­miBt sich auf neun Stunden, wobei, entsprechend der Stundentafel des gUIti­gen Lehrplans, davon sechs Unterrichtsstunden fUr fachlichen Unterricht so­wie drei fUr den ,weiteren Ptlichtunterricht' vorgesehen sind.

Organisation des /dcherubergreifenden Unterrichts

Innerhalb der Phase des facherubergreifenden Unterrichts wurde die wo­chentliche Aufteilung der Stundentafel aufgehoben. Pro Schultag erfolgt in einer zusammenhangenden, sechssllindigen Sequenz handlungsorientierter Unterricht. Die verbleibenden drei Stun den werden aufgrund der schon er­wahnten schulorganisatorischen Erfordemisse auf zwei Stunden reduziert und flir die Vermittlung der Theorie sowie Praxis der Steuerungstechnik durch einen anderen Lehrer verwendet. Die Facher Fachtheorie, Praktische Fachkunde, Fachrechnen, Arbeitsplanung und Deutsch werden gekoppelt. Der im Projektzeitraum entfallende Unterricht innerhalb der allgemeinen Fa­cher Sozialkunde und Religion wird nach Ende der facherubergreifenden Unterrichtsphase stundenweise im Tausch nachgeholt. Innerhalb der Ge­samtstundensumme der 6 Schultage mit facherubergreifendem Unterricht sind 18 Teilungsstunden enthalten, die mit 12 Stunden aus Praktischer Fach­kunde bzw. 6 Stunden aus Arbeitsplanung hervorgehen. Hinzu kommt eine weitere Teilungsstunde pro Woche, die den im Modellversuch unterrichten­den Lehrkraften bewilligt wurde, was auf den Gesamtzeitraum weiteren 6 Stun den entspricht. Das bedeutet, daB entsprechend den Stundenanteilen pro sechssllindiger Unterrichtseinheit zu zwei Dritteln (also 4 Stunden) Teamte­aching stattfinden konnte.

Wie schon zuvor erwahnt, werden aIle 26 SchUler der Klasse in insge­samt acht Gruppen aufgeteilt. Davon setzten sich zwei Gruppen aus je vier SchUlem und sechs Gruppen aus je drei SchUlem zusammen. Das Zusam­menfinden der Gruppen erfolgt frei. In einzelnen Fallen, in denen sich Schu­ler nicht einordnen konnen, teilen die Lehrer zu. Nach einer Einflihrung in die Grundlagen und Zielsetzungen dieser fUr aile SchUler neuartigen Unter­richtsform sowie einer kurzen Vorstellung der Unterrichtsthematik und -gegenstande verteilen sich aile Gruppen auf die verschiedenen Lemplatze (siehe Ubersicht 2). Bei vier Aufgabenstellungen ist eine Doppelbelegung aller Lemplatze notwendig. Da jeder Schuitag mit dem AbschluB einer Ge­samtaufgabe enden sollte, ging man davon aus, daB jede Gruppe nach den vier Unterrichtstagen aile Aufgabenstellungen bearbeitet haben konnte. Aile

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Gruppen sind in einem groBen Fachraum untergebracht (siehe Ubersicht 2). Dieser Raum wurde ursprunglich nicht fUr den facherubergreifenden Unter­richt gebaut; es handelt sich hier vielmehr urn eine Schulwerkstatt fUr die Praktische Fachkunde, in der im normalen Jahresablauf das Berufsgrundbil­dungsjahr/Metall durchgefUhrt wird. Daher muB die Maschinenausstattung nicht erst fur diesen Unterricht eingerichtet werden. Es werden lediglich zu­satzliche Tische und Sruhle fUr die Gruppenarbeitsplatze bereitgestellt. 1m Verlaufe des Unterrichts erweist es sich als notwendig, eine groBere Werk­zeugdrehmaschine aus einem Nebenraum mit in den Unterricht einzubezie­hen, urn Teile fur die Welle-Nabe-Verbindung exakter fertigen zu konnen. An einer Seitenwand im hinteren Teil des Raumes sind fUnf Werkbanke so­wie ein MeBplatz angeordnet und daneben stehen zwei kleine Drehmaschi­nen, eine Standerbohrmaschine und ein Schleifbock. Wie man der Skizze des Raumes entnehmen kann, existieren, mit Ausnahme der nur einzeln ausge­statteten Station ,Schneckengetriebe', fUr jeden Unterrichtsgegenstand zwei Praxisplatze. Ein AutogenschweiBgerat (an der Fensterseite des Raumes) steht fUr die Rerstellung einer Schrumpfsitzverbindung zur VerfUgung. Aile benotigten Werkzeuge befinden sich innerhalb des Raumes in dafUr vorgese­henen Schranken. 1m vorderen, fensterseitigen Teil des Raumes sind Tische und Sruhle vor einer Tafel und einer Projektionsleinwand angeordnet. Damit wird gewahrleistet, daB (phasenweise) auch frontal unterrichtet werden kann. Die restlichen Sitz- und Schreibgelegenheiten des Raumes dienen den Grup­pen als weitere Theoriearbeitsplatze. Die SchUler sitzen dort zusammen, pla­nen ihre Losungswege, bearbeiten entsprechend den Leitfragen Theorie- und Berechnungsaufgaben und erstellen technische Zeichnungen. Eine abge­schlossene Glaskabine dient den Lehrkraften als Vorbereitungs- und Organi­sationsraum. Nach einem Wechsel von praktischer zu theoretischer Arbeit konnen die SchUler hier auch die Rande waschen, ohne dabei den Raum verlassen zu mUssen.

Leitfragen und Leithinweise

Die Unteriagen zu jeder der vier Aufgabenstellungen verfugen aile Uber eine Titelseite mit Angabe des jeweiligen Themengebietes. Auf mehreren Seiten (zwischen fUnf und sieben je nach Aufgabenstellung) wird der SchUler Uber Leithinweise durch das Themengebiet gefUhrt. Dabei erhalt er unter der Uberschrift ,Aufgabe' einen kurzen Einstieg in die jeweilige Problematik:

Zu Beginn jedes Unteriagensatzes wird eine praktische Aufgabenstellung beschrieben. Dabei wird der jeweilige Gegenstand, z.B. ein Stimradgetriebe,

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thematisiert. 1m AnschluB daran erscheint die eigentliche Zielvorgabe, z.B. die Veranderung des Dbersetzungsverhaltnisses. Weitere Handlungsanwei­sungen prazisieren die praktische Vorgehensweise z.B. "Dies soli durch Auswechseln des ersten Zahnradpaares geschehen". Zur Verfligung stehende Unterlagen und Werkzeuge (Zeichnungen, Standard- und Montagewerkzeug) werden angegeben. Spezielle Teilaspekte innerhalb der Aufgabenstellungen, wie beispielsweise der exakte Arbeitsluftspalt einer Bremse oder die Berech­nung von Herstellungskosten, werden angesprochen. AbschlieBend folgt der Hinweis auf Berechnungen, die im Aufgabenkontext durchgefUhrt werden mussen, zu losende Theorieaufgaben sowie Technische Zeichnungen, welche die SchUler im Zusammenhang mit dem jeweiligen Gegenstand zu erstellen haben.

Mit der Anweisung "informiere dich" werden die SchUler unter der Dberschrift ,Planung' aufgefordert, Informationen uber ihre Aufgabenstel­lung einzuholen und diese schriftlich fest zu halten.

Unter ,Entscheidung' wird ein Fachgesprach mit einer Lehrkraft bezug­lich der erstellten Planung empfohlen.

Der Bereich ,Durchflihrung' ist zumeist unterteilt in: I Praktische Tatigkeiten, II Theoretische Zusammenhange, III Zeich­

nungserstellung und IV Kritik. Dabei beinhalten die Abschnitte I, II und III die eigentlichen Leithinweise.

1m Abschnitt ,l Praktische Tatigkeiten' erscheint der grobe Handlungs­plan in Form von Rahmenhandlungen. Dber einzelne, numerierte Schritte werden die auszufUhrenden Tatigkeiten in fester Reihenfolge aufgelistet.

1m Abschnitt II ,Theoretische Zusammenhange' treten Berechnungen und Verstandnisfragen im Bezug zum jeweiligen Themengebiet auf. Bei den Be­rechnungen handelt es sich urn technisch-mathematische Aufgabenstellun­gen, die in engem Bezug zum jeweiligen Gegenstand stehen (Ubersetzungsverhaltnisse bei den Getrieben) bzw. notwendig sind, urn die Praxis durchfUhren zu konnen (Temperatur fUr einen PreBsitz). Die ,Verstandnisfragen' untergliedem sich wiederum in themenspezifische Teil­bereiche wie z.B. Getriebetechnik, Maschinenelemente, Warmebehandlung, Werkstoftkunde, usw .. Innerhalb dieser Fragestellungen erfolgt durch Erfra­gen von Theoriebeziigen und -zusammenhiingen ein Ruckblick auf die statt­gefundene Praxis.

1m Abschnitt ,III Zeichnungserstellung' wird die Erstellung einer techni­schen Zeichnung eines Bauelements gefordert. Ein von den Schulem ent­femtes Stimrad muB vermessen und in eine komplette Fertigungszeichnung umgesetzt werden. Eine Zusammenstellungszeichnung des im praktischen

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Teil verwendeten Getriebes soli mit Hilfe einer Sruckliste positioniert und mit den HauptmaBen erganzt werden.

Abschnitt ,IV Kritik' soli den SchUlem Gelegenheit geben, zu der bear­beiteten Unterrichtseinheit Stellung zu nehmen. Dieser in allen Fallen ab­schlieBende Gliederungspunkt gibt den Schiilem die Moglichkeit, die jewei­lige Aufgabenstellung zu kritisieren, Probleme zu nennen, die bei deren Be­arbeitung auftraten und den stattgefundenen Unterricht zu bewerten.

Zusammenfassend laBt sich feststellen, daB die Leitfragen und -hinweise ein stark strukturiertes Paket von Einzelaufgaben darstellen, die einen engen Bezug zu den fur den Unterricht bereitgestellten praktischen Gegenstanden aufweisen. Uber sie werden Informationen eingeholt, Handlungen geplant, Entscheidungen getroffen, komplexe Tatigkeiten durchgefiihrt und Aufga­benstellungen aus unterschiedlichsten Einzelbereichen bearbeitet.

2 Forschungsfragen

1m Vordergrund der Gesamtuntersuchung steht die Beantwortung der Frage, in welcher Weise berufsschulischer Unterricht weiterentwickelt werden muB, urn den sich verandemden Qualifikationsanforderungen zukiinftig gerecht werden zu konnen. Daraus leiten sich folgende Einzelfragestellungen ab:

Wie miissen MethodeniVerfahren konzipiert sein, wenn iiber die Ver­mittlung fachlicher Qualifikationen hinaus soziale, personale und methodi­sche Kompetenzen geschaffen werden sol/en? Welche rechtlichen und orga­nisatorischen Voraussetzungen miissen geschaffen werden. damit ein derarti­ger Unterricht m6glich ist? Wie wirken sich die neuen Anforderungen auf die inhaltliche Gestaltung von Lehrplanen aus? Inwieweit miissen die Lehrkrafte hierfor fachlich und padagogisch aus- bzw. weitergebildet werden? Welche Anforderungen ergeben sich hinsichtlich der Facheraufteilung sowie des Stundenplans. des Lehrereinsatzes und -bedarft. der Leistungserhebung bei den Schiilern, der AbschlufJpriifungen der Kammern sowie der Sachausstat­tung der Schulen? Welche Formen der Zusammenarbeit mit den Ausbil­dungsbetrieben k6nnen realisiert werden?

Urn diese Fragen zu klaren, wird der beschriebene facheriibergreifende und handlungsorientierte Unterricht in der Schulpraxis evaluiert. Ziel der Ge­samtuntersuchung ist die umfassende Beantwortung dieser Fragen. Der vor­liegende Ausschnitt bezieht sich dabei ausschlieBlich auf eine Uberpriifung

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der Wirkung und Leistungsfahigkeit des Unterrichts aus der Sicht der Schu­ler. Dabei stehen folgende Kriterien im Vordergrund:

Gesamtbeurteilung des Unterrichts, Emotionale Befindlichkeit der Schuler, Interessantheit des Unterrichts, Lemmoglichkeiten der SchUler, Qualitat der Arbeitsmittel, schuleraktive Arbeitsformen, kooperative Arbeits­formen, ProzeBorientierung (anstelle von Ergebnisorientierung) des Unter­richts und ein Vergleich des erlebten Unterrichts mit dem gewohnten.

3 Erhebung von Schiilereinschatzungen tiber subjektive Theorien

Innerhalb dieser Untersuchung sollen Schulereinschatzungen mittels einer mundlichen Befragung erhoben werden. Ais theoretischer Grundrahmen dient daftir der von GROBEN (1977) u.a. entwickelte Ansatz der subjektiven Theorien. Dieser kann als besonders geeignet gesehen werden, Wissensbe­stande, Vorstellungen, Auffassungen und Meinungen von Personen zu be­stimmten und Sachverhalte zu erschlieBen die ihrer Orientierung, Situations­einschatzung und -beurteilung, bzw. Prognose dienen sowie eine handlungs­leitende Funktion in der Person-Umwelt-Interaktion besitzen (vgl. SCHUNCK 1993, S. 17). Aile methodischen Schritte der Untersuchung ge­hen auf diese grundlegenden Gedanken zuriick.

Bei subjektiven Theorien ist nicht von einfachen Kognitionen auszuge­hen, sondem von kognitiven Strukturen. WEYMAR (1986, S. 43) versteht darunter aktive, offene Abbildsysteme, die sich in wechselseitiger Bedingt­heit mit der physikalischen und sozialen Umwelt standig autbauen, aktuali­sieren und andem. Sie dienen dem Subjekt in erster Linie zur Orientierung und Strukturierung seiner Wahmehmung, seines Erlebens und seines Han­delns. Beziiglich solcher kognitiver Strukturen wird die Annahme vertreten, daB sie intemen Reprasentationen eines Realitatsausschnittes entsprechen und durch Netzwerke abgebildet werden konnen. Urn dies zu erreichen, ist ein Zugang iiber die Sprache erforderlich, die Auflosung der Verbalitat in entsprechende Sinneinheiten und Beziige sowie deren Rekonstruktion zu ei­nem Abbild der subjektiven Theorien.

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Semantisches Gedachtnis

Subjektive Theorien werden tiber einen sprachlichen Zugang erhoben. Dabei wird von sprachlich reprasentierten kognitiven Strukturen im Gedachtnis des Befragten ausgegangen. AEBLI (1980, S. 68) verweist in diesem Zusam­menhang auf das Modell eines ,semantischen Gedachtnisses', das die sprach­lich gefaBten Gedachtnisinhalte umfaBt. Dieses entspricht einem spezifischen Modell kognitiver Strukturen, das neb en anderen Bereichen ,verschltisselten Wissens' existiert (z.B. praktisches, ,enaktives' Handlungswissen und an­schauliches, ,ikonisches' Wissen). In ihm erfolgt eine Speicherung beliebiger verbalisierbarer Daten, von kurzlebigen Einzelsatzen bis hin zu tiberdauem­dem Wissen (vgl. WEYMAR, 1986, S. 46). AEBLI (1980, S. 67ft) geht da­von aus, daB das semantische Gedachtnis netzartig strukturiert sei. Innerhalb solcher Netzstrukturen nehmen Begriffe eine zentrale Rolle ein.

Kognitive Strukturen als Netzwerke

In Anlehnung an RUMELHART und NORMAN lassen sich sprachlich re­prasentierte kognitive Strukturen im Sinne eines aktiven, strukturellen Netz­werks beschreiben, welches sowohl Fakten beinhaltet, als auch Prozesse, fUr die Bearbeitung dieser Fakten (vgl. 1987 S. 25f und S. 51ft). RUMELHART und NORMAN definieren in diesem Zusammenhang Relationen als semanti­sche (aber auch logische) Beziehungen zwischen sog. Knoten. Unter Knoten sind dabei die einzig adressierbaren Einheiten im Gedachtnissystem zu ver­stehen. Man konnte auch sagen, es sind die ,Fixpunkte des Wissens' (Perzepte, Konzepte und Attribute). Eine Relation ist die Verbindung zwi­schen mindestens zwei Knoten und besteht aus ihrer Bezeichnung und ihrer Ausrichtung. Sie ist in be ide Richtungen gtiltig, jedoch nur in Ausnahmefal­len transitiv. Verwendet man eine Relation entgegen ihrer Richtung, inver­tiert sie sich (vgl. 1987. S. 52).

Innerhalb dieser Theorie konnen einzelne Knoten mehrere Relationen auf sich vereinigen sowie eine Relation zwischen mehr als zwei Knoten be­stehen (vgl. WEYMAR 1986, S. 37, FuBnote 1). 1m Interesse einer anschau­lichen, realisierbaren Abbildung wird an dieser Stelle eine Einschrankung auf eine zweidimensionale Darstellung mit zweistelligen Relationen vorgenom­men. Diese Abbildungsform bedeutet letztendlich zwar eine perspektivische Verktirzung bzw. Reduktion der zugrunde liegenden kognitiven Struktur, er-

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scheint jedoch fur deren anschauliche Abbildung als optimal (vgl. ebd. S. 45).

Wort-BegrifJ-Konzept

Begrifflich gefaBte Gedachtniszustande gehen auf ein Bedtirfnis nach bzw. auf die Notwendigkeit von Kommunikation zuruck und lassen sich daher sprachlich belegen. Ein Wort ist nicht mehr und nicht weniger als der dahin­ter stehende Begriff. Dabei muB unter einem Begriff nicht ein bloBes Abbild der Wirklichkeit verstanden werden, sondem eher deren abstrahiertes, redu­ziertes Modell. Urn dieser Tatsache auch terminologisch gerecht zu werden, spricht man in diesem Zusammenhang von ,Konzepten'. Worte drucken aus, was in Form von Konzepten gespeichert ist. Diese Konzepte reprasentieren Erfahrungen aus Tatigkeiten und Wahmehmungen und ergeben, logisch an­geordnet, eine Aussage. Worte und Satze entsprechen somit Konzepten und Aussagen. Der Inhalt eines Satzes erschlieBt sich jedoch nicht aus seiner (sprachlichen) ,Oberflache', sondem aus seiner (semantischen) ,Tiefe'. Urn das semantische Gedachtnis tiber verbale AuBerungen erschlieBen zu konnen, ist es daher erforderlich, deren Tiefenstruktur aufzudecken. Dber diese, hin­ter den wahmehmbaren Satzgestalten stehenden ,Bauplane', lassen sich Kon­zepte und Aussagen heraus filtem, d.h. tatsachliche Bedeutungen erschlieBen (vgl. WEYMAR 1986, S. 47ft).

Netzstruktur des semantischen Gedachtnisses

Bezug nehmend auf die vorausgehenden Ausflihrungen ist davon auszuge­hen, daB kognitive Strukturen als Netzwerke organisiert sind. Das semanti­sche Gedachtnis muB somit als spezielle kognitive Struktur einem solchen Aufbau entsprechen. Konzepte beinhalten Gegenstande, Zustande, Handlun­gen oder Ereignisse. Sie verfugen untereinander tiber inhaltlich bestimmte relationale Verbindungen. Sprechen bedeutet in diesem Zusammenhang nichts anderes als die AuBerung dieser Netze, wobei die sequentielle Abfolge der einzelnen Satze einem ,Aufkntipfen' des Netzes entspricht. Ober satztibergreifende Verbindungen, z.B. Konjunktionen und Prapositionen, bleibt die Struktur erhalten (vgl. WEYMAR 1986, S. 49t).

Somit laBt sich der Bedeutungskem von Aussagen tiber die Verkntipfung von Konzepten und Relationen wiedergeben. Ausgehend von der Tatsache,

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daB soIche als Propositionen bezeichnete Verknupfungseinheiten ,Bedeutun­gen' im Gedachtnis reprasentieren, entspricht die Gesamtmenge der bezllg­lich eines Zusammenhangs verbalisierten Propositionen dem jeweiligen se­mantischen Netz (vgl. AEBLI 1981, S. 111ff, RUMELHARTINORMAN 1987, S. 51 ft). Diese Menge von Propositionen lieBe sich, in Listenform dar­gestellt, widerspruchsfrei in eine Strukturdarstellung iiberfUhren. Eine Netz­darstellung ist jedoch aus mehreren Grunden vorzuziehen: Es ist das grafi­sche Abbild des Modells vemetzter Wahmehmungs- und Denkinhalte und verkorpert somit sichtbar die zugrunde liegenden Annahmen uber kognitive Strukturen. Gegenuber einer Liste ist diese Form der Darstellung ubersichtli­cher und anschaulicher. "Uberdies besteht eher die Moglichkeit, die Bezie­hungen zwischen den einzelnen Informationselementen zu identifizieren" (WEYMAR 1986, S. 50).

Vorwissenschaftliche Theorien, auch als subjektive Theorien bezeichnet, werden nicht als einzelnstehende Kognitionen (iistenf6rmig, eindimensional) gespeichert, sondem als kognitive Strukturen. Uber die Modellvorstellung eines ,semantischen Gedachtnisses' konnen diese Strukturen als Netzwerke abgebildet werden. Die Reprasentation der subjektiven Theorien besteht in Gedachtnisinhaiten, so genannten ,Konzepten' und deren gegenseitigen Ver­bindungen, so genannten ,Relationen'.

4 Datengewinnung

Innerhalb der Sozialforschung sind Interviews die gebrauchlichsten Verbali­sationsverfahren zur Erhebung von Einschatzungen, Denkgewohnheiten, Handlungsmotiven, Zielsetzungen, usw .. Entsprechend der spezifischen Er­hebungssituation, dem Erkenntnisinteresse und dem zugrunde liegenden qualitativen Paradigm a erfolgt die Festlegung auf eine standardisierte, teil­weise strukturierte verbale Befragungsmethode. Die ,Werkzeuge' ,problemzentriertes' bzw. ,fokussiertes' Interview erscheinen fUr die Erhe­bung subjektiver Theorien von Schulem besonders geeignet (vgl. FLICK et. al. 1991, S. 158). Unter ,problemzentriert' ist dabei eine Bezugnahme auf ei­ne vorgegebene Problemstellung - in diesem Fall die Beurteilung des erlebten Unterricht - bei einer weit gehend offenen Gesprachsform zu verstehen (vgl. WITZEL 1985, S. 230t). Der Begriff ,fokussiert' druckt in etwa das Gleiche aus: Eine konkrete soziale Situation ist der zentrale Gegenstand der Befra-

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gung (vgl. MERTON / KENDALL 1984, S. 171). Innerhalb des problem-zentrierten Interviews wird von allgemeinen Kriterien der ,Problemzentrierung' (vgl. WITZEL 1985, S. 230ft), ,Gegenstandsorientierung' und ,ProzeBorientierung' gesprochen. MERTON und KENDALL (1984) steBen flir das fokussierte Interview vier entschei­dende Merkmale fest: Aus einer konkreten Situation werden anhand eines Interviewleitfadens bestehende Hypothesen der Subjekte tiber die Situation erhoben urn die subjektiven Erfahrungen der Personen herauszufinden (vgl. ebd. S. 171). 1m Bezug auf problemzentrierte oder fokussierte Interviews wird folgende Vorgehensweise empfohlen: Vor der Interviewphase analysiert der Forscher die vorgegebene Problemstellung beztiglich wesentlicher An­spruche. Diese Aspekte sind Inhalt und Linie des Interviewleitfadens (vgl. 1990, S. 46ft). Die Gesprachsflihrung ist zuruckhaltend und nicht direktiv (vgl. FLICKet. al. 1991, S. 179).

Konzeption des Leitfadens

Wie im Vorausgehenden Abschnitt bereits erwahnt, erfolgt zur Erstellung des Interviewleitfadens eine Analyse der vorgegebenen Problemstellung bezUg­lich wesentlicher Anspruche des Forschungsgegenstandes. Darunter ist eine intensive Auseinandersetzung mit der Forschungssituation (dem Unterricht), die gleichzeitig Forschungsgegenstand ist, den Forschungssubjekten (den Schiilem) und dem eigentlichen Erkenntnisinteresse (der Zielstellung) zu verstehen.

Formulierung der Fragestellungen

Der Unterricht stellt sowohl den situativen Kontext als auch den didaktisch­methodischen Rahmen der Erhebung dar. Er ist Gegenstand der Schiilerein­schatzungen und wurde im Vorfeld auf konzeptioneBer Ebene analysiert und anhand theoretischer und praktischer Kriterien eingeschatzt. Erfahrungen mit ahnlichen, bereits evaluierten Unterrichtssituationen gingen mit in die Analy­se ein (vgl. SCHELTEN/ TENBERG/ GLOGGLER / WILLNECKER­BAUER! DANG/ RIETZLER 1993).

Die Schiller sind beurteilende Subjekte. Ihre Einschatzungen bezUglich des Unterrichts sollen in Form von kognitiven Strukturen erfaBt werden. Das Konzept der subjektiven Theorien stellt die theoretische Grundlage des vor-

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zunehmenden Zugangs dar. Globale Zielsetzung ist dabei, den flicherUber­greifenden Unterricht offen zu explorieren. Neben diesem allgemeinen Ziel steht das spezielle Interesse an kognitiven, emotionalen und motivationalen Prozessen. Daraus ergeben sich folgende Einzeifragestellungen:

Frage 1: Welche Besonderheiten fallen Ihnen zum Unterricht der letzten sechs Wochen ein?

Den SchUlem solI Gelegenheit gegeben werden, vor einer Beantwortung themenbezogener Fragestellungen Uber einen von ihnen erlebten, neuen Un­terricht allgemein nachzudenken. Besonderheiten die sich auf diese Gesamt­situation beziehen, also auffallige Merkmale, VorfaIle, Zusammenhange, usw., sollen genannt und erlautert werden.

Fragen 2 und 3: In welchen Situationen fuhlten Sie sich besonders wohl bzw. unwohl?

Spezifische Unterrichtssituationen, in denen sich die SchUler wohl bzw. unwohl ftihlen, sollen genannt und erlautert werden. Die SchUler sollen aus­drlicken, inwiefem (wie viel oder wenig) sie sich im handlungsorientierten Unterricht wohl ftihlen und mit welchen Unterrichtsabschnitten bzw. -phasen sie ihr Wohl- bzw. Unwohlbefinden in Verbindung bringen.

Frage 4: Beschreiben Sie den Umgang mit Ihren Mitschulern! Diese Aufforderung dient dem Ziel, den Gesamtkomplex ,Umgang mit

den MitschUlem' ausftihrlich und unspezifiziert erlautem zu lassen. Die Zu­sammenarbeit in selbstandigen Gruppen und dam it die Interaktion zwischen den SchUlem stellt ein KemstUck des handlungsorientierten Unterrichts dar. Gleichzeitig beinhaltet sie einen der gravierendsten Unterschiede zum Fron­talunterricht. Daher erscheint es wichtig, dieses Bezugsfeld moglichst offen und ohne vorausgehende Spezifizierung zu erschlieBen.

Fragen 5 und 6: In welchen Situationen konnten Sie eigene Ideen in den Unterricht einbringen bzw. ubernahmen Sie fremde Losungen?

Spezifische Unterrichtssituationen, in denen die SchUler davon ausgehen, eigene Ideen in den Unterricht einzubringen, bzw. fremde Losungen zu Uber­nehmen, sollen genannt und erlautert werden. Die SchUler sollen ausdrlicken, inwiefem (wie stark oder schwach) sie ihr Wirken im handlungsorientierten Unterricht als kreativ bzw. rezeptiv beurteilen und mit welchen Unterrichts­abschnitten bzw. -phasen sie dies in Verbindung bringen.

Fragen 7 und 8: In welchen Situationen hatten Sie das Gefuhl, besonders viel bzw. wenig gelernt zu haben?

Spezifische Unterrichtssituationen, in denen die SchUler glauben, beson­ders viel bzw. wenig gelemt zu haben, sollen genannt und erlautert werden. Die SchUler sollen ausdrUcken, inwiefem (wie stark oder schwach) sie ihren Lemerfolg im handlungsorientierten Unterricht beurteilen und mit welchen

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Unterrichtsabschnitten bzw. -phasen sie dies in Verbindung bringen. (Analog Fragen 2 und 3 bzw. 5 und 6)

Fragen 9 und 10: Gibt es Aspekte dieses Unterrichts, die Sie besonders interessiert haben bzw. Ihr Interesse oder Ihre Aktivitat besonders gehemmt haben? Uber die beiden letzten Fragen sollen die SchUler spezifische Unterrichts­aspekte nennen, die auf sie besonders interessant bzw. uninteressant wirken. Es solI festgestellt werden, inwiefern der handlungsorientierte Unterricht als interessant bzw. uninteressant wahrgenommen wurde und auf welche Ge­sichtspunkte des Unterrichts sie ihr Interesse bzw. Desinteresse beziehen.

Urn Daten mit entsprechender Qualitat zu gewinnen, nimmt der Untersu­chende im Vorfeld der eigentlichen Erhebung am Unterricht teil, zeichnet diesen tiber Video auf, flihrt Gesprache mit Einzelnen und Gruppen und stellt deren Zusammenhange und Intentionen der gesamten Klasse vor. Dadurch sollen ,Berllhrungsangste' abgebaut, Vertrauen bezllglich der Person und der Intervention des Untersuchenden geschaffen und die Identifikation mit dem Forschungsvorhaben ausgebaut werden.

5 Datenauswertung

Die Menge aller Schiileraussagen stellt das Ausgangsmaterial fur eine in­haltsanalytische Auswertung dar. Anhand von grammatikalischen Merkma­len sollen sie in Konzepte und Relationen umgesetzt und in Form von Netz­strukturen abgebildet werden. Die Beziehungen zwischen den FragesteIlun­gen und den Antworten sowie Beziehungsstrukturen innerhalb der Antworten sollen so offen gelegt und einer Interpretation zuganglich gemacht werden.

Transkription

Vor der eigentlichen Analyse steht die Transkription des Tonbandrnaterials. Die Verschriftung der Schiileraussagen muB in zwei Durchgangen vorge­nommen werden. Uber eine Grundauswertung werden aIle Tonbander nach bestimmten Transkriptionsregeln in Texte umgesetzt. Zum Ausraumen von Unstimmigkeiten bzw. Verstandnisschwierigkeiten mtissen mit den betroffe­nen Schiilern im AnschluB an die Grundauswertung Klarungsgesprache ge-

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ftihrt werden. Das Grundmaterial erfuhrt dabei nur Prazisierungen bzw. wird an entsprechenden Stellen korrigiert.

Inhaltsanalyse

Die iiber Interviews erhobenen Schiilereinschatzungen sollen in Form von Netzen abgebildet werden. Urn diese entsprechend des vorgestellten Ansatzes ,Subjektive Theorien' zu erschlieBen ist es notwendig, sowohl die Fragestel­lungen als auch die Interviewtexte beziiglich ihres Inhaltes und der Gramma­tik aufzulosen. Entsprechend eines abzuschatzenden Antwortspektrums und dem vorliegenden Material wird ein Regelwerk erstellt, das diese Auflosung in Konzepte und Relationen plausibel, schliissig und nachvollziehbar festiegt. Endergebnis der Inhaltsanalyse ist eine Menge von multiplen binaren Kon­zept-Relations-Konzept-Propositionen. Die Antworten der SchUler stellen in ihren Inhalten und Beziigen den Gegenstand der Analyse dar. Ais Inhalt wird dabei die isolierte sprachliche Information verstanden.

6 Ergebnisse

Zusammensetzung des Datenmaterials

Es werden 516 Konzept-Relations-Konzeptverkniipfungen aus den 26 Schii­lerinterviews gewonnen. Diese 516 Propositionen setzen sich aus 186 Kon­zepten und 3 Relationen zusammen. Sie gehen aus 26 Einzelinterviews her­vor und entsprechen einer Verteilung zwischen 12 und 31 Propositionen pro SchUler. 1m Durchschnitt werden pro SchUler knapp 20 Propositionen selek­tiert. Diese 516 Propositionen entsprechen nicht 516 voneinander unter­schiedlichen Einzelaussagen, sondem beinhalten eine groBe Menge identi­scher Feststellungen. Das bedeutet, daB die zur weiteren Verarbeitung ver­bleibenden 516 Konzept-Relations-Konzeptverkniipfungen einer geringeren Menge von Einzelpropositionsmustem (vereinfacht Einze!muster) entspre­chen, weJche jedoch gehauft auftreten. Ais Vergleich konnte man sich einen Korb vorsteIlen, der mit 516 Friichten gefiiIlt ist. Da es nicht 516 unter­schiedliche Friichte sind, miissen sie einer geringeren Menge von Obstsorten entsprechen, weJche gehauft auftreten. So wie nun die Summe aller Bananen

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(4), Apfel (II), Bimen (7) ... (4+11+7+ ... ) wiederum die Gesamtzahl 516 ergeben muB, so muB auch aus den Summen von Proposition I (3 mal ge­nannt), Proposition 2 (8 mal genannt), Proposition 3 (I mal genannt) ... (3+8+ 1 + ... ), wiederum die Gesamtpropositionenmenge von 516 hervorge­hen. Es ist daher im Folgenden immer zwischen der Gesamtzahl von Propo­sitionen zu unterscheiden (,gesamter Korb') und der Anzahl der Einzelmuster (,einzelne Obstsorten '), auf welche diese Gesamtzahl zUrUckzuftihren ist.

Mithilfe der Software Netz-Werk-Zeuge I (OLDENBURGER, 1993) werden aile 516 Propositionen bezuglich ihres gehauften Auftretens mitein­ander verglichen.

Als Ergebnis dieser Auszahlung ergeben sich 368 Propositionen, die auf Mehrfachnennungen zurUckgehen. 148 Aussagen erscheinen dagegen im Ge­samtmaterial nur einfach. Diese singularen Aussagen stellen somit etwa 29% aller 516 Propositionen dar. Die uberwiegende Menge der von den Schiilem getroffenen Einschatzungen tritt gehauft auf. Von 38 Doppelnennungen, 23 Dreifachnennungen bis hin zu einer Proposition, die in insgesamt neun Inter­views vorzufinden ist, sind aile Nennungshaufigkeiten vertreten.

In Ubersicht 4 wird zum einen die Haufigkeitsverteilung graphisch ab­gebildet (dunkle Balken) und zum anderen, wie vie len SchiilerauBerungen pro Nennungshaufigkeit dies entspricht (dunk Ie + graue Balken). Durch die Darstellung der GesamtschulerauBerungen pro Nennungszahl wird sichtbar gemacht, welche tatsachlichen Aussagemengen den einzelnen Nennungshau­figkeiten entsprechen.

Die auf Mehrfachnennungen zuruckgehenden 368 Propositionen (Gesamtzahl) entsprechen insgesamt 99 voneinander unterschiedlichen Pro­position en (Einzelmustem). (Entsprechend des vorausgehenden Beispiels be­finden sich also, neben 186 Einzelsorten, 368 Fruchte im Korb bei denen je­de Sorte mindestens ein zweites mal auftritt. Insgesamt teilen sich die 368 Fruchte auf 99 verschiedene Sorten auf). Diesen 99 Propositionen mit mehr­facher Nennung stehen 148 singulare Propositionen gegenuber. In den 99 Propositionen (zwischen 9 und 2 Nennungen) sind aber, mit einer Gesamt­zahl von 368 Propositionen, mehr als 71 % aller zugeordneten Schuleraussa­gen erfaBt. Die singularen Propositionen ubersteigen zwar die Anzahl der in den Mehrfachnennungen enthaltenen Einzelmuster, stellen jedoch auf die Gesamtaussagen bezogen weniger als ein Drittel aller zugeordneten Aussa­gen dar.

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singullr (148)

Uach (38176)

3-fach (23169)

4-fach (7/28)

~fach (15175)

&-Iach (7/42)

7..fach (3121)

8-fach (6148)

9-fach (1/9)

0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 120 130 140 150

Dunkle Felder: An.ahl der aufgetretenen Ein.elmuster entsprechend ihren Nennungszahlen Dunkle+helle Felder: Propositionen insgesamt pro Nennungszahl (Einzelmuster· Nennungszahl)

Obersicht 3: Verteilung der Propositionen nach Haufigkeit

Modale Netze

Multiple binare Konzept-Relations-Konzept-Propositionen lassen sich wider­spruchsfrei in eine Strukturdarstellung iiberfUhren. Ziel dieser Umsetzung von Verbalbeziigen in eine graphische Darstellung ist eine verdeutlichende Abbildung von Bezugssystemen innerhalb semantischer Gedachtnisse, wel­che den subjektiven Theorien der befragten Subjekte entspricht. Graphisch dargestellte Systeme von Konzepten und Relationen werden als modale Net­ze (vgl. SCHUNCK 1993, S. 96ft) bezeichnet.

Die konsequente Weiterfuhrung des beschriebenen strukturell-inhalts­analytischen Verfahrens miindet in eine Abbildung der Schiilereinschatzun­gen in modalen Netzen. Grundsatzlich gilt dabei jedoch, daB diese Netze nicht als das eigentliche Ergebnis der Untersuchung gesehen werden konnen, sondern vielmehr als eine verdichtete und explizierte Form der Visualisie­rung von quantifizierten und strukturell verkniipften Inhalten. Sie erscheinen zur Sichtbarmachung der unterschiedlich gearteten Daten, das Auffinden wichtiger Details und dam it letztendlich fUr eine griindliche und fundierte Beurteilung der Schiileraussagen als besonders geeignet. Durch das ,Bildhaftmachen' von urspriinglich listenf6rmig angeordneten Propositionen, lassen sich die inneren Beziige der einzelnen Konzepte iiber die verschiede­nen Relationen erkennen. Modale Netze ermoglichen aufgrund ihrer qualita­tiven, quantitativen und strukturellen Aussagen vielfaltige Riickschliisse auf eine Vielzahl von Perspektiven und Aspekten des Untersuchungsgegenstan-

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des. AIle nachfolgend aufgefUhrten Netzstrukturen werden somit im Sinne von ,Verstarkem' oder ,VergroBerungsglasem' verwendet. Sie erlauben, die erhobenen Daten in unterschiedlichen Ubersichten, Gesamt- und Detailper­spektiven zu betrachten. Die spater erfolgenden Interpretationsansatze bauen auf die modalen Netze auf und beziehen sich auf diese, gehen jedoch letzt­endlich immer auf die Originalaussagen der interviewten SchUler zuruck.

Darstellungsweise

Der grundlegende Autbau aller nachfolgend dargestellten Netze laBt sich auf Konzepte, Relationen und Zahlnummem zuruckfUhren. Die Konzepte sind in Kastchen angeordnet in denen der inhaltliche Zusammenhang eingetragen ist. Relationen sind innerhalb der Propositionen als ein Zusammenhang zwischen einem vorausgehenden und einem nachfolgenden Konzept definiert. Sie sind entsprechend ihrer Bedeutung beschriftet und durch eine Pfeilspitze orien­tiert. Die am haufigsten auftretende Relation bleibt unbeziffert. Da sich dies je nach Netz andem kann, wird zu Beginn jeder einzelnen Legende die je­weils unbezifferte Relation genannt. Dabei geht der Pfeil immer yom voraus­gehenden Konzept aus und zeigt auf das nachfolgende Konzept. Eine Zahl­nummer bei der Spitze einer Relation bezeichnet die Haufigkeit, mit der eine bestimmte Proposition aufgetreten ist. Bezliglich der Relationen befindet sich unterhalb jeder Netzdarstellung eine Legende. In ihr laBt sich feststellen, welche Nummemcodes welchen Relationen entsprechen.

Gesamtnetz

FUr die Betrachtung einzelner FaIle, individueller Besonderheiten und Unter­schiede ware es sinnvoll, fUr aIle 26 SchUler diese ,Individualnetze' zu er­mitteln, darzustellen und zu interpretieren. Da sich diese Untersuchung je­doch vomehmlich mit einer Uberprufung der Wirkungen und der Leistungs­fahigkeit des Unterrichts befaBt, sollen Gesichtspunkte herausgestellt werden, die Uber eine personliche Einschatzung hinausgehen. Singular verbleibende Aussagen werden von der weiteren Datentransformation ausgegrenzt, da da­von auszugehen ist, daB subjektive Theorien, die von mehreren SchUlem vertreten werden, einen Konsens beinhalten, welcher den individuell gefarb­ten Charakter einzelner Einschatzungen verringert. Je mehr SchUler eine identische subjektive Theorie auBem, desto groBeres Gewicht ist ihr beizu-

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messen. Daher erscheint eine Darstellung aller gehliuft auftretenden Proposi­tionen in Form einer modalen Netzstruktur als geeignetes Vorgehen, wesent­liche Zusammenhlinge abzubilden (vgl. SCHUNCK 1993, S. 97). Somit ver­steht sich das Gesamtnetz (Ausschnitt s. Obersicht 4) als eine Abbildung ge­hauft auftretender kognitiver Strukturen.

Lesebeispiel

1m Zentrum des Gesamtnetzes ist das Konzept .Interesse I interessant' ange­ordnet. Es verfiigt Uber 12 Relationen, die es mit verschiedenen anderen Konzepten verb in den.

Eine der Relationen mit der Kennnummer 010 zeigt beispielsweise nach rechts oben zum Konzept ,Vemeinung'. Kurz vor der Pfeilspitze befindet sich ein kleiner Kreis mit der Zahl 2. Das bedeutet, daB sich zwei SchUleraus­sagen innerhalb des Gesamtmaterials befinden, die das Konzept .Interesse I interessant' mit dem Konzept ,Vemeinung' Uber die Relation , ... hat das Merkmalldie Eigenschaft .. .' in Verbindung bringen. Auf die Datengewin­nung bezogen, wird die Fragestellung 9, "Gibt es Aspekte dieses Unterrichts, die Sie besonders interessiert haben? ", zweimal vemeint.

Eine andere Relation ohne Kennnummer (und daher laut Legende 020, ... ist zeitlich/situativ zuzuordnen ... ') zeigt, ausgehend yom Konzept ,Gruppen­arbeit I Zusammenarbeit' auf das Konzept ,Interesse I interessant'. 1m klei­nen Kreis steht die Zahl 6. Das bedeutet, daB sechs SchUler ihr Interesse in Bezug zur Gruppen- bzw. Zusammenarbeit setzen.

Urn groBe Nennungshaufigkeiten optisch hervorzuheben, wird die Li­niendicke der Relationslinien entsprechend der Haufigkeit der von ihnen re­prasentierten Proposition verandert: Die dickste Linie entspricht neun SchU­leraussagen, die dUnnste zwei.

Spezijische Netze

Die Darstellung des Gesamtnetzes ist geeignet, einen umfassenden Oberblick auf aile gehauft auftretenden Propositionen zu ermoglichen. Es erlaubt eine Betrachtung des strukturellen Gesamtzusammenhangs und verfiigt trotzdem Uber detaillierte Informationen.

Urn diese detaillierten Informationen der Betrachtung besser zuganglich zu machen, bietet es sich an, das Gesamtnetz in einzelne Bildausschnitte zu

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zerlegen und in Form von spezifischen Netzen darzustellen. Ais soIche spezi­fischen Netze konnen ,modale Subnetze' gesehen werden. Diese ,baumarti­gen' Strukturen setzen sich aus Fragekonzepten zusammen und deren direkt verknUpften Konzepten. Diese ,Baumstrukturen' beinhalten jedoch nur weni­ge weiterverzweigende ,Knoten', vielmehr Uberwiegen dort direkte Zuord­nungen einzelner Konzepte. Demzufolge lassen sich aus ihnen eher inhaltli­che als strukturelle Zusammenhange ableiten.

Neben den Fragenkonzepten erscheinen weitere Konzepte, die zentrale Positionen des Gesamtnetzes einnehmen. Diese Konzepte gehen nicht auf die vorgegebenen Fragestellungen zurUck, sondem auf die Aussagen der Schu­ler. Dabei handeIt es sich urn die Konzepte ,theoretische Unterrichtsphasen' und ,praktische Unterrichtsphasen', ,GruppenabeitiZusammenarbeit', ,Montagetatigkeiten', ,freies, selbstandiges Arbeiten'. Sie stellen eine weitere Moglichkeit dar, spezifische Ausschnitte des Netzes herauszuprojizieren.

In den Schtilereinschatzungen zeichnen sich auch einzelne unterrichts­methodische Gesichtspunkte abo Die Unterrichtgegenstande ,Welle-Nabe­Verbindungen', ,Getriebe' und ,Drehstrom-Bremsmotor' werden themati­siert, das ,Anfertigen technischer Zeichnungen', ,mathematische Berechnun­gen' und die eben schon genannten ,Montagetatigkeiten'. Auch diese struktu­rellen Details sollen in eigenen ,modalen Subnetzen' dargestellt werden. In dies em und im Vorausgehenden Fall sind, gegenUber den ,Baumstrukturen' der Fragenkonzepte vermehrt strukturelle Aussagen zu erwarten.

Ein Erlauterungstext gibt zu jeder ,Baumstrukturdarstellung' AufschluB Uber die Menge der Propositionen, die zum jeweiligen Fragenzusammenhang selektiert werden, auf wie viele Einzelmuster sich diese Proposition en zu­rUckflihren lassen, weIche Abbildungsleistung sich bei einer Darstellung aller mehrfach genannten Propositionen ergibt und wie viele Konzepte in diese Abbildung insgesamt eingehen.

Die Relationen sind, wie im Gesamtnetz, pfeilartig dargestellt und ent­sprechend den zugrunde liegenden Propositionen gerichtet. Die Nennungs­haufigkeit der Propositionen geht in die Dicke des jeweiligen Relationspfei­les ein Ge dicker der Pfeil, desto groBer die Haufigkeit). Unbeschriftete Pfeile beziehen sich auf die erste Relation in der Legende (als ,nicht bezeichnet' aufgetUhrt), aile anderen Relationen tragen eine Kennummer auf ihrer Linie.

Die Konzepte sind als Kastchen dargestellt, in den en die Konzeptbe­zeichnung steht. Ihre Anordnung entspricht ihrer Nennungshaufigkeit (sie nimmt von links oben nach rechts unten ab). Das Fragenkonzept steht in der Mitte der Baumstruktur. Aile Konzepte konnen Ausgangs- und Endpunkt ei­ner Relation darstellen. Bei der Pfeilspitze der Relation wird die Nennungs­haufigkeit der durch sie abgebildeten Proposition angegeben.

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1m Unterschied zu den Einfachstrukturen der Fragen 1 und 4, weisen die restlichen, komplementaren Fragestrukturen eine doppelte Baumstruktur auf. Bei dieser kommt die Polaritat der getroffenen Aussagen sehr stark zum Ausdruck. Die Antwortkonzepte sind urn zwei Zentren angeordnet, die posi­tive Formulierung liegt oberhalb der negativen. Die gewichtigen Aussagen befinden sich wie bei den Einfachstrukturen im oberen Teil links oben. FUr das komplementare Fragenkonzept werden sie rechts unten angeordnet. Die­se raumliche Distanz so11 die inhaltliche Diskrepanz reprasentieren.

Wenn beispielsweise neun SchUler zu der Festste11ung kommen, daB die praktischen Unterrichtsphasen ihr ,personliches Wohlbefinden' f6rdem, so stehen dies en sechs AuBerungen gegenUber, in denen der ,Besuch einer Be­obachtergruppe' in Verbindung mit ,personlichem Unwohlbefinden' ge­bracht wird. Doppelzuordnungen sind ebenso moglich: Beispielsweise ver­binden sechs SchUler die ,Praktischen Unterrichtsphasen' mit dem ,Einbringen eigener Ideen in den Unterricht' und drei SchUler mit der ,Dbemahme fremder Losungen'.

Wie bereits angesprochen so11en auch Konzepte, die zentrale Positionen des Gesamtnetzes einnehmen, jedoch nicht auf die Fragenkonzepte zurUck­gehen, naher untersucht werden. Sie werden, entsprechend der fragenbezo­genen Baumstrukturen als weitere modale Subnetze aus dem Gesamtnetz herausprojiziert.

Die Baumstrukturen zu allen Fragenkonzepten und die ,weiteren moda­len Subnetze' werden im Folgenden dargestellt (s. Dbersichten 5-15):

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Page 134: Perspektiven des Lernens in der Berufsbildung: Forschungsberichte der Fr¼hjahrstagung 1997

tiher,lichl 9 /6' Ges .. amtnetz aller eh g auf! auf'tretend P " a roposltJOnen

138

Page 135: Perspektiven des Lernens in der Berufsbildung: Forschungsberichte der Fr¼hjahrstagung 1997

uiJeziffert 010 em

is! zeiUich I situaliv ZIJZlJOd1en hit daI M!r1<rrBII de 8gensc:tat wrd assoziiert nit

139

Page 136: Perspektiven des Lernens in der Berufsbildung: Forschungsberichte der Fr¼hjahrstagung 1997

Frage 1 ,Facherubergreifender Unterricht'

Insgesamt gehen aus 26 Schiilerinterviews 96 Propositionen in 51 Einzelmu­stem mit Bezug zur Fragestellung 1 hervor. 18 Konzepte beziehen sich mit Mehrfachnennungen auf das Fragenkonzept. Durch die verschiedenen Nen­nungshaufigkeiten reprasentieren die dargestellten 19 Propositionen insge­samt 63 Schiileraussagen. Das entspricht, bezogen auf die AusschlieBung singularer Propositionen, einer Abbildungsleistung von 66%.

LEGENDE

UNBEZIFFERT

020

Problem. bei der

Werkzeug­beschaffung

Keine einengenden

Vorgaben

Org.nisato­risen.

Problema

bzw. nicht 50 theore­

tischer Unterricht

HAT DAS MERKMAL / DIE EIGENSCHAFT

1ST ZEITLICH / SITUA TIV ZUZUORDNEN

Obersicht 5: Die Baumstruktur des Fragekonzeptes 1

140

Page 137: Perspektiven des Lernens in der Berufsbildung: Forschungsberichte der Fr¼hjahrstagung 1997

Lesebeispiel fur die Baumstruktur zu Frage 1 ,Fdcherubergreifender Unterricht ':

1m Zusammenhang mit dem Fragenkonzept der Frage 1, ,Facheriibergreifender Unterricht', wurden insgesamt 96 Propositionen aus­gezahlt, die sich auf 51 Einzelmustem verteilen. Die Mehrfachnennungen beinhalten 18 Konzepte und reprasentieren mit 63 Propositionen 66% aller SchulerauBerungen zu dies em Fragengegenstand.

Insgesamt acht SchUler kommen zu der Einschatzung, daB der ,Facheriibergreifende Unterricht' das Merkmal bzw. die Eigenschaft ,Gruppenarbeit / Zusammenarbeit' hat. Sieben Aussagen belegen, daB der ,Facheriibergreifende Unterricht' das Merkmal bzw. die Eigenschaft ,locker' aufweist. ... Zwei SchUler ordnen dem ,Facheriibergreifende Unterricht' ,Organisatorische Probleme' zu.

Fragen 2,3 ,Personliches Wohlbefinden / Unwohlbefinden

Insgesamt gehen aus 26 Schulerinterviews 92 Propositionen in 42 Einzelmu­stem mit Bezug zu den Fragestellungen 2 und 3 hervor. 18 Konzepte bezie­hen sich mit Mehrfachnennungen auf die beid~n komplementaren Fragen­konzepte. Durch die verschiedenen Nennungshaufigkeiten reprasentieren die dargestellten 18 Propositionen insgesamt 68 SchUleraussagen. Das entspricht, bezogen auf die AusschlieBung singularer Propositionen, einer Abbildungs­ieistung von 74%.

141

Page 138: Perspektiven des Lernens in der Berufsbildung: Forschungsberichte der Fr¼hjahrstagung 1997

Gruppen- Montage-L6sung

Praktische theoretischer

Unterrichts- arbeitl tatigkeiten bzw.

Zusammen- (an den praktischer phasen Aufgaben-

arbeit Getrieben) stellungen

9 8 \ / 5 4

Freiesl 3 Personliches 3 Geringe selbsUindi-

Wohlbefinden Lehrerein-ges

wirkung Arbeiten

2 t 2 V

Friiheres Erfolgreicher Theoretische 2 AbschluB Unterrichts-einer Unterrichts-

Gesamtaufgabe phasen en de als gewohnt

Herausfin- Komplizierte HAufige Inan-spruchnahme

den neuer Aufgaben- durch

Losungswege stellungen 2 fragende

~2 MitschOler

2 t 3 Personliches

Intensive

-----------Unwohlbefinden ~ Oberwa- Autgabe wird

niehl bzw. chung

/ ~ niehl voll-

durch slAndig gelOst

Lehrer

6

Lehrer siehl Besuch Arbeit vor zu wenig als einer

Verneinung der Informant Beobach-Kamera bzw. Hilfe zur

VerfOgung tungsgruppe

LEGENDE

UNBEZIFFERT 1ST ZEITLICH / SITVA TIV ZVZVORDNEN

010 HAT DAS MERKMAL / DIE EIGENSCHAFT

Obersicht 6: Die Baumstruktur der Fragenkonzepte 2 und 3

142

Page 139: Perspektiven des Lernens in der Berufsbildung: Forschungsberichte der Fr¼hjahrstagung 1997

Frage 4 'Schiilerumgang,

Insgesamt gehen aus 26 Schlilerinterviews 88 Propositionen in 44 Einzelmu­stem mit Bezug zur Fragestellung 4 hervor. 14 Konzepte beziehen sich mit Mehrfachnennungen auf das Fragenkonzept. Durch die verschiedenen Nen­nungshaufigkeiten reprasentieren die dargestellten 14 Propositionen insge­samt 55 Schlileraussagen. Das entspricht, bezogen auf die AusschlieBung singularer Propositionen, einer Abbildungsleistung von 65%.

Tendenziell positive

Bewertung

Frage an MitschOler

Funktionierende 4

MOglichkeit zu

privatenl fachlichen

Gesprachen

Locker

bzw. gute 1--1------1 Zusammenarbeit

SchOlerumgang

Informations­austausch

zwischen den Scholern

2

Kamerad­schaftlich

bzw. freundlich

LEGENDE

unbeziffert 010

Besserer Kontakt

zu MitschOlern

ist assoziiert mit.

2

Auskommen auch mit un­

angenehmeren MitschOlern

HAT DAS MERKMAL / DIE EIGENSCHAFT

Obersicht 7: Die Baumstruktur des Fragenkonzeptes 4

3

Gruppenar­beitl

Zusammen­arbeit

5

Gegenseitige Hilfe inner-

halb der Gruppe und der Gruppe"

untereinander

Besseres gegenseitiges Kennenlernen

de. MitschOler

(Je nach Einzelfall)

unterschied­lich

2

Solidarische Arbeitsein­

stellung

143

Page 140: Perspektiven des Lernens in der Berufsbildung: Forschungsberichte der Fr¼hjahrstagung 1997

Fragen 5,6 , Einbringen eigener Ideen / Ubernahmejremder Losungen'

Insgesamt gehen aus 26 Schiilerinterviews 85 Propositionen in 45 Einzelmu­stem mit Bezug zu den Fragestellungen 5 und 6 hervor. 12 Konzepte bezie­hen sich mit Mehrfachnennungen auf die beiden komplementaren Fragen­konzepte. Durch die verschiedenen Nennungshaufigkeiten reprasentieren die dargestellten 15 Propositionen insgesamt 59 Schiileraussagen. Das entspricht, bezogen auf die AusschlieBung singui1irer Propositionen, einer Abbildungs­leistung von 70%.

LEGENDE

UNBEZIFFERT

010

Aufteilung der Arbei! innemalb d. Gruppe (personeUI zeiHich)

1ST ZEITLICH / SITUATIV ZUZUORDNEN

HAT DAS MERKMAL / DIE EIGENSCHAFT

030 ist assoziiert mit

Obersicht 8: Die Baumstruktur der Fragenkonzepte 5 und 6

144

Page 141: Perspektiven des Lernens in der Berufsbildung: Forschungsberichte der Fr¼hjahrstagung 1997

Fragen 7/8, GrofJer / geringer Lernerfolg'

Insgesamt gehen aus 26 Schulerinterviews 82 Propositionen in 35 Einzelmu­stem mit Bezug zu den Fragestellungen 7 und 8 hervor. 14 Konzepte bezie­hen sich mit Mehrfachnennungen auf die beiden komplemenUiren Fragen­konzepte. Durch die verschiedenen Nennungshaufigkeiten reprasentieren die dargestellten 17 Propositionen insgesamt 65 Schiileraussagen. Das entspricht, bezogen auf die AusschlieBung singularer Propositionen, einer Abbildungs­leistung von 79%.

LEGENDE

UNBEZIFFERT

010 1ST ZEITLICH / SITUATIV ZUZUORDNEN

HAT DAS MERKMAL / DIE EIGENSCHAFT

030 ist assoziiert mit

Obersicht 9: Die Baumstruktur der Fragenkonzepte 7 und 8

145

Page 142: Perspektiven des Lernens in der Berufsbildung: Forschungsberichte der Fr¼hjahrstagung 1997

Fragen 9,10 ,Interesse'

Insgesamt gehen aus 26 Schtilerinterviews 88 Propositionen in 47 Einzelmu­stem mit Bezug zu den Fragestellungen 9 und 10 hervor. 18 Konzepte bezie­hen sich mit Mehrfachnennungen auf die beiden komplemenUiren Fragen­konzepte. Durch die verschiedenen Nennungshaufigkeiten reprasentieren die dargestellten 20 Propositionen insgesamt 64 Schiileraussagen. Das entspricht, bezogen auf die AusschlieBung singularer Propositionen, einer Abbildungs­leistung von 73%.

LEGENDE

UNBEZ1FFERT

010 1ST ZE1TLICH / S1TUA TIV ZUZUORDNEN

HAT DAS MERKMAL / DIE E1GENSCHAFT

030 ist assoziiert mit

Obersicht 10: Die Baumstruktur der Fragenkonzepte 9 und 10

146

Page 143: Perspektiven des Lernens in der Berufsbildung: Forschungsberichte der Fr¼hjahrstagung 1997

Weitere modale Subnetze

Gegeniiberstellung ,Theoretische Unterrichtsphasen' / ,Praktische Unter­richtsphasen'

Insgesamt liegen 64 Propositionen in 15 Mustem vor. Es verbleiben 8 Konzepte, die sich mit Mehrfachnennungen auf die Konzepte ,Theoretische Unterrichtsphasen' / ,Praktische Unterrichtsphasen' beziehen.

Durch die verschiedenen Nennungshaufigkeiten reprasentieren die dar­gestellten 13 Propositionen insgesamt 62 Schiileraussagen. Das entspricht, bei nur zwei ausgeschlossenen singularen Propositionen einer Abbildungslei­stung von 97%.

LEGENDE

UNBEZIFFERT 1ST ZEITLICH / SITUA TIV ZUZUORDNEN

I j

(3) 1

Obersicht I I: Gegeniiberstellung theoretischer und praktischer Unterrichts­phasen

147

Page 144: Perspektiven des Lernens in der Berufsbildung: Forschungsberichte der Fr¼hjahrstagung 1997

Knoten ,Gruppen- bzw. Zusammenarbeit'

Insgesamt liegen 32 Propositionen in 6 Mustern vor. Es verb1eiben 5 Konzepte, die sich mit Mehrfachnennungen auf das Konzept ,Gruppen- bzw. Zusammenarbeit' beziehen.

Durch die verschiedenen Nennungshaufigkeiten reprasentieren die dar­gestellten 5 Propositionen insgesamt 31 Schii1eraussagen. Das entspricht ei­ner Abbi1dungs1eistung von 97%.

FiicherQber­greifender Unterricht

Gruppen­bzw. 1------( 6

Zusammenarbeit

Schuler­umgang

(allgemein)

LEGENDE

UNBEZIFFERT 1ST ZEITLICH / SITUA TIV ZUZUORDNEN

010 HAT DAS MERKMALI DIE EIGENSCHAFT

030 1ST ASSOZIIERT MIT

Personliches Wohlbefinden

Interesse I interessant

GroBer Lernerfolg

Obersicht 12: Darstellung des zentra1en Knotens ,Gruppen- bzw. Zusam­menarbeit'

148

Page 145: Perspektiven des Lernens in der Berufsbildung: Forschungsberichte der Fr¼hjahrstagung 1997

Arbeitssituation der Schuler

Insgesamt liegen 46 Propositionen in 10 Mustem vor. Es verbleiben 5 Konzepte, die sich mit Mehrfachnennungen auf die Konzepte ,Freies / selbstandiges Arbeiten' und ,Gruppen- bzw. Zusammenarbeit' be­ziehen.

Durch die verschiedenen Nennungshaufigkeiten reprasentieren die dar­gestellten 9 Propositionen insgesamt 45 Schuleraussagen. Das entspricht ei­ner Abbildungsleistung von 98%.

Freies I selbstandiges

Arbeiten

LEGENDE

UNBEZIFFERT

010 030

1ST ZEITLICH / SITUATIV ZUZUORDNEN

HAT DAS MERKMAL / DIE EIGENSCHAFT

1ST ASSOZIIERT MIT

Obersicht 13: Zusammenstellung ,Freies, selbstandiges Arbeiten' und Grup­pen- bzw. Zusammenarbeit

149

Page 146: Perspektiven des Lernens in der Berufsbildung: Forschungsberichte der Fr¼hjahrstagung 1997

Arbeitsfonnen im Vergleich

Insgesamt liegen 40 Propositionen in 14 Mustem vor. Es verbleiben 6 Konzepte, die sich mit Mehrfachnennungen auf die

Konzepte ,Mathematik / Berechnungen', ,Montagetatigkeiten' und ,Anfertigen Technischer Zeichnungen' beziehen.

Durch die verschiedenen Nennungshaufigkeiten reprasentieren die dar­gestellten 8 Propositionen insgesamt 32 Schtileraussagen. Das entspricht ei­ner Abbildungsleistung von 80%.

GroBer Lernerfolg

Personliches Wohlbefinden

LEGENDE

UNBEZIFFERT

Interessant I Interesse

Montage­tatigkeiten

Einbrmgen eigener

Ideen i. d. Unterricht

Mathematik Berech­nungen

Anfertigung Technischer Zeichnungen

1ST ZEITLICH / SITUATIV ZUZUORDNEN

Obernahme fremder

Losungen

Geringer Lernerfolg

Obersicht 14: Vergleich der Unterrichtstatigkeiten ,Montagetatigkeiten', ,Mathematik' und ,Technisches Zeichnen'.

150

Page 147: Perspektiven des Lernens in der Berufsbildung: Forschungsberichte der Fr¼hjahrstagung 1997

Unterrichtsgegenstande im Vergleich

Insgesamt Jiegen 27 Propositionen in 12 Mustern vor. Es verbleiben 4 Konzepte, die sich mit Mehrfachnennungen auf die

Konzepte ,Getriebe', ,Drehstrom-Bremsmotor' und ,Welle-Nabe-Verbindungen' beziehen.

Durch die verschiedenen Nennungshaufigkeiten reprasentieren die dar­gestellten 6 Propositionen insgesamt 21 Schiileraussagen. Das entspricht ei­ner Abbildungsleistung von 78%.

Getriebe bzw. deren

technische Details

Obernahme fremder

LOsungen

Geringer Lernerfolg

LEGENDE

3

Interessant I Interesse

Welle-Nabe -Verbindungen

I techno Details

UNBEZIFFERT 1ST ZEITLICH / SITUATIV ZUZUORDNEN

010 HAT DAS MERKMAL / DIE EIGENSCHAFT

Drehstrom -Bremsmotor

Obersicht 15: Vergleich zwischen den Unterrichtsgegenstanden ,Getriebe', Bremsmotor und Welle-Nabe-Verbindungen.

151

Page 148: Perspektiven des Lernens in der Berufsbildung: Forschungsberichte der Fr¼hjahrstagung 1997

7 Interpretation

Die in den Netzen dargestellten binaren Propositionen gehen nicht auf fest­stehende Kategorien oder vorgegebene Begrifflichkeiten zuruck; sie ent­stammen offenen Fragestellungen. Durch dieses Vorgehen ist zum einen von einer groBen ,Authentizitat' der Daten auszugehen, zum anderen gewinnen Mehrfachnennungen eine groBere Bedeutung. Ein genannter Begriff oder Zusammenhang wird vom jeweiligen SchUler aufgrund seiner Gedachtnisin­halte ausgedruckt und nicht innerhalb einer bestimmten, vom Untersuchen­den festgelegten Auswahl, zugeordnet. Stimmen solche frei explizierten Ge­dachtnisinhalte bei mehreren Schlilem liberein, so kommt damit ein wesent­lich starkerer Konsens zum Ausdruck als beispielsweise bei ausgezahlten Haufigkeiten einer nominal skalierten Zuordnung. Iedoch wird, trotz groBer ,Authentizitat' der Daten und der hohen Aussagekraft von Mehrfachnennun­gen, aufgrund der relativ geringen Population (26 Schiiler) als auch der ex­plorativen Vorgehensweise und dem AusschluB von ca. 29% der ermittelten Propositionen von generalisierenden Beurteilungen Abstand genommen. Derartige Aussagen entsprachen weder den gesetzten Zielen und Fragestel­lungen noch dem zugrunde liegenden interpretativen Paradigma. Die Inter­pretation der Schiilereinschiitzungen besteht daher in einem zusammenfas­senden Kommentieren.

Gesamtnetz

Das Gesamtnetz ist die Anordnung aller gehauft auftretenden Propositionen aus allen 26 Schiilerinterviews und stellt die einzige komplette Abbildung aller gehauft auftretenden Propositionen dar. Es wird nicht zuletzt aufgrund seiner Unlibersichtlichkeit, in vielfiiltige modale Subnetze zeriegt. Diese bil­den den inhaltlichen Schwerpunkt der Interpretation und werden im An­schluB an diese Eingangsbetrachtung des Gesamtnetzes intensiv beurteilt.

Die im Netz erscheinenden Kastensymbole stellen Konzepte dar und die Linien mit Pfeilspitzen Relationen. Eine Proposition wird somit durch zwei mit einer Linie verbundene Kasten im Netz abgebildet. Dabei steht das Ka­stensymbol, an welchem die Linie entspringt, fUr das Ausgangs- oder Vor­konzept. Der Kasten, auf den die Spitze zeigt, stellt das Bezugs- oder Nach­konzept dar. Die Bezeichnung eines Konzepts steht innerhalb des sen Sym­bol, die der Relationen laBt sich entsprechend ihrer jeweiligen Bezifferung auf der Linie, oder falls sie unbeziffert ist, direkt der Legende unterhalb des

152

Page 149: Perspektiven des Lernens in der Berufsbildung: Forschungsberichte der Fr¼hjahrstagung 1997

Netzes entnehmen. Kleine Kreise auf der Relation kurz vor der Spitze, und ebenso die Dicke der Linie selbst, bezeichnen die Haufigkeit, mit der eine Proposition innerhalb des Interviews auftritt, und damit den Grad ihrer Re­prasentation.

68 Konzepte sind Uber 99 Relationen miteinander verknUpft. Innerhalb eines unvermeidlich dichten Systems von sich kreuzenden Linien und mit ih­nen verbundenen Kasten lassen sich zentrale Positionen erkennen. Einzelne Kasten sind von einer Vielzahl weiterer Kasten umgeben. Das bedeutet, daB die SchUler dies em Begriff eine groBe Anzahl weiterer Begriffe zuordnen.

ErwartungsgemaB nehmen die Fragenkonzepte, also jene Konzepte, wel­che die Fragestellungen des Interviews reprasentieren, solche Positionen ein. Dabei stellen sich die offenen Fragestellungen 1 und 4 als besonders zentral heraus. Die ihnen entsprechenden Konzepte ,Facheriibergreifender Unter­richt' und ,SchUlerumgang' bilden flir die SchUler bedeutende Bezugspunkte.

Das Konzept der Fragestellung 1 "Welche Besonderheiten fallen Ihnen zum Unterricht der letzten sechs Wochen ein? ", tritt bei 96 der insgesamt 516 Propositionen in Erscheinung. Das entspricht knapp 20% aller getroffenen Aussagen (!). Die im Gesamtnetz abgebildeten 19 Propositionen entsprechen 63 Schiileraussagen, die den ,Facheriibergreifenden Unterricht' mit 18 weite­ren Konzepten in Verbindung bringen. Davon stellen 8 Konzepte weitere zentrale Knoten dar. Das Konzept der Fragestellung 4 "Beschreiben Sie den Umgang mit Ihren Mitschiilern!", erscheint bei 85 der insgesamt 516 Propo­sitionen als Vor- oder Nachkonzept. Die im Gesamtnetz abgebildeten 15 Propositionen entsprechen 55 Schiileraussagen, die den ,Schiilerumgang' mit insgesamt 15 weiteren Konzepten in Verbindung bringen. Davon stellen je­doch nur 3 Konzepte weitere zentrale Knoten dar. Der Hauptgrund fur die quantitative Ahnlichkeit zwischen den beiden explorativen Konzepten muB somit in deren umfassender Abbildung unterrichtsspezifischer Details liegen. Ihr groBer struktureller Unterschied deutet an, daB der Begriff ,FacherUbergreifender Unterricht' in den subjektiven Theorien der SchUler eine besonders zentrale Position einnimmt, der des ,Schiilerumgangs' dage­gen nur eine untergeordnete.

Von groBer struktureller Bedeutung sind die Konzepte der Fragestellun­gen 3, 5, 6, 7, 8 und 9. Zwischen 5 und 10 Relationen verbinden diese wie­derum mit weiteren zentralen Knoten innerhalb des Gesamtnetzes. Dabei steht an erster Stelle das Konzept der Fragestellung 9 "Gibt es Aspekte dieses Unterrichts, die sie besonders interessiert haben?" ,Interesseiinteressant'. Dieses Fragenkonzept tritt im Gesamtmaterial insgesamt 51 mal auf. 12 Pro­positionen innerhalb des Gesamtnetzes entsprechen dabei 41 gehauft aufge­tretenen Schiileraussagen. In Kurzschreibweise entspricht dies [51/41112].

153

Page 150: Perspektiven des Lernens in der Berufsbildung: Forschungsberichte der Fr¼hjahrstagung 1997

Innerhalb der Klammer steht zu Beginn, wie oft das Konzept im Gesamtma­terial auftritt, am Ende, wie viel Propositionen im Gesamtnetz damit herge­stellt werden und, in der Mitte, wie vielen gehauft auftretenden SchUleraus­sagen dies entspricht. Die weiteren Konstellationen sollen nur in Kurz­schreibweise dargestellt werden: ,GroBer Lemerfolg'. [49/40/10]; Geringer Lemerfolg [32/25/7]; Einbringen eigener Ideen in den Unterricht [43/3l/8]; Obemahme fremder Losungen; [43/24/6] Personliches Wohlbefinden [52/37/9]. Hinzu kommen die aus den Schiilerantworten hervorgehenden Konzepte mit 10 Verbindungen zu weiteren Knotenpunkten, , Theoretische Unterrichtsphasen' mit 6, ,Praktische Unterrichtsphasen' mit 5 Verbindungen zu weiteren Knotenpunkten, ,Freies, selbstandiges Arbeiten' und ,Montagetatigkeiten' mit 4. Auch diese Konzepte sollen in Kurzschreibweise gegeniibergestellt werden: ,Interesse/interessant' [5l/41112]; ,Theoretische Unterrichtsphasen' [30/30/6]; ,Praktische Unterrichtsphasen' [34/3l/6]; ,Freies, selbstandiges Arbeiten' [14114/4]; ,Montagetatigkeiten' [23/2114].

Zusammenfassend lassen sich aus diesen vorwiegend strukturellen Be­trachtungen folgende Feststellungen treffen:

Die ,offenen' Fragestellungen 1 und 4 ftihren zu einer groBen Menge unterschiedlichster Zuordnungen. Dabei stellt sich das Konzept der ersten Fragestellung " Welche Besonderheiten fallen Ihnen zum Unterricht der letz­ten sechs Wochen ein? ", als besonders zentral heraus. Die weiteren, polari­sierten Fragestellungen nehmen unterschiedlich starke Positionen in der Ge­samtstruktur ein. ,Interesse/interessant', ,GroBer Lemerfolg' und ,Geringer Lemerfolg', ,Einbringen eigener Ideen in den Unterricht und 'Obemahme von fremden Losungen, sowie 'Personliches Wohlbefinden, sind merklich starker vemetzt, als die verbleibenden Fragenkonzepte. Innerhalb der Kon­zepte, die nicht auf die Fragestellungen, sondem auf die Schiilerantworten zuruckgehen erscheinen vier besonders stark vemetzte: ,Theoretische Unter­richtsphasen', ,Praktische Unterrichtsphasen', ,Freies, selbstandiges Arbei­ten' und ,Montagetatigkeiten'.

Da der facherubergreifende Unterricht zentraler Gegenstand des gesam­ten Interviews ist, kann dessen exponierte Position als selbstverstandlich ge­sehen werden. Der personliche Lemerfolg und die dafiir erbrachten Eigenlei­stungen der SchUler werden stark retlektiert. Ein globales Interesse wird iiberwiegend wahrgenommen und bejaht. Situationen, in denen sich die SchUler wohl ftihlen, iiberwiegen. Das theoretische Erarbeiten fachlicher Zu­sammenhiinge und die Durchfiihrung praktischer Handlungen werden inten­siv und, trotz deren Einbindung in eine einzige Unterrichtssituation, differen­ziert wahrgenommen. Dabei stehen die Montagetatigkeiten an den Getrieben

154

Page 151: Perspektiven des Lernens in der Berufsbildung: Forschungsberichte der Fr¼hjahrstagung 1997

stark im Vordergrund. Dem Unterricht wird ein Klima freien und selbstandi­gen Arbeitens zugewiesen.

Diese Ubergreifenden, vorwiegend auf strukturelle Zusammenhange zu­ruckgehenden Aussagen entsprechen ihrem Entstehungszusammenhang: Ei­ner Uberblickartigen Betrachtung eines Gesamtnetzes und dessen verein­fachter, auf wichtige Knoten reduzierter Darstellung. Trotz ihrer eher allge­mein gehaitenen, vorsichtigen Formulierung zeigen sie wichtige Tendenzen auf und ermoglichen im weiteren detaillierte Einzelbetrachtungen, welche zu exakteren Aussagen ftihren konnen.

Modale Subnetze der Fragenkonzepte

Frage I: "Welche Besonderheiten fallen Ihnen zum Unterricht der letzten sechs Wochen ein?"

Die SchUler nehmen die Aufiosung der herkommlichen Facher und die Or­ganisation in Gruppen bzw. das gemeinsame Bearbeiten der Aufgabenstel­lungen als Besonderheit des facherubergreifenden Unterrichts wahr. Sie emp­finden ihn als abwechslungsreich und nicht eintOnig und erinnern sich an ei­ne lockere Atmosphare, in der es sich frei und selbstandig arbeiten laBt. Es besteht deutliches Interesse. Aufgrund groBer Nennungshaufigkeiten ist die­sen Feststellungen besonderes Gewicht beizumessen.

Eine insgesamt positive Bewertung des facherUbergreifenden Unterrichts wird lediglich durch die Feststellung organisatorischer Probleme einge­schrankt. Vor allem die Werkzeugbeschaffung scheint Schwierigkeiten zu machen. Die Einschatzung, daB insgesamt weniger gelernt wird, muB ernst genommen werden. Der als "nicht so theoretisch" bezeichnete oder einfach "bessere" Unterricht bietet vorwiegend durch seine praktischen Anteile Ab­wechslung zum gewohnten Frontalunterricht. Die Aufgabenstellungen engen die SchUler nicht ein.

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Page 152: Perspektiven des Lernens in der Berufsbildung: Forschungsberichte der Fr¼hjahrstagung 1997

Fragen 2 und 3: "In welchen Situationen fuhlten Sie sich besonders wohl bzw. in welchen Situationen flihlten Sie sich besonders unwohl?"

Die beiden Fragenkonzepte werden, wie bei allen weiteren komplementliren Fragestellungen, in einer Darstellung zusammengefa13t. Aussagen, welche die Beobachtung des Unterrichts durch Kamerateams bzw. Besuchergruppen be­treffen, werden nicht in diese Interpretation einbezogen.

Personliches Wohlbefmden wird den ,Praktischen Unterrichtsphasen' allgemein und insbesondere den Montagetlitigkeiten besonders deutlich zu­geordnet. Demgegenuber empfinden die Schliler die Tatsache, da13 ,der Leh­rer zu wenig als Informant zur Verfligung steht' als besonders unangenehm.

Die Feststellung, da13 sich die SchUler bei der ,Losung theoretischer bzw. praktischer Aufgabenstellungen' und dem ,erfolgreichen Abschlu13 einer Ge­samtaufgabe' wohl fuhlen wird komplementlir bestlitigt: Unwohlbefinden entsteht in Situationen, in den en eine ,Aufgabe nicht gelost' wird. Die als an­genehm empfundene ,geringe Lehrereinwirkung' wird durch die als unange­nehm empfundene ,intensive Lehrerliberwachung' erglinzt.

Die Tatsache, da13 ,frei und selbstlindig' und in ,Gruppen zusammenge­arbeitet' wird, empfinden die Schliler als angenehm. Obwohl drei SchUler ,Situationen personlichen Unwohlbefindens' komplett ausschlief3en, werden ,komplizierte Aufgabenstellungen', die ,Inanspruchnahme durch fragende Mitschuler' und das ,Herausfinden neuer Losungswege' diesen zugeordnet.

Fragestellung 4: "Beschreiben Sie den Umgang mit Ihren Mitschlilem"

Der ,Schulerumgang' wird in allen Einzelzuweisungen in Zusammenhlinge gesetzt, welche durchwegs Aspekte beinhalten, die ein Zugewinn gegenuber dem normalen Unterrichtsalltag der SchUler andeuten.

In Eigenschaftszuweisungen wie ,kameradschaftlich', ,freundschaftlich', ,solidarisch' und ,locker' sowie Merkmalen wie ,gegenseitige Hilfe', ,besseres Kennenlemen', ,Informationsaustausch', ,Frage an Mitschuler', ,Gruppen- und Zusammenarbeit' und ,besserer Kontakt', kommt eine ein­deutige Beflirwortung der sozialen Situation zum Ausdruck, in der die Schu­ler den Unterricht erleben. Die Moglichkeit, sowohl fachlich als auch privat zu kommunizieren, ohne den Unterricht zu stOren und dementsprechend zu­rechtgewiesen zu werden, wird dem ,Schlilerumgang' als hervorstechendes Merkmal zugewiesen. Zudem wird festgestellt, da13 die Gesamtsituation auch ein ,Auskommen mit unangenehmeren Mitschulem' erforderlich macht. Eine besonders hohe Anzahl an rein positiven A.u13erungen unterstreicht diesen Gesamteindruck.

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Page 153: Perspektiven des Lernens in der Berufsbildung: Forschungsberichte der Fr¼hjahrstagung 1997

Fragen 5 und 6: "In welchen Situationen konnten Sie eigene Ideen einbringen bzw. in welchen Situationen ilbemahmen Sie fremde Losungen?"

Innerhalb dieser beiden Fragestellungen laBt sich kaum ein eindeutiger Tenor erkennen.

Kreativitat scheint, abgesehen von der individuellen Arbeitsteilung in­nerhalb der Gruppen, nur bei den ,Praktischen Unterrichtsphasen', insbeson­dere den ,Montagetatigkeiten' und bedingt bei der ,Anfertigung der Techni­schen Zeichnungen' moglich zu sein. Eine groBe Zahl von AuBerungen schlieBt sie vollig aus. Es wird auch angedeutet, daB bei Losungsproblemen einfach abgeschrieben wird; vorwiegend in den technisch-mathematischen Aufgabenstellungen. Zu denken gibt auch der Hinweis, daB bei ,unvollstandigen Unterlagen improvisiert' werden muBte.

Fragen 7 und 8: "In welchen Situationen glauben Sie besonders viel gelemt zu haben bzw. in welchen Situationen glauben Sie besonders wenig gelemt zu haben ?"

Obwohl auch eine geringe Zahl gegensatzlicher Zuweisungen vorliegen, werden sowohl die ,theoretischen' als auch die ,praktischen Unterrichtspha­sen' mit ,groBem Lemerfolg' in Verbindung gebracht.

Situationen geringen Lemerfolges treten vereinzelt bei den technischen Zeichnungen, den Welle-Nabe-Verbindungen und auch beim Abschreiben aus den Unterlagen anderer Schiller auf; sie werden jedoch auch von einer Vielzahl an Schulem definitiv ausgeschlossen.

Den technisch-mathematischen Aufgaben, den Montagetatigkeiten und dem insgesamt zugrunde liegenden Klima freien, selbstandigen Arbeitens in einem gemeinsamen Stattfinden von Theorie und Praxis wird eine hohe Lemwirksamkeit zugesprochen. Die gleiche Einschatzung wird im Bezug auf die Gruppensituation und die darin stattfindende Interaktion getroffen, wobei ausdrucklich betont wird, daB die Gruppenarbeit erlemt wird.

Fragen 9 und 10: "Gibt es Aspekte dieses Unterrichts, die sie besonders in­teressiert haben bzw. gibt es Aspekte dieses Unterrichts, die Ihr Interesse bzw. Ihre Aktivitat besonders gehemmt haben?"

Der fiicherilbergreifende Unterricht weckt Interesse bei den Schulem. Sie be­ziehen dies insbesondere auf die realen Unterrichtsgegenstande wie Getriebe, Motoren und Welle-Nabe-Verbindungen, die damit verbundenen praktischen

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Page 154: Perspektiven des Lernens in der Berufsbildung: Forschungsberichte der Fr¼hjahrstagung 1997

Tatigkeiten sowie auf die Sozialform Gruppenarbeit. Weitere interessante Aspekte sind das ,gemeinsame Stattfinden von Theorie und Praxis' und ein darin mogliches ,freies bzw. selbstandiges Arbeiten'.

Obwohl ,theoretische Unterrichtsphasen' eher einer ,Interessehemmung' zugewiesen werden, gibt es auch Au13erungen, in denen die Berechnung technisch-mathematischer Aufgabenstellungen auf Interesse st013t.

Zu einer deutlichen Hemmung von Interesse bzw. Aktivitat fUhren Si­tuationen, in denen Lehrer autoritar auftreten, Probleme bei der Beschaffung von Werkzeugen, die fUr die praktischen Tatigkeiten benOtigt werden und Phasen, in den en die Arbeitsintensitat insgesamt nachliil3t bzw. eintOnige Unterrichtssituationen entstehen. Innerhalb der Gruppenarbeit bedeuten lei­stungsstarke Mitschiller, die schwachere ausschlie13en, anstatt sie mitzuzie­hen, ein gro13es Hemmnis. In Fallen, in denen eine Aufgabenstellung nicht gelost wird, fallen Interesse und Aktivitat stark abo

Weitere modale Subnetze

1m Gesamtnetz lassen sich einige Strukturen erkennen, die Aufschlilsse ilber bestimmte Aspekte des Unterrichts zulassen, welche nicht explizit auf die Fragestellungen des Interviews zurilckgehen, sondern erst aus der Verknilp­fung der Schillerantworten sichtbar werden. Die diesbezilglich aus dem Ge­samtnetz herausprojizierten Strukturdarstellungen sollen im Folgenden kommentiert werden.

Gegenilberstellung ,theoretische Unterrichtsphasen' - ,praktische Unter­richtsphasen'

Die Schiller arbeiten einerseits mit Maschinen und Werkzeugen an berufsbe­zogenen Gegenstanden, andererseits losen sie theoretische und technisch­mathematische Aufgabenstellungen und fertigen technische Zeichnungen an.

Diesen Phasen praktischer und theoretischer Aufgabenbearbeitung wei­sen sie in gleichem Umfang die Moglichkeit zu, eigene Ideen in den Unter­richt einzubringen. Auch die ilberwiegende Einschatzung, viel gelernt zu ha­ben, bezieht sich zu gleichen Teilen auf Praxis und Theorie.

ledoch wird personliches Wohlbefinden wesentlich haufiger dem prakti­schen Handeln zugeordnet als den theoretischen Unterrichtsanteilen. Letztere sind gegenilber der Praxis auch wesentlich starker von der ,Ubernahme frem­der Losungen' gepragt und werden ebenso mit ,Hemmung von Interesse bzw. Aktivitat' in Verb in dung gebracht.

158

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Der Knoten ,Grupp en- bzw. Zusammenarbeit' und die ,Arbeitssituation der Schiller'

Die in dies em Unterricht uberwiegende Arbeitsweise in Gruppen stOBt auf besonders groBen Zuspruch.

Bei den offenen Fragestellungen Eins und Vier, die den facherubergrei­fenden Unterricht und den Schillerumgang betreffen, erinnem sich die SchU­ler haufig an die Besonderheit ,Gruppen- bzw. Zusammenarbeit'. Diese von ihnen als Besonderheit erfahrene Lemsituation stOBt auf breites Interesse und bewirkt in vielen Fallen personliches Wohlbefinden. Ihr werden auch groBe personliche Lemerfolge zugewiesen.

In der Strukturdarstellung ,Arbeitssituation der Schiller' laBt sich eine starke Parallelitat zwischen den Verknupfungen der ,Gruppen- und Zusam­menarbeit' und dem ,freien, selbstandigen Arbeiten' erkennen. Dies deutet darauthin, daB diese Konzepte bei den Schillem in ahnlicher bzw. identischer Weise reprasentiert sind. Die Schiller schatzen die Zusammenarbeit in Grup­pen als frei und selbstandig ein und untermauem damit die darauf bezogenen, gleichsinnigen Zuweisungen.

Arbeitsformen im Vergleich

Innerhalb ihrer Aussagen beziehen sich die Schuler gehauft auf bestimmte Arbeitsformen im facherubergreifenden Unterricht: technisch-mathematische Berechnungen, Montagetatigkeiten und technisches Zeichnen.

Dabei fallt auf, daB wiederum nur die theoretischen, nicht jedoch die praktischen Arbeitsformen, mit negativen Aspekten in Verbindung gebracht werden. Bei den Berechnungen, die zwar auch als interessant eingeschatzt werden, erinnem sich die Schuler daran, fremde Losungen ubemommen zu haben. Das technische Zeichnen wird in zwei AuBerungen als wenig lem­wirksam bezeichnet, obwohl bei dieser Arbeitsform auch eigene Ideen in den Unterricht eingebracht werden konnen.

Die Montagetatigkeiten finden dagegen groBen Zuspruch. Sie erscheinen in wesentlich groBerem MaBe interessant als die theoretischen Arbeitsformen und eigenen sich besser filr das Einbringen eigener Ideen. Zudem wird ihnen groBer Lemerfolg zugewiesen und in hohem MaBe personliches Wohlbefin­den.

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Unterrichtsgegenstande im Vergleich

Der facheriibergreifende Unterricht wurde anhand von realen Gegenstanden durchgeflihrt. Die Aufgabenstellungen befassen sich dabei mit zwei ver­schiedenen Getrieben, einem Drehstrom-Bremsmotor und drei verschiedenen Welle-Nabe-Verbindungen. Innerhalb der SchUlereinschatzungen kommen diese durch drei verschiedene Konzepte zum Ausdruck.

Alle drei stoBen aufbreites Interesse. Bei den Welle-Nabe-Verbindungen stellen jedoch drei SchUler nur geringen Lemerfolg fest. Zwei SchUler erin­nem sich im Zusammenhang mit den Getrieben an die Ubemahme fremder Losungen, zwei andere an das Gegenteil: Das Einbringen eigener Ideen in den Unterricht. Eine echte Bevorzugung bzw. Abwertung eines der drei Un­terrichtsgegenstande laBt sich nicht belegen.

8 Zusammenfassung

Die SchUler haben den facherUbergreifenden Unterricht und speziell die da­bei stattfindende, stark in die Verantwortung der SchUler gelegte Gruppenar­beit sowie die praktischen Tatigkeiten in angenehmer Erinnerung. Organisa­torische Probleme und die Sorge der SchUler, dort weniger zu lemen, klingen kritisch an. Innerhalb der schUlerintemen, selbstandigen und praktischen Unterrichtsphasen wird emotionales Wohlbefinden am starksten wahrge­nommen. Die Bearbeitung von Aufgaben empfinden die SchUler dann als an­genehm, wenn diese gelost bzw. abgeschlossen werden.

Die Einwirkung der Lehrer wurde einerseits, wenn sie sich in einer in­tensiven Uberwachung ausdriickte als unangenehm empfunden. Andererseits wurde ihr Fehlen bemangeit, wenn die Lehrer bei Problemen nicht zur Ver­fligung standen. Zudem ist bei bestimmten SchUlem eine geringe Toleranz gegenUber Problemen mit Aufgabenstellungen und fragenden MitschUlem festzustellen. Es besteht die Ansicht, daB die in diesem Unterricht durch Gruppenarbeit aufgehobene Einzelsituation der SchUler zu umfassendem so­zialen Handeln und Lemen flihrt. Kommunikationsmoglichkeiten werden er­kannt und engagiert wahrgenommen. Die SchUler sehen ihren gegenseitigen Umgang als sehr positiv. Eine Gesamttendenz innerhalb der SchUlerauBerun­gen belegt, daB mit Abnahme der Moglichkeit praktisch zu handeln auch die Kreativitat abnimmt. Eine Vielzahl von SchUlem geht dabei davon aus, keine eigenen Ideen in den Unterricht einbringen zu konnen. Die Arbeitsunteriagen

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werden kritisiert und das Abschreiben von Mitschiilem angedeutet. Dem Unterricht wird insgesamt eine groBe Lemwirksamkeit zugeschrieben. Abge­sehen von Einzelsituationen und manchmal nicht vermeidbarem Abschrei­ben, erleben die SchUler vor all em die Kombination theoretischen und prakti­schen Unterrichts mit der zugrunde liegenden Gruppenarbeitssituation als be­sonders lemwirksam. Die Schiiler stellen insgesamt eine groBe Interes­santheit des Unterrichts fest. ,Interessenhemmung' wird meist in Verbindung mit organisatorisch-konzeptionellen Problemsituationen festgestellt. Trotz­dem scheint es auch vereinzelt Schiiler zu geben, welche fur diesen Hicher­iibergreifenden Unterricht keinerlei Interesse empfinden. Die Praxis wird ge­geniiber theoretischen Unterrichtsanteilen bevorzugt, wobei die Unterrichts­gegenstande zentrale Bezugspunkte darstellen. Besonderen Zuspruch findet das Arbeiten in Gruppen, welches als frei und selbstandig gekennzeichnet wird.

9 Schlu6folgerungen

Handlungsorientierter Unterricht erfordert, wie jeder andere Unterricht, eine detaillierte und grundliche Vorausplanung. Innerhalb handelnder Lemkon­texte sind jedoch die Moglichkeiten des Lehrers, sich in den ablaufenden Unterricht inhaltlich einzubringen, wesentlich geringer als in einem ,frontalen Klassenzimmerunterricht'. Dies hat zur Folge, daB die Unterrichts­planung sich weniger auf Lehrer-Schiiler-Interaktionen bezieht, sondem fast ausschlieBlich auf die Schiiler-Medien- bzw. SchUler-Lemumgebungs-Inter­aktion. Da der Lehrer aus dem Interaktionszentrum ruckt, ist es erforderlich aIle Fragestellungen, Aussagen, Informationen, usw. explizit und in ver­standlicher Weise auszuformulieren. Die Gesamtkonzeption findet ihren Ausdruck in einem Arrangement aus Arbeits- und Informationsmaterialien. Uber diese Unterlagen wird der praktisch-inhaltliche Lemvorgang mittelbar initiiert und gesteuert. Die Arbeits- und Informationsmaterialien stellen in sich eine handlungslogische Fiihrungslinie dar und nehmen daruber hinaus eine ursachliche Position fUr alle individualen und sozialen Lemprozesse ein.

Das Hauptaugenmerk der SchluBfolgerungen dieser Unterrichtsevaluati­on soIl sich auf Aspekte richten, welche entweder als Beurteilungsaspekte auf bestehende Unterrichtskonzeptionen, oder als Planungsaspekte fUr Neuent­wicklungen llicherubergreifender und handlungsorientierter Unterrichtsein­heiten anwendbar sind.

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Handlungsorientierter Unterricht muJ3 handlungssystematisch konzipiert werden. Es genUgt nicht, einen fiicherubergreifenden Unterricht an praktische Aufgabenstellungen ,anzuhangen'. Lemen in zyklischen Einheiten aus Pla­nung, Entscheidung und Durchflihrung findet nicht aufgrund eines auBeren Planungsrasters oder vorgegebener Aufgabenreihenfolgen statt, sondem aus situativer Notwendigkeit und handlungsbezogener Sachlogik. Eine Schiller­selbststeuerung und -tatigkeit kann sich nur einstellen, wenn die Schiller nicht durch den Lehrer, sondem durch eine Handlungsaufgabe aktiviert, vor Probleme gestellt und bei deren Bearbeitung mit entsprechenden RUckmel­dungen konfrontiert werden. Die Grundkonzeption echten Handlungslemens muB daher aus einem wirklichen Handlungsvollzug hervorgehen, seine Ab­folge muB den ,Roten Faden' des Unterrichts bilden und alle Einzelaufgaben­stellungen mUssen auf ihn zuruckgehen. Bevor eine Detailplanung einer Un­terrichtskonzeption durchgeflihrt werden kann bzw. Aufgaben oder Arbeits­unterlagen erstellt werden konnen, mUssen aIle praktischen Handlungen vom Lehrer selbst durchgeflihrt worden sein. Erst wenn die sich daraus ergebende Handlungssystematik tatsachlich ausgearbeitet vorliegt, kann eine schlUssige Detailplanung erfolgen. Wenn aIle Unterlagen erstellt sind, muB der konzi­pierende Lehrer den gesamten Aufgabenkomplex, welchen die SchUler im Unterricht zu bearbeiten haben, selbst innerhalb der den SchUlem zur Verfli­gung stehenden Lemumgebung durcharbeiten. Auf diese Weise lassen sich schon im Vorfeld des Unterrichts sach- und vor allem handlungslogische Un­schlUssigkeiten bzw. organisatorische Defizite ausraumen. Da sich Mangel in der Handlungssystematik innerhalb der Unterrichtsdurchflihrung nicht mehr rUckgangig machen lassen, muB diesem Planungsaspekt besonders gewissen­haft Rechnung getragen werden.

Kernstiick des handlungsorientierten Unterrichts bildet eine komplexe berujliche Problemstellung. Dabei ist es entscheidend, daB sich die Schiller weder zu Beginn, noch im weiteren Verlaufe der Bearbeitung mit einzelnen, fragmentartigen Aufgabenstellungen konfrontiert sehen. Statt des sen sollen sie einer ihrem beruflichen Alltag entsprechenden Problemsituation gegen­Uberstehen. Diese Problemstellung muB von den Schillem ohne auBere Hilfe erkannt, angenommen und angegangen werden konnen. Sie ist Thema und Hintergrund aller einzelnen Teilaufgaben. Ihre Losung entspricht dem End­ziel der jeweiligen Gesamtaufgabe. Urn eigene Losungswege und individu­elle Vorgehensweisen der Schiller zu ermoglichen, ist ein hohes MaB an Komplexitat und Problemhaltigkeit vorzusehen. Dabei ist die Gefahr einer Oberforderung einzelner Schiller absehbar. Die Aufgabenstellungen mUssen daher, mit moglichst wenig Zutun des Lehrers, von den Schillem selbst stu­fenweise reduziert werden konnen. Derartige Reduktionsschritte dUrfen nicht

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in Losungsvorwegnahmen bestehen, sondem sollten vorwiegend Uber zu­satzliches Informationsmaterial erfolgen.

Die Gruppensituation der SchUler nimmt innerhalb dieses Unterrichts ei­ne bedeutende Rolle ein. Inhomogenitaten konnen sich, genauso wie person­liche Abneigungen, folgenschwer auf die soziale Situation der Gruppe aus­wirken. Auch ist der GruppengroBe ein hoher Stellenwert beizumessen. Zu groBe Gruppen stellen, vor allem bei den praktischen Tatigkeiten, ein Pro­blem beziiglich der Aktivierung jedes einzelnen SchUlers dar. Somit ist grundsatzlich von einer Gruppengroj3e iiber drei Schiilern abzuraten. Eine Ausnahme konnten dabei Projektaufgaben bilden, die derart umfassende praktische Handlungen zulassen, daB mehrere SchUler wirklich gleichzeitig tatig sein konnen. Die Gruppenfindung muj3 auf freiwilliger Basis verlaufen. Von den Lehrem zusammengestellte Gruppen bergen ein hohes Potential an intemen Unstimmigkeiten, Ablehnungen, u.k. Wird ein SchUler innerhalb einer Gruppe ausgegrenzt, fUhrt dies zur Reduzierung bis hin zur Negation elementarer Aspekte des handlungsorientierten Unterrichts: Ein solcher SchUler ist yom sozialen ProzeB ausgeschlossen, lemt nicht selbst- sondem fremdgesteuert in einer dem Frontalunterricht ahnlichen rezipierenden Art und Weise. Das Lernen in Gruppen erfordert eine besonders explizite Vorbe­reitung durch den Lehrer und bleibt auch innerhalb des Lemprozesses ein nicht zu unterschatzendes Spannungsfeld. SolI soziales Lemen in ausge­pragter Form stattfinden, genUgt es nicht, eine beliebige Gruppensituation herzustellen und davon auszugehen, daB sich aile SchUler gleichermaBen in die Situation einfinden. Ware dies der Fall, bestiinde kaum die Notwendig­keit, soziale Kompetenzen zu erwerben. In dem MaBe, in dem ein solcher LemprozeB ablaufen soli, muB dieser auch durch entsprechende Thematisie­rungen, Erprobungsfelder und Retlexionen gestaltet und, im Zusammenhang mit der fachlichen Lemarbeit, hergestellt werden. 1m Faile nicht explizierten sozialen Lemens ist eine leistungshomogene Gruppenzusammensetzung einer inhomogenen vorzuziehen, urn einen individualisierten Lernvorgang zu er­moglichen. Je ausgepragter ein gruppenintemes Leistungsgefalle ist, desto weniger konnen Leistungsschwachere individuelI lemen. Sie werden durch die Aktivitat der anderen aus dem Handlungs- und damit aus dem Lempro­zeB zuruckgedrangt. Auch ein ,Lemen durch Lehren' ist mit zunehmender Inhomogenitat fur die leistungsstarkeren SchUler in Frage zu stellen. Je star­ker sich ein SchUler von den anderen abhebt, desto weniger interessant ist es fur ihn, sich deren Fragen und Probleme zu widmen, anstatt sich selbst mit dem Problem auseinander zu setzen. Eigenes Losen und Handeln ist fur ihn immer attraktiver als das ganze erst zu erklliren und dann die anderen agieren zu lassen. Je eher die Gruppenmitglieder seinem Niveau entsprechen, desto

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schlussiger wird es fur ihn, an fallen de Probleme zu auBem und zu diskutie­reno Schuler, die nicht in der Lage sind sich in eine Gruppe einzugliedern oder dies einfach ablehnen, mussen den Unterricht individuell durchlaufen k6nnen. Die Aufgabenstellungen sollen Gruppenleistungen fordem und for­dem, jedoch nicht erzwingen. Urn die Gefahr sozialer Ausgrenzung bzw. er­zwungenen Gruppendaseins zu minimieren, sind auch wahrend des Unter­richtsverlaufs Ruckmeldungen uber die Gruppenprozesse einzuholen.

Lernfortschritte mussen im handlungsorientierten Unterricht in besonde­rer Weise fur die Schuler erkennbar gemacht werden. Der herkommliche Unterricht stellt ein permanentes Thematisieren von Leminhalten dar. Das darin stattfindende Unterriehtsgesprach gibt den Schulem bezuglich des Ge­lemten bzw. zu Lemenden eine Vielzahl an Ruckmeldungen. 1m handlungso­rientierten Unterricht erfolgt das Lemen nicht aus einer extemen, quasi ob­jektiven Thematisierung, sondem aus einem eigenstandigen und damit sub­jektiven Befassen mit der Sache. Innerhalb der Gruppengesprache werden die Leminhalte in ahnlicher Weise wie im herkommlichen Unterrichtsgesprach thematisiert. Da dies jedoch ohne Erlauterungen, Unterstreichungen oder Be­richtigungen des Lehrers geschieht, ist die Richtigkeit des Besprochenen flir die Schuler nicht voll einschatzbar. Daher ist es erforderlich, z.B. uber Fach­gesprache, Phasen der Feststellung und Klarung vorzusehen. Diese sollten Fixpunkte innerhalb der Aufgaben darstellen und dariiber hinaus auf Initiati­ve der Lehrer bzw. der Schiiler einberufen werden konnen. Fachgesprache konnen wiederholenden, eriautemden, erklarenden, begriindenden aber auch abfragenden oder priifenden Charakters sein. Eine Benotung erscheint mog­lich, sollte jedoch nicht restriktiv durchgeflihrt werden. Schuleraufteichnun­gen stellen den zweiten wichtigen Aspekt in diesem Zusammenhang dar. Wie im herkommlichen Unterricht sind darin die wiehtigsten Leminhalte zu do­kumentieren. Es bietet sieh an, mit entsprechend vorformatierten Unterlagen arbeiten zu lassen; jedoch nur urn die Aufzeiehnungen zu illustrieren bzw. komplizierte oder aufwendige Darstellungen, deren Anfertigung nieht einem eigentlichen Leminhalt entspricht, den Schulem abzunehmen. Dabei ist, ebenso wie im herkommlichen Unterrieht, von Luckentexten, Ankreuztabel­len oder ahnlichen reduktionistischen Aufzeichnungsformen ebenso Abstand zu nehmen, wie von so genannten ,Merkblattem', welche die Schuler von Schreibarbeiten ganzlich befreien. Die Aufzeiehnungen mussen immer Pro­dukt eines Umsetzungsvorganges sein. Sie erfordem Anleitung und Kontrol­Ie. Innerhalb dieses Aspekts soli noch auf Kurzproben hingewiesen werden. Sie konnen theoretischen sowie praktischen Inhalts sein und unter ahnlichen Bedingungen wie Fachgesprache erfolgen. Es bleibt jedoch offen, ob solche Kurzproben einfach als zugreifbares Material bereitgestellt oder direkt vom

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Lehrer initiiert werden. Uber diese Form kurzer, wenig formaler, theoreti­scher, praktischer oder besser noch integrativer Aufgabenstellungen konnen eine Gruppe oder deren einzelne Schiiler Rtickmeldung tiber eine bestimmte Lemstrecke auch ohne Beteiligung des Lehrers erhalten. Einzelne Leistungs­bewertungen bzw. -benotungen sind an dieser Stelle in gleicher Weise wie bei den Fachgesprachen moglich.

1nnerhalb einer handlungsorientierten Lehr-Lem-Situation kommt, vor allem im technisch-gewerblichen Bereich, den praktischen Tatigkeiten eine besondere Rolle zu. Ais Kern der gesamten Unterrichtssituation gehen von ihnen alle motivationalen, emotionalen und kognitiven Wirkungen aus, die handelndes von herkommlichem Lemen unterscheiden. Diese Praxis stellt jedoch weder einen Bereich aktionistischen Tuns dar, in welchem jeder nach Belieben handeln kann, noch handelt es sich hier urn eine ,Hobbywerkstatt­situation', die mit der realen Berufswelt nichts zu tun hat. Daher sind folgen­de Anforderungen an die Praxis zu stellen: Sie muB dem Stand der Techno­logie entsprechen. Dies betrifft nicht nur die verwendeten Maschinen, Gerate, Werkzeuge und Apparaturen, sondem auch die Arbeitstechniken und Vorge­hensweisen. Entscheidend ist dabei nicht, immer die neueste Maschine vor­weisen zu konnen, sondern mit einer vertretbaren Ausstattung professionell zu arbeiten. Ebenso professionell mtissen aIle berufspraktischen Handlungen durchgeftihrt werden. Hier kann weder ein Versuchs-1rrtum-Verhalten ge­duldet werden, noch andere Formen nicht-fachmannischen Tuns. 1m Zu­sammenhang mit dies em Aspekt steht auch der folgende: Die Arbeitssicher­heit muj3 immer zu 100% gewahrleistet sein. Kompromisse dtirfen hier auf keinen Fall eingegangen werden. Der Lehrer tibernimmt hier, besonders bei der Verwendung von gefahrlichen Werkzeugen oder Maschinen, groBe Ver­antwortung. Die Planung muB diesbezliglich entsprechende Vorkehrungen und Vorschriften beinhalten. Beispielsweise muB vor der Bedienung einer unbekannten Werkzeugmaschine unbedingt ein Fachgesprach erfolgen, wel­ches auch in grundlicher Weise die Arbeitssicherheit einbezieht. Der Lehrer muB derartige Tatigkeiten entsprechend ihres Gefahrengehalts Uberwachen.

Handlungsorientiertem Unterricht dar! nicht eine reine Vermittlung ziel­gerichteten Funktionswissens geniigen. Aus dem namrlichen Vorgehen eines Lemenden erwachst die Gefahr rein finaler Lemintentionen, wenn es gilt, in­nerhalb eines wenig Uberschaubaren, komplexen Systems zu einem be­stimmten Ergebnis zu kommen. Es macht wenig Sinn, sich mit den Dingen grundlegend auseinander zu setzen, wenn dies fur den eigentlichen Hand­lungserfolg irrelevant erscheint. Urn dem zu begegnen, bieten sich unter­schiedliche Ansatze an: Grundlagenwissen wird in dem MaBe erworben, in­dem es ftir eine spatere Anwendung erforderlich ist. FUr einfache Handlun-

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gen trifft dies nicht zu, daher erscheint es angezeigt, die Gesamtaufgaben in Transferleistungen munden zu lassen. 1st dies der Fall, ergibt sich eine fakti­sche Notwendigkeit fUr den Wissenserwerb. Eine weitere Moglichkeit be­steht in einem Einbau von Experimentalphasen. SchUlergesteuerte Experi­mente konnen grundlegende Zusammenhlinge in naturwissenschaftlicher Vorgehensweise primar erfahrbar machen. Hier darf jedoch nicht ein Expe­riment an einen Unterrieht angehangt werden. Wiederum muB eine situative Problematik einen Versuch, dessen Auswertung und gedankliche Umsetzung erforderIich machen. Weitere Moglichkeiten, Grundlagenwissen nicht auszu­sparen, bestehen in Ansatzen, in denen der Lemende nach Erwerb des primar handlungsrelevanten Wissens in veranderte Situationen versetzt wird, in de­nen dieses Wissen auf grundlegende Zusammenhange zuruckgeflihrt werden muB. Dies kann entweder emeut handlungsorientiert oder innerhalb einer herkommlichen Unterrichtssituation stattfmden. An dieser Stelle ist auch festzustellen, daB sieh ein vorausgehender, grundlagenbezogener Wissenser­werb uber fachsystematische Lemprozesse durch einen handlungsorientierten Unterricht in idealer Weise erganzen laBt. Auf diese Weise erwirbt der Ler­nende aile Wissenskomponenten und daruber hinaus weiter reichende Kom­petenzen.

Ausgangspunkt bei der Planung handlungsorientierten Unterrichts ist ei­ne praktische ProblemlOsung, die yom Lehrer erdacht, gegenstandlich ent­wiekeIt und real gelost wird. Ihr Endpunkt liegt wiederum in einer Hand­lungsvorwegnahme des Lehrers: Sind aile Aufgaben und Materialien konzi­piert, begibt er sich in die vorbereitete Lemumgebung und arbeitet die ge­samte Lemstrecke durch. 1m tatsachlichen Unterrichtseinsatz wird das Kon­zept am Spiegel der auftretenden Probleme, UnschlUssigkeiten und IrrtUm­Iichkeiten we iter verfeinert, modifiziert und optimiert. Will man verhindem, daB der Unterricht irgendwann veraItet, ist es auf lange Sieht erforderlich, Technologieveranderungen in dies en mit eingehen zu lassen.

10 Ausblick

Innerhalb des letzten lahrzehnts hat handlungsorientiertes Lemen vor aHem im Bereich der beruflichen Bildung Einzug gehaIten. Zuruckgehend auf re­formpadagogische Ansatze zu Beginn dieses lahrhunderts wird damit ein Unterricht gefordert, der den SchUler zum Hauptakteur des Lemprozesses macht und ihm dam it Autonomie, Intentionalitat sowie Rationalitat in starke-

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rem MaJ3e als in herkommlichen, eher rezeptiven Unterrichtssituationen zu­spricht. Dies erscheint insbesondere fur die Vermittlung von Kompetenzen n6tig, die tiber bisheriges fachsystematisch organisiertes Faktenwissen und rezeptartig abrutbares Handlungswissen hinausgehen. Facherstrukturen mtis­sen verandert und inhaltliche, handlungs- sowie abrutbezogene Wissenskom­ponenten ,aus der Situation fur die Situation' erworben werden. Berufliche Handlungskompetenz oder Schltisselqualifikationen beinhalten, tiber erwei­terte formale Kenntnisse, Fahigkeiten und Fertigkeiten hinaus, affektive und soziale Komponenten, die sich erst tiber Lehr-Lem-Situationen fordem las­sen, welche diesen Bereichen menschlicher Psyche in entsprechender Weise gerecht werden. Dies erfordert Lemsituationen, in denen Schtiler sich eigen­verantwortlich mit komplexen Problemstellungen konfrontiert sehen und die­se in einer geeigneten sozialen Interaktion angehen und losen konnen.

Ansatze, dies en weit tiber herkommlichen Unterricht hinausgehenden Anspruchen gerecht zu werden, finden im bundesdeutschen beruflichen Bil­dungssystem sowohl in der Industrie, als auch in der Berufsschule bereits Anwendung. 1m Bereich Wirtschaft und Verwaltung beinhalten derartige Konzeptionen zumeist umfangreiche Planspiele bzw. finden in Dbungsfirmen oder ahnlichen Simulationen statt. Die technisch-gewerblichen Fachrichtun­gen, vor allem Metall- und Elektrotechnik, befassen sich hingegen mit Real­geraten, -anlagen und -maschinen, welche der tatsachlichen beruflichen Wirklichkeit voll entsprechen. Der zeitliche Rahmen des Unterrichts schwankt dabei zwischen wenigen Wochen und ganzen Schuljahren. Je nach Konzeption werden auch allgemein bildende Facher wie Deutsch und Sozial­kunde integriert. Nordamerikanische Ansatze konstruktivistischen Wis­senserwerbs gehen auf ahnliche Ansatze zuruck und kommen vorwiegend in solchen Bereichen zum Einsatz, in denen groJ3e Diskrepanzen zwischen be­stehendem Wissen der Lemenden und deren Fahigkeit, dieses anzuwenden, festgestellt werden.

Diese umfassende handlungsorientierte Gesamttendenz findet innerhalb padagogischer Praxis und Theorie breiten Zuspruch, jedoch auch, wie die mehrjahrige Auseinandersetzung mit verschiedensten Personen und Institu­tionen bei der Modellversuchsbegleitung zeigte, groJ3e Kritik. Berufsschul­lehrer erheben beispielsweise den Vorwurf, es wtirde didaktischer Idealismus betrieben, der mit der Schulrealitat nicht vereinbar sei. Auch wird die Lem­wirksamkeit handlungsorientierten Unterrichts angezweifelt und befurchtet, eine fragliche Forderung diffuser, nicht direkt abpruf- und nachweisbarer Qualifikationen mit einem verringerten Prtifungswissen der SchUler zu be­zahlen. Einzelne Didaktiker aus dem Berufsschulbereich befUrchten u.a. Ein­buJ3en in der Wissenschaftlichkeit des Unterrichts und sehen die Gefahr ver-

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minderter erzieherischer Wirksamkeit in Lemsituationen, in welchen die Schiller sich weitgehend selbst iiberlassen sind. Hinzu kommt ein ganzes Feld pragmatischer Probleme bei der EinfUhrung eines Unterrichts, welcher, neben umfassenden konzeptionellen Veranderungen fUr die einzelnen Lehrer und einer Auflosung bisheriger facherbezogener Stundenplanung, umfassen­de raumliche Umgestaltungen bzw. bauliche MaBnahmen erforderlich macht. Dabei kann festgestellt werden, daB eine Vielzahl von Kritikansatzen auf Unklarheiten, Unsicherheiten bzw. gewisse Beriihrungsangste zuriickgehen, einige jedoch auch auf schliissige Argumente und praktische Erfahrungen sowie auf Feststellungen und Erkenntnisse, die sich innerhalb der gegenwar­tigen Unterrichtsforschung und -praxis eingestellt haben. So fordert bei­spielsweise DUBS (1995, S. 889) im Zusammenhang mit einer Erorterung der Thematik ,Konstruktivismus und Unterrichtsgestaltung' dazu auf, die eher radikal erscheinenden konstruktivistischen Ansatze zu maBigen, will man nicht auf einen didaktischen Dogmatismus verfallen. Basierend auf Er­kenntnissen, die auf einen explorativen Schulversuch im November 1994 mit Schiilem einer kaufmannischen Berufsschule zuriickgehen, kommt DUBS zu der Feststellung, daB handlungsorientierte Lehr-Lem-Arrangements das Re­pertoire des Lehrers zwar erweitem, jedoch keinesfalls ersetzen konnen. Es gehe nicht darum, die Fragen zu klaren, ob nun Kognitivismus oder Kon­struktivismus im Recht seien oder selbstgesteuertes Lemen angeleitetem Ler­nen iiberlegen sei, sondem urn "das Bemiihen, Lem- und Denkstrategien, Metakognition und Transfer zielstrebig in den Unterricht hineinzutragen " (ebd. S. 902).

Die Ergebnisse dieser Arbeit fuhren zu einem den Feststellungen DUBS ahnlichen Resiimee. Herkommlicher Unterricht bedarf nicht eines Ersatzes durch handlungsorientierten Unterricht, sondem vielmehr einer Bereicherung durch diesen. Sollen erweiterte Handlungskompetenzen vermittelt werden, erscheint es unumganglich, die Schiiler in moglichst konsequenter Weise mit handlungsorientierten Lehr-Lem-Situationen zu konfrontieren. Dabei gilt je­doch zu bedenken, daB sich Veranderungen in diesen Bereichen weder in di­rekter Weise erzeugen bzw. gezielt steuem lassen, noch in herkommlicher Weise evaluiert werden konnen. Vielmehr laBt sich fUr ein bestehendes Kon­zept eher ein Profil von Qualifikationen prognostizieren, welche es fordert oder unterstiitzt. Als Grundvoraussetzung fUr handlungsorientierten Unter­richt gilt auch, wie fUr jedes andere Konzept, dessen prinzipielle Eignung fur die angestrebte Zielsetzung. Es erscheint weder sinnvoll, noch moglich, iiber­fachliche Qualifikationen anstelle bzw. auf Kosten grundlegender zu vermit­teln. Das Eine muB auf dem Anderen aufbauen konnen. Ohne nun handeln­dem Lemen eine Spitzenposition in der Reihenfolge einzelner Unterrichts-

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konzeptionen geben zu wollen, steht fest, daB ein so1ches nicht ohne kogniti­ve, affektive und soziale Grundlagen stattfinden kann. Es ist somit erforder­lich, Grundkompetenzen in der gesamten Bandbreite padagogischen Wirkens bei den SchUlem aufzubauen, urn diese in die Lage zu versetzen, spater auf diese Grundlagen zuriickzugreifen, sie fur eigenstandigen Wissenserwerb zu nutzen und in entsprechender Weise zu erweitem.

Der sukzessive Einbau handlungsorientierter Lehr-Lem-Arrangements macht es zudem erforderlich, herkommlichen Unterricht in zunehmendem MaBe mit Komponenten auszustatten, welche geeignet sind, selbstandig han­delndes Lemen innerhalb eines sozialen Kontextes vorzubereiten. Entspre­chend den zu vermittelnden Wissenskomponenten, dem schUlerspezifisch schon bestehenden Fachwissen und dem Neuigkeitsgrad der jeweiligen Ler­ninhaite muB der Padagoge die Unmittelbarkeit seiner Vorgehensweise in je­der Unterrichtseinheit individuell abwagen. 1m Grundlagenbereich, bei ge­ringem Vorwissensstand der SchUler und groBem Neuigkeitsgrad ist auch in Zukunft eine direkte Vermittlung durch den Lehrer als vorteilhaft einzu­schatzen. Geht es jedoch urn Wissensanwendung bei ausreichendem Vorwis­sensstand der SchUler, muB die Lemaktivitat zunehmend in Handlungskon­texte eingebettet und auf die SchUler Ubertragen werden. Uber derartige, kon­sequent durchzufiihrende Vorerwagungen spannt sich ein padagogisch­didaktisches Feld, in dem anstelle feststehender Konzeptionen differenzierte und gezieite Unterrichtskompositionen treten.

Damit schlieBt sich der Kreis zur gegenwartigen Schulsituation. Offene, aktive und engagierte Padagogen setzen auch innerhalb herkommlichen Un­terrichts schUleraktive und -selbsttatige Lemformen ein, versuchen sich auf thematische Ganzheiten zu beziehen und orientieren sich an beruflichen Pro­blemstellungen. Nicht zuletzt waren es vorwiegend auch solche Lehrer, die sich entweder schon vor oder dann, mit Initiierung des bayerischen Modell­versuchs ,Facheriibergreifender Unterricht in der Berufsschule', mit hand­lungsorientierten Konzeptionen auseinander setzten, urn sich in ihrem Beruf weiterzuentwickeln. Also kann abschlieBend festgestellt werden, daB die Wichtigkeit handlungsorientierten Lemens nicht nur in dessen Intentionen und Zielen oder didaktischen und methodischen Konsequenzen besteht, son­dem dariiberhinaus auch in dessen RUckwirkung auf alle gegenwartig beste­henden Formen berufsschulischen Unterrichts. Modemer berufsschulischer Unterricht kann und muB auch in Zukunft nicht durchwegs handlungsorien­tiert sein, er wird sich jedoch an dies em ausrichten mUssen - beginnend mit dem Lehren einfachster Grundlagen bis hin zur Vermittlung umfassender Kompetenzen.

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Die Bedeutung von Netzwerken fiir die Vermittlung von Zusammenhangswissen im Rahmen wirtschaftsberuflicher U mweltbildung

Volker Brettschneider

Die Situation der Umwelt hat sich insgesamt in den letzten lahren trotz einer Vielzahl von MaBnahmen zum Umweltschutz weiter verschlechtert (vgl. Rat von Sachverstandigen 1994, 50 f.). Die dramatisch anwachsenden Umwelt­probleme verweisen darauf, daB die Volkswirtschaften weltweit mit ihrer Produktions- und Konsumweise und den daraus resultierenden Folgen den Erhalt der Lebensgrundlagen von Mensch, Tier und Pflanzen bedrohen; lang­fristig ist jedoch keine Volkswirtschaft uberiebensfahig, wenn sie ihre nallir­lichen Lebensgrundlagen zerstOrt (vgl. Wicke 1991). Vor diesem Hinter­grund wird die Vermittlung von Umweltbildung zu einer neuen Herausforde­rung an die wirtschaftsberufliche Bildung.

1m folgenden werden die Ergebnisse einer Arbeit "Die Bedeutung von Netzwerken fur die Vermittlung von Zusammenhangswissen im Rahmen wirtschaftsberuflicher Umweltbildung" (vgl. Brettschneider 1997) vorstellt. Die Problemstellung der Arbeit ist im Rahmen des Bund-Uinder Modellver­suchs ,Lemprogramm zur Umweltbildung an kaufmannischen Schulen' (LUKAS) angeregt worden. Der Modellversuch LUKAS wurde im Auftrag der Bund-Lander-Kommission yom 1.9.91 bis 31.3.95 an sechs kaufmanni­schen Schulen im Regierungsbezirk Detmold in Nordrhein-Westfalen durch­gefuhrt (vgl. Kaiser u. a. 1995). Das Ziel des Modellversuchs war, auf der Basis bereits existierender theoretischer Ansatze zur Umweltbildung ein rea­lisierbares Vermittlungskonzept fur einen Teilbereich der kaufmannischen Schule zu entwickeln.

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1 Anmerkungen zu einer Konzeption wirtschafts beruflicher U mweltbildung

Hinsichtlich der Entwicklung theoretischer Grundlagen wirtschaftsberufli­cher Umweltbildung kann davon ausgegangen werden, daB Umweltbildung als Teil der Bildung des Menschen im umfassenden Sinn zu verstehen ist. 1m Mittelpunkt jeder Erziehung hat die Personlichkeitsbildung zu stehen, die sich an der WUrde des Menschen orientiert, der autonom im Sinne der Selbstbestimmung, zugleich jedoch in sozialer und okologischer Verantwor­tung entscheiden und handeln kann (vgl. Kaiser/Weitz 1990, Soltenfuss 1983).

FUr die Entwicklung konzeptioneller Grundlagen wirtschaftsberuflicher Umweltbildung sind folgende Rahmenbedingungen zu berucksichtigen (vgl. Apel u. a. 1993, 7):

• Einerseits verfugen SchUler und SchUlerinnen im kaufmannischen Schulwesen bereits Uber Informationen zu okologischen Tatbestanden und ebenso Uber ein - wie auch immer ausgepragtes - UmweltbewuBtsein im Sinne eines Vorwissens zu umweltorientierten unterrichtlichen The­menstellungen.

• Andererseits existiert trotz der stetig anwachsenden Menge an Informa­tionen zum Umweltbereich kein sicheres, fachlich fundiertes Wissen, so daB sich eine Unterscheidung von umweltfreundlichem und umwelt­schadigendem Verhalten im Sinne von ,richtigem' und ,falschem' Han­deln als auBerordentlich schwierig erweist.

Die besondere Problematik hinsichtlich der Gestaltung schulischer Lempro­zesse ergibt sich daraus, daB trotz Informationsfiille und Professionalisierung die Beurteilung der Umweltproblematik nicht einfacher geworden ist.

1m Rahmen des Modellversuchs LUKAS ist auf unterschiedlichen Ebe­nen evaluiert worden, welche unterrichtlichen Probleme hinsichtlich der Realisierung wirtschaftsberuflicher Umweltbildung auftreten konnen (vgl. Kaiser u. a. 1995, 179 ff.). Als besonderes Problem hat sich in der Literatur wie auch in der schulischen Praxis die Komplexitat der Umweltthematik er­wiesen (vgl. Krol 1992,527). Der Umgang mit der Komplexitat umweltOko­nomischer Inhalte im Unterricht wirft viele Probleme auf. Lehrer wie SchUler sind gleichermaBen verunsichert, wie die Komplexitat der Zusammenhiinge erfolgreich bewaltigt werden kann und mit der Unvollstandigkeit und Relati­vitat des Umweltwissens umzugehen ist.

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In der Literatur wird, urn die Komplexitat der Umweltproblematik ko­gnitiv zu bewaltigen, die Forderung nach ,Systemdenken', ,vemetztem Den­ken', ,Denken in Zusammenhangen' oder ,ganzheitlichem Denken' erhoben, d. h. es wird ein entsprechendes Zusammenhangswissen eingefordert (vgl. Modellversuch LUKAS 1992,30, Mertens 1989,31, PatzoldiThiele 1991, 11, femer z. B. de Haan 1994). Es wird allerdings bemangelt, daB ein Sy­stemdenken bisher kaum im Unterricht realisiert worden ist (vgl. Dubs 1993, 83 u. 1992, 251 f, UlrichlProbst 1990, 13, Achtenhagen 1991, 312 f.).

2 Zu den theoretischen Grundlagen des Einsatzes von Netzwerken im Unterricht

In der Literatur zur wirtschaftsberuflichen Umweltbildung ist bisher weitge­hend ungeklart, aufwelche systemtheoretischen Ansatze zUriickgegriffen und wie Systemdenken entwickelt werden kann, urn Zusammenhangswissen fUr die Analyse umweltokonomischer Probleme zu entwickeln. Das Forschungs­gebiet ,der' Systemtheorie stellt einen sehr heterogenen und interdisziplina­ren Forschungsbereich dar, wobei es gegenwartig kaum moglich ist, von ein­heitlich verwendeten Begriffen, Axiomen oder abgeleiteten Aussagen auszu­gehen (vgl. Luhmann 1993). Diese Diskussion kann hier nieht weiter ausge­flihrt werden.

Systemdenken zielt auf des Erkennen von Wechselwirkungen zwischen einer Vielzahl von Variablen (vgl. Ulrich/Probst 1990). Es beinhaltet den Versuch, gegeniiber der Analyse einzelner isolierter Faktoren die Synthese, d. h. die Einordnung von Einzelerscheinungen in einen Gesamtzusammen­hang zu betonen. Es ersetzt analytisches Denken nicht, sondern ergiinzt es urn notwendige, aber bisher vemachlassigte Bereiche.

Systemdenken beinhaltet im Kern kausales Denken und Strukturdenken, das wie folgt gekennzeichnet werden kann. Mit Hilfe des Kausaldenkens kann Ordnung in die Eigenschaften der Dinge gebracht, d. h. es kann der Zu­sammenhang von Ursache und Wirkung ermittelt werden. Das Organisati­onsprinzip dieser Zusammenhange stellt die Kausalkette dar, wobei die Ele­mente mit einem Zeitpfeil verbunden sind (vgl. Abb. I): Mittel und Zwecke werden siehtbar, wenn man die Kausalkette in Pfeilrichtung weiterverfolgt; Ursachen und Wirkungen zeigen sich, wenn man entgegen dem Zeitpfeil an der Kausalkette zuriickblickt (vgl. Herder-Domeich 1992, 111 ff.).

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(~)-~

Abb. 1: Kausalkette

Die Komplexitat der Umweltproblematik zeigt, daB Ereignisse oft mehrere Ursachen und verschiedene Wirkungen haben konnen, d. h. ein solcher Kau­salitatszusammenhang bildet ein Kausalitiitsnetzwerk (vgl. Abb. 2). Die Wir­kungen folgen zwar der Ursache, jedoch konnen dauerhafte Ereignisse iiber­einander greifen, wodurch Riickkopplungen erfolgen, d. h. ein Ereignis kann gleichzeitig sowohl Ursache, als auch Wirkung eines anderen Ereignisses sein (vgl. Rapoport 1985, 147). Diese Art von Kausalitat bildet ein Kausali­tatsnetzwerk mit Riickkopplung. Entsprechende Strukturen entstehen durch den Verbund von kausalen Ketten.

Systemdenken beruht auf kausalem Denken, jedoch bedeutet der Begriff der Kausalitat, daB der ,naive' Glaube, durch die Manipulation einer Ursache konne ein ganz bestimmte Wirkung herbeigefiihrt werden, nicht langer zu halten ist (vgl. Herder-Domeich 1992, 112 ff.). Jede Wirkung erzeugt - in ei­nem System - auch Folge- und Nebenwirkungen, die die beabsichtigte Wir­kung ggf. we it iibertreffen konnen. Systemdenken bedeutet, die wechselseiti­gen Verflochtenheiten von Ursachen und Wirkungen zu beriicksichtigen.

Abb. 2: Kausalitatsnetzwerk

Systemdenken beinhaltet die Moglichkeit, der Umweltproblematik dahinge­hend gerecht zu werden, daB die iiberaus komplexen und vielschichtigen Zu-

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sammenbange sinngeleitet auf dynamische Strukturen, Prozesse und Wech­selwirkungen reduziert werden konnen.

Zusammenhangswissen zur Umweltthematik - als Bestandteil des Sy­stemdenkens - enthalt Begriffs- bzw. deklaratives Wissen zur Umweltthema­tik aus unterschiedlichen Wissensbereichen. Dieses Wissen beinhaltet keine statischen oder hierarchischen Wissensstrukturen, sondem flexible Ordungs­schemata im Sinne einer dynamischen Struktur. Hierbei ist zu beriicksichti­gen, daB Wissen zur Umweltthematik allgemeines ,Weltwissen' , ,bereichsspezifisches Wissen' und ,Expertenwissen' tiber Umweltzusammen­bange enthalten kann und durch Vorlaufigkeit gepragt ist sowie letztlich im­mer unvollstandig bleibt (vgl. Kaiser u. a. 1995).

Netzwerke stellen ein graphisches Verfahren zur Veranschaulichung und Visualisierung komplexer Zusammenbange dar. 1m Rahmen von Netzwerken werden diese Zusammenbange als System aufgefaBt, d. h. als eine Menge von Elementen, zwischen denen Beziehungen bestehen und die von einer Sy­stemumwelt abgegrenzt werden konnen. Komplexe Zusammenhange konnen dahingehend gekennzeichnet werden, daB sie schwierig zu erfassen und sehr vielschichtig sind. Netzwerke stellen ein Hilfsmittel dar, urn Systemdenken als Erkenntnisverfahren zu entwickeln und einzutiben.

In systemtheoretischer Hinsicht vermitteln Netzwerke zwischen - auf­grund einer Problemstellung - anfallender und kognitiv verarbeiteter Kom­plexitat des einzelnen Lemenden (vgl. Willke 1991), d. h. sie beinhalten ein Zusammenhangswissen, mit des sen Hilfe der einzelne versucht, Strukturen komplexer und interdisziplinarer Umweltprobleme, tiber die teilweise auch unter wissenschaftlichen Experten Uneinigkeit besteht, subjektiv in Abhan­gigkeit von der eigenen kognitiven Leistungsfahigkeit zu ermitteln. Netzwer­ke beinhalten Zusammenhangswissen, welches flir den einzelnen die Basis bildet, urn Umweltprobleme in einen Kontext einzuordnen.

3 Durchfiihrung und Evaluation eines Explorativen Experiments ,Einsatz von Netzwerken zur Vermittlung von Zusammenhangswissen'

1m folgenden wird am Beispiel der Unterrichtsthematik ,Just-in-time - Prin­zip in okologischer Perspektive' die Durchflihrung und Evaluation eines Ex­plorativen Experiments auf der Basis qualitativer empirischer Sozialfor-

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schung dargestellt, mit dem Uberprtift wurde, in welcher Weise Netzwerke geeignet sind, Zusammenhangswissen zu den unterrichtlichen Bereichen ,Beschaffung', ,Produktion', ,Absatz', ,Umweltpolitik' und ,Umwelt' zu vermitteln (vgl. Dubs 1989 u. 1993, Brettschneider 1997, Kaiser u. a. 1995). Dieses Anliegen ist vor dem Hintergrund einer Unterrichtsrealitat zu sehen, in der in der Regel diese Themen getrennt voneinander unterrichtet werden, wobei es haufig dem Schiiler selbst Uberlassen bleibt, einen entsprechenden Gesamtzusammenhang zu entwickeln.

FUr die Evaluation des Unterrichts wurde ein Diagnoseinstrumentarium entwickelt, urn die Vorwissensstrukturen der Schiiler vor Beginn des Unter­richts und ihre zieladaquate Veranderung auf der Grundlage des Einsatzes von Netzwerken im Unterricht zu erheben. Das Instrumentarium wurde dar­auf ausgerichtet, inhaltliche und strukturelle Aspekte des Zusammenhangs­wissens zu erfassen (vgl. Brettschneider 1997, Weber 1994).

3.1 Vorstudie zur Entwicklung des Evaluationsinstrumentariums

In der Wissenspsychologie sind verschiedene Modelle der Reprasentation von Wissen entwickelt worden, von denen angenommen wird, daB sie Wis­sensreprasentationen in der kognitiven Struktur des Menschen widerspiegeln (vgl. MandVSpada 1988). Semantische Netzwerke haben sich bisher "als brauchbarste Mittel zur Beschreibung von deklarativem Wissen erwiesen." (Kluwe/Spada 1981,298; vgl. femer Aebli 1991,254, Fischer u. a. 1995, 5 ff., Bonato 1990, Tergan 1986) Netzwerktheorien liegt die bis zu Aristoteles zurtickreichende Vorstellung zugrunde, daB Gedanken assoziativ verbunden sind und ein Gedanke entsprechend zu einem anderen flihrt; d. h. daB einzel­ne Gedachtnisinhalte in bestimmter Weise miteinander verknUpft (assoziiert) sind.

Semantische Netzwerke werden in Form eines Graphen dargestellt, der gerichtet und benannt bzw. bezeichnet ist. Er besteht aus Knoten und Kanten. Knoten stellen im Netzwerk die Punkte dar, an denen Kanten zusammenlau­fen, d. h. Kanten verb in den die Knoten untereinander:

• Knoten sind im Gedachtnis reprasentierte Konzepte mit einem begriffli­chen Inhalt, d. h. spezifische Objekte, Benennungen usw.

• Kanten (,Maschen') sind Relationen zwischen den Konzepten. Kanten weisen in eine Richtung und sind benannt, d. h. es gibt unterschiedliche Kanten.

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Bezeichnete Kanten ermoglichen es, Gedachtnismodelle vielfaltig und unter­schiedlich zu konstruieren.

Evaluationsinstrument und der Einsatz von Netzwerken im Unterricht wurden so angelegt, daB aktive, passive, kritische und trage Konzepte bzw. Elemente jeweils in den Netzwerken bestimmt werden konnten. Aufgrund der Anzahl ihrer Verbindungen mit anderen Konzepten und den entspre­chenden Relationen beeinflussen aktive Konzepte andere stark, werden pas­sive Konzepte von anderen stark beeinfluBt, wahrend kritische Konzepte so­wohl auf andere einwirken wie auch entsprechende RUckkopplungen von ih­nen erhalten. Trage Konzepte wei sen nur geringe Verbindungen mit anderen Konzepten auf. Die Entwicklung solcher Zentren stellt eine Vereinfachungs­strategie dar, urn in Netzwerken die Komplexitat einer Aufgabenstellung auf ein individuell handhabbares MaB zu reduzieren (vgl. Weber 1994, Ill, Domer 1989)

Wenn die Vorwissensstrukturen der SchUler und ihre Veranderung aus­schlieBlich mit Hilfe semantischer Netzwerke erhoben werden, besteht die Gefahr, daB die Untersuchung letztendlich auf einer ,Oberflachenebene' des Wissens verbleibt. Urn dieser Problematik zu begegnen, wurde im Rahmen der Evaluation auf die ,Fenster-Technik' zuruckgegriffen (vgl. Weber 1994, 51 ff.). Mit Hilfe der Fenster-Technik konnen Tiefenstrukturen des Wissens der SchUler dahingehend erfaBt werden, indem das begriffliche Wissen, das einem Konzept zugrunde liegt, ermittelt wird.

3.2 Durchfiihrung des Explorativen Experiments

Das Forschungsdesign des Explorativen Experiments umfaBt eine Vorher­Nachher-Untersuchung (Haupt- und Nachuntersuchung), urn Eingangs- und Ausgangsleistung der SchUler zu erheben. Die SchUler haben vor Beginn der Unterrichtseinheit ,Just-in-time - Prinzip in okologischer Perspektive' (Hauptuntersuchung) und nach Ende der Unterrichtseinheit (Nachunter­suchung) jeweils ein semantisches Netzwerk entwickelt und auf diese Weise zunachst ihr Vorwissen und dann die veranderte Wissensstruktur am Ende des Unterrichts dargestellt. 1m AnschluB an die Bildung der Netzwerke haben sie jeweils die fiinf Konzepte der Fenster-Technik definiert.

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3.3 Verlauf der Unterrichtseinheit und Interpretation der Unterrichtsnetzwerke

Der Unterricht ist in sechs Blocken erteilt worden, die jeweils zwei Unter­richtsstunden umfaBt haben. Zunachst wurden - als Anknupfung an den vor­her erteilten Unterricht - Grundlagen der Beschaffung wiederholt. Anschlie­Bend sind die SchUler mit der Problemstellung konfrontiert worden, welche okologischen Gesichtspunkte zu berUcksichtigen sind, wenn ein Untemeh­men eine ,konventionelle' Beschaffung mit Lagerhaltung auf eine Just-in­time - Beschaffung umstellen will (vgl. Stahlmann 1988, Zibell 1990). Die Schuler erhielten die Aufgabe, eine entsprechende Problem analyse zu erar­beiten. Als Ergebnis dieses Unterrichtsschrittes wurde Unterrichtsnetzwerk 1 als Problemanalyse an der Tafel erstellt (vgl. Abb. 3).

Abb. 3: Umweltaspekte einer Just-in-time - Belieferung (Unterrichtsnetzwerk 1)

Insgesamt ist das Netzwerk noch gering strukturiert und wird das Problem erst in Ansatzen und noch nicht in vollem Umfang erfafit.

In den folgenden Unterrichtsblocken sind die SchUler dann Schritt fur Schritt systematisch in das Erstellen von Netzwerken bzw. Feedback­Diagrammen eingearbeitet worden (vgl. Dubs 1989 u. 1993). Weiterhin wur­den die SchUler systematisch darin eingeubt, Strukturelementen in Netzwer­ken herauszuarbeiten. 1m Unterricht wurde die Bedeutung von aktiven, kriti-

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schen, tragen und passiven Elementen in Netzwerken auf der Grundlage der Anzahl der Pfeile der Elemente erarbeitet.

AbschlieBend sollten die SchUler mit Hilfe eines Anwendungsbeispiels ihr erworbenes Zusammenhangswissen in einer neuen Situation anwenden und zu einer unterrichtlichen Problemstellung eine Gesamtvemetzung mit fa­cheriibergreifenden Beziehungen entwickeln. Eine entsprechende Podi­umsdiskussion diente der Informationssammlung als Vorbereitung einer Ent­scheidung und schloB noch nicht mit der Entscheidungsfindung abo

1m AnschluB an die Diskussion wurde der Diskussionszusammenhang als Hilfe zur Entscheidungsvorbereitung in einem Netzwerk aufgearbeitet (vgl. Abb. 4). 1m Netzwerk werden 15 Elemente und 26 Beziehungen ver­wendet, d. h. hinsichtlich der Vemetzung stellt es das differenzierteste Netz­werk in gesamten Unterricht dar. Strukturelle Aspekte der Problematik sind von den Schtilem wie folgt herausgearbeitet und mit Hilfe folgender Ele­mente und Beziehungen in das Netzwerk einbezogen worden:

• ,LKW-Anlieferung' (sieben Beziehungen) als aktives Element • ,Bahn-Anlieferung' (sechs Beziehungen), ,Bau von Kiihlhausem' (sechs

Beziehungen), ,Entlastung des Stadtkems' (vier Beziehungen) als kriti­sche Elemente

• ,Energieverbrauch' (vier Beziehungen) und ,Kosten' (sechs Beziehun-gen) als ein passive Elemente

1m Netzwerk wurde die betriebswirtschaftliche Problematik einer Just-in­time - Beschaffungsstrategie eines Untemehmens (z. B. erhohte Nachfrage, LKW-Anlieferung, Kiihlhauser, Kosten, Gewinn) mit regionalOkonomischen (Entlastung des Stadtkems, Attraktivitat der Stadt, Lebensqualitat) und oko­logischen Gesichtspunkten (z. B. Landschaftsverbrauch, Naturschutzgebiet­zerstOrung, Energieverbrauch) in Verbindung gebracht. Das Netzwerk ist urn einen wirtschaftlichen Schwerpunkt organisiert. Es dominieren nicht die okologischen Elemente, sondem sie werden in Abhangigkeit von betriebs­wirtschaflichen Notwendigkeiten und regionalpolitischen Erfordemissen ge­sehen. Insofem spiegelt das Netzwerk in Ansatzen eine facheriibergreifende Wissensstruktur der SchUler mit betriebswirtschaftlichem Schwerpunkt wie­der.

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Abb. 4: AutobahnanschluB flir die Salatkopf AG (Unterrichtsnetzwerk 2)

3.4 Evaluation des Unterrichts und Auswertung der erhobenen Daten

1m folgenden werden die Ergebnisse der Evaluation des Explorativen Expe­riments interpretiert und bewertet. 1m Vergleich von Hauptuntersuchung (HU) und Nachuntersuchung (NU) wird das Evaluationsinstrument ,semantisches Netzwerk' dahingehend ausgewertet, in welcher Weise der Einsatz von Netzwerken im Unterricht zur Ausbildung umweltokonomischen Zusammenhangswissens geflihrt hat.

3.4.1 Zum Inhalt des Zusammenhangswissens

Die Ergebnisse der Untersuchung weisen darauf hin, daB sich das Vorwissen der Schuler urn einen Kern, der relativ stabil geblieben ist, inhaltlich deutlich

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verandert hat. Wesentliche Entwicklungen werden im folgenden zusammen­gefaBt:

• Die Beschaffung wird von den SchUlern als grundlegender Funktionsbe­reich betrachtet, von dem die Realisierung einer umweltorientierten Just­in-time - Strategie in betriebswirtschaftlicher Perspektive ursachlich ab­hangig ist. Die Funktionsfahigkeit der anderen betrieblichen Bereiche be­ruht nicht zuletzt darauf, daB die benotigten Ressourcen, Vorprodukte usw. rechtzeitig und zuverlassig angeliefert werden.

• Von den SchUlern ist erkannt worden, daB der Fertigungsbereich - im Hinblick auf eine Just-in-time - Beschaffung - abhangige und kritische GroBe zugleich ist. Er ist davon abhangig, daB die benotigten Ressourcen rechtzeitig in die Produktion gelangen, ansonsten erleidet das Unterneh­men - wenn ein Stillstand der Produktion eintritt - wirtschaftlichen Scha­den.

• Die Umwelt wird von den SchUlern sowohl als ,Indikator' fur die Bela­stungen der Lebensgrundlagen, als auch als ,Ursache' einer umweltori­entierten Just-in-time - Unternehmensstrategie angesehen.

• Besonders signifikant ist die Zunahme der Bedeutung des Konzepts Fer­tigungssynchrone Belieferung als einem zentralen SchlUsselkonzept des Unterrichts.

• Von den SchUlern sind die umweltpolitischen Rahmenbedingungen (Umwe/tpolitik) fUr die Realisierung einer umweltorientierten Just-in­time - Unternehmensstrategie beriicksichtigt worden, d. h. es wurden entsprechende betriebs- und volkswirtschaftliche Zusammenhange er­kannt.

FUr die Entwicklung von Zusammenhangswissen konnte im Unterricht er­reicht werden, daB sich das Vorwissen der SchUler, das in einem Kern relativ konstant geblieben ist, inhaltlich dahingehend verandert hat, daB vorhandene Konzepte in der kognitiven Struktur der SchUler besonders ausdifferenziert oder neue Konzepte mit ihnen verbunden worden sind. Das Umweltwissen der SchUler zum Verhaltnis von Okonomie und Okologie hat sich im Verlauf des Unterrichts inhaltlich dahingehend verandert, daB das zunachst eher okologisch ausgerichtete Vorwissen der Schuler um umwe/tokonomische Aspekte erweitert werden konnte.

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3.4.2 Zur Struktur des Zusammenhangswissens

1m Vergleich von HU und NU hinsichtlich der Veranderungen der Anzahl von Konzepten, Relationen und Relationsarten in bezug auf die einzelnen Schiller zeigen sich folgende Tendenzen (vgl. Tab. 1):

• Die Anzahl der Konzepte und Relationen ausgeweitet, d. h. den Umfang der Netzwerke vergr6jJert, haben die SchUler mit dem Kennwort: Lukas, Samson, Wirtschaft L.R.

• Die Anzahl der Konzepte ausgeweitet und der Relationen eingeschrankt, d. h. die Netzwerke diffuser gestaltet, haben: A.P., Nicole, XXX

• Die Anzahl der Konzepte eingeschrankt und der Relationen ausgeweitet, d. h. die Netzwerke prazisiert, haben: Birthe, Prod. Fertig. Umweltschutz

• Die Anzahl von Konzepten und Relationen eingeschrankt, d. h. die Netzwerke verringert, haben: A.B., Claudia, Demotion, Hippie-Lehrer, Leo, Mallorca, MC-Maus, Poldie

Werden die Ergebnisse der Fenster-Technik auf die Ergebnisse der Analyse der semantischen Netzwerke bezogen, so zeigen sich hinsichtlich der Wis­sensgrundlage folgende Tendenzen:

• Netzwerke wurden auf einem mittleren Wissensniveau (2 - 3 richtige Antworten) vergroJ3ert. Mit der VergroJ3erung der Anzahl der Konzepte ist keine entscheidende Prazisierung des Inhalts der Konzepte einherge­gangen, d. h. der Umfang der Netzwerke wird auf einem mittleren Wis­sensniveau erweitert, ohne im wesentlichen inhaltlich mehr ,Tiefe' er­reicht zu haben.

• Netzwerke wurden auf einem geringen Wissensniveau (1 - 2 richtige Antworten) diffuser gestaltet. Inhaltlich werden die Netzwerke nicht pra­zisiert, so da/3 mit der VergroJ3erung der Anzahl der Konzepte die Netz­werke auf einem geringen Wissensniveau inhaltlich unbestimmter ge­worden sind.

• Netzwerke wurden auf einem hohen Wissensstand (3 - 4 richtige Ant­worten prazisiert. Bei einer zuruckgehenden Anzahl von Konzepten ist die Wissensstruktur auf der Grundlage eines hohen Wissensstandes in­haltlich praziser entwickelt worden.

• Der Umfang der Netzwerke wurde auf einem mittleren Wissensniveau (ca. 2 - 3 richtige Antworten) verringert: Mit einer Verringerung der An­zahl der Konzepte ist - auf der Grundlage eines mittleren Wissensniveaus - eine Prazisierung des Inhalts einhergegangen ist.

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Hauptuntersuchung Nachuntersuchung

Kennwort Kon- Rela- Rela- Kon- Rela- Rela-zepte tionen tions- zepte tionen tions-

arten arten A.B. 31 37 6 21 25 6 A.P. 32 52 7 33 48 7 Birthe 40 58 5 40 66 5 Claudia 27 32 6 20 23 3 D. 21 31 6 Demotion 23 34 6 15 24 6 Hippie-Lehrer 15 14 4 10 10 4 Just-in-time- 15 18 5 Prinzip Leo 35 41 6 28 30 5 Lukas 16 21 5 24 28 6 Mallorca 28 32 5 +R8 21 22 6 MC-Maus 20 26 6 18 23 6 Nicole 17 20 5 19 18 5 O.A. 15 28 5 Poldie 25 39 7 25 37 7 Prod. Fertig. 30 38 7 25 44 7 Umweltschutz Samson 17 18 5 +R8 25 26 7 Umwelt 27 27 7 Wirtschaft 36 76 7 39 84 6 L.R XXX 22 30 6 27 28 6 Summe ge- 492 672 118 390 536 92 samt Summepro 24,6 33,6 5,9 24,4 33,5 5,75 Schiiler

Tab. 1: Anzahl der benutzten Konzepte, Relationen und Relationsarten der Klasse

1m Ergebnis deutet sich als Tendenz - hinsichtlich des unterrichtlichen Ein­satzes von Netzwerken - an, daB ,erfolgreiche' Schiller ihr umfangreiches, aber relativ ungesichertes Vorwissen zu einer Thematik dahingehend ,sichem', daB sie es inhaltlich auf mittlerem bzw. hohem Wissensniveau pra-

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zisiert haben, wobei der Umfang der Konzepte eingeschrankt worden ist. Weniger ,erfolgreiche' Schuler haben ihr umfangreiches, aber relativ ungesi­chertes Vorwissen zu einer Thematik inhaltlich auf mittlerem bis geringem Wissensniveau diffuser gestaltet, wobei die Anzahl der Konzepte - ohne in­haltliche Prazisierung - ausgeweitet worden ist.

3.5 Resumee des Explorativen Experiments

In der empirischen Forschung wird darauf hingewiesen, daB nicht aile Ler­nenden gleichermaBen von Netzwerken profitieren, d. h. beziiglich ihrer Ef­fektivitat zur Unterstlitzung von Lemprozessen treten unterschiedliche ko­gnitive Effekte auf (vgl. Fischer u. a. 1995, 11 ff.). Lemende mit hohen Lemvoraussetzungen scheinen Mappingverfahren besser anwenden zu kon­nen als Lemende mit geringen Voraussetzungen. Allerdings ist der konkrete EinfluB des Vorwissens auf die effektive Anwendung von Mappingverfahren bisher noch zu wenig untersucht worden.

Das wesentliche Ergebnis der Evaluation ist in struktureller Hinsicht, daB die Arbeit mit Netzwerken im Unterricht nicht zu einer einheitlichen Veran­derung der Wissensstruktur aller Schiiler geflihrt hat. Hinsichtlich der Veran­derung des Zusammenhangswissens zur - im Unterricht behandelten Um­weltthematik - sind bei den einzelnen Schiilem (auf der Grundlage der Er­gebnisse der Bildung semantischer Netze und der Fenster-Technik) unter­schiedliche kognitive Effekte aufgetreten.

Die Lemwirksamkeit des Einsatzes von Netzwerken im Unterricht zur Vermittlung von Zusammenhangswissen zur Umweltthematik beruht auffol­genden grundlegenden psychologischen Effekten (vgl. Fischer u. a. 1995, 9 ff.):

• Visualisierungseffekte: Viele empirische Befunde weisen darauf hin, daB graphische Darstellungen das Verstehen von Informationen unterstlitzen konnen.

• Aktive Auseinandersetzung mit der Information: Vor aHem konstruktivi­stische Ansatze des Wissenserwerbs heben deutlich die Bedeutung her­vor, die der aktiven Auseinandersetzung der Lemenden mit einer Aufga­benstellung zukommt.

• Reduktion von Komplexitat: Die Darstellung komplexer Zusammenhange mit Hilfe von Netzwerken verlangt von den Lemenden, daB sie die In­formationsvielfalt auf wesentliche Aspekte und Strukturen reduzieren.

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• Feedback: Die graphische Darstellung erleichtert es den Lehrenden, ein Feedback zu geben. Weiterhin kann davon ausgegangen werden, daB die Visualisierung eines Zusammenhangs metakognitive Prozesse der Selbstkontrolle anregt und unterstlitzt.

Vor dem Hintergrund der empirischen Forschungsergebnisse hinsichtlich der Bedeutung von Netzwerken zur Vermittlung von Zusammenhangswissen er­weist sich eine abschlieBende Beurteilung ihrer Lemwirksamkeit als auBer­ordentlich schwierig. "Die oben genannten Begriindungen lassen annehmen, daB die Verwendung von Mappingverfahren lemforderlich ist." (vgl. Fischer u. a. 1995, 11). Allerdings verbleibt die grundlegende Problematik, daB allein aufgrund der graphischen Darstellung nicht zu beurteilen ist, in welcher Wei­se ein entsprechender Wissenszusammenhang von den Lemenden auch ver­standen worden ist. Entsprechende Auswertungs- und Beurteilungsgespriiche im Unterricht sind daher unerHiBlich.

Die Ergebnisse der Fenster-Technik bestatigen die Aussagen im Hinblick auf die Unvollstandigkeit und geringe inhaltliche Tiefe des Zusammen­hangswissens zur Umweltthematik im Rahmen von Netzwerken. In Netzwer­ken sind den Schtilem ein groBer Teil von Konzepten bzw. Elementen be­grifflich nicht genau bekannt bzw. bleiben letztendlich sogar unbekannt; d. h. auffallend ist der hohe Anteil des ,Nicht-Wissens' in den Netzen (vgl. de Ha­an 1994). Mit Hilfe von Netzwerken kann zwar Zusammenhangswissen in Teilbereichen erschlossen werden, es handelt sieh bei dies em Zusammen­hangswissen jedoch in hohem MaBe nicht urn fundiertes Wissen, sondem urn sog. Halbwissen, welches nicht ausreiehend durch wissenschaftliche Er­kenntnisse oder Erfahrung abgesichert ist.

AbschlieBend ist festzustellen, daB sich in Netzwerken gesichertes Wis­sen und sog. Halbwissen tiber Umweltzusammenhiinge im Sinne einer beruf­lichen Umweltkompetenz vermischen. Dieses ist allerdings ein notwendiger Bestandteil von Netzwerken, die zwischen anfallender und kognitiv verar­beiteter Komplexitiit vermitteln. Kognitive Bewaltigung von Komplexitat -gerade auch im Sinne interdisziplinaren und facheriibergreifenden Denkens -bedeutet, daB zunachst formal mehr Elemente in die UberJegungen einbezo­gen werden mUssen, als bisher inhaltlich bekannt sind, urn zu einer Pro­blemlosung zu gelangen (vgl. Willke 1991, Domer 1989). Diese Charakteri­stik von Netzwerken ist von Lehrem zu beriicksichtigen, urn ihre Reichweite und inhaltliche Tiefe fUr die Vermittlung von Zusammenhangswissen zum Verhaltnis von Okonomie und Okologie nieht zu Uberschatzen.

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4 Literatur

ACHTENHAGEN, F.: Moglichkeiten und Grenzen komplexer Lehr-Lem-Prozesse in der kaufmrumischen Erstausbildung, in: K. Aschenbrucker/U. PleiB (Hg.) (1991): Menschenflihrung und Menschenbildung. Hohengehren; S. 311 ff.

AEBLI, H. (1991): ZwolfGrundformen des Lehrens. 6. Aufl. Stuttgart APEL, H. u. a. (1993): Orientierungen zur Umweltbildung. Bad Heilbrunn BONATO, M. (1990): Wissensstrukturierung mittels Struktur-Lege-Techniken. Eine

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Miinchen

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Gestaltung von Informationstechnik ffir das Lernen im Arbeitsproze8

Martin Fischer

Computergesrutztes Lemen ist - nicht zuletzt im Zuge der Entwicklung und Vermarktung von Multimedia-Systemen - zu einem relevanten Thema fUr die berufliche Aus- und Weiterbildung geworden. Eine Vielzahl von Computer­programmen wird derzeit angeboten, denen eine didaktische oder tutorielle Qualitat zugesprochen wird, solI heiBen: die beim Nutzer Lemprozesse anre­gen sollen.

Nun kann man die Auffassung vertreten: die gegenwartige Multimedia­Euphorie wird so schnell gehen, wie sie gekommen ist. Schon gegen Anfang der siebziger Jahre hat es auch in der Bundesrepublik Deutschland erhebliche Anstrengungen gegeben, berufliche Lemprozesse zu objektivieren und parti­ell auf Maschinen zu Ubertragen (vgl. Gutschmidt u.a. 1974; Gerwin & Hop­pe 1997, S. 18). Jene Versuche batten - so auBem sich die damaligen Initiato­ren am Bundesinstitut fUr Berufsbildung heute - nicht die Ergebnisse er­bracht, die man sich versprochen hatte. Der Euphorie folgte die EmUchte­rung, und es sei nicht abzusehen, weshalb es diesmal anders sein sollte.

Eine gewisse Skepsis gegenUber der Auffassung, daB der Multimedia­Boom sich auch heutzutage als bloBer Spuk erweisen werde, ist aus zwei GrUnden angebracht: Zum einen muB man registrieren, daB sich gegenUber den siebziger Jahren die technischen Voraussetzungen zur Nutzung von rechnergesrutzten Lemssystemen entscheidend verandert haben. Waren sei­nerzeit die verfUgbaren Rechenanlagen kaum auf den individuellen und de­zentralen Gebrauch zugeschnitten, so haben mittlerweile leistungsfahige Per­sonalcomputer nicht nur in die Zentren der beruflichen Aus- und Weiterbil­dung Einzug gehalten, sondem auch in die privaten Haushalte. Es haben sich also die technischen V oraussetzungen geandert, die seinerzeit sicherlich eine hahere Barriere fur die Verbreitung von rechnergesrutzten Lemsystemen dar­stellten als heutzutage.

Ein zweiter Sachverhalt hat sich verandert, der mit der Anwendung rechnergesrutzter Lemsysteme in Zusammenhang steht - das sind die enorm

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gestiegenen Qualifizierungskosten. 1 Hier ist das Interesse der Betriebe deut­lich gestiegen, der Proze13 bestandiger Rationalisierung in den Untemehmen moge nieht mehr in dem bisherigen Kostenumfang vorbereitende Lempro­zesse fUr den Umgang mit neuen Technologien und neuen Aufgabenzu­schnitten notwendig machen. Die erforderlichen Lemprozesse sollen mog­lichst privatim oder aber innerhalb der Arbeit selbst stattfinden (vgl. Lipsmeier 1996, S. 210). Das Schlagwort von der Notwendigkeit lebenslan­gen Lemens, das gegenwartig in aller Munde ist, la13t allerdings offen, wo dieses Lemen stattfmden soli. Es liegt auf der Hand, daB es sich hierbei wohl kaum urn ein lebenslanges Lemen auf Kosten des Betriebes handeln wird. Lemen als alimentierte Lemzeit au13erhalb der Arbeit gerat gehOrig unter Druck (vgl. Geimer 1996, S.9). Anforderungen an qualifizierte Fachkrafte, die Lemen notwendig machen, werden jedoch keineswegs verringert. Mehre­re Entwieklungspfade sind gegenwartig erkennbar, urn dem Problem von Qualifizierungsdruck und Qualifizierungskosten zu begegnen: die Verande­rung der betrieblichen Arbeitsorganisation (Stichwort "lemendes Untemeh­men"), die Einfuhrung von lemforderlichen Arbeitssystemen und die Aus­dehnung privaten Lemens. Die Nutzung von lemhaltiger Software - z.T. auch mit Multimedia-Qualitat - spielt bei allen Entwieklungswegen eine zentrale Rolle. Und es ware sicherlich leichtfertig, von einem absehbaren Ende des Multimedia-Booms zu sprechen - gleichgiiltig, welche Qualitat die auf dem Markt befindlichen Systeme aufweisen.

Was nun die Qualitat marktgangiger Multimedia-Systeme betrifft, so kommt eine Untersuchung aus dem berufsbildenden Bereich im Jahr 1992 zu dem Schlu13, da13 es sich bei den meisten der auf dem Markt angebotenen Sy­sterne urn "didaktisch mangelhafte Drillinstrumente" (GOtz & Hafner 1992; vgl. dazu auch Zimmer 1990) handelt. Es mu13 bezweifelt werden, ob das Er­gebnis heutigentags so grundsatzlich anders ausfallen wiirde (vgl. Euler & Twardy 1995, S. 360). Neben der zunehmenden Verbreitung von Lemsoft­ware ist ihre oft mangelhafte didaktische Qualitat jedenfalls ein weiteres Ar­gument, sich mit diesem Phanomen aus berufspadagogischer Warte zu be­schiiftigen (vgl. Euler 1992). Wenngleich die Entwicklungsteams solcher Software mitunter interdisziplinar zusammengesetzt sind, so ist dabei beruf­spadagogische Mitwirkung eindeutig unterreprasentiert - und das, obwohl "Didaktik" von den einschlagigen Firmen als wiinschenswerter Schwerpunkt

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Martin Posth berichtete 1992 (S. 180) filr die Volkswagen AG, daB sich in den vorange­gangenen filnf Jahren der Weiterbildungsumfang des Unternehmens verdreifacht hlltte. Das wird zum einen an der Permanenz und dem Umfang betrieblicher Verllnderungen deutlich, auf die mit QualifizierungsmaBnahmen reagiert wird. Zum andern lllBt sich er­messen, we1che Summen dabei im Spiel sind.

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von Multimedia-Mitarbeitem genannt wird (vgl. Wienpahl 1996). Es fragt sich jedoch, we1che Akzentsetzung die Berufsbildungsforschung in diesem Zusammenhang leisten konnte. Der vorliegende Beitrag skizziert anhand der Ergebnisse mehrerer thematisch zusammengehoriger Projekte2 mogliche Schwerpunkte. Sie betreffen die Analyse beruflicher Arbeit, die lemforderli­chen Eigenschafien der Informationstechnik selbst und schlieBlich die Me­thodik der Systementwicklung.

1 Analyse beruflicher Arbeit

In der Regel setzen Entwickler von tutoriellen Computersystemen beim Stand der technischen Moglichkeiten an, urn von hier aus diejenige Funktio­nalitat und Oberflachengestaltung zu entwickeln, die sie fUr berufliches Ler­nen als nUtzlich erachten. Auch wir sind zunachst ein StUck weit in diese Richtung gegangen, als wir untersuchen sollten, inwiefem sich Expertensy­sterne als technische UnterstUtzung fUr Instandhaltungsarbeit eignen. Unter der Pramisse des Lemens im ArbeitsprozeB lieB jedoch der Einsatz von Ex­pertensystemen keine gUnstigen Ergebnisse erwarten (vgl. Fischer u.a. 1995), und so wurde dann in unseren Vorhaben der umgekehrte Weg beschritten: Ausgehend von der empirischen Untersuchung beruflicher Arbeit (ebenda) wurden Eigenschafien der Informationstechnik ermittelt, die ein Lemen im ArbeitsprozeB unterstUtzen konnen. Dieser Weg unterstellt ein Verstandnis fUr Charakteristika und Probleme beruflicher Arbeit, die im folgenden am Beispiel betrieblicher Instandhaltungsfacharbeit in der rechnergestUtzten Produktion wenigstens soweit skizziert werden sollen, wie es fUr das Ver­standnis der von uns entwickelten Alternative zu Diagnosesystemen auf Ex­pertensystembasis notwendig ist.

2 Forschungsprojekt "Expertensysteme und Instandhaltungsfacharbeit" (BMFT, Arbeit & Technik); Verbundvorhaben "Technische UnterstUtzung in der betrieblichen Instandhal­tung (TUBI)" (Bremer Landesprogramm Arbeit & Technik); Verbundvorhaben "ComputergestUtztes erfahrungsgeleitetes Lemen in der Chemiearbeit (CELCA)" (BMBF, Arbeit & Technik).

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1.1 Charakteristika und Problerne betrieblicher Instandhaltungsfacharbeit

Der Feuerwehreinsatz - die akute StOrfallbekampfung - ist nach wie vor ein wesentlicher Bestandteil betrieblicher Instandhaltungsfacharbeit. Das heiBt nun keineswegs, daB die Suche nach dem zugrundeliegenden Fehler einer StOrung als Arbeitsaufgabe immer vorab feststUnde. Vielmehr findet zu Be­ginn eines Instandsetzungsauftrags ein ProzeB der Aufgabenbestimmung statt, in dem widerspruchliche und wechselnde Anforderungen gegeneinan­der abgewogen werden. Solche Arbeitssituationen sind aus Sicht des Arbei­tenden "Problemsituationen" (Fischer 1995, S. 125 ff.). Die "Problem­situation" schlieBt StOrungen im geplanten Arbeitsablauf und bei den techni­schen Anlagen eben so ein wie uberhaupt neuartige Aufgabenstellungen, fur die auf seiten des Arbeitenden noch kein Handlungsplan vorliegt. Derartige Anforderungssituationen sind genuiner Ausgangspunkt fUr ein Lemen im ArbeitsprozeB, d.h. fUr die Aktivierung und Aneignung von ArbeitsprozeB­wissen - jener Mischung aus Fachwissen und Arbeitserfahrung,3 die fUr Facharbeiter typisch ist. Folgende Dimensionen einer Problemsituation mus­sen im Arbeitshandeln von Instandhaltungsfacharbeitem gegeneinander ab­gewogen werden:

• Die Problemsituation hat eine technische Dimension: Soweit es sich urn eine StOrung an den Maschinen und Anlagen handelt, ist eine Fehlerdia­gnose zu entwickeln, aus der Zielsetzungen fUr weiteres Handeln abge­leitet werden konnen. Von Produktionsfacharbeitem wird hier in der Re­gel eine grobe Diagnose erwartet, aus der sich vor allem ergibt, welche Art von Hilfe hinzugezogen werden muB. An Instandhaltungsfacharbei­ter wird ggf. die Anforderung gestellt, die letztendliche Ursache der Sto­rung zu ermitteln und zu beheben. Sowohl bei der Grobdiagnose als auch bei der Feindiagnose existiert in der rechnergestUtzten Produktion die Schwierigkeit, metall-, elektro- und informationstechnische Sachverhalte in ihrem Zusammenwirken zu erkennen sowie der Komplexitat (aufgrund der Vemetzung und Verkettung von Anlagen) Herr zu werden.

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Die Bedeutung von Erfahrung fur kornpetentes Arbeitshandeln - auch in der rechnerge­sttitzten Produktion - ist in der wissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahre erneut be­tont worden (vgl. Bohle/ Milkau 1988; Fischer u.a. 1995, Siebeck 1996). Urn das MiBver­st1lndnis zu vermeiden, daB es sich hierbei urn vollig unausgebildete oder nur auf sinnliche Wahrnehrnung beschr1lnkte Erfahrung handele, verwenden wir lieber den Terminus "ArbeitsprozeBwissen" (vgl. Kruse 1986; Rauner 1996, S. 423 ff.).

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• Die Problemsituation hat eine okonomische Dimension: Stillstandsmi­nuten konnen aus betrieblicher Sicht hohe Verlustbetrage bedeuten. Die okonomische Dimension der StOrsituation stellt sich jedoch nicht immer gleich dar. Je nach Auftragslage, terminkritischen Auftragen und auch abhangig yom betroffenen Anlagenteil (z.B. bei EngpaBanlagen) kann entweder geniigend Zeit vorhanden sein, urn die letztendliche Fehlerur­sache zu finden und zu beheben oder nicht. So kann unter hohem Ter­mindruck bei weitgehendem Verzicht auf Fehlersuche die Produktion umgeleitet oder iiberbruckt werden; anstatt zu reparieren konnen Aggre­gate und Anlagenteile sofort ausgetauscht werden usf. Neben der be­triebsokonomischen Situation, die zu berucksichtigen ist, spielt narurlich auch die Lohnsituation der von der StOrung betroffenen Facharbeiter ei­ne Rolle: Die geplante Art und Weise, den Lohn zu erreichen, ist durch­einandergebracht, evtl. sind Uberstunden zu absolvieren usw.

• Die Problemsituation hat eine gesundheitliche und okologische Dimensi­on: In der StOrsituation ist das normale Funktionieren von Maschinen und Anlagen auBer Kraft gesetzt. Das hat eine verscharfte Arbeitssicher­heitsproblematik und erhohte Umweltgefahren zur Folge. Obgleich man nicht umhinkommt, diese Gesichtspunkte bei der Transformierung von Situationen in Zielsetzungen zu berucksichtigen, wird dies dennoch aus Zeit- und Kostengrunden haufig unterlassen.

• Die Problemsituation hat eine organisatorische Dimension: Dies betrifft zum einen die betrieblicherseits festgelegte Arbeitsteilung und Koopera­tion im Fall einer StOrung: Wer muB aufgrund seiner Verantwortung tlir den Produktionsablauf benachrichtigt, wer muB aufgrund seiner fachspe­zifischen Kompetenz fur die StOrfallbehebung hinzugezogen werden? Besonders bei unvorhergesehenen Ereignissen (z.B. bei plOtzlich not­wen dig werden den Konstruktionsanderungen, bei Eil- und Sonderauftra­gen, bei Personalausfall etc.) miissen aus der jeweiligen Situation heraus die adaquaten Ansprechpartner im Betrieb gefunden werden. Das be­deutet, daB im ArbeitsprozeBwissen Kenntnisse tiber die betriebliche Aufbauorganisation und tiber betriebliche Ablaufe enthalten ist, bzw. in der fraglichen Situation akkumuliert werden.

• Die Problemsituation hat eine lebensweltliche Dimension: Menschen, die bei StOrfallen zu Hilfe gerufen oder denen das Problem verschwiegen wird, sind eben nicht nur "Kooperationspartner", wie es so schon heiBt. Sie sind Vorgesetzte und Untergebene, Kollegen und Konkurrenten, mit ihren je personlichen Eigenarten und je spezifischen GruppenzugehOrig­keiten. Der in der lebensweltlichen Interaktionspraxis eingeschliffene Umgang mit Problemsituationen kann - je nach Kontext und betroffenen

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Individuen - vollig unterschiedliche Losungsansatze flir vergleichbare Probleme beinhalten: das rein individuelle Vorgehen oder die gruppen­spezifische Losung, der fach- und berufsspezifische oder der fach- und hierarchietibergreifende Ansatz, das regelwidrige oder das regelgerechte Vorgehen, die verheimlichte oder die verOffentlichte Problemsituation -das alles hat Konsequenzen nicht nur flir das Vorgehen an sich, sondem auch fur die Qualitat der Problemlosung (vgl. Volmerg u.a. 1986).

Die genannten und z.T. widerspriichlichen Gesichtspunkte konnen oft nicht im vorhinein so oder so entschieden werden. Die Schwierigkeit bei der Ent­wicklung von Zielsetzungen in der Problem situation besteht nun darin, daB eine Ti:itigkeit zunachst hinsichtlich ihres sachlichen, okonomischen und per­sonlichen Nutzens bestimmt werden muB, die Realisierbarkeit dieser ge­danklichen Vorwegnahme sich aber erst im Verlauf der Arbeitstatigkeit - also in Abhangigkeit von den dann jeweils eintretenden Situationen - herausstellt.

Auf solche widerspriichlichen Anforderungssituationen hinzuweisen, ist aus folgendem Grund wichtig: Es ist tatsachlich so, daB Lemen auf Vorrat flir solche Problemsituationen nur eingeschrankt moglich ist, denn die auf­tretenden Widerspriiche mtissen im ArbeitsprozeB selbst austariert werden. Vorgefertigte Losungen kann es schwerlich geben - Lemen im ArbeitsprozeB wird zur Notwendigkeit.

Das hierbei angewandte und akkumulierte ArbeitsprozeBwissen von In­standhaltungsfacharbeitem unterscheidet sich yom Konstruktions- und Pla­nungswissen von Ingenieuren, es geht aber auch tiber das bloBe Bedienungs­wissen von angelemten Kraften hinaus. Damit stellt das ArbeitsprozeBwissen von Facharbeitem kein sekundares, yom wissenschaftlichen (akademischen) Wissen durch didaktische Reduktion abgeleitetes Wissen dar, es hat vielmehr eine eigenstandige Qualitat. Es vermittelt den Zusammenhang zwischen den konzeptionellen Modellen der Arbeitsorganisation und der lebensweltlichen Interaktionspraxis im Betrieb, zwischen den ingenieursmaBig konstruierten Artefakten und ihren tatsachlichen Eigenarten und Marotten im Produktions­prozeB. Unserem Verstandnis nach

• ist ArbeitsprozeBwissen dasjenige Wissen, das im ArbeitsprozeB unmit­telbar benotigt wird (im Unterschied z.B. zu einem fachsystematisch strukturierten Wissen)

• wird ArbeitsprozeBwissen meist im ArbeitsprozeB selbst erworben, z.B. durch Erfahrungslemen, es schlieBt aber die Verwendung fachtheoreti­scher Kenntnisse nicht aus

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• umfaBt ArbeitsprozeBwissen einen vollstandigen ArbeitsprozeB, im Sin­ne der Zielsetzung, Planung, Durchflihrung und Bewertung der eigenen Arbeit im Kontext betrieblicher Ablaufe.4

Eberhard Ulich und Christoph Baitsch (1987, S. 516) haben auf Basis einer Langsschnittstudie gezeigt, daB die Frage, ob aufgrund einer Problemsituati­on ArbeitsprozeBwissen akkumuliert wird, nicht zuletzt davon abhangt, daB Information zur Verfligung steht, die dem Entwurf von Randlungsaltemati­yen dienen kann. Damit ist ein akutes Problem der betrieblichen Instandhal­tung in der rechnergestUtzten Produktion angesprochen: der Mangel an ar­beitsrelevanten Informationen.

Ais Grund ist hierflir an erster Stelle die Intransparenz hervorzuheben, die durch den Einsatz der Mikroelektronik und Mikroprozessortechnik her­vorgerufen wird und im Widerspruch zu bisherigen Formen erfahrungsge­leiteter Arbeit in der Instandhaltung steht. Oder wie es ein Instandhalter for­muliert:

"FrUher gab es die SchUtze - war also praktisch alles mechanisch, war 'Klappertechnik' sozusagen; heute ist es die Elektronik - es sind wesentlich schnell ere Schaltzeiten drin, man sieht nieht mehr so viel, wei! viel Software drin ist. Also frUher hat man gesehen: Mensch, da passiert noch was, hier knallt ein SchUtz, dort klackert was, ein Relais zieht an - kann man alles sehen. Reute sieht man gar nichts mehr. Man sieht am Ende mal vielleicht eine Leuchtdiode auf­leuchten - am Anfang und am Ende, was da drin passiert oder dazwischen, weiB kein Mensch."

Der zitierte Instandhalter spricht die Schwierigkeit an, in rechnergestUtzten Produktionssystemen und -prozessen Uberhaupt noch Erfahrungswerte zu tin den, die als Orientierungspunkte flir sein Vorgehen bei der Fehlerdiagnose dienen konnen. Weitere Probleme flir gewohnte Formen erfahrungsgeleiteten Arbeitshandelns sind:

• Die Verschmelzung von mechanischen, elektrischen und information­stechnischen Sachverhalten verursacht eine horizontale, fachUbergrei­fende Erweiterung des Suchraums bei der Fehlerdiagnose. Tangiert ist die fachliche Dimension von Berufserfahrung.

• Die KomplexiUit - d.h. die Vemetzung und Verkettung - rechnergestUtz­ter Produktionssysteme ist Ursache flir eine vertikale Erweiterung des Suchraums. Beruhrt ist die lokale Dimension bisheriger Arbeitserfah­rung.

4 So lautet die Arbeitshypothese des europaischen Netzwerks "Work Process Knowledge", welches es sich zum Ziel gesetzt hat, Forschungsarbeiten zu diesem Thema zusammenzu­fUhren und vergleichend zu diskutieren.

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• Die Innovationsgeschwindigkeit - d.h. die Schnelligkeit, mit der Produk­tions- und Steuerungskomponenten ausgetauscht, verandert und neu be­schafft werden - flihrt in einem Teil der Untersuchungsbetriebe dazu, daB Instandhaltungsarbeiter schlicht und einfach kaum noch Gelegenheit ha­ben, fiber einen langeren Zeitraum auswertbare Erfahrungen mit einem technischen Gegenstand oder ProzeB zu sammeln. Hier ist die zeitliche Dimension bisheriger Arbeitserfahrung angesprochen.

Erfahrung allein ist also flir die Bewaltigung von (neuartigen) Problemsitua­tionen in der rechnergestlltzten Produktion nicht hinreichend. Die fach­theoretisch fundierte Analyse der defekten Anlage allein ist jedoch eben falls nicht ausreichend: In dem durch QualifizierungsmaBnahmen erworbenen Fachwissen sind in der Regel die anschaulich gegebenen Phanomene nicht enthalten, die auf Fehlerursachen hinweisen. Der Sachverhalt, daB vom In­standhaltungspersonal in einer ganzen Anzahl von Problemsituationen keine subjektiv bedeutungsvolle Einheit von Arbeitserfahrung und Wissen (im Sinn von Fachtheorie) hergestellt werden kann, ruft solche Phanomene wie StreB, Oberforderung und auch Resignation hervor und verursacht zusatzliche Ar­beitssicherheitsprobleme.

2 Lernforderliche Eigenschaften der Informationstechnik

Computerprogramme flir berufliches Lemen, die mit dem Etikett "Lemsoftware", "Computer Based Training" oder "Multimedia" versehen sind, beinhalten meist ein Lemprogramm, von dem die Entwickler in der Re­gel annehmen, daB es flir die berufliche Arbeit des Anwenders nfitzlich ist. Entwickler besitzen jedoch im allgemeinen nur vage Vorstellungen von der Arbeit des Nutzers. Bei vie len Systemen ist offensichtlich, daB anstelle ar­beitsorientierten Lemens konventionelles Lehren (die Vermittlung von fach­systematisch strukturiertem Wissen undloder die Vermittlung von Bedie­nungswissen) als Leitidee flir die Systemgestaltung fungiert (vgl. Zimmer 1990, S. 25). Die Forderung von Werner Gerwin und Manfred Hoppe (1997, S. 107), "Arbeitsplatzmedien sollten der Ausgangspunkt flir die Reflexion fiber mediale Lemhilfen sein", ist daher hliufig nicht erflillt. Entsprechend findet sich in explizit als solche ausgewiesenen Lemsystemen meist ein Fak­ten- und Prinzip-Wissen, das kaum auf reale Arbeitsaufgaben bezogen ist, je­doch optisch und akustisch aufbereitet und in Modulform oder in Form von

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Lemwegen strukturiert ist. Lemen wird hier verstanden als Aneignung derar­tigen Faktenwissens und als Festigung durch positive Rlickmeldungen im Fall von korrekt gelosten Fragen oder Lem-Aufgaben.

Das Bedlirfnis der Entwickler, den Lerner durch die Systemgestaltung zu motivieren oder ihm eine Leistungskontrolle im Rahmen des Lemsystems zu ermoglichen, zeigt geradezu, daB die Verbindung zwischen LemprozeB und ArbeitsprozeB unterbrochen ist. Der Nutzen des computerunterstUtzten Ler­nens ist flir den Lerner nicht unmittelbar einsichtig (z.B. dadurch, daB das erworbene Wissen im ArbeitsprozeB direkt angewendet werden kann), daher scheinen Bekraftigungen des Lemverhaltens notwendig zu sein. Es hat je­doch auch Versuche gegeben, wo die Entwickler auf derartige Dressurakte behavioristischer Pragung verzichtet haben und Informationssysteme erstellt haben, ohne dem Nutzer Lemwege vorzugeben. Solehe Informationssysteme konnen zum Beispiel die schematische Darstellung einer komplexen Anlage enthalten und die Moglichkeit bieten, unterschiedliche Schichten und Dar­stellungsformen der Anlage anzuwahlen - bis hin zu Foto- und Videodar­stellungen sowie Simulationen der technischen Prozesse. Lemen wird hier verstanden als die Aneignung von Informationen auf verschiedenen Wahr­nehmungs- und Abstraktionsebenen, die der Nutzer flir seine Arbeit braucht, aber gegenwartig nicht oder nicht vollstandig parat hat. Solehe Informations­systeme konnen flir Instandhaltungsarbeiter einen hohen didaktischen Stel­lenwert besitzen: Vielfach besteht in der Problemsituation die Schwierigkeit, ein anschaulich gegebenes Fehlersymptom mit der prinzipiellen Funktions­weise der Anlage in Verbindung zu bringen. Mit Hilfe eines Arbeitsinforma­tionssystems laBt sich ein Zusammenhang herstellen zwischen dem Fehler­phanomen und den Funktionsprinzipien des technischen Systems.

Der Aufwand flir die Entwicklung derartiger Arbeitsinformationssysteme ist jedoch auBerordentlich hoch, da flir die Erstellung Experten gebraucht werden, die die betreffende Anlage sowohl ingenieurwissenschaftlich durch­dringen als auch die arbeitsrelevanten Informationen methodisch-didaktisch aufbereiten und schlieBlich als Computerprogramm realisieren konnen. Soleh einem Aufwand steht die haufige Veranderung und Emeuerung gerade jener komplexeren Anlagen entgegen, bei denen die Bereitstellung eines Informa­tionssystems im Prinzip sinnvoll ist.

Zudem entspricht das Informationssystem womoglich doch nur unzurei­chend den Lem- und Arbeitsweisen der Nutzer. Mittlerweile sind daher eini­ge Systeme fur das Lemen im ArbeitsprozeB entwickelt worden, die anstelle eines perfekt gestylten Lem- oder Informationssystems nurmehr Strukturen, Prozeduren und Bausteine zur Verfligung stellen. Diese kann der Nutzer sei­nen Bedlirfnissen gemaB definieren und anwenden. In den USA wird diese

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Entwicklungsrichtung mit dem Schlagwort "Design in Use" belegt, womit ausgedriickt sein so11, daB das endgiiltige Arbeitsinformationssystem aus dem besteht, was der Nutzer aus dem zur VerfUgung gestellten "Baukasten" ge­macht hat (vgl. z.B. Sumner & Stolze 1997). Gesichtspunkte der Systemge­staltung wie Werkzeugcharakter, Offenheit und methodisch-formale Unter­stiitzung betonen auch Michael Brater und Anna Maurus (1997, S. 38) in ih­rer Analyse multimedialen Lemens: "Urn offene Prozesse und individuelle Probleme in einem Lemprogramm zu bearbeiten, muBte man einen ganz an­deren Ansatz wahlen, in dem das Programm zum wirklichen Werkzeug fUr einen offenen ArbeitsprozeB (z.B. in einer Gruppe) wird, sich also vollkom­men auf methodisch-formale Unterstiitzung beschrankt ohne inhaltliche Festlegung."

Die damit angesprochene Entwicklungsrichtung korrespondiert mit eini­gen Konzepten und Systemen, die am Institut Technik & Bildung der Uni­versitat Bremen entwickelt worden sind.5 Fur den Bereich der betrieblichen Instandhaltung nahm die Systementwicklung folgende Ausgangslage auf: Es ist keineswegs gangige betriebliche Praxis, aus Instandhaltungserfahrungen zu lemen. Erfahrungen bei der SWrungsdiagnose und -behebung werden ge­wohnlich nicht einmal in nennenswertem Umfang festgehalten. Fur die Un­terstiitzung betrieblicher Instandhaltungsfacharbeit wurde daher ein Ar­beitsinformationssystem entwickelt, mit dessen Hilfe die Instandhalter ihre Erfahrungen bei der Fehlersuche und -behebung erstens selbst dokumentie­ren und zweitens diesen Erfahrungsschatz bei kunftigen Fehlerfallen quasi als Wissensbasis nutzen konnen. Solch ein System solI - im Unterschied zur Expertensystemtechnik - keine automatischen SchluBfolgerungen ziehen, es reprasentiert gewissermaBen das ko11ektive Gedachtnis einer Instandhal­tungsabteilung. Weil widerspriichliche Anforderungen im ArbeitsprozeB austariert werden mussen, entscheiden die Instandhalter seiber uber das Vor­gehen bei der Fehlersuche - unter Beriicksichtigung der im System hinter­legten Erfahrungen und der aktuellen Situation im Betrieb.

Es fragte sich jedoch, in welcher Form Erfahrungen dokumentiert wer­den konnen. Erfahrungen finden sich bei Instandhaltungsarbeitem in vie If al­tiger Form codiert: Das Spektrum reicht von sinnlich erfaBbaren Merkmalen technischer Phanomene oder Prozesse tiber das GefUhl der Stimmigkeit oder Unstimmigkeit bis hin zu schriftsprachlich festgehaltenen Arbeitsregeln (vgl. Fischer 1996). 1m Sinn einer kontrastiven Aufgabenanalyse (vgl. Dunckel (in

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FUr den Bereich des CAPM (Computer Aided Production Management) siehe Stuber (1997), filr den Bereich der CNC-Technik vergleiche Schlausch (1997), filr den Bereich des Elektrohandwerks vergleiche Gronwald & Haake-Dahlbeck (1995).

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Druck)) stellt ein niitzliches technisches System nicht einfach bloB die mog­lichst naturgetreue Abbildung dessen dar, was die Nutzer seIber wissen, tun und konnen. Vielmehr geht es urn eine QualiUit der Informationstechnik, die komplementar zu den Kompetenzen der Nutzer liegt. Es galt also, eine Struktur zu tinden, die davon abstrahiert, in welcher Form (ob als Satz, Bild o.a.) Erfahrungen bei einem einzelnen Instandhalter mental reprasentiert sind, und trotzdem gleichzeitig an diese Erfahrungen ankniipft.

Diese Struktur ist fUr den Bereich der Fehlerdiagnose die Ursache­Wirkungs-Kette. Sie stellt den Zusammenhang zwischen einem Fehlerpha­nomen und der letztendlichen Fehlerursache dar (siehe Abb.). Mit der Ursa­che-Wirkungs-Kette ist dargestellt, wodurch ein Fehler verursacht wurde. Das oberste Kettenglied reprasentiert das Fehlerphanomen, das unterste die zugrundeliegende Fehlerursache. Die mittleren Kettenglieder vermitteln den Zusammenhang zwischen Phanomen und Ursache. Aufgetretene Fehler wer­den im System DIADOSYS maschinenspezitisch dokumentiert. Prinzipiell soIlen nicht aIle hypothetisch moglichen Ursachen dokumentiert werden, sondem nur die tatsachlich aufgetretenen. Optional konnen diejenigen Feh­lerursachen als mogliche Ursachen (schraftiert gekennzeichnet) festgehalten werden, die im FehlersuchprozeB iiberpruft worden sind. Weiterhin konnen -durch entsprechende Icons gekennzeichnet - hinter den Kettengliedem zu­satzliche Informationen hinterlegt werden, die Reparaturanleitungen, tiefer­gehende Erklarungen oder Sicherheitshinweise enthalten. Durch Navigati­onsfunktionen (Gehe-Zu, Ubersicht etc.) ist daflir gesorgt, daB der Nutzer schnell an die Informationen kommt, die er im StOrfall benotigt.

1m AnschluB an die Fehlersuche und -behebung wird die aufgetretene StOrung yom Arbeitenden in einem separaten Systembereich dokumentiert. Eine berufsfeldiibergreifende Instandhaltergruppe iiberpruft die eingegebe­nen Fehlerfalle regelmaBig und nimmt diese anschlieBend endgiiltig in das System auf.

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Abb.: Ursache-Wirkungs-Kette und Inforrnationsfeld im System DIADOSYS

Was hat nun die (in den Partnerbetrieben erfolgte) Nutzung soleh eines Sy­stems mit Lemen im Arbeitsprozefi zu tun? Wir sehen folgende Moglichkei­ten:

• Der Instandhalter kann sich mit Hilfe von DIADOSYS berufsfeldUber­greifendes Zusammenhangswissen aneignen, das er fur die Fehlersuche benotigt, aber gerade nicht gegenwiirtig hat. Dabei handelt es sich urn ein Lemen, das unmittelbar am Arbeitsergebnis orientiert ist. Solches Lemen wird urn so eher stattfinden konnen, je mehr Fehlerfiille in das System eingegeben worden sind.

• Eine weitere Lemmoglichkeit besteht in dem Fall, wo ein aufgetretener Fehler mit Hilfe von DIADOSYS dokumentiert werden solI. FUr einige Instandhalter bedeutet es durchaus eine Lemanstrengung, das eigene Vorgehen in eine Ursache-Wirkungs-Kette zu Ubersetzen. Das Vorgehen, das zum Auffinden einer Fehlerursache gefUhrt hat, ist im Hinblick auf den zugrundeliegenden Ursache-Wirkungs-Zusammenhang noch einmal zu reflektieren. Diesem Ursache-Wirkungs-Zusammenhang spUren In­standhalter im praktischen Handeln zwar implizit nach, aber er ist ihnen keineswegs immer explizit bewufit. Hier wirkt die Systemnutzung, in-

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dem sie individuelles reflektierendes Lemen anregt, auf eine Vertiefung des Technikverstandnisses von Facharbeitem hin.

• Eine dritte Lemmoglichkeit fUr Instandhalter besteht in den regelmaBig stattfindenden Sitzungen der berufsfeldubergreifenden Nutzergruppe, wo die vorlaufig dokumentierten Fehlerfalle letztendlich in das System libemommen werden. Was bislang an Wissen in der betrieblichen In­standhaltung nur individuell zur Verfligung stand, wird hier kommuni­ziert, reflektiert und bewuBt als Erfahrungsschatz der Instandhalter kol­lektiv gepflegt.

Uber den genannten primaren Zweck hinaus - UnterstUtzung fUr das Lemen von Instandhaltem - bietet die Systemnutzung im Projekt bereits avisierte Lemmoglichkeiten fUr weitere Personenkreise:

• Es solI untersucht werden, ob auch Produktionsfacharbeiter mit Hilfe des Systems an Instandhaltungsaufgaben herangefUhrt werden konnen.

• Der Einsatz solch eines Systems in der Aus- und Weiterbildung konnte zu einer engeren Verzahnung von theoretischem und praktischem Lemen beitragen. Denkbar ist beispielsweise, daB Erfahrungen aus der betriebli­chen Praxis mit DIADOSYS dokumentiert und dann im Fachtheorieun­terricht genauer analysiert werden - z.B. im Hinblick darauf, warum eine Ursache eine bestimmte Wirkung hervorruft.

• Eine dritte Nutzungsmoglichkeit wird von einem im Projektkonsortium vertretenen Hersteller fUr Produktionsanlagen im Automobilbau unter­sucht. Hier geht es darum, DIADOSYS bei der Inbetriebnahme der An­lagen vor Ort (beim Automobilbauer) zu nutzen und die Ergebnisse an den Anlagenhersteller - zwecks konstruktiver Verbesserung der Anlagen - zurUckflieBen zu lassen.

Die lemfOrderlichen Eigenschaften eines informationstechnischen Systems zur Nutzung im ArbeitsprozeB sind daher nicht primiir darin zu sehen, daB Wissen aus der konventionellen Aus- und Weiterbildung moglichst geschickt auf ein rechnergestUtztes Medium ubertragen worden sind. In berufspadago­gischer Hinsicht kommt es sehr auf den Inhalt und die Qualitat dieses Wis­sens an. Die besondere Qualitat liegt hier im facharbeiterspezifischen Ar­beitsprozeBwissen, was Facharbeiter sich aneignen konnen, was sie pflegen und kommunizieren und woraus sie - moglicherweise uber Abteilungs- und Betriebsgrenzen hinweg - SchluBfolgerungen flir die Gestaltung von Arbeit und Technik ziehen konnen.

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3 Methodik des Systementwicklung

Ein drittes Aufgabenfeld, wo nach einem eigenstandigen berufspadagogi­schen Beitrag zu fragen ware, betrifft die Systementwicklung. Angesprochen sind vor aHem Methoden interdisziplinarer und partizipativer Technikent­wicklung.

In einer Flut von VerOffentlichungen ist in den letzten lahren zu Prinzi­pien und Entwicklungspfaden im Bereich des Software-Engineering Stellung bezogen worden (vgl. z.B. Coy u.a. 1993; ROdiger 1993; Brodner u.a. 1991; Ackermann & Ulich 1991). Die Methodik der Systementwicklung ist deshalb ein so drangendes Problem, wei! kein Arbeitsmittel so fachunspezifisch ist wie der Computer, und mit der wachsenden Anzahl der durch den Rech­nereinsatz geschaffenen technischen Moglichkeiten steigt die Zahl moglicher (und auch tatsachlicher) Arbeitspathologien. 1m Rahmen technik­entwickelnder Tatigkeiten bedarf es daher besonderer Anstrengungen, die Gestaltung des technischen Systems auf die kiinftige Nutzung im Arbeitspro­zeB zu beziehen, intendierte sowie nicht-intendierte Wirkungen zu erkennen und schadliche Effekte zu verhindem.

Die vorgebrachten Positionen zur Losung dieses Problems lassen sich insgesamt zwei gegenlaufigen Polen zuordnen: Der eine Pol besteht idealty­pisch in der Postulierung von wissenschaftlich ermittelten Kriterien sowie den Standards der Ingenieurskunst, die bei der Software-Entwicklung Be­rucksichtigung finden soHen. Die Berucksichtigung gesicherter arbeitswis­senschaftlicher Erkenntnisse, software-ergonomischer Grundsatze, soge­nannter style-guides etc. sind nur einige Stichworte.

Der andere Pol laBt sich als Forderung nach Benutzerbeteiligung kenn­zeichnen - tatsachliche oder potentielle Benutzer von Softwaresystemen sol­len moglichst friihzeitig am EntwicklungsprozeB beteiligt werden. Der im Verlauf unserer Untersuchungen entwickelte Entwicklungspfad besteht in dem Versuch, diese beiden, sich auf den ersten Blick ausschlieBenden Forde­rungen zusammenzufuhren.

Urn es vorweg zu sagen: Eine aktive Benutzerbeteiligung hat sich im Verlauf des Untersuchungs- und Entwicklungsprozesses als unverzichtbar erwiesen. Dasselbe trifft jedoch auch auf die empirische Untersuchung und wissenschaftliche Analyse betrieblicher Instandhaltungsarbeit zu. Es ist nam­lich keineswegs so, daB mit der Betonung partizipativer Ansatze der Techni­kentwicklung wissenschaftliche Forschung und professionelle Entwicklung quasi obsolet ware - gerade so, als ob der Technikentwickler sich yom zu-

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kiinftigen Benutzer nur zu sagen lassen brauchte, wie das zu entwickelnde technische System beschaffen sein soli. Ein Beispiel mag die hier angespro­chene Problematik verdeutlichen: Nicht von ungetahr ist der Gegenstandsbe­reich einer arbeitsorientierten technischen Unterstiitzung in der Instandhal­tung - ein Dokumentationssystem von Arbeitserfahrungen - durch wissen­schaftliche Analyse ermittelt worden und nicht primar von den Instandha1-tungsfacharbeitern selbst. Der Grund hierfiir liegt im Charakter der bisheri­gen Erfahrungen, die Instandhalter mit der Dokumentation von Tatigkeiten und Vorgangen gemacht haben: Die zu erledigenden oder vorhandenen Do­kumentationen (Tatigkeits"berichte" in Form von Lohnscheinen, Handbii­chern etc.) sind nicht oder nicht unmittelbar rur die Arbeit niitzlich. Das Er­stellen von Dokumentationen wird in Interviews immer wieder als "Schreiben, schreiben, schreiben" gekennzeichnet, und schon die dreifache Wiederholung dieses Wortes driickt die ganze subjektiv empfundene Sinnlo­sigkeit und Miihsal aus. Dazu kommt noch, daB die langwierige Erledigung von Eintragungen in offensichtlich personliche Unterlagen auch betriebli­cherseits nicht gerade hofiert wird - schreibende Arbeiter sind irgendwie im­mer noch verdachtig. Kurzum: Das Verhaftetsein der Instandhalter in den skizzierten Erfahrungen bef6rdert nicht unbedingt die Idee, in einer Doku­mentation von Arbeitserfahrungen die Verbesserung von Arbeitsbedingun­gen zu suchen.

Aufgabe wissenschaftlicher Analyse und Gestaltung ist es daher, Pro­bleme und Defizite bei der Organisation und Durchruhrung von Arbeitstatig­keiten zunachst einmal selbstandig zu untersuchen. AnschlieBend werden die Untersuchungsergebnisse sowie Verbesserungsvorschlage den Betroffenen in einer Form prasentiert, die es ihnen erlaubt, sich mit ihren bisherigen Ar­beitserfahrungen adaquat auseinanderzusetzen und darauf autbauend Lo­sungsansatze zu entwickeln.

Unter padagogischen und arbeitspsychologischen Gesichtspunkten emp­fiehlt sich als Bezugspunkt einer solchen Untersuchung die Arbeitsaufgabe -damit kniipft der Ansatz erfahrungsorientierten Lernens an das Prinzip der Aufgabenorientierung an. Die Bearbeitung der Aufgabe ermoglicht sinnliche Erfahrung und gegenstandliches Handeln - hier ist der Bezugspunkt zu den Prinzipien handlungsorientierten Unterrichts zu sehen. Die Reflexion der Aufgabenbearbeitung durch die Lernenden schlieBt nicht nur den Vergleich bisheriger und neuartiger Arbeitsanforderungen mit den darur benotigten Kompetenzen ein, sondern auch eine Beurteilung und Bewertung der rur die Aufgabe verwendeten technischen Mittel und Losungen. Hierin liegt der Be­zug zur padagogischen Leitidee "Mitgestaltung von Arbeit und Technik" (Rauner 1985, 1995).

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So hat es sich beispielsweise als auBerordentlich sinnvoll erwiesen, eine zentrale Aufgabenstellung zu konzipieren, diese Aufgabe (die Dokumentati­on von Fehlerfallen) zunachst konventionell (mit Papier und Bleistift oder an der Tafel) durchzufUhren und dann erst die rechnergesrutzte Umsetzung zu benutzen. Auf diese Weise konnen konventionelle und rechnergesrutzte Ar­beitsweisen und Arbeitsschritte gegeniibergestellt und verglichen werden.

Resultat einer solchen vergleichenden Beurteilung ist nicht nur ein ver­tieftes Verstandnis programmgesteuerter Funktionen, da den Teilnehmem gegenwartig ist, welche bisherigen Arbeitsablaufe in Form des Computer­programms vergegenstandlicht sind und welche neuartigen Moglichkeiten aufgrund der Rechneruntersrutzung an bisherige Arbeitsablaufe ankniipfen. Resultat sind auch Beurteilungsleistungen durch die Teilnehmer, die einer­seits Lemchancen und -erfordemisse bei neuen Organisationskonzepten und neuen Technologien umfassen und andererseits solche Anforderungen an die Gestaltung von Arbeitsorganisation und Technik enthalten, die Formen und Inhalte facharbeiterspezifischen Arbeitshandelns und betrieblichen Erfah­rungswissens beriicksichtigen.

4 Fazit

Auf dem Weg zu einer lemfOrderlichen Technik gibt es noch viele Hinder­nisse. Wenn diese angegangen werden sollen, ist eine detaillierte Analyse be­ruflicher Arbeit, ist eine padagogisch-psychologisch fundierte Stellung zu lemforderlichen Eigenschaften der Informationstechnik, ist die Methodik in­terdisziplinarer und partizipativer Technikentwicklung ratsam. Die Berufs­bildungsforschung und die berufspadagogische Praxis hat diese Aufgaben­felder im Vergleich zu anderen Disziplinen erst wenig erschlossen. Als Wis­senschaft von beruflicher Arbeit und Ausbildung akkumuliert berufs­padagogische Forschung jedoch wertvolle, bislang weitgehend brachliegende Expertise fur die interdisziplinare Technikentwicklung. Ein Ansatzpunkt be­steht in der haufig anzutreffenden Inhaltslosigkeit software-ergonomischer Kriterien, die bei der Entwicklung von Informationstechnik Anwendung fm­den sollen. Beispielsweise wirft die Frage nach der Transparenz eines Soft­ware-Programms nicht nur Probleme der Oberflachengestaltung auf, sondem beriihrt die inhaltlichen Informationen, welche die Benutzer mit unterschied­lichen Kenntnis- und Erfahrungshorizonten benotigen, urn (die auf dem Bild-

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schinn symbolisch dargestellten) Sachverhalte und Ablaufe zu begreifen. Fragestellungen also, die genuin Gegenstand berufspadagogischer Forschung und Lehre sind.

Auch zu den Problemen partizipativer Systementwicklung (eine explizite Domane von Infonnatikem) konnte berufspadagogische Forschung und Leh­re einen originaren Beitrag erbringen. Immerhin handelt es sich hierbei urn die Organisation, Anleitung und Evaluation von Lemprozessen, die Be­nutzergruppen und Entwickler bis zur Erstellung eines Softwareprodukts durchlaufen. Damit steht weiterhin die Fragestellung auf der Tagesordnung (vgl. Zimmer 1990, S. 25 f.), wie berufliche Qualifizierung und partizipative Systementwicklung starker als bislang miteinander verbunden werden kon­nen.

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Autorenverzeichnis

PD Dr. A. Backes-Haase Technische Universitat Chemnitz-Zwickau Lehrstuhl Wirtschaftspadagogik

Dr. Volker Brettschneider Universitat Gesamthochschule Paderborn Fachbereich 5 Wirtschaftswissenschaften

Dr. Martin Fischer Universitat Bremen Institut Technik & Bildung Abt. Berufspadagogik / Elektrotechnik

PD Dr. Philipp Gonon Universitat Bern Abt. Allgemeine Padagogik

Prof Dr. Ingrid B.-Lisop Johann-Wolgang-Goethe-Universitat Frankfurt Fachbereich 4 Wirtschaftspadagogik

Dr. Annette Ostendorf Ludwig-Maximilians-Universitat Mtinchen Institut fUr Wirtschafts- und Sozialpadagogik

Dr. Friedheim Schutte Technische Universitat Berlin Institut fUr berufliche Bildung, Hochschulbildung und Weiterbildungsforschung

Prof Dr. Gerald A. Straka Universitat Bremen Fachbereich 12 Forschungsgruppe LOS

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Dr. RalfTenberg Technische Universitat Milnchen Lehrstuhl fUr Padagogik

StD Arnulf Zoller Staatsinstitut fUr Schulpadagogik und Bildungsforschung Abt. Berufliche Schulen Milnchen

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