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Perspektiven kritischer Sozialer ArbeitBand 20

Herausgegeben vonR. Anhorn, DeutschlandF. Bettinger, DeutschlandH. Schmidt-Semisch, DeutschlandJ. Stehr, Deutschland

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In der Reihe erscheinen Beiträge, deren Anliegen es ist, eine Perspektive kritischer Sozialer Arbeit zu entwickeln bzw. einzunehmen. „Kritische Soziale Arbeit“ ist als ein Projekt zu verstehen, in dem es darum geht, den Gegenstand und die Auf-gaben Sozialer Arbeit eigenständig zu benennen und Soziale Arbeit in den gesell-schaftspolitischen Kontext von sozialer Ungleichheit und sozialer Ausschließung zu stellen. In der theoretischen Ausrichtung wie auch im praktischen Handeln steht eine kritische Soziale Arbeit vor der Aufgabe, sich selbst in diesem Kontext zu be-greifen und die eigenen Macht-, Herrschafts- und Ausschließungsanteile zu reflek-tieren. Die Beiträge in dieser Reihe orientieren sich an der Analyse und Kritik ord-nungstheoretischer Entwürfe und ordnungspolitischer Problemlösungen - mit der Zielsetzung, unterdrückende, ausschließende und verdinglichende Diskurse und Praktiken gegen eine reflexive Soziale Arbeit auszutauschen, die sich der Wider-sprüche ihrer Praxis bewusst ist, diese benennt und nach Wegen sucht, innerhalb dieser Widersprüche das eigene Handeln auf die Ermöglichung der autonomen Le-benspraxis der Subjekte zu orientieren. Herausgegeben von Roland Anhorn Evan-gelische Hochschule Darmstadt Frank Bettinger Evangelische Hochschule Darm-stadt Henning Schmidt-Semisch Universität Bremen Johannes Stehr Evangelische Hochschule Darmstadt

Herausgegeben vonRoland AnhornDarmstadtDeutschland

Frank BettingerBremer Inst. für Soziale ArbeitHochschule BremenBremenDeutschland

Henning Schmidt-SemischBremenDeutschland

Johannes StehrFB Sozialarbeit / SozialpädagogikEvangelische FachhochschuleDarmstadtDeutschland

Weitere Bände in dieser Reihehttp://www.springer.com/series/12405

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Margret Dörr • Cornelia Füssenhäuser Heidrun Schulze(Hrsg.)

Biografie und LebensweltPerspektiven einer Kritischen Sozialen Arbeit

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ISBN 978-3-658-03834-2 ISBN 978-3-658-03835-9 (eBook)DOI 10.1007/978-3-658-03835-9

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio-grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Lektorat: Stefanie Laux, Daniel Hawig

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HerausgeberDr. phil. Margret DörrKatholische Hochschule MainzMainz, Deutschland

Dr. rer. soc. Cornelia FüssenhäuserDr. phil. Heidrun Schulze

Hochschule RheinMain Wiesbaden Wiesbaden, Deutschland

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1Margret Dörr und Cornelia Füssenhäuser

Teil I Theoretische Perspektiven einer biographie- und lebensweltorientierten Sozialen Arbeit

Von der Widerspenstigkeit im alltäglich gelebten Leben zur widerständigen Aktion im öffentlichen Raum? Zum kritisch-utopischen Potential einer Alltags- und Lebensweltorientierung . . . . . . 25Susanne Maurer

Lebenswelt als Dimension von Forschung und Praxis einer Kritischen Sozialen Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39Michael May

Lebensweltorientierte und organisationssoziologische Perspektiven auf Organisation(en) als Beitrag einer kritischen Sozialen Arbeit . . . . . 53Klaus Grunwald

Selbst-Bildung zwischen alltäglicher Lebensführung und biografischem Sinn-Entwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69Konstanze Wetzel

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Teil II Perspektiven einer biographie- und lebensweltorientierten Forschung für eine Kritische Soziale Arbeit

Potenziale eines alltags- und lebensweltorientierten Forschens als Beitrag für ‚das Projekt einer kritischen Sozialen Arbeit‘ . . . . . . . . . . . 87Elke Schimpf

Lebenswelt und biographische Bewegungen – Überlegungen zu zwei Schlüsselkategorien der Biographieforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105Theodor Schulze

Über einige Bedingungen von biographischer Forschung als widerständiger Praktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123Johannes Stehr

Zur Relevanz biographischer Neukonzeptualisierungen. Theoretische Perspektiven zu empirischen Ergebnissen aus einer Studie zu den „Konstruktionen des Sterbens“ . . . . . . . . . . . . . . . . 141Andreas Hanses, Katrin Heuer und Kathleen Paul

Teil III Einblicke in biographie- und lebensweltorientierte Forschung und Praxis

Was mich bewegt und doch zusammenhält. Biografische Notizen zum postmodernen Körperselbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159Regina Klein

Ist das Bildung? Eine anerkennungstheoretische Perspektive auf Bildung und Benachteiligung im Kontext Kritischer Sozialer Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175Anke Wischmann

„Warum erklären die mir dann etwas über mein Leben, wenn sie es nicht leben’?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191Manuela Wresnik

Sozialreportage als Methode der sozialraumbezogenen Tiefenhermeneutik – am Beispiel städtischer Grafittikulturen . . . . . . . 209Karl-Heinz Braun, Matthias Elze und Konstanze Wetzel

Inhaltsverzeichnis

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Autorenverzeichnis

Karl-Heinz Braun Dr. phil., habil. FB Sozial- und Gesundheitswesen, HS Ma-gedeburg-Sendal, Magdeburg, Deutschland

Margret Dörr Drin. phil., Dipl. Soz., Dipl.-Soz.Päd. (FH) Fachbereich Soziale Arbeit, KH Mainz, Mainz, Deutschland

Matthias Elze B.A. Soziale Arbeit, M.A. Sozial- und Gesundheitsjournalis-mus Magdeburger Archiv für Sozialfotografie, Hochschule Magdeburg-Stendal (FH), Magdeburg, Deutschland

Cornelia Füssenhäuser Drin. rer. soc., Dipl.-Päd., Sozialarbeiterin Fachbereich Sozialwesen, HS RheinMain, Wiesbaden, Deutschland

Klaus Grunwald Dr. rer. soc. Fakultät Sozialwesen, Duale Hochschule Stuttgart, Stuttgart, Deutschland

Andreas Hanses Dr. phil., habil. Fakultät f. Erziehungswis, Technische Univer-sität Dresden, Dresden, Deutschland

Katrin Heuer Dipl.-Soz. Fakultät f. Erziehungswis, Technische Universität Dres-den, Dresden, Deutschland

Drin. phil Regina Klein FB Gesundheit und Soziales, FH Kärnten, Feldkirchen, Österreich

Susanne Maurer Drin. rer. soc. und phil. habil. Dipl.-Päd. Institut f. Erzie-hungswissenschaft, Philipps-Universität Marburg, Marburg, Deutschland

Michael May Dr. habil., Dipl. Päd. Fachbereich Sozialwesen, HS Rhein Main, Wiesbaden, Deutschland

Kathleen Paul Dipl.-Päd. Fakultät f. Erziehungswis, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland

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VIII Autorenverzeichnis

Elke Schimpf Drin. rer. soc., Dipl.-Päd. Evangelische Hochschule Darmstadt, Darmstadt, Deutschland

Dr. Theodor Schulze Fakultät für Pädagogik, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland

Dr. phil. Johannes Stehr Evangelische Hochschule Darmstadt, Darmstadt, Deutschland

Drin. phil. Konstanze Wetzel SB Gesundheit und Soziales, FH Kärnten, Feld-kirchen, Österreich

Anke Wischmann Drin. phil., Dipl. Päd. Fakultät Bildung, Leuphana Universität Lüneburg, Lüneburg, Deutschland

Manuela Wresnik Mobile Jugendarbeit, Feldkirchen/Kärnten, Feldkirchen, Ös-terreich

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Einleitung

Margret Dörr und Cornelia Füssenhäuser

© Springer Fachmedien Wiesbaden 2015M. Dörr et al. (Hrsg.), Biografie und Lebenswelt, Perspektiven kritischer Sozialer Arbeit 20, DOI 10.1007/978-3-658-03835-9_1

M. Dörr ()Fachbereich Soziale Arbeit, KH Mainz, 55122 Mainz, DeutschlandE-Mail: [email protected]

C. FüssenhäuserFachbereich Sozialwesen, HS RheinMain, 65197 Wiesbaden, DeutschlandE-Mail: [email protected]

Die beschleunigte Veränderungsdynamik der spätmodernen Gesellschaften hat dazu geführt, dass Menschen sich in neuer Weise der eigenen Selbstbildung und Identitäten durch Rückgriff auf das eigene Geworden-Sein zu versichern ver-suchen. In dem Maße, in dem die eigene Lebensgeschichte nicht mehr nur von Herkunft, Familie, langfristige Bindungen und fest gefügten sozialen Strukturen bestimmt wird, sondern allein auf einer scheinbar freien Entscheidung aufruht, die sich aus der Idee der Selbstverwirklichung speist (vgl. Günther 2002), ist die Fähigkeit des konkreten Subjekts, sein eigenes Leben von innen her zu betrachten und zu kontrollieren um es im ganzen frei und ungezwungen zu bestimmen, zu einer wesentlichen Voraussetzung geworden, will es dem Anspruch nach Auto-nomie bzw. Selbstbestimmung gerecht werden und seine Zukunftschancen erwei-tern (vgl. Dörr 2006). Damit scheint es auch glaubhaft, den Einzelnen für das Ge-lingen oder Scheitern seines oder ihres Lebens allein verantwortlich zu machen. Dies drückt sich auch semantisch in der Zunahme des Gebrauchs entsprechen-der Präfixe aus: „Eigen“- Verantwortung, „Selbst“-Management, „Ich“-AG, etc. (Bröckling 2007). Aber diese Beifügungen lassen sich ebenso in Anlehnung an Bourdieu (2001), als ein Phänomen „symbolischer Gewalt“ entziffern, durch deren Einsatz es möglich wird, dass unerträgliche soziale Existenzbedingungen auch von

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denen, die ihnen ausgesetzt, ihnen gleichsam unterworfen sind, oft als akzeptabel, selbstverständlich und „natürlich“ erlebt werden. So kann das Subjekt allein als Zurechnungspunkt seiner Lebensgeschichte gelten, ohne die gesellschaftlichen, milieuspezifischen und individuellen Voraussetzungen zur Ermöglichung von Selbstbestimmung hinreichend zu explizieren (vgl. Günther 2002).

In einer sich immer weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft, die charakteri-siert ist durch eine dauerhafte In-Fragestellung von Alltäglichkeit, die Auflösung von Routine, und vor allem den Verlust von Hintergrundsicherheit, zeigen sich für die Menschen veränderte Möglichkeiten und Risiken (vgl. Thiersch 2003). Für eine Kritische (und lebensweltorientierte) Soziale Arbeit ist daher zu klären, wel-che alten und neuen Aufgaben in einem veränderten gesellschaftlichen Raum not-wendig und sinnvoll sind? Welche Anforderungen und Gestaltungsperspektiven ergeben sich hieraus für die Soziale Arbeit als lebensweltlicher Seite des Sozial-politischen (vgl. Böhnisch 1999)? Und: Zeigt sich nicht hier gerade die Möglich-keit und Notwendigkeit der Kritik, der kritischen Aufklärung gesellschaftlicher Bedingungen und Verflechtungen, einer deutlicheren Betonung des gesellschafts-kritischen Momentes neben der notwendigen Orientierung an der Subjekthaftigkeit des Menschen?

1 Anmerkungen zum Konzept „Biographie“

Die Soziale Arbeit versucht sich dieser notwendigen Orientierung an der Subjekt-haftigkeit des Menschen durch eine intensivierte Integration biographischer Pers-pektiven in Theorie und Praxis anzunähern, wodurch biographische Prozesse als Bewältigungsaufgabe von Individuen als Lern-, Ressourcen- und Krisenpotenzial gewürdigt werden (vgl. Alheit 1995). Eine solche fundamental prozess- und inter-aktionsorientierte Perspektive bildet den Ausgangspunkt für eine sowohl Kritische wie biographiesensible Soziale Arbeit (vgl. Schulze 2011). Mit ihrem Nachdenken über Biographie als eine „Zentralkategorie Sozialer Arbeit“ (Hanses 2004, S. 3) knüpft eine biographieorientierte Soziale Arbeit an Denktraditionen der Arbeiten insbesondere aus der Chicago-Schule wie der frühen Psychoanalytische Pädagogik aus den 1920er und 1930er Jahre an, die der Bedeutsamkeit des lebensgeschichtli-chen Geworden Seins von aktiv handelnden und realitätsverarbeitenden Subjekten bereits einen hohen Rang eingeräumt hatten. Sie konzentriert sich auf Primärdaten subjektiven Erlebens, sozialen Handelns und interpersoneller Kommunikation, z. B. in Form autobiographischer Lebensgeschichten. Damit geht eine biographie-orientierte Soziale Arbeit davon aus, dass die subjektive Perspektive von Menschen auf ihr eigenes Leben Aufschluss gibt über die Art der Wirklichkeitskonstruktio-nen und auf die Art der Reproduktion oder Variationen von gesellschaftlichen Re-

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geln und Strukturen: Menschen erzählen über ihr eigenes Leben oder schreiben ihre Autobiographie und erinnern dabei Ereignisse, Erlebnisse und Erfahrungen selektiv, verleihen Ereignissen bestimmte Bedeutungen und konstruieren damit ihre Biographie. Diese ist leibbezogen, subjektiv, gruppengebunden, bruchstück-haft und befindet sich in einem beweglichen Kontinuum zwischen Wahrnehmung und Interpretation, zwischen sinnlichem Eindruck und symbolischem Ausdruck, zwischen Tradition und Transformation. In unterschiedlichen Kulturen werden unterschiedliche psychische Strukturen ausgebildet, offensichtlich auch, weil An-gehörige dieser Kulturen in ihrem Leben je spezifische und somit unterschiedliche Erfahrungen sammeln, unterschiedlich darüber sprechen, jeweils geformt von ge-sellschaftlichen Diskursen und ihren Tabuisierungen (vgl. Dörr et al. 2008; Erd-heim 1984). So gilt zwar der Akt des Erinnerns als ein intimes, individuelles Phä-nomen, das eng verwoben ist mit der jeweiligen Situation und der Befindlichkeit des erzählenden Subjekts. „(A)ber der kulturelle Kontext, in dem die individuelle Leistung des Erzählens möglich wird, bleibt der maßgebenden Bezugspunkt, in-sofern als nicht nur die verbalen, sondern auch die bildlich-anschaulichen, weiter-gehend aber ebenso die leiblich-körperlichen Repräsentationsformen als Medien der Erinnerung formuliert werden“ (Dörr et al. 2008, S. 5; vgl. insb. Haug 1990).

Erzählungen über sich und die Welt können somit als biografische Arbeit ver-standen werden, bei der eine lebenslang notwendige Auseinandersetzung, Bearbei-tung und Ausbalancierung pluraler und widersprüchlicher sozialer Anforderungen und eigener Impulse stattfindet (vgl. Alheit 1995). Bereits das Erinnern1 ist als ein kommunikativer Prozess anzusehen. Indem das Individuum im Prozess des Aufwachsens an einer gruppenspezifischen Kommunikation teilnimmt, erwirbt es soziale und kulturelle Schemata zur Deutung seiner Erfahrungen, die dort zirkulie-ren, auch wenn die Erfahrungen im Prozess der eigensinnigen Aneignung indivi-dualisiert werden.2 Das Bedürfnis nach Gruppenzugehörigkeit erzwingt, sich diese Muster anzueignen. Selbst wenn es sich „seine eigenen Gedanken macht“, ent-geht es deren Einfluss nicht. Stets liefern die zirkulierenden Muster den „Rahmen“

1 In diesem Zusammenhang ist auch die derzeitige neurowissenschaftliche Gedächtnis-forschung zu sehen, die Erinnern grundsätzlich als ein Prozess des (Re)Konstruierens be-trachtet. Dieser Prozess hat eine materiale (neuronale), dynamische Matrix, was beinhaltet, das eine ständige Verarbeitung vorhandener Erinnerungsspuren stattfindet (vgl. Haubl 1999, S. 17 ff.).2 Diesen Sachverhalt versucht Michail Bachtin (1979) mit seiner ‚Theorie der Dialogizität‘ zu erfassen. Für ihn ist das Subjekt weder nur psychologisch noch nur soziologisch, sondern „dialogisch“ konstituiert (vgl. Welzer 2008). Das Selbst des Individuums ist per se polyphon, da es sich innerlich mit alternativen Perspektiven eines historisch-kulturellen Kontexts kon-tinuierlich auseinandersetzen muss. Diese Auseinandersetzung findet somit auf einer inneren Kommunikationsbühne statt (vgl. Bachtin 1979, S. 183).

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(Goffman 1977), den jedes Mitglied berücksichtigen muss, weil seine Lebens-geschichte andernfalls kommunikativ nicht anschlussfähig ist (vgl. Haubl 2008). Das Erinnern ist keine monologische Tätigkeit, sondern findet immer schon sozial vermittelt statt: zum einen beteiligen sich Mitmenschen als Adressat_innen an der Konstitution von Erinnerungen, zum anderen erzeugen sie als Co-Erzähler_innen, vor allem, wenn es sich um miterlebte Ereignisse handelt, die Erinnerungen und damit die Erzählungen mit (vgl. Haubl 2008, S. 200).

1.1 Professionelle als Co-Erzähler_innen von Biographien

Konsequent zu Ende gedacht verweist dies darauf, dass im Feld berufstätigem Handeln auch jene mit Macht und Kompetenz ausgestatteten Expert_innen mit ihren in Kategorien sedimentierten Theoriebeständen (z. B. als psychiatrische Dia-gnosen) als Co-Erzähler_innen an den Selbstdeutungen von Erfahrungen und Er-leben von Adressat_innen (allzu häufig unheilvoll) mitwirken. Die Macht dieser Theoriebestände liegt darin, dass sie gesellschaftlich anerkannt, wissenschaftlich legitimiert und durch institutionelle Verfahren abgestützt sind (Riemann 1987, S. 448). In vielen Lebenserzählungen lassen sich – wie Riemann eindrucksvoll am Beispiel von Lebensgeschichten psychisch erkrankter Menschen rekonstruiert – Verinnerlichungen essentieller und ontologischer Terminologien in das eigene autobiografische Kategoriensystem finden, die als „Fremdwerden der eigenen Bio-grafie“ (Riemann 1987) wirksam werden.

Biographien sind als „soziale Orte“ ernst zu nehmen, als Orte, wo gesellschaft-lich vorgegebene Regeln zur Organisation des Lebenslaufs und deren „eigensin-nige“ Aneignung und Brechung durch die Individuen zusammentreffen. Für eine sich als kritisch verstehende Soziale Arbeit ist damit aber auch das Wissen darum verbunden, dass eine biographieorientierte Soziale Arbeit nicht per se machtfreiere Interaktionen mit ihren Adressat_innen eröffnet: Als Deutung und Handlung, als einseitiger oder gemeinsamer Erkenntnisbildungsprozess bleibt auch sie unwei-gerlich an institutionelle Aufträge und konkrete Lebenslagen der Hilfesuchenden gebunden (vgl. Schulze 2010). Die Erzählsituation ist auch in diesem Kontext eine soziale Situation, die von den Beteiligten gemeinsam hergestellt wird. Aus den Arbeiten von Devereux (1973/1998) können wir zum einen wissen, dass die/der Professionelle/Forscher_in auch als interessegeleitet handelnde Person präsent bleibt und dass ein Bericht, den sie/er zu hören bekommt, „niemals mit dem iden-tisch sein kann, den derselbe Berichterstatter einer anderen Person gibt“ (Deve-reux 1973/1998, S. 29). Auch Bourdieu (1990) verweist auf die „unterschiedlichen Märkte“ auf denen Lebenserzählungen präsentiert werden und die Anpassung der

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„Selbstpräsentationen“ je nachdem, ob es sich um die „private Austauschformen zwischen Bekannten und der dementsprechend Logik des Vertrauens“ (Bourdieu 1990, S. 79) handelt oder von diesen geschützten Märkten entfernt: „die Lebens-erzählung wird sich in Form und Inhalt nach der sozialen Qualität des Marktes unterscheiden, auf dem sie angeboten wird“ (Bourdieu 1990). Die Selbstthemati-sierungen der Adressat_innen werden in das Bezugsystem professioneller Logiken übersetzt (Gildemeister 1989). Das heißt: Über kommunikative Praktiken werden zwischen den Beteiligten Wissensbestände zugleich verwendet und generiert, so dass mikrosoziologisch und damit interaktionsanalytisch betrachtet eine interakti-ve Fallformung entsteht (vgl. Schulze und Loch 2010). Folglich hat eine, sich als kritisch verstehende, Soziale Arbeit auch die institutionellen Ebenen ihres Han-delns unter einer machttheoretischen Perspektive zu beleuchten.

Eine Annäherung ist möglich, indem jene Steuerungsfunktion von Institution für die Lebensführung von Menschen in den Blick genommen wird, die Alois Hahn (1987) als „Biographiegenerator“ bezeichnet hat. Mit guten Gründen weist Peter Alheit (2000) darauf hin, dass sich unter einer gesteigerten Notwendigkeit von individueller „selbstreferentieller Verarbeitung sozialer Erfahrung“ (Alheit 2000, S. 158) institutionelle Rahmungen, eben auch von professioneller Sozialer Arbeit, ebenfalls dem Prozess der Selbstreflexivität unterziehen müssen.3 Diese Bemerkungen heben hervor, dass eine kritische und biographieorientierte Soziale Arbeit, die zur Förderung einer biographischen Reflexivität ihrer Adressat_innen beitragen und somit ein breiteres Spektrum an (auch widerständigen) Handlungs-möglichkeiten mit ihnen eröffnen will, sich ebenso darüber ein reflexives Wissen verschaffen muss, in welcher Weise sie selber, als Motor biographischer Selbst-thematisierung, Erfahrungen, Erlebnisse und Leidensprozesse der Adressat_innen selektiv und nach bestimmten Schemata thematisiert und so (mit)prozediert (vgl. Hahn 1988). Auch die Machteffekte des eigenen Tuns – bei dem sich Machtstruk-turen auf dem Hintergrund unhinterfragter Wissenskonzepte realisieren – sind zu thematisieren (vgl. Traue 2010). Entsprechend fordert Hanses (2004, 2010) im Rückgriff auf die subjektkritische Macht- und Diskurstheorie Foucaults eine sozia-le Praxis der „Epistemologie unterdrückter Wissensarten“, die den biographischen Eigensinn der Adressat_innen berücksichtigt. „Institutionelle Hilfeprozesse sollten sich demnach dem kontinuierlichen selbstkritischen Hinterfragen der eigenen Pra-xis stellen. Zu fragen ist: Wer spricht? Wer definiert? Welche Erfahrungen wer-den erzählt? Welche nicht? Wie werden Geschichten produziert?“ (Schulze 2011, S. 294).

3 „Wenn nämlich der Verarbeitungsmodus bestimmter Problemlagen vor allem durch die selbstreferentielle Kapazität der Betroffenen beeinflusst wird, dann müssen sich ‚institutio-nelle Umwelten‘ verändern, dann wird institutionelle Selbstreflexivität zur Basisvorausset-zung professionellen Handelns.“ (Alheit 2000, S. 162).

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1.2 Forscher_innen und Praktiker_innen als Dialogpartner_innen

Aber, auch wenn sich eine biographieorientierte Kritische Soziale Arbeit darüber bewusst bleibt und reflexiv zu beachten beansprucht, dass die jeweils „gemeinsam ausgehandelten Geschichten, die biografisch sichtbar werdende Realität, durch den gegenwärtigen ordnenden Rahmen mit geformt“ werden (Egger 2013, S. 50), so gilt es auf eine weitere Belastungsprobe für professionelles Handeln aufmerksam zu machen. Haben sich Professionelle der Sozialen Arbeit die Aufgabe gestellt mit Menschen zu arbeiten, die sich einer sozialen Zugehörigkeit nicht (mehr) sicher sein können, die zugleich in ihren Interaktionsfähigkeiten, das heißt in ihrer Be-ziehung auch zum eigenen Selbst gestört worden sind, ist es erwartbar, dass sie mit Entsetzen und/oder Verstörung erzeugenden Narrationen konfrontiert werden. Verbunden ist damit insbesondere das Risiko, als Praktiker_innen (und auch For-scher_innen) im eigenen, Sicherheit gebenden Selbst- und Weltverhältnis durch die Konfrontation mit den Abgründen menschlicher Existenz erschüttert, zumin-dest verunsichert zu werden. Dieses Erschütterung und Verunsicherung wahrzu-nehmen und auszuhalten, ist eine grundlegende Bedingung, dem eigenen profes-sionellen Anspruch nahe zu kommen – hierzu gehört auch für die Erzählenden zum/zur Dialogpartner_in zu werden und diesen so die Erfahrung zu ermöglichen, dass sie mit ihren (mit)geteilten Inhalten nicht ins Leere laufen. Doch, so wie es den Adressat_innen oftmals nur durch einen Sprung in die Verleugnung möglich wird, das eigene ‚Person Sein‘ zu retten (vgl. Leferink 1997), so „retten“ sich auch die Praktiker_innen/Forscher_innen – gleich einer Kollusion – ebenso mit Hilfe von Abwehrhaltungen vor den, sowohl in die Erzählung eingebetteten als auch sie aktuell begleitenden unerträglichen Affekten und verlieren damit die notwendige Fähigkeit zum aktiven Zuhören. Somit geraten die Adressat_innen genau in die für sie prekären Lage, die es doch von einer professionellen Praxis Sozialer Arbeit ursprünglich aufzuhalten bzw. entgegen zu steuern gilt: sich anderen nicht mehr „mit-teilen“ zu können (vgl. Dörr 2004, S. 133). Hierin zeigt sich, dass das Credo von Devereux (1973/1998, S. 124) auch eine notwendige Prämisse für die For-schung und Praxis Kritischer Sozialer Arbeit ist: „Begriffene Angst ist eine Quelle der Gelassenheit, der Kreativität und damit auch guter Wissenschaft“. Die Wahr-nehmung, das ‚Aushalten‘ und die Dechiffrierung eigenen Entsetzens, übermächti-ger Affekte (Angst, Ekel, Ärger, Trauer, Grauen, Verachtung etc.) und daraus resul-tierender Antworten ist ein Konstituens für ein hinreichend gelingendes Gespräch.

Die Ermunterung ihrer Adressat_innen, ihre (Er-)Lebens-, Erfahrungs- und Leidensgeschichten zu erzählen, ermöglicht den Professionellen Sozialer Arbeit Einblick in die subjektive Bedeutungsvielfalt von scheinbar objektiven biographi-schen Daten, wie sie erlebt wurden und welche Bedeutung diese aktuell im Kon-

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text von Widersprüchen und Konflikten und deren Bewältigungsaktivitäten haben (vgl. Schulze 2011). Denn gerade weil das Erzählen von Lebensgeschichten die (Rück-)Gewinnung von Sinn im eigenen Leben trotz eines und mit einem Leiden möglich machen kann, weil gegenwärtige Erinnerung aus dem Gewesenen auch ‚vergessene‘ Optionen eines zukünftigen Entwurfs ent-bergen kann, müssen Pro-fessionelle und Forscher_innen der Sozialen Arbeit für den praktischen Vollzug eines Dialogs nicht nur einen geschützten äußeren Rahmen bereit stellen, sondern im Prozess des aktiven Zuhörens für die Konstituierung eines inneren Raumes sich verantwortlich zeigen können (vgl. Dörr 2004).

Der Einblick in Lebensgeschichten von Adressat_innen kann eben nicht allein der Ambition zur (Re)Konstruktion sozialtypischer Verlaufskurven und/oder einer handlungsschematischen Typenbildung und/oder einem (Er)Finden der Fallstruk-turierungsgesetzlichkeit geschuldet sein. Beziehungen – auch professionelle Be-ziehungen – zeigen sich unausweichlich in gemeinsam gestalteten Inszenierungen, wobei mit Inszenierung gemeint ist, dass erzählte Lebensgeschichten – als Darstel-lungen des gelebten Lebens, intimen Leidens, der Ängste, Freude, Widersprüche und Wünsche usw. – in Szenen erfolgt, und dies im Zusammenspiel mit einem Gegenüber. Ein Sich-Begreifen kann sich nur am und mit anderen vollziehen. Erst im Miteinander-‚Sprechen‘ (das zugleich Handeln ist) realisiert sich eine Selbst-konstitution, ein Bildungsprozess des Subjekts. Insofern ist es für eine biographie-orientierte Praxis und Forschung Sozialer Arbeit erforderlich, auch jene von Spra-che abgekoppelten Verhaltensentwürfen in den Darstellungen der Akteur_innen wahrzunehmen, und sie gleichsam ‚zum Sprechen‘ zu bringen. So ein ‚Sehen im bildhaften Sprechen‘ liegt vor einer Abstrahierung der Rede: gerade aus diesem Grunde gilt diese Form des Sprechens als Subversion der Rede, bleiben doch Phan-tasien darin immer gegenwärtig (Lorenzer 1970). Das Bestreben der Professionel-len hätte dann darin zu liegen, die Inszenierungen gemeinsam in Worte zu fassen (Lorenzer 1970). Das ‚Zu-Wort-Bringen‘ von verborgenen Bedeutungen einer Rede gehört zur Aufgabe und muss die kritische Absicht einer forschungsbasierten, biographieorientierten Sozialen Arbeit sein,4 wenn eine ‚Passung’ zwischen dem Bedarf, den Sinnhorizonten, den Erfahrungen der Akteur_innen einerseits und den (Aufforderungs-)Strukturen und Angeboten der Institutionen andererseits gelingen soll.

Betrachten wir Biographie als lebensgeschichtlich erworbenes „Wissen“, von Menschen, als ein Wissen, dass sich im alltäglichen (Er)Leben im Prozess des

4 (Selbst-)Reflexion ist nicht allein als Äußerungsform diskursiven Verstandes zu begreifen – enthält doch Reflexion die Bedeutung des Spiegelns als Zurückwerfen von Bildern. Damit geht es auch um ein sehendes Erkennen und „imaginierendes Vorausgreifen“ (Bloch 1972, S. 389f).

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Aufwachsens in den Leib einschreibt, und als bewusste und unbewusste Deutungs-muster von sich und der Welt das Handeln/Verhalten formiert, dann ist zugleich im Blick zu halten, dass die Entwicklung des gesellschaftlichen ‚Organismus’ der Entwicklung und Besonderung der nachwachsenden Generation und ihrer Denk-muster logisch und faktisch voraus geht. Ohne die kooperativen Prozesse, in denen Menschen ihre kulturellen, sozialen und materiellen Existenzbedingungen (re)pro-duzieren, kann es weder individuelle Existenz (Individualität) noch Gesellschaft geben. Biographie ist nicht von der Frage zu trennen, wie Individuen im Prozess ihres Selbst- und Welt-Verständnisses in unterschiedlicher und intim-eigensinniger Weise auf den gesellschaftlichen Symbolvorrat zurückgreifen können, um eigene Orientierungen zu entwickeln und ihre Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen zum Ausdruck zu bringen. In der Weise wird einsichtig, dass Biographie und Lebens-welt als zwei miteinander verwobene Kategorien zu begreifen sind. Nicht als zwei getrennte Entitäten, die äußerlich zusammengefügt werden, sondern die als ein bewegliches Figur-Hintergrund-Verhältnis betrachtet werden können. Im Konzept der Biographie wird ein Blick auf die Interdependenzen von Subjekt- und Struktur-perspektive (vgl. Alheit 2000) aus der Subjekt-Perspektive möglich.

Dagegen befasst sich das Konzept der Lebenswelt mit diesen Interdependenzen von Subjekt- und Strukturperspektive stärker aus der Perspektive der objektiven Dimension bzw. der gesellschaftlich-objektiven Rahmenbedingungen und deren Schnittstelle mit subjektiven Deutungs- und Bewältigungsmustern.

2 Anmerkungen zum Konzept der Alltags- und Lebensweltorientierung

Aufgrund ihrer Relevanz für die Profession wie für die Disziplin Sozialer Arbeit erfolgt im Weiteren eine knappe Rekonstruktion der Alltags- und oder Lebenswelt-orientierung und ihrem Insistieren auf einer Kritischen Soziale Arbeit.

Die Alltags- und Lebensweltorientierung ist eine seit den 1970er Jahren zu-nehmend ausdifferenzierte, zugleich jedoch nicht strittige Fokussierung Sozialer Arbeit (vgl. Füssenhäuser 2011, S. 1651). Eine alltags- und lebensweltorientierte – und dabei immer zugleich kritische – Soziale Arbeit orientiert sich an den Ad-ressat_innen Sozialer Arbeit, an ihren Deutungen ihrer Verhältnissen sowie ihren lebensweltlichen Anstrengungen Raum, Zeit und soziale Bezüge zu gestalten. Sie bezieht sich dabei gleichermaßen auf individuelle, subjektbezogene wie auf gesell-schaftliche Bedingungen (Füssenhäuser 2011, S. 1651). Die Adressat_innen sind hierbei „eingebunden in vielfältige Widersprüche zwischen verfügbaren Ressour-cen und problematisch belastenden Lebensverhältnisse, zwischen gekonnten und

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ungekonnten Bewältigungsleistungen, Resignation, Hoffnung, Borniertheit des Alltags und Aufbegehren gegen diese Borniertheit“ (Grunwald und Thiersch 2011, S. 854). Eine lebensweltorientierte Soziale Arbeit verfolgt dabei sowohl einen be-schreibenden als auch einen normativen Zugang und hat dabei den Anspruch, auf die Probleme von Adressat_innen so einzugehen, wie sie sich in der Lebenswelt darstellen, um Menschen eine bessere, gelingendere Lebenswelt zu ermöglichen (vgl. Füssenhäuser 2011, S. 1651).

Das Konzept schließt dabei auch an alte Traditionslinien an, die im Horizont der frühen (bürgerlichen) Frauenbewegung, der Jugend- und Arbeiterforschung, oder der Reformpädagogik entwickelt wurden und insgesamt sehr deutlich das Bild gegenwärtiger moderner Sozialer Arbeit, ihre Etablierung, Verberuflichung und Institutionalisierung angeregt haben (vgl. Grunwald und Thiersch 2011, S. 856). Eine Öffnung zu alltags- und lebensweltorientierten Fragen wie sie für die So-ziale Arbeit im Übergang der 1970er zu den 1980er Jahren deutlich wurde, zeigte sich zudem ebenso in weiteren Disziplinen wie z. B. in der kritischen Psycholo-gie, der kritischen Kriminologie oder auch der Sonderpädagogik (vgl. Grunwald und Thiersch 2011). Von daher ist zu konstatieren, dass sowohl die Dominanz des Alltagsbegriffs in unterschiedlichen theoretischen Debatten als auch das Interesse der Profession Sozialer Arbeit an einer stärkeren Handlungsorientierung und ihre Selbstkritik an einer Überpädagogisierung des Lebens durch die Profession selbst zur Durchsetzung und zur theoretischen Differenzierung der Alltags- und Lebens-weltorientierung beitrugen.

Anliegen dieser Einleitung ist die Re-Vergewisserung, die Wiederaufnahme, aber auch Weiterführung des Alltagsdiskurs‘, der Sozialen Arbeit. Erinnert und an-geknüpft wird hierbei an die Anfänge, Grundbegriffe und Grundbestimmungen, aber auch an disziplinäre und professionelle Entwicklungen einer alltagsorientier-ten Sozialen Arbeit. Eine kritische Rekonstruktion der Diskussion zugrundeliegen-der Traditionen und Begriffe erscheint uns unabdingbar, damit ein Diskurs ent-stehen kann, der unterschiedliche Theorielinien und Gedankenstränge produktiv zusammenführt – diese dabei jedoch nicht subsumiert – und dadurch Raum für neue Verknüpfungen, für veränderte Perspektiven und weiterführende Fragestel-lungen schafft.

2.1 Alltag: Begriffs- und theoriegeschichtliche Erinnerungen

Im Zeichen der Alltagswende wird die Bedeutung der Erziehungswirklichkeit des Lebens, wie bereits bei Dilthey formuliert, wieder aufgenommen. Die hermeneu-tisch-pragmatische Tradition, dass jegliche Theoriebildung von der konkreten Pra-

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xis auszugehen hat, bildet dabei den Hintergrund für die Frage nach dem Alltag und wird anhand der phänomenologisch-interaktionistischen Tradition der Analyse der Lebenswelt im Anschluss an Schütz (1991), Berger und Luckmann (1980) und Goffman (1977) ausdifferenziert.

Eine alltags- und lebensweltorientierte Soziale Arbeit benötigt immer auch eine kritische Gesellschaftstheorie, da erst durch diese, die „Erziehungswirklichkeit“ nicht nur phänomenologisch beschrieben, sondern kritisch hinterfragt und de-konstruiert werden kann. Da Alltag und Alltäglichkeit nicht allein aus sich heraus zu verstehen sind, sondern nur in biographischen, sozialen und gesellschaftlichen Kontexten, geht die Alltags- und Lebensweltorientierung – im Anschluss an Kosik und Bourdieu – davon aus, dass Alltäglichkeit ein Verhältnis zur konkreten gesell-schaftlichen Wirklichkeit ist. In diesem Kontext versteht auch Thiersch Alltag als Möglichkeit zur Befreiung aus „Ausbeutung“, als Möglichkeit in der „der Mensch sich zugleich mit anderen selbst realisieren kann“ (Thiersch 1986, S. 34, aber auch 2003) und das, obwohl gerade im Alltag der Mensch auch zum „Opfer seiner Auf-gaben und Routinen“ wird (Thiersch 1986). Kurz: Im Alltag liegt kritisches Poten-tial, Protestpotential.

Insbesondere die frühen Arbeiten von Hans Thiersch zur Alltags- und Lebens-weltorientierung (Thiersch 1978, 1986) veranschaulichen sehr pointiert die Mehr-deutigkeit des Alltags, der im Anschluss an Karel Kosik mit dem dialektischen Begriff der „Pseudokonkretheit“ eingefangen wird. Die Welt der Pseudokonkret-heit ist die Welt, in der der Mensch sich täglich bewegt, in der er „alltägliche“ Er-fahrungen macht.5 Alltag so verstanden und in Zusammenhang gesehen mit Marx‘ Vorstellung der Erscheinungsformen, „die den inneren Zusammenhängen entfrem-det“ sind (Kosik 1976, S. 8) ist, einerseits befangen in der „Täuschung“ und Ver-schleierung der hinter der Erscheinung liegenden Bedingungen. Andererseits zeigt sich im Alltag auch das Wesen der Welt der alltäglichen Erfahrungen, dieses aber ist durch die „Erscheinung vermittelt“ und nicht unmittelbar ersichtlich (Kosik 1976, S. 9). Gerade diese zweite Seite, dass sich im Alltag auch das Wesen zeigt, ist unabdingbar für ein kritisches Alltagskonzept der Sozialen Arbeit. Alltag wird verstanden „als Praxis, als Handeln, das im Kampf gegen strukturelle und soziale Entfremdung zu Verhältnissen führt, in denen der Mensch sich zugleich mit ande-ren selbst realisieren kann“ (Thiersch 1986, S. 34 f.). In der Doppelbödigkeit des Alltags in der das Subjekt aufgrund der alltäglichen Handlungszwänge immer wie-der zum Opfer seiner Routinen und unfrei wird, realisiert sich dabei immer auch

5 Zur Welt der Pseudokonkretheit gehören „die Welt der äußeren Erscheinungen (…); die Welt der Versorgung und Manipulation (…), die Welt der geläufigen Vorstellungen“ als Pro-jektion äußerer Erscheinungen im Bewusstsein und die Welt der quasi natürlichen Objekte, deren eigentlich gesellschaftliche Bedingtheit verschleiert bleibt (Kosik 1976, S. 9).

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die Option der Befreiung und Selbstrealisation des Subjekts aus diesen Zwängen (vgl. Thiersch 1986). Diese Ambivalenz wird von Thiersch aufgenommen und zum Begriff des „gelingenderen Alltags“6 erweitert. Ein gelingenderer Alltag braucht einerseits die Destruktion des Pseudokonkreten, die kritische Suche nach Einen-gungen und Begrenzungen des Alltags durch Routine und Sorge,7 die die Offen-heit und positiven Möglichkeiten des Alltags erschweren. Er benötigt jedoch auch Momente der Entlastung und Pragmatik (vgl. Thiersch 1986, S. 36 f., 2003). In der Prämisse, dass Alltäglichkeit nicht nur Entlastung, sondern immer auch Offenheit und Widersprüchlichkeit bedeutet und in dieser Ambivalenz gelingenderen Alltag (vgl. Thiersch 1986, S. 38) ermöglicht, zeigt sich ein zentrales Moment der Le-bensweltorientierung: Alltag enthält immer auch nicht-sichtbare Protestpotentiale und verdeckte Hoffnungen. Demzufolge moniert die kritische Alltagstheorie die Gefahr, Verhältnisse als unveränderbar hinzunehmen und nicht zur Diskussion zu stellen. „Die ‚Pseudokonkretheit‘ (Kosik 1967) von Lebenswelt ist angelegt auf eine ‚Destruktion‘ im Namen der in ihr angelegten Entwürfe, Erwartungen und Hoffnungen für einen gelingenderen Alltag. Gegenüber der philosophisch und er-kenntnistheoretisch immer wieder eingeforderten rigiden Trennung von Sein und Sollen insistiert das Konzept Lebenswelt darauf, dass im Gegebenen das Bessere, Mögliche angelegt ist“ (Grunwald und Thiersch 2011, S. 856).

Gesellschaftliche Realität zeigt sich auch in der Welt des Alltags: in den alltägli-chen Normalitätsmustern. Das Handeln im Alltag ist für Menschen gewissermaßen selbstverständlich. Diese „scheinbare“ Realität kann und muss aufgebrochen wer-den durch die Einsicht in ihre Bedingtheit und/oder in ihre – als selbstverständlich angenommenen – strukturellen Vorgaben, wie bereits in Bourdieus (1993) Begriff der „Doxa“ angelegt. Bourdieu differenziert hierbei zwischen der Doxa – als der Welt, in der der Mensch agiert, die durch Selbstverständlichkeiten und Routinen geprägt ist – und dem Habitus als Sozialisationsbegriff, der die Übernahme des Ge-sellschaftlichen in das Leibliche des Individuum hinein markiert (vgl. Bourdieus 1993).

6 Ohne im Rahmen dieser Darstellung dezidiert darauf einzugehen sei an dieser Stelle an Mi-cha Brumlik (1995) erinnert, der die Einführung des Begriffs des „gelingenderen Alltags“ als einen „menschenfreundlichen Schmuggel“ bezeichnet, mit dem es gelungen sei, die, durch den zunehmenden Einfluss der Sozialwissenschaften auf die Pädagogik, zerstörte Utopie der Pädagogik gewissermaßen durch die Hintertüre wieder hereinzutragen.7 Sorge ist, im Anschluss an Kosik, subjektiv transponierte Wirklichkeit des Menschen, sie ist das elementare Muster, in dem „die Ökonomie für den Menschen existiert“ (Kosik 1976, S. 62). Sorge ist somit nicht physischer Zustand, sondern gesellschaftlich vermittelte Wirk-lichkeit.

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Als Korrespondenzen zwischen der Alltagstheorie und dem Habituskonzept von Pierre Bourdieu können folgende Aspekte benannt werden (vgl. Bourdieu 1993):

• Der Habitus erhält das Bestehende, die Routinen: er ist zweite Natur. Die im und hinter dem Habitus hervorscheinenden Strukturen sind die Prädispositionen dafür und werden als solche immer wieder reproduziert. Dieses Wechselspiel individueller und strukturierender Momente kann in Analogie gebracht werden zum Begriff der Alltäglichkeit als Vermittlungsmoment zwischen gesellschaft-lichen Strukturen und subjektiven Verständnis- und Bewältigungsmustern (vgl. Thiersch 1992, S. 47).

• Der Habitus bildet sich im Handeln und orientiert sich an unbewussten Hand-lungs- und Deutungsmustern, die die Alltagswelt bestimmen, so wie der Habi-tus das Handeln selbst prägt. Die Alltagstheorie interessiert sich von daher pri-mär für die Selbstdeutung von Menschen hinsichtlich ihrer Lebensbedingungen und Schwierigkeiten.

• Der Habitus wirkt sich aus in den Lebensstilen: dem Habitus als „System verinnerlichter Strukturen gemeinsamer Wahrnehmungs-, Denk- und Hand-lungsschemata“, die die Praxis im Feld, z. B. die Muster der kulturellen Re-präsentation erzeugen und organisieren und so vor allem auch körperliche Ausdrucksformen wie Gestik und Mimik formen. Vergleichbare Überlegungen finden sich in der Alltagstheorie in den Ausführungen zur Prägung von Alltäg-lichkeit durch zeitliche, räumliche und soziale Erfahrungen.

Im Anschluss an die Alltags- und Lebensweltorientierung kann der Begriff des Alltags als zentrale Prämisse einer Kritischen Sozialen Arbeit verstanden werden, die darauf zielt „das Vorhaben der Emanzipationspädagogik in die Konkretheit von Alltag voranzutreiben“ (Thiersch 1986, S. 13). Eine solchermaßen fokussierte Soziale Arbeit beschränkt sich nicht auf die Institutionen- und/oder Gesellschafts-kritik, sondern nimmt die alltäglichen Erfahrungen der Adressat_innen „in ihrem Eigensinn“ auf (Thiersch 1986). Der Alltag des Einzelnen in seinen Widersprüchen und (verschütteten) Hoffnungen wird zum kritischen Bezugs- und Ausgangspunkt der Sozialen Arbeit, im Sinne einer bewältigungsorientierten Unterstützung zur „Selbsthilfe“ (vgl. Grunwald und Thiersch 2011, S. 856.).

2.2 Zentrale Begriffe

Die Begriffe Alltag und Lebenswelt bezeichnen dezidiert unterschiedliche Ebenen der Betrachtung, deren Differenzierung in der öffentlichen Fachdiskussion und

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Rezeption häufig ausgeblendet bleibt. Während der Alltagsbegriff der sozialwis-senschaftlich-sozialphilosophischen Tradition näher steht, werden mit dem Begriff der Lebenswelt primär phänomenologische Traditionen (Husserl) oder krisendiag-nostisch sozialphänomenologische (Habermas) assoziiert (vgl. hierzu ausführlich Lippitz 1992). Strenggenommen bleibt dadurch der Begriff der Lebenswelt in sei-ner sowohl ontologisch-invarianten Seite als auch in seiner kulturell vermittelten sozialstrukturell flexiblen Seite mehrdeutig und widersprüchlich – er erweist sich indes gerade dadurch krisendiagnostisch als anschlussfähig (Lippitz 1992). Die hermeneutisch-pragmatische Tradition der Sozialpädagogik wird aber durch All-tagskonzepte auf der Folie phänomenologischer und interaktionistischer Analysen zu Alltag und Lebenswelt weitergeführt und im Licht einer kritischen Alltagsre-zeption geöffnet.

Der Begriff des Alltags zielt auf das pragmatische Handeln im Unmittelbaren und bezieht sich auf die unmittelbaren räumlichen, zeitlichen und sozialen Erfah-rungen von Subjekten: Der Begriff des Alltags markiert so ein vertrautes und als sicher erlebtes Feld – er meint nicht neue oder zufällige Erfahrungen. Krisenerfah-rungen von Menschen, mit denen Soziale Arbeit zentral konfrontiert ist, entstehen im Zusammenbrechen alltäglicher Handlungsmuster und Sicherheiten oder auf-grund unzureichend routinisierter Bewältigungs- und Lösungsmöglichkeiten.

Dagegen bezeichnet der Begriff der Alltagswelten (des Alltagslebens) die unter-schiedlichen Situationen und Konstellationen (z. B. Familie, Berufe, Schule usw.), in denen alltäglich gehandelt wird – der Terminus bezeichnet einen empirisch operationalisierbaren phänomenologischen Begriff. Zur strukturellen Betrachtung dieser Alltagswelten wird im Kontext der Lebensweltorientierung der Begriff der Lebenswelt verwendet.

Das kritische Potential der Alltags- und Lebensweltorientierung wird daher ins-besondere im Begriff des Alltags deutlich. Er verweist sowohl auf konkrete Le-bensverhältnisse als auch auf real bestehende Produktionsverhältnisse. In und mit dem Alltagsparadigma wird demnach die Subjekthaftigkeit und Befindlichkeit des Menschen mit der Sozialstruktur verknüpft und kann so zum Ausgangspunkt kri-tischer Analyse und De-Konstruktion werden. Dabei gilt es auch Widerständigkeit und Protestpotential zu mobilisieren gegen sozialstrukturelle Zumutungen, die sich nicht in Routinen auflösen lassen, um so – im Sinne einer kritischen Alltagstradi-tion – zu einer deutlicheren Betonung des gesellschaftskritischen Momentes neben der notwendigen Orientierung an der biografisch verankerten Subjekthaftigkeit des Menschen zu kommen. Vor diesem Hintergrund stellen die Autor_innen dieses Bandes auch die Frage, worin sich das kritische Moment der Alltags- und/oder Lebensweltorientierung zeigt, aber auch in welchem Verhältnis zu gesellschafts-theoretischen und polit-ökonomischen Fragestellungen sie sich selbst sieht.

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3 Zu den einzelnen Beiträgen

Ausgangspunkt unserer Überlegungen zu diesem Band bildeten Fragen, wie z.B. in welcher Weise unterschiedliche und möglicherweise konkurrierende theoreti-sche Perspektiven auf „Lebenswelt“ und „Biografie“, in ihren Verschränkungen von strukturellen Gegebenheiten und subjektiven Deutungen (oftmals unreflek-tiert) Einfluss haben auf die Rekonstruktion sozialer Sinnwelten von Menschen und welche Potentiale hinsichtlich einer Kritischen Sozialen Arbeit damit auf- und/oder verschlossen werden können? Wie wird dabei die Verflechtung zwischen den Relevanzen der Akteure und den konkreten historischen, politischen, ökonomi-schen und institutionellen etc. Gegebenheiten berücksichtigt? Wie können wir Forschung – als einen machtvollen intersubjektiven Prozess – so betrachten, dass hierbei auch die selbsterzeugten Blindstellen mit in den Blick geraten? Und nicht zuletzt: Wie werden diese durch die am Forschungsprozess beteiligten Akteure einschließlich der gesellschaftlichen Diskurse mit erzeugt und in welcher Weise können sie re- und dekonstruiert werden?

Die hier abgedruckten Beiträge wenden sich diesen Fragen – in drei themati-sche Perspektiven untergliedert – zu.

4 Theoretische Perspektiven einer biographie- und lebensweltorientierten Sozialen Arbeit

Susanne Maurer verknüpft in ihrem Beitrag „Von der Widerspenstigkeit im all-täglich gelebten Leben zur widerständigen Aktion im öffentlichen Raum? Zum kritisch-utopischen Potential einer Alltags- und Lebensweltorientierung“ Studien und Reflexionen zwischen ‚Theorie, Empirie und Methodologie‘ und fragt mit diesen nach dem Eigensinn der Subjekte und dem alltäglich gelebten Leben. Sie bewegt sich dabei in ihrem Beitrag vor der Folie feministischer Subjekt-Diskurse sowie der machtanalytischen Überlegungen von Foucault und verbindet diese mit einem Blick auf die Kritische Alltagstheorie von Karel Kosik, der es ihr ermög-licht das kritisch-utopische Potential des Alltags freizulegen und Alltag in seiner Dialektik zwischen Strukturkategorie und historischer Kategorie aufzuschließen. Der Autorin ist es dabei ein Anliegen eine Perspektive der Kritik zu entwickeln, die „elastisch“ bleibt und offen ist für die vielfältigen Wirklichkeiten und mehr-deutigen Wirksamkeiten von sozialen Politiken und Sozialer Arbeit.

Michael May zeichnet in seinem Artikel „Lebenswelt als Dimension von For-schung und Praxis einer Kritischen Sozialen Arbeit“ die Potenziale der differen-ten Lebensweltbegriffe von Edmund Husserl und Alfred Schütz für eine Kritische