Peter Janich-Was Ist Wahrheit

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  • in der Beckschen Reihe

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  • Obgleich Wahrheit ein Thema der Philosophie seit ihrenhistorischen Anfngen war, haben sich, mit besonderem Ge-wicht in der Gegenwart, Wahrheitstheorien als eigenesphilosophisches Teilgebiet unseres Jahrhunderts etabliert, seitin der Philosophie der sogenannte linguistic turn stattgefun-den hat. Auslser dieser Wende waren einerseits das verstrk-te Auseinanderdriften von Philosophie und den sogenanntenexakten Wissenschaften (vor allem Mathematik und Physik),andererseits die Entwicklung, da diese modernen Wissen-schaften den Philosophien traditionelle Zustndigkeiten streitigmachten, um sogleich, in begriffliche Grundlagenkrisen ge-ratend, neue philosophische Fragen und Probleme zu produ-zieren.

    Galt Wahrheit seit der Antike als etwas Absolutes und Un-umstliches, unabhngig davon, ob der Mensch Wahrheit zuerkennen vermag oder nicht, so findet der Wahrheitssuchendeheute einen Dschungel von Anstzen, Vorschlgen, Antworten,Problematisierungen und Skeptizismen. In dieser Situationwhlt der Marburger Philosoph Peter Janich einen Mittelwegzwischen Absolutheitsanspruch und bloem Relativismus, dener die kulturalistische Lsung nennt. Denn bei der Besin-nung auf die Mglichkeit des Erkennens von Wahrheit stelltsich heraus, da die Menschheit nicht am Nullpunkt derWahrheitssuche steht, sondern da das Fragliche immer rela-tiv zum praktisch Bewhrten zu sehen ist. Zugleich stellt sichheraus, da die Wahrheit kein menschenunabhngiger Selbst-zweck ist, sondern da sie Menschen dazu dient, sich in derWelt einzurichten und zurechtzufinden: In der kulturalisti-schen Sicht wird Wahrheit vom Selbstzweck zum Mittel.

    Peter Janich, geboren 1942, ist Professor fr Philosophie ander Universitt Marburg. Viele seiner zahlreichen Verffentli-chungen gelten der Philosophie und Geschichte der Naturwis-senschaften. Im Verlag C. H. Beck erschienen Wissenschafts-theorie und Wissenschaftsforschung (Hrsg.), 1981; EuklidsErbe. Ist der Raum dreidimensional? 1989; und Grenzen derNaturwissenschaft. Erkennen als Handeln (BsR 463), 1992.

  • Peter Janich

    WAS ISTWAHRHEIT?

    Eine philosophische Einfhrung

    Verlag C.H.Beck

  • OriginalausgabeISBN 3 406 41052 9

    2. Auflage. 2000Umschlagentwurf von Uwe Gbel, Mnchen

    C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung (Oscar Beck), Mnchen 1996Gesamtherstellung: C. H. Becksche Buchdruckerei, Nrdlingen

    Printed in Germany

    Die Deutsche Bibliothek CIP-Einheitsaufnahme

    Janich, Peter:Was ist Wahrheit? : eine philosophische Einfhrung /Peter Janich. Orig.-Ausg. 2. Aufl. Mnchen :Beck, 2000

    (C. H. Beck Wissen in der Beckschen Reihe ; 2052)ISBN 3 406 41052 9

  • 5Inhalt

    I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

    1. Wissen, was Wahrheit ist? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72. Wahrheit Alltagsproblem oder

    Philosophenerfindung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123. Das Programm: Orientierung an der Frage

    Wozu Wahrheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

    II. Historische Erblasten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

    1. Sprachphilosophische Wahrheitstheorien.Wahrheit nach dem linguistic turn . . . . . . . . . . . . 26

    2. Satzwahrheit und Wirklichkeit: Abbildtheoriender Wahrheit als methodisches Problem . . . . . . . . . 30

    3. Die Wahrheit von Stzen und die Bedeutungvon wahr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

    4. Lust und Last der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

    III. Wahrheit und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

    1. Die Erfindung von Wissenschaft in der Antike . . . . 582. Wahrheit als technikgesttzte Erfahrung . . . . . . . . . 613. Logik und Erfahrung in der Wissenschaftstheorie 674. Wissenschaftliche Wahrheit als Handlungserfolg 74

    IV. Wahrheit als Mittel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

    1. Die Wozu-Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 972. Kleine Handlungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 993. Kleine Sprachphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1034. Begrnden und Widerlegen: Der Diskurs als

    Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1105. Kohrenz: Handlungsspielrume und

    Argumentationsanfnge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1176. Heiligt der Zweck die Mittel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

  • 6V. Zusammenfassung: Rationalittskriteriender Wahrheit als Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

    Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

    Namenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

    Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

  • 7I. Einleitung

    1.Wissen, was Wahrheit ist?

    Die Frage Was ist Wahrheit? wird gern als die rhetorischeFrage von Pilatus an Jesus (Joh. 18, 38) zitiert, um zumindestauf die Schwierigkeiten gerechter Urteilsbildung, wenn nichtgar skeptisch auf die Unmglichkeit von Wahrheitsfindunghinzuweisen. Und die Frage wird blicherweise in dem dop-pelten Sinne verstanden, da sie nach der Wahrheit eines be-stimmten, einzelnen Urteils fragt und zugleich die allgemeineFrage nach der Bestimmung des Wahrheitsbegriffs selbst auf-wirft. In der Offenheit oder Skepsis, die beim Zitieren der Pi-latus-Frage mitschwingt, mag nicht nur die Lebenserfahrungzum Ausdruck kommen, wie schwierig oder unmglich esmanchmal sein kann, ein Urteil zu fllen zumal, wo es umSchuld oder Verdienst anderer Menschen oder um Parteinah-me in einem Streit geht; es mag darin auch eine diffuse Be-frchtung zum Ausdruck kommen, es knne vielleicht garkein Wissen geben, das eine Beantwortung der Frage nachdem Wahrheitsbegriff leistet.

    Ein Buch mit dem Titel Was ist Wahrheit? mu in einerBuchreihe mit dem Serientitel Wissen die Befrchtung aus-lsen, Unmgliches zu wollen jedenfalls, wenn der Serien-titel Wissen z. B. auf thematisch wohlbegrenzte Ergebnisseder Natur- oder der historischen Wissenschaften verweist. Istdie Erwartung berechtigt, es knnte zum Begriff der Wahrheitin hnlicher Weise ein philosophisches Wissen geben, das, dis-ziplinr beschrnkt und nach Methoden kanonisiert, wie dasWissen der Naturwissenschaften etwa ber die Sonne oderber Psychopharmaka, oder das Wissen der historischen Wis-senschaften etwa ber die rmische oder die jdische Ge-schichte, von einem Fachmann bersichtlich und verstndlichnur noch dargestellt werden mte?

    Die Tatsache, da Philosophie im Laufe der Universittsge-schichte zu einem institutionell klar begrenzten, eigenen Lehr-fach geworden ist, und die Tatsache, da in dieser Universi-

  • 8ttsdisziplin vor allem Philosophiegeschichte gelehrt wird, le-gen wohl fr die meisten Interessenten an der Philosophie(sofern sie selbst keine professionellen Philosophen sind) dieVermutung nahe, es knnte ein solches kanonisches philo-sophisches Wissen von der Wahrheit geben und zwar alsdie Philosophiegeschichte des Wahrheitsproblems. Immerhinschiene eine solche Erwartung die Autoritt von Aristotelesauf ihrer Seite zu haben, wonach Philosophie in erster LinieTheorie oder Wissenschaft von der Wahrheit sei. Und siedrfte sich darauf berufen, da auch ein groer Teil der pro-fessionellen Philosophen keinen Unterschied zwischen Philo-sophie und Philosophiegeschichte macht wie schon Imma-nuel Kant beklagte: Es gibt Gelehrte, denen die Geschichteder Philosophie (der alten sowohl, als neuen) selbst ihre Phi-losophie ist (Prolegomena zu einer knftigen Metaphysik,die als Wissenschaft wird auftreten knnen, 1783).

    Die Erwartung, die Frage nach der Wahrheit liee sich ausder Hand des professionellen Philosophiehistorikers als Lehr-buchwissen in Form einer Philosophiegeschichte genauso be-antworten wie Was-ist-Fragen nach der Materie, der Neurose,der Revolution oder dem Roman, ruft vor allem bei Anhn-gern der Natur- und Technikwissenschaften Skepsis hervor.Ihnen erscheint die Vielfalt der historischen Lehrmeinungenprimr als Zerstrittenheit der Philosophen, denen kein Er-kenntnisfortschritt vergleichbar dem der naturwissenschaft-lich-technischen Fcher gelungen sei. Hufig wird auch derGegenstand der Philosophie oder das Fehlen empirischer undmathematischer Methoden fr deren angeblichen Mierfolgverantwortlich gemacht. Deshalb sei die Erwartung verfehlt,es knne ein allgemein anerkanntes Wissen ausgemacht wer-den davon, was Wahrheit sei.

    Dem naturwissenschaftlichen Skeptiker gegenber der Phi-losophie ist jedoch einfach zu begegnen: Ihm sollte nmlichschon der Hinweis gengen, da ein Vergleich von Natur-wissenschaften und Philosophie selbst kein Thema der Natur-wissenschaften sein kann, also selbst nicht nach den Kriterienund mit den Methoden entschieden wird, denen die Natur-

  • 9wissenschaften ihren Erfolg verdanken; vielmehr macht sichder naturwissenschaftliche Skeptiker gegenber der Philoso-phie mit dieser Skepsis selbst zum Philosophen und setzt sichdamit der philosophischen Nachfrage nach Klarheit undWahrheit seiner Einschtzungen von Wissenschaft und Philo-sophie aus. Der Skeptiker kann, bei ernsthafter berlegungseiner eigenen Meinungen zur Philosophie, feststellen, da erfalsche Erwartungen an die Philosophie richtet, wenn er vonihr fertige Antworten im Sinne eines positiven Wissens er-hofft, das nach angebbaren Kriterien gilt; und von diesen Kri-terien ihrerseits erwartet, sie sollen zumindest in dem Sinnefeststehen, da sie tatschlich von der Gemeinschaft der Ex-perten eines Faches anerkannt sind. Solche Erwartungen ver-danken sich keiner naturwissenschaftlichen Erkenntnis, son-dern einem philosophischen Irrtum.

    Anders liegen die Verhltnisse, wo Philosophie mit Philoso-phiegeschichte verwechselt wird. Der Geisteshistoriker nm-lich, der die philosophische Frage nach der Wahrheit in derhistorischen Abfolge der Antworten durch frhere Autorenbeantwortet sehen mchte und dies als philosophisches Wis-sen wertet, ist weit schwieriger davon zu berzeugen, da ersich selbst ein gravierendes philosophisches (und nicht einphilosophiehistorisches) Problem eingehandelt hat. Immerhinlt sich jedem philosophisch Interessierten erklren, daschon die Rede von Philosophiegeschichte insofern zweideutigist, als das Wort Geschichte sowohl Geschehen als auch Ge-schichtsschreibung bedeutet und damit die Frage zult, wel-ches (historische) Wissen die Geschichtsschreiber ber vergan-genes Geschehen zusammentragen und als (systematisches)Wissen ausweisen knnen. Selbstverstndlich fllt dem Laienwie dem Fachmann an Beispielen wie der Entstehung unseresSonnensystems oder der Evolution von Pflanzen und Tierendie Unterscheidung von Geschehen und wissenschaftlicherGeschichtsschreibung leichter als im Falle der Philosophiege-schichte. Im ersten Fall nmlich ist dieses Geschehen Natur,die Wissenschaft davon aber eine menschliche Kulturleistung.Im zweiten Fall jedoch ist das Geschehen vergangenen Phi-

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    losopherens selbst nur in der Form hinterlassener philosophi-scher Texte zugnglich. Fr die Frage, ob es ein philoso-phisches Wissen von der Wahrheit geben knne, hat dies zurFolge, da die Beschreibung philosophischen Geschehens zurInterpretation philosophischer Texte wird, die ohne eigenesPhilosophieren nur schwer mglich scheint und somit dieGrenze zwischen Philosophieren und Philosophiegeschichte-Schreiben verwischt.

    Demgegenber bleibt festzuhalten, da die Auseinander-setzung mit Texten verstorbener Autoren hufig werdenauch lebende Autoren mit ihren Texten interpretiert undbehandelt, als seien sie bereits verstorben, d. h. nicht mehr be-fragbare Mitglieder einer kommunizierenden Gemeinschaft eine Flle von begrndeten Entscheidungen verlangt: Selbst-verstndlich ist erstens die Auswahl von Autoren als philo-sophisch, klassisch oder einschlgig zu treffen und inwahren Urteilen zu begrnden. Es sind zweitens die ausge-whlten Texte zu verstehen, zu interpretieren, was bekannt-lich als weiteres Wahrheitsproblem das der richtigen oderwahren Interpretation aufwirft. Schlielich wird dem Philoso-phiehistoriker drittens kein Text selbst das Urteil abnehmenknnen, ob denn die Vorschlge des Autors zum Problem derWahrheit ihrerseits zustimmungsfhig seien.

    Mit anderen Worten, wer aus der Philosophiegeschichte(jetzt im Sinne von Geschehen anhand ihrer Spuren in phi-losophischen Bibliotheken) lernen will, was Wahrheit sei,mu allemal schon fhig sein, wahre Urteile ber die Unter-scheidung von Philosophen und Nicht-Philosophen, ber ihrhistorisches und systematisches Gewicht, ber Ziel und Inhaltihrer Werke und ber die Einlsung oder Verfehlung ihrerAnsprche fllen zu knnen das heit, er mu schon einphilosophisch begrndetes Urteil ber eine groe Flle un-terschiedlicher Wahrheiten und Wahrheitstheorien zur Verf-gung haben. Ganz zu schweigen davon, da die uerstschwierigen Probleme, etwa geistesgeschichtliche Entwicklun-gen oder gar Verursachungen festzustellen, anspruchsvollstewenn nicht gar hufig unlsbare Aufgaben sind. Dabei ist

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    dann noch nicht einmal die Frage berhrt, ob die philo-sophiehistorischen Antworten, so sie denn gefunden wrden,etwas z. B. fr alltgliche Erwartungen an Klrungen desWahrheitsproblems in der eigenen Urteilsfindung und Lebens-fhrung austragen knnten. Nicht berhrt sind dabei auchFragen des Urteils, wie mit den modernen Wissens- undWahrheitsproduktionen durch die Wissenschaften umzugehensei, die den philosophischen Wahrheitstheoretikern immervoraus-, wenn nicht gar immer davonlaufen.

    Darf man also erwarten, es gbe ein dann selbstverstnd-lich lehr- und lernbares Wissen als Antwort auf die FrageWas ist Wahrheit?. Es spricht alles dafr, da Philosophie-geschichtsschreibung als Doxographie, d. h. als Beschreibungvon Meinungen von Autoren nach dem Vorbild natur-wissenschaftlicher oder historischer Wissensbestnde, ein sol-ches Wissen nicht bereitstellt. Philosophieren kann und nachMeinung des Autors: sollte als Reflexionsbemhung begrif-fen werden, die Sinn und Zweck nicht in ihrer eigenen Ge-schichtsschreibung hat, ja nicht einmal erst durch ihren histo-rischen Ort im Philosophie-Geschehen erhlt (als ginge es nurum dessen Fortsetzung als eine Art von Selbstzweck), sondernin vorgefundenen Problemen und Versuchen ihrer Lsungfindet. Philosophie ist eine Reflexionsdisziplin, das heit, inharmloser Formulierung, ein Nachdenken ber das eigeneHandeln und Reden und, wenn selbst mit Wahrheitsan-sprchen verknpft, notwendigerweise ein sich in der Sprachevollziehendes Nachdenken. Reflektieren heie diese Ttigkeit,weil sich das Reden auf das Reden selbst (und das im Redenzum Ausdruck kommende Erkennen, aber auch Erinnern,Planen usw.) zurckbezieht.

    Philosophieren als Reflexionsdisziplin hat vieles gemeinsammit dem Turnen: Man kann Turnern zusehen und dabei vielber das Turnen lernen, z. B. sogar, ber das Turnen in einerFachterminologie kompetent zu sprechen. Aber vom Zusehenlernt man nicht das Turnen selbst. Erst die eigene bungmacht den (mehr oder weniger groen) Meister. Und nochweiter geht diese hnlichkeit: Dabeisein ist alles! Der Genu,

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    die Kr des Weltmeisters als Zuschauer zu verfolgen, ist nichtzu vergleichen mit der Freude, in eigenen Versuchen auch nurden kleinsten Erfolg zu haben.

    In einer Unterscheidung, die heute in vielen Bereichen vonder Wissenschaftstheorie bis zur Soziologie und Psychologiegelufig geworden ist, lt sich hier auch von einer Teil-nehmer- und einer Beobachterperspektive sprechen. Danachlt sich Philosophieren so wenig wie Turnen nur aus derBeobachterperspektive (des Philosophiehistorikers) erlernen,sondern verlangt das Einnehmen der Teilnehmerperspektive und dies heie hier: selbst aktiv teilzunehmen, selbst zu den-ken, eigene Entwrfe und Gedanken dem Risiko des Schei-terns auszusetzen und dadurch dazuzulernen. (Es wird sichspter vgl. S. 99 zeigen, da damit nicht ein modischer,psychologisierender Aufruf gemeint ist, sich einzubringen,sondern vielmehr eine systematische, erkenntnistheoretischeMaxime, die aus dem Zusammenhang von Wahrheit undHandlung gerechtfertigt wird. Nur wer die Rolle des Zu-schauers, des Theoretikers, ablegt und selbst handelt, er-wirbt Wissen am Gelingen oder Milingen von Versuchenphilosophischer Problemlsung.)

    Damit hat sich die Eingangsfrage, ob es ein Wissen gebenknne, das auf die Frage Was ist Wahrheit? antwortet, aufdie programmatische Aufgabe verschoben, statt eines aufsag-baren philosophiehistorischen Lehrbuchwissens eher Fertig-keiten und Dispositionen zu vermitteln, Fertigkeiten der logi-schen und begrifflichen Analyse von Wahrheitsfragen sowieDispositionen und Kompetenzen der Urteilskraft.

    2. Wahrheit Alltagsproblem oder Philosophenerfindung?

    Die programmatische Aufgabe, Philosophierenknnen zu ver-mitteln, mu das Problem bewltigen, wo ein Philosophierenber die Frage Was ist Wahrheit? anzusetzen hat, auf wel-ches Ziel hin sie zu unternehmen und mit welchen Mitteln sievoranzubringen ist. Wenn aus den genannten Grnden als An-fang die historisch vorgefundenen Klassikertexte und als Ziel

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    deren hermeneutische Bewltigung ausscheiden, weil sie daszu Leistende als geleistet bereits in Anspruch nehmen, bleibtimmer noch als philosophisches Problem, da schon das au-erwissenschaftliche und auerphilosophische Alltagslebenjeden Menschen in vielfltiger Weise mit Wahrheitsproblemenkonfrontiert. So nimmt ja bereits der kindliche Erwerb derFhigkeit zu lgen in Anspruch, da eine Person absichtsvollbehauptet, wovon sie annimmt, da es nicht wahr ist. (berdas genauere Verhltnis von Wahrheit und Wahrhaftigkeit der Lgner verletzt ja primr ein Gebot der Wahrhaftigkeit wird noch zu handeln sein.)

    Das Alltagsleben kennt aber nicht nur die Lge, sondernauch den Schwur, an dem sich manche Aspekte entdecken las-sen, die das Wahrheitsproblem nicht als philosophische Er-findung, sondern als lebenspraktisches Alltagsproblem zu er-kennen geben. Diese Aspekte im folgenden nachzuzeichnendiene der Vorbereitung der Frage, wozu die Menschen ber-haupt der Wahrheit bedrfen, genauer, was der Zweck wah-rer oder falscher menschlicher Rede ist und welche Zweckeverfolgt werden, wenn die Wahrheit oder Falschheit menschli-cher Rede selbst zum Gegenstand von Rede wird. Die Wozu-Frage an die Wahrheit in ihren lebenspraktisch wichtigenAspekten wird zum systematischen Anfang des hier zur Teil-nahme herausfordernden Philosophierens gewhlt. Dies solldem vorliegenden Buch seinen eigenen (und vielleicht eigen-tmlichen) Charakter geben. Dem Leser soll damit der Er-werb eines philosophischen Wissens erffnet werden, das sichnicht als anwendungsfreies Bildungswissen erweist, sondernfr das der Sitz des Wahrheitsproblems im Leben selbst An-fang und, in begrifflicher Klrung, auch Zweck ist. AuchPhilosophie und die Wissenschaften knnen nach ihrem Sitzim Leben befragt werden. Deshalb wird bei der Diskussiondes Wahrheitsproblems im Alltagsleben auch der Anfang da-fr gemacht, auf die akademische Philosophie und die wissen-schaftliche Wahrheit zu kommen.

    Doch nun zum Schwur: Formeln wie Schwren Sie, dieWahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die

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    Wahrheit! sind bekannte (wenn auch nicht dem derzeitigendeutschen Recht entsprechende) Aufforderungen, vor einemGericht durch einen Schwur zu bekrftigen, da man dieWahrheit sagt. Das Beschwren der Wahrheit von Behaup-tungen (in dem Sinne, da der Schwrende bekrftigt, zu sa-gen, was er nach bestem Wissen selbst fr wahr hlt) gehtwohl bis auf die Anfnge des Rechtswesens zurck und wirdhistorisch als Selbstverfluchung fr den Fall gedeutet, da derSchwrende wissentlich die Unwahrheit sagt. Angerufen wer-den dabei Instanzen wie gttliche Autoritt oder das Ansehender eigenen Ahnen.

    Die bis in das heutige Rechtswesen hinein gebte Praxis desSchwrens ist ein wichtiges Beispiel dafr, da nicht erst inphilosophischen berlegungen das behauptende Reden selbstzum Gegenstand einer (beurteilenden) Rede wird. Im Schwurliegt vielmehr eine altehrwrdige, institutionalisierte Formauerphilosophischer Wahrheits- bzw. Wahrhaftigkeitsfest-stellung vor (wobei Wahrhaftigkeit nur mit Bezug auf dasfr wahr Gehaltene auftreten kann, also einen Wahrheitsbe-griff vorausssetzt). Der Schwur ist durch religise, gesell-schaftliche oder rechtliche Normen bewehrt und gibt ein gutesBeispiel dafr, da auch auerhalb theoretisch-philosophi-scher berlegungen eine Unterscheidung von Sprachebenenpraktiziert wird, hier die Sprachebene etwa einer Zeugenaus-sage und die der schwrenden Bekrftigung und damit Beur-teilung ihrer Wahrheit.

    Das Beispiel des Schwures kann zeigen, da die Absichtenund Zwecke einer Rede ber die Wahrheit von Rede demUmstand Rechnung tragen, da alles, was wahr sein kann, lei-der auch falsch sein kann. Und jeder kompetente Alltags-sprecher wei, da Rede falsch sein kann aus hchst ver-schiedenen Grnden, z. B. aus unverschuldeter Unwissenheit,aus fahrlssigem Irrtum oder auch aus absichtlicher Lge.Da schon bei den ersten aus dem Alltagsleben stammendenBeispielen die Gegenstze zu wahr etwa falsch, irrtm-lich und gelogen auftauchen, verweist auf eine Spannung,die das gesamte Wahrheitsproblem durchzieht: Wie verhalten

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    sich die persnliche Wahrhaftigkeit eines Sprechers, seineAbsichten und Wnsche oder sein Wissen zur Wahrheit seinerBehauptungen, wenn, einem gelufigen Verstndnis nach,Wahrheit gerade unabhngig von den persnlichen Absichtenund Wnschen des Behauptenden sein soll? Und wie steht esdabei mit seinem Wissen, eventuell auch mit der Mglichkeitund der Pflicht, ein bestimmtes Wissen in einer bestimmtenSache zu haben? Und wie verhlt sich sein individuelles, per-snliches Wissen zu einem generellen, ffentlichen, allgemeinanerkannten Wissen, oder gar zu einem wissenschaftlichenExpertenwissen?

    Diese Bemerkungen mgen belegen, da es nicht etwa ersteine Erfindung philosophischer Wahrheitstheorien ist, dasWahrheitsproblem zu diskutieren, sondern da schon das tg-liche Leben von der harmlosen Beurteilung eines Reisebe-richts bis zur gerichtlichen Entscheidung ber die Wahrheitder Aussagen eines Angeklagten neben dem behauptendenReden offensichtlich auch einen eigenen Bereich des beurtei-lenden Redens ber das Reden bentigt und auch kennt. DasWahrheitsproblem und seine Klrung haben also in diesemSinne einen Sitz im Leben.

    Die Schwierigkeit, die Frage nach der Wahrheit zu errtern,besteht nun keineswegs darin, da es keine Antwort gbe; siebesteht vielmehr darin, da es viel zu viele Antworten gibt.Das zumindest hat die Philosophiegeschichtsschreibung zeigenknnen, und auch der Schul- und Meinungsstreit modernerWahrheitstheorien ist ein Beleg dafr.

    Dieses berangebot an Antworten mu fr sich genom-men noch kein schlechtes Zeichen fr deren mangelndeQualitten sein. Schon jeder philosophische Laie kann schnellalltgliche Beispiele fr unterschiedliche Typen oder Formenvon Wahrheiten nennen. Der Zeugenbericht durch unmittel-bare Wahrnehmung eines Augenzeugen verdankt sich anderenKriterien als eine Erzhlung vom Hren-Sagen, eine Berech-nung anderen als ein Bezug auf allgemein anerkannte Mei-nungen, eine Messung anderen als eine Schtzung, usw. Einesolche Unterscheidung von Kriterien, die die Beurteilung einer

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    Zeugenaussage leiten, ist unter anderem Gegenstand von so-genannten philosophischen Wahrheitstheorien. Damit sindaber jetzt bereits drei Sprachebenen unterschieden, nmlicherstens die einer Zeugenaussage, zweitens die einer Diskussionber deren Wahrheit (oder manchmal Wahrhaftigkeit) unddrittens die (theoretische oder philosophische) Klrung derMittel, mit denen auf der Ebene 2 ber eine Behauptung derEbene 1 entschieden wird.

    Leider kommt es noch schlimmer: Auf der Ebene 3 zeigensich nmlich tiefgreifende Auffassungsdifferenzen zwischenverschiedenen Philosophien, so da sogar noch eine Sprach-ebene 4 eingenommen werden mu, will man sich ein Urteilber konkurrierende Wahrheitstheorien der Ebene 3 bilden.

    Wie schwierig eine Orientierung in wahrheitstheoretischenProblemen im Zusammenhang dieser vier Sprachebenen seinkann, zeigt schon die (spielerische oder ernst gemeinte) Ver-dopplung der Frage, was denn eine Antwort auf die FrageWas ist Wahrheit? ihrerseits wahr mache. Mit anderenWorten, braucht man eine Wahrheitstheorie, um ber eineWahrheitstheorie begrndet urteilen zu knnen und so adinfinitum? Oder knne sich eine Wahrheitstheorie selbst inihrer Wahrheit ausweisen? Oder erheben Wahrheitstheorien oft im Sinne der schlechten Angewohnheit, jede etwas zukompliziert geratene Antwort gleich eine Theorie zu nennen gar nicht den Anspruch, wahr zu sein? Was aber wollen undknnen Wahrheitstheorien dann leisten?

    Irgendwie gibt es ein Bedrfnis nach Klrung des Wahr-heitsproblems fr jeden Menschen, der nicht vllig dumpf undanspruchslos dahinlebt. Sei es Emprung ber eine besondersdreiste Lge eines Diktators, die in der politischen Presse be-kannt wird, sei es der Einsturz eines wissenschaftlichen Lehr-gebudes, der das lange Zeit von vielen fr wahr Gehaltenerelativiert oder gar aufzugeben verlangt, sei es die Lektre ei-nes eigenen Briefes, der eine Erinnerung trotz intensiv gefhl-ter Gewiheit als falsch ausweist, sei es die bange Frage, wemman bei der Suche nach den Ursachen eines groen UnglcksVertrauen schenken darf das Wahrheitsproblem ist nicht

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    nur kein von den Philosophen erfundenes, sondern auch keinakademisches im Sinne theoretischer, lebenspraktisch aberunerheblicher Spitzfindigkeiten. In sehr verschiedener Formstellt es sich als Problem der Lebensbewltigung immer wie-der und fr jeden.

    Um so dramatischer ist der Dschungel von Anstzen, Vor-schlgen, Antworten, Problematisierungen und Skeptizismen,die jedem begegnen, der sich in der akademischen philoso-phischen Literatur ber das Wahrheitsproblem informierenmchte. Da ntzt es dann wenig, (wie manche zeitgenssi-schen Analytischen Philosophen) mit der Metapher des Ent-deckungsreisenden zu fordern, es solle erst einmal eine Artvon Landkarte des Wahrheitsproblems erstellt werden, ausder sich dann gleichsam von selbst naturgegebene Strukturenanalog zu Gebirgen, Flssen und Meeren ergeben sollen. Auchder entdeckungsreisende Kartograph bentigt ja eine Vorgabemindestens in dem Sinne, da er wissen mu, fr welchen Be-darf er seine Landkarte erstellt; denn je nach Bedarf wird sieverschieden ausfallen. Wer (was heute eine verbreitete philo-sophische Attitde ist) mit einem Bekenntnis zur Zweckfrei-heit, ja zur eigenen Positionslosigkeit sich auf den Weg macht,erst einmal aufzunehmen, was es in der philosophischen Tra-dition an Antworten auf die Wahrheitsfrage gibt, mu sichder Frage stellen, ob er vielleicht nur in unverschuldeter Un-wissenheit oder in fahrlssigem Irrtum oder sogar in absichtli-cher Lge seine Positionslosigkeit behauptet, um seine tat-schlich immer auf Kriterien angewiesene Erkundung undErstellung einer Landkarte als Ergebnisse unabhngig vonseinen oder irgendwelchen Absichten anzupreisen.

    Die Alternative zu vorgeblicher Zweckfreiheit ist, als AutorZwecke ausdrcklich zu nennen und zu verfolgen, mit denendie philosophische Diskussion des Wahrheitsproblems gefhrtwird. Dann jedenfalls kann jeder Teilnehmer dieser Diskus-sion, d. h. in einem Buch der Leser, selbst entscheiden, ob erdie vorgestellten Zwecke mitverfolgen mchte oder nicht, undob er die dafr ergriffenen Mittel, die vorgetragenen Antwor-ten also, fr gelungen oder milungen hlt d. h. der Leser

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    beginnt selbst, in der Teilnehmerperspektive zu philosophie-ren. (In diesem Sinne wird bereits der ersten spitzfindigenFrage, ob denn eine Theorie der Wahrheit ihrerseits wahr seinmsse, vielleicht sogar zugleich ihre eigene Wahrheit sichernknne, die Spitze genommen: Man befindet sich nmlich nichtin unendlicher Wiederholung der Frage, ob bereits gegebeneAntworten wahr seien, als handle es sich um einen geheiligtenSelbstzweck, die Wiederholung der Wahrheitsfrage nicht ab-brechen zu lassen. Vielmehr erlaubt die Frage Was ist Wahr-heit? eine klare Beurteilung unter klar gegebenen Vorausset-zungen, wenn sie unter Zwecke gestellt wird, nach denenMenschen an Wahrheit als Mittel interessiert sind.)

    So soll auch in diesem Buch verfahren werden. Die be-sondere Art dieses Buches, unter einer groen Zahl modernerBcher ber Wahrheitstheorien einen eigenen Weg zu gehen,besteht also darin, nicht eine Sorte von enzyklopdischem berblick ber

    Wahrheitstheorien aus der distanzierten Scheinobjektivittdes Beobachters (der Philosophiegeschichte) zu geben, alswren sie alle irgendwie gut (ohne zu fragen, wofr),

    sondern, vom Alltagsleben ausgehend, den Leser an jederStelle zu eigenem Urteil und damit zum Philosophieren, ja,vom Rezipieren ber ein Mitdenken zum Selbstdenken zuprovozieren, indem er zu entscheiden hat, ob er vorgestellteZwecke teilt und angegebene Mittel fr zweckmig hlt.

    Daraus ergibt sich als Orientierung das folgende Programm.

    3. Das Programm: Orientierung an der FrageWozu Wahrheit?

    Bekanntlich weist ein Wegweiser den Weg, ein Kompa nureine Richtung. Der Wegweiser ist genau, d. h. nennt einenZielort, und kann, da er ja seinen Weg nicht selbst geht, auchden genau falschen Weg weisen, z. B. wenn ein Schurke ihnverdreht hat. Der Kompa dagegen vermittelt an jeder Stelleeiner Reise eine Orientierung. In diesem Sinne diene diesemBuch die Frage Wozu Wahrheit? als Kompa. Fr alle in

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    Frage kommenden Lebensbereiche ist danach als Richtungvorgegeben, nach dem Wozu zu fragen, wo es um Darstel-lung und Beurteilung von Philosophien und Theorien derWahrheit geht. Es wird dagegen kein bestimmtes (dogma-tisches, inhaltliches) Ziel gesetzt oder dem Leser der Wegdorthin gewiesen.

    Das bedeutet, da sich nicht nur ein chronologisch-histori-scher Durchgang durch die wichtigsten Wahrheitskonzeptio-nen der Philosophen (aus den genannten Grnden) verbietet.Vielmehr ist auch ein systematischer berblick von der Art,wie ihn heute gern Bcher ber Wahrheitstheorien oder Artikelin Fachlexika geben (mit Aufzhlungen wie Korrespondenz-theorie, Kohrenztheorie, Redundanztheorie, Konsenstheorieusw. der Wahrheit die oben erwhnte Landkarte desWahrheitsproblems), alles andere als unproblematisch. Dennselbstverstndlich mu sich auch die berblicksdarstellungeiner Sprache bedienen, die zunchst einmal die Sprache desgebildeten Laien ist (und als solche nicht wenigen Philosophenals Werkzeug ausreicht oder zur definierenden Sprache seinerspeziellen Terminologie wird).

    Die sprachlichen Mittel aber, ber das Wahrheitsproblemzu reden, und sei es in der Alltagssprache, sind nicht frei vonhistorischen Belastungen. Heute vorfindliche Sprache als Pro-dukt ihrer eigenen, naturwchsigen Entstehungsgeschichte istdabei eher mit einem Schutthaufen an alten Kultursttten alsmit einem aktuell bewohnbaren Gebude zu vergleichen, weilsie Reste, Bruchstcke von vergessenen, nicht mehr geteiltenoder von Anfang an nicht klaren Unterscheidungsabsichten,von vergangenen ausdrcklichen oder stillschweigenden Vor-annahmen und Zwecken, lngst vernderten Meinungen,Theorien, Philosophien, Religionen usw. sind. Mit anderenWorten, auch systematische berblicke wie brigens auchdas Stellen und Beantworten der Frage Wozu Wahrheit? bedrfen kritischer Vorsicht gegenber den verwendetensprachlichen Mitteln.

    Das beste Beispiel hierfr bietet das Wort Wahrheitselbst. Schon im Zusammenhang mit der alten, von den Philo-

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    sophiehistorikern diskutierten Tatsache, wonach Aristotelesseinem Lehrer Platon in der Auffassung vom Wesen derWahrheit nicht gefolgt ist, ist die substantivische Rede vonder Wahrheit (griechisch aletheia) blich, wobei es im Alt-griechischen genau wie im Deutschen ein Adjektiv dazu gibt(wahr, alethes). Substantiva aber, zu deutsch Dingworte,suggerieren, da es da eine Substanz, ein Ding gbe, dessenEigenschaften man erforschen, erkennen oder benennen kn-ne. Verschrft wird diese Suggestion noch in der Frage Wasist Wahrheit?, als gbe es da irgendein Ding (wo man sichnicht ganz sicher ist, ob Ding vielleicht nicht doch zukonkret ist, sagt man gern: eine Entitt), das bzw. die inirgendeiner Form fr eine Untersuchung verfgbar sei. Unddie damit durch sprachliche, genauer grammatische Formennahegelegten Annahmen verstellen sogleich den Blick darauf,in welchem Zusammenhang die Wozu-Frage gestellt werdensoll und beantwortet werden kann. Dies soll in drei Schrittensprachkritisch erlutert werden:

    (1) Die grammatische Verdinglichung durch Verwendungvon Substantiven schliet, wo es sich nicht tatschlich umSubstantiva fr Dinge wie pfel oder Huser handelt, metho-disch an die Verwendung von Verben oder Adjektiven an.Statt zu sagen, ein Tier bewege sich, oder, ein Stein sei be-wegt, kann man eben auch formulieren, das Tier bzw. derStein habe eine Bewegung. Das Substantiv Bewegung dientaber der Beschreibung keines anderen oder neueren Sachver-haltes als das Adjektiv bewegt bzw. das Verbum bewegen.

    Besondere Bedeutung gewinnen solche grammatischenVerdinglichungen bei Anwendung auf Sprache selbst. So weiz. B. auch jeder Laie, was zeitliche oder rumliche Angabensind, so z. B. da Ereignisse frher oder spter als andere seinknnen, Krper oder Strecken gleichlang usw. Das heit, je-der Laie verfgt ber ein ganzes und schon alltagssprachlichreiches Vokabular zeitlicher bzw. rumlicher Art. Die Sub-stantiva Zeit und Raum suggerieren nun, es gebe eigene, selb-stndige Dinge oder Substanzen, ber deren Eigenschaftenman dann berlegungen oder Untersuchungen anstellen und

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    etwa diskutieren kann, ob sie endlich oder unendlich seien.Tatschlich erfat aber die Verwendung der Substantiva Zeitund Raum, ganz analog dem Fall der Bewegung, keine ande-ren Sachverhalte als eben diejenigen, die mit den zeitlichenoder rumlichen Angaben erfat sind. Mit anderen Worten,die Substantiva Zeit und Raum bringen als Rede ber Rede nichts anderes zum Ausdruck als eben die Verwendung zeit-licher bzw. rumlicher Bezeichnungen. Man nennt sie deshalbReflexionstermini. Und die vermeintlichen Eigenschaften dergrammatisch durch Substantiva verdinglichten Sortierungenvon Wrtern in zeitliche und rumliche sind nichts anderes alsdie mit zeitlichen bzw. rumlichen Wrtern beschriebenenSachverhalte.

    In einem gewissen Sinne liegen die Verhltnisse bei Wahr-heit genauso: Die Sprachen des Alltags, der Wissenschaftenund der Philosophie fhren die Adjektiva wahr undfalsch (und weitere wie richtig, gltig, usw.). Sie umfassenauch die Praxis nicht nur der Verwendung dieser Wrter,sondern auch einer Diskussion darber, ob sie zu Recht oderzu Unrecht auf spezielle Flle angewendet werden. Dabei istes blich und nicht selten sogar krzer oder bersichtlicher,von der Wahrheit einer Aussage zu reden, statt zu formulie-ren, eine bestimmte Aussage sei wahr. Insofern lt sich dasSubstantiv Wahrheit ebenfalls (wie Zeit und Raum) alsReflexionsterminus bezeichnen selbstverstndlich nicht umzweckfrei einen neuen philosophischen Fachausdruck zu be-mhen, sondern zu dem Zweck, darin mitzuteilen, da es nurum die Verwendung der Adjektive wahr und falsch undnicht um einen selbstndigen Gegenstand Wahrheit mit Ei-genschaften geht (z. B. ewig oder relativ zu sein), wo berWahrheit gesprochen wird.

    (2) Was-ist-Fragen sind in der Alltagssprache so gelufigund so problematisch wie die substantivische Rede von derWahrheit. Sie knnen, wie sich jeder kompetente Sprecher derdeutschen Sprache leicht selbst darlegen kann, hchst unter-schiedliche Frageabsichten zum Ausdruck bringen. Zum Bei-spiel kann fr ein vorliegendes, aber unbekanntes Objekt die

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    Was-ist-Frage eine Aufforderung sein, eine Bezeichnung zunennen, wobei in Ausnahmefllen ein Eigenname, im Nor-malfall ein prdizierendes Wort erwartet wird, wie z. B. in denFllen dies ist der Eiffelturm, dies ist ein Kurvenlineal,ein Musikinstrument, ein Kfer, eine Aloe, ein Licht-reflex, usw. Wird dagegen in die Was-ist-Frage (statt eineshinweisenden Wortes wie dies) ein nicht-hinweisendersprachlicher Ausdruck (wie Wahrheit) eingesetzt, fordertdie Frage auf, das betroffene Wort in seinem Gebrauch zuerlutern. Solche Erluterungen knnen, schon in grbsterEinteilung, z. B. durch eine ausdrckliche Definition, einenexemplarischen Aufweis, eine hinweisende Geste, und durchvieles andere mehr gegeben werden. Whrend aber bei einerWas-ist-Frage mit einem Substantiv fr ein Ding eine Wahlbesteht, entweder eine definierende Erluterung sprachlich zugeben oder das Ding selbst vorzulegen (wie man z. B. auf dieFrage Was ist ein Carpaccio? entweder eine Beschreibungdieser italienischen Vorspeise geben oder aber ein Carpaccioservieren kann), kann bei Nachfrage mit einem Reflexions-terminus wie Wahrheit oder Raum nur eine sprachlicheErluterung erwartet werden. Mit anderen Worten, die hierzum Buchtitel gemachte Was-ist-Frage zur Wahrheit ist alsNachfrage nach der Bedeutung des Wortes Wahrheit gemeint,die ihrerseits da es sich um einen Reflexionsterminus han-delt als Frage nach der Bedeutung von wahr und falschzu verstehen ist und durch die oben unterschiedenen vierSprachebenen zu fhren hat.

    (3) Die hnlichkeiten der Wrter Wahrheit und Zeit bzw.Raum reichen aber noch weiter: Mhelos lt sich ein Bei-spiel nennen, etwa ein Spaziergang, bei dem wir nach seinerDauer oder nach dem zurckgelegten Weg fragen knnen, al-so eine zeitliche oder eine rumliche Beschreibung wnschenund damit ber Zeit und Raum reden. Entsprechend lassensich wenigstens auf den ersten Blick mhelos Beispiele an-geben, fr die sich fragen lt, ob sie wahr sind etwa dasoben erwhnte Beispiel der Zeugenaussage. Solche Beispieleknnen zugleich aber auch unter anderen Aspekten betrachtet

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    werden, etwa, ob sie unerwartet, ausfhrlich, unverstndlichoder etwas anderes sind. Das heit Wahrheit ist ein Aspektunter anderen, und zwar von Aussagen.

    In der deutschen Alltagssprache ist aber auch eine Rede voneinem wahren Freund oder einem wahren Glck blich.Auch ein falscher Geldschein oder eine falsche Katzesind alltagssprachlich erlaubte Zusammensetzungen.

    Schon alltagssprachliche, bedeutungsgleiche Ersetzungenetwa durch ein echter Freund, ein wirkliches Glck, eingeflschter Geldschein bzw. eine hinterhltige Katze zeigen,da es sich bei der Verwendung von wahr und falsch,wo nicht auf Aussagen angewendet, nur um saloppen Sprach-gebrauch handelt; und wo nicht lediglich bekrftigend gesagtsein soll, da es wahr sei, eine bestimmte Person einen Freundoder einen bestimmten Geldschein geflscht zu nennen, einefalsche Anleihe bei der Wahr-falsch-Unterscheidung fr Aus-sagen genommen wird. Denn es ist ja z. B. nicht falsch, denfraglichen Geldschein geflscht oder berhaupt einen Geld-schein zu nennen. Kurz, wahr und falsch (bzw. andere,bedeutungsgleiche oder bedeutungshnliche Wrter) sollen inihrer Anwendung ganz auf Aussagen beschrnkt bleiben undber sie einen bestimmten Aspekt zum Ausdruck bringen. (Eswre auch verfehlt, die Sache so aufzuzumen, da man dasWort wahr dazu bentzt, Aussage zu definieren, etwaindem man grammatisch charakterisierte Stze Aussagennennt, wenn sie entweder wahr oder falsch sind, um sie sovon Fragen, Befehlen usw. zu unterscheiden. Denn wie solltewahr und falsch unterschieden definiert sein, ohne schonBehauptungen bzw. Aussagen von Fragen, Befehlen usw. un-terscheiden zu knnen?)

    Damit spitzt sich die Wozu-Frage nach der Wahrheit zu aufdas Problem, wozu Menschen wahre Aussagen bentigen, inanderer Diktion, was der Zweck der Wahrheit von Aussagenbzw. der Zweck der Unterscheidung von wahren und falschenAussagen ist. Dazu bedarf es terminologischer Erluterungen,wie hier von Zweck und Mittel, von Sprache, Rede und vonAussagen gesprochen wird, und in welchem Verhltnis diese

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    zum Alltagsleben, seinen Handlungen, der in Sprache sichvollziehenden Organisation gemeinschaftlichen Handelns,kurz, zu allgemeiner Praxis stehen. Jeder Laie kann an seineneigenen Sprachgewohnheiten feststellen, da er (von den obenkritisierten Gegenbeispielen abgesehen) wahr und falschfr das behauptende Reden reserviert hat, nicht aber auf einfragendes oder vorschreibendes Reden anwendet; und da eres auch nicht anwendet auf das sogenannte performativeSprechen, d. h. wenn z. B. eine Person eine andere grt, siebeglckwnscht oder ihr kondoliert, sie zu etwas ernennt oderihr etwas verspricht. Bei diesen vertrauten Sprechhandlungen,bei denen im Gegensatz zum Wahrheitsproblem das Problemder Wahrhaftigkeit des Sprechers beabsichtigt der Verspre-chende, sein Versprechen zu halten? Ist der Glckwunschoder die Beileidsbekundung ehrlich gemeint? durchaus auf-tritt, behauptet ja niemand, da er grt, beglckwnscht,verspricht usw., sondern er tut es, vollzieht es mit Worten.

    Eine systematische Beantwortung der aufgeworfenen Fra-gen und eine Durchfhrung des genannten Programms, beider Wozu-Frage nach der Wahrheit im alltglichen Leben an-zusetzen und von dort bis in die Wissenschaften und die aka-demische Philosophie hinein vorzudringen, soll auf den letztenTeil des Buches verschoben werden. Denn die dort zu geben-den Antworten sollen als Versuche der Problemlsung fr denenttuschten Kenner verstanden werden knnen. Ohne jedenBezug auf das groe Angebot der akademischen Wahrheits-diskussion einen systematischen Vorschlag zu unterbreiten,mte nicht nur ein gebildetes Publikum demotivieren, wennes vorzieht, sich im Wissen statt im Denken zu orientieren.Ein solcher Vorschlag mte auch jede Auseinandersetzungmit der bisherigen Diskussion eher als Ablehnung von einervorgefaten, eben anderen Position aus erscheinen lassen,statt den Vorschlag zu rechtfertigen.

    Demgegenber soll der Leser hier nicht im Unklaren gelas-sen werden, da es gerade offene Fragen, ungelste Problemeund unzureichende Anstze vorgefundener Wahrheitstheoriensind, die den im letzten Teil des Buches vorgetragenen Vor-

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    schlag empfehlen. Das heit, sich jetzt den historischen Erb-lasten zuzuwenden, denen das Wahrheitsproblem begegnet,wo immer man es aufsucht.

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    II. Historische Erblasten

    Die historischen Anfnge der abendlndischen Philosophiefallen fast zusammen mit dem Nachdenken darber, wasWahrheit ist. Sie sind uns aber nicht nur wegen der Quel-lenlage, der Verschiedenheit zu unserer heutigen Kultur undden Gebirgen philosophiehistorischer Interpretationsliteraturschwer zugnglich, sondern sperren sich auch mehr als heuti-ge Anstze gegen die Wozu-Frage. Dagegen gibt es in derheutigen akademischen Diskussion, in der Bcher ber Wahr-heitstheorien Hochkonjunktur haben, durchaus erkennbareZweckorientierungen etwa bei den de facto anerkanntenAntworten zumindest der Wahrheitstheorien, wenn auchnicht gerade der Wahrheit selbst: Es ist einerseits die lingui-stische Wende der Philosophie seit Gottlob Frege, LudwigWittgenstein, Bertrand Russell und anderen, die zu einersprachphilosophischen Form der Wahrheitstheorien gefhrthat, und andererseits die moderne (analytische) Wissen-schaftstheorie, die erkenntnistheoretische Probleme des All-tagslebens auer acht lassend in den sogenannten exaktenWissenschaften, vor allem der Mathematik und der Physik,historisch erfolgreiche Vorbilder fr Wahrheitsfindung gese-hen, analysiert und beschrieben hat. Daran orientiert sich dieUntergliederung dieses Kapitels: Es soll im folgenden zuerstum sprachphilosophisch und dann um wissenschaftstheore-tisch motivierte Wahrheitstheorien gehen. Hierher gehrendann auch Sonderformen moderner Theorien, bei denenWahrheitsdefinitionen im Vordergrund stehen.

    1. Sprachphilosophische Wahrheitstheorien.Wahrheit nach dem linguistic turn

    Obgleich Wahrheit ein Thema der Philosophie seit ihrenhistorischen Anfngen war, haben sich Wahrheitstheorien alseigenes philosophisches Teilgebiet unseres Jahrhunderts eta-bliert, seit der sogenannte linguistic turn in der Philosophie

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    stattgefunden hat. Unter linguistic turn versteht man seit Gu-stav Bergmann, dem Urheber dieses Ausdrucks, eine Hin-wendung der Philosophie zu sprachanalytischen Methoden.Geistesgeschichtliche Auslser dieser Wende waren einerseitsdas verstrkte Auseinanderdriften von Philosophie und densogenannten exakten Wissenschaften (vor allem Mathematikund Physik), andererseits die Entwicklung, da diese moder-nen Wissenschaften den Philosophien traditionelle Zu-stndigkeiten streitig machten (um sogleich, in begrifflicheGrundlagenkrisen geratend, neue philosophische Fragen undProbleme zu produzieren). Der groe technische und erkl-rende Erfolg der mathematischen Naturwissenschaften fr dieErkenntnis der vorgefundenen Welt geriet zum Vorbild frverlliches Wissen schlechthin und fhrte dabei, etwa ab derMitte des 19. Jahrhunderts, zu einer Revision gelufigerGrundbegriffe von Raum, Zeit, Materie, Kausalitt, Kosmos,chemischem Stoff, lebendem Organismus, Naturgeschichteund anderen. Der naturwissenschaftliche und der mathemati-sche Fortschritt fhrten also gleichsam zwangslufig in philo-sophische Grundsatzberlegungen.

    Eine der dabei auftauchenden Entdeckungen, aus dem Be-reich der Philosophie der Mathematik stammend, lt sich ander Frage erlutern: Was sind Zahlen? Die Antworten, dieGottlob Frege, der Vater der modernen Logik, suchte, stieenimmer wieder auf eine Diskrepanz zwischen Logik undGrammatik, ja gaben Anla fr den Verdacht, die grammati-schen Regeln der Sprache fhrten gerade dort in die Irre, woes um die Beurteilung der Wahrheit von Aussagen geht.

    Da die mathematik-philosophischen Fragen, die bei diesenhistorisch tatschlich diskutierten Beispielen auftauchen,technisch schwierig und nur langwierig zu vermitteln sind, seidiese Diskrepanz von Logik und Grammatik an einem ein-fachen Beispiel der heutigen Alltagssprache vorgefhrt: In ih-rer grammatischen Form unterscheiden sich die beiden fol-genden Stze nicht:

    (a) Platon und Aristoteles sind Philosophen.(b) Kain und Abel sind Brder.

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    Logisch sind sie jedoch verschieden, denn (a) ist eine (nuraus Grnden der Eleganz verkrzte) Zusammensetzung ausden zwei selbstndigen Teilstzen Platon ist Philosoph undAristoteles ist Philosoph mit Hilfe der logischen Partikel(Junktor) und. Das heit, (a) ist nur wahr, wenn die beidenTeilstze je fr sich wahr sind. (b) kann man jedoch nicht soaufteilen, da einerseits Kain und andererseits Abel ein Brudersei sofern nicht gemeint ist, sie gehrten beide einer klster-lichen Bruderschaft an. (b) ist nach dem blichen Verstndnisnur wahr, wenn Kain und Abel verschwistert sind. Dies ist eineinziger Satz, und der Unterschied von (a) und (b) liegt, in derSprache der Logiker, darin, da Philosoph ein einstelliger,Bruder (als Verwandtschaftsbeziehung) ein zweistelligerPrdikator ist, d. h. zur Bildung eines kompletten, wahrheits-fhigen Satzes im ersten Falle einen, im zweiten Falle zwei Ei-gennamen fordern.

    Dieses simple Beispiel kann zeigen, inwiefern die Gram-matik in die Irre fhren kann, wenn es um die Wahrheit einerAussage geht. Eine Konsequenz daraus ist, den grammati-schen, und dann allgemeiner, den sprachlichen Mitteln be-sondere philosophische Aufmerksamkeit zu schenken undnach einer logischen Rekonstruktion zu suchen. Sie soll an dieStelle der grammatischen die logische Form von Behauptun-gen setzen, um daran besser oder berhaupt allererst die Be-dingungen ihrer Wahrheit auszumachen.

    Unter der linguistischen Wende der Philosophie ist entspre-chend das Programm zu verstehen, Wahrheitsprobleme alsProbleme ihrer sprachlichen Formulierung zu untersuchenund ntigenfalls mit den dafr eigens weiterentwickeltenMitteln der Logik und der Sprachphilosophie zu reformu-lieren oder zu rekonstruieren.

    Der Erfolg der exakten Wissenschaften bildete den Hinter-grund der linguistischen Wende. Er trug ihr gegenber derphilosophischen Tradition als Motivation und wichtiges Zielein, zwischen Wissen und Scheinwissen, zwischen Problemenund Scheinproblemen zu unterscheiden. Metaphysikkritikoder berwindung der Metaphysik waren die Schlagworte

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    fr solche Ausweise von Scheinproblemen, als deren promi-nenteste Beispiele die Ontologie (deutsch: Lehre vom Seienden)und die Ethik galten. Die ersten Arbeiten der linguistischenWende befassen sich denn auch nicht zufllig mit Existenz-problemen, genauer, mit Geltungsproblemen von Existenzaus-sagen beginnend mit Gottesbeweisen der philosophischenTradition und endend bei Existenzaussagen ber mathemati-sche oder naturwissenschaftliche Gegenstnde wie Zahlenund Mengen oder Atome und Elementarteilchen.

    Es liegt auf der Hand, da Wahrheit im Gefolge der linguisti-schen Wende nur noch als Satzwahrheit, nicht mehr als Seins-wahrheit begriffen wurde. Tatschlich spricht ja auch allesdafr, da sich seinswahrheitliche Rede immer inhaltsgleichbersetzen lt in die Wahrheit von Aussagen, wie dies anBeispielen wie dem wahren Freund bereits oben gezeigt wurde.

    Eine weitreichende (und beklagenswerte) Folge der lingui-stischen Wende ist, da nicht nur traditionelle Metaphysik,sondern auch die Ethik, also die Moralphilosophie oder Philo-sophie des sittlichen Handelns, dem Verdikt des sprachana-lytisch enttarnten Scheinproblems verfiel. Heute ist es nichtzuletzt unter dem Einflu des linguistic turn zur Mehr-heitsberzeugung geworden, da verlliches, objektivesWissen nur in den empirischen Wissenschaften und in derMathematik mglich sei, in Moral und Politik dagegen dasChaos herrsche, vom geschmcklerischen Individualismus biszum Faustrecht des Strkeren. Die damit favorisierte Tren-nung von wahr und gut, von sein und sollen, von beschreibenund vorschreiben, von begrnden und rechtfertigen, wirkt bisheute in Bereiche der Philosophie, der Wissenschaften und destglichen Lebens hinein nach und hat auch die Mehrheits-auffassungen zum Wahrheitsproblem entscheidend geprgt.Da es daneben auch (sprach-)analytische Ethiken gab undgibt, ist auerhalb des engen Zirkels der analytischen Ethikerbisher wirkungslos geblieben. (Im vierten Kapitel soll dieberwindung dieser Trennung von theoretisch und praktischden Ansatzpunkt fr eine Weiterentwicklung von Wahrheits-begriffen bilden.)

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    2. Satzwahrheit und Wirklichkeit: Abbildtheoriender Wahrheit als methodisches Problem

    Als Besonderheit der linguistischen Wende war das Nach-denken ber Sprache als Mittel des Philosophierens genanntworden. Das bedeutet nicht, da Philosophen vor der lingui-stischen Wende nicht auch der Sprache ihre Aufmerksamkeitgeschenkt htten. Typisch fr die linguistisch gewendete Phi-losophie ist aber, philosophische Probleme als Probleme ihrersprachlichen Form zu reformulieren und zu behandeln oderals Scheinprobleme zurckzuweisen. Aber auch antike Vor-schlge, etwa die bekannte Wahrheitsdefinition des Aristo-teles, wonach wahr spricht, wer sagt, wie es (wirklich) sei,knnen nur als Verhltnis von gesprochener (oder gedachter)Wahrheit zur Wirklichkeit verstanden werden. (Wenig pro-blematisch war den Klassikern nicht nur der Antike, sondernz. B. auch Kant in der Kritik der reinen Vernunft, die Vorgn-ge und Ergebnisse innerer Ttigkeiten wie des Denkens, desSich-Vorstellens, des Erinnerns, der Phantasie, des Bewut-seins usw. fr genauso gut zugnglich zu halten wie die gleich-sam nach naturwissenschaftlichem Vorbild von auen, d.h.durch eine andere Person beobachtbaren Vorgnge des Spre-chens. Linguistisch gewendet ist dagegen kritisch zu fragen,wie wir die von der philosophischen Tradition gebrauchtementale Sprache zu verstehen haben, die bentzt, wer berDenken, Bewutsein usw. spricht.)

    Der im Sinne historischer Wirkung wohl prominentestePhilosoph und Wahrheitstheoretiker nach der linguistischenWende war Ludwig Wittgenstein. In seinem berhmten, diekniffligsten Interpretationsfragen aufwerfenden und klareDeutungen manchmal verbietenden Tractatus logico-philoso-phicus entwirft Wittgenstein eine Abbildtheorie der Wahrheit,wonach Sprache die Wirklichkeit abbilde: Der Satz ist einBild der Wirklichkeit: Denn ich kenne die von ihm dargestellteSachlage, wenn ich den Satz verstehe., schreibt Wittgenstein(in 4.021; Wittgenstein hat die Stze des Tractatus in einer biszu sechs Stellen gehenden Bezifferung numeriert) und erlu-

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    tert: Einen Satz verstehen, heit, wissen was der Fall ist,wenn er wahr ist. (Man kann ihn also verstehen, ohne zu wis-sen, ob er wahr ist.) (4.024).

    Obgleich Wittgenstein die Auffassung, wahre Stze seienein Abbild der Wirklichkeit, selbst wieder aufgegeben undspter eine gnzlich andere Auffassung von Sprache undWirklichkeit entwickelt hat, wirkt die Abbildtheorie (alsSpezialfall sogenannter Korrespondenztheorien, wegen derKorrespondenz von Wirklichkeit und Sprache so genannt) inpopulrer Form heute fort. Sie tritt vor allem als die (ver-einfachte) Wahrheitstheorie der Naturwissenschaften auf,wonach die besondere Form wissenschaftlicher Erfahrungs-gewinnung durch Beobachtung, Messung und Experiment zuBeschreibungen einer vorgegebenen, naturgesetzlichen Wirk-lichkeit fhre. Der Wittgenstein des Tractatus ist (brigensmit einem ausfhrlichen Rckgriff auf die Ansichten des Phy-sikers Heinrich Hertz) also ein Kronzeuge, wenn nicht garwirkungsgeschichtlich ein wichtiger Ahnherr einer verbrei-teten, von vielen Naturwissenschaftlern geteilten Auffassungder Wahrheit, die in Kap. III als wissenschaftsphilosophischeWahrheitstheorie wieder aufgenommen wird. Aber schon au-erhalb der Wissenschaftstheorie wird zu Recht gegen die Ab-bildtheorie der Wahrheit eingewandt, da sie problematisch,ja unbrauchbar sei als Wahrheitskriterium, d. h. fr eine Ent-scheidung, ob ein Satz wahr sei, oder sogar, ob er berhauptWirklichkeit beschreibe.

    Um dies zu zeigen, braucht man nur zu fragen, was denndie Wrter abbilden bzw. Bild bedeuten. (Sich diese Fragevorzulegen, kann als Beispiel dafr gelten, Lehren aus demlinguistic turn zu ziehen.) Wir sprechen blicherweise von ei-nem Bild, das etwa ein Maler oder ein Mensch mit einem Fo-toapparat produziert, wenn wir auf dem Bild (dem Abbil-denden) etwas (das Abgebildete) wiedererkennen. Diesen in-neren Vorgang des Wiedererkennens kann man, zur Vermei-dung mentaler Sprache, linguistisch gewendet so rekonstruie-ren, da das Abgebildete und das Abbildende, also das Bild,mit denselben sprachlichen Mitteln beschrieben werden. So

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    beurteilt man etwa die Qualitt der Farbfotographie einerRose danach, ob wir der abgebildeten Rose und dem Bild derRose dasselbe Farbprdikat, z. B. lachsfarben, zuschreiben,oder ob das Foto einen Farbstich hat. Abgeleitete Formen desRedens von Bildern (z. B. Erinnerungsbild, Weltbild, mathe-matische Abbildung usw.) fhren immer noch die Bedeutungmit sich, da das Abgebildete und das Abbildende in einigenEigenschaften bereinstimmen mssen, d. h., da beiden be-stimmte Wrter zur Auszeichnung der Beziehung von Abge-bildetem und Bild zukommen mssen oder nicht zukommendrfen. (Die Beschrnkung auf einige Eigenschaften oder bes-ser, Kriterien der Entsprechung bringt das Wort Korre-spondenz gut zum Ausdruck.)

    bertrgt man diese Sprechweise von Abbilden und Bildauf den Versuch, Wahrheit durch Abbilden von Wirklichkeitin Sprache zu interpretieren, zeigt sich das Dilemma: Dersprachliche Satz Diese Rose ist lachsfarben und die lachs-farbene Rose selbst stehen nicht in einer Abbildbeziehung zu-einander, weil keine Wrter zu finden sind, die zutreffendbeiden, dem Satz und der Rose, gleich und zurecht zugespro-chen werden knnen, um die bildliche Entsprechung von Satzund Rose zum Ausdruck bringen.

    Der Vorschlag, die Wahrheit einfacher Stze als Abbil-dungsbeziehung zu wirklichen Dingen oder Ereignissen zuverstehen, bersieht und das hat schon Wittgenstein imTractatus klar herausgearbeitet , da Stze nicht Dinge oderEreignisse, sondern Sachverhalte darstellen. (Wirkliche Sach-verhalte nennt man blicherweise Tatsachen im Unterschiedetwa zu fingierten Sachverhalten der Dichtung, des Lgensusw.) Wenn nun die Wahrheit von Stzen durch die Wirklich-keit der in ihnen dargestellten Sachverhalte bestimmt werdensoll, mu man wissen, welche Sachverhalte wirklich sind.

    Wen die oben vorgetragenen Argumente, da Stze keineDinge oder Ereignisse abbilden, weil wir Vergleiche immernur innerhalb gleicher Kategorien sprachlich ausfhren kn-nen, also Dinge mit Dingen und Stze mit Stzen vergleichenknnen (so da dann bestimmte Wrter Dinge oder Ereignisse

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    bezeichnen, bestimmte Stze aber Sachverhalte darstellen),nicht berzeugen, der knnte nun, untersttzt durch ein popu-lres Verstndnis der Naturwissenschaften, eine Entscheidungber die Wirklichkeit von Sachverhalten in unserer Sinnes-wahrnehmung in den Naturwissenschaften untersttzt z. B.durch Megerte suchen. Der einfache Beispielsatz ber dieFarbe einer Rose ist ja von der Art, da wir ihn im konkretenFalle durch Anschauen der Rose entscheiden wrden. Ist alsodie Abbildvorstellung der Wahrheit wenigstens im Bereichvon Wahrnehmungsurteilen nicht dadurch zu retten, daWahr-Nehmung in der Erzeugung eines Bildes der wahrge-nommenen Wirklichkeit durch Wahrnehmungsorgane wieAugen und Zentralnervensystem besteht? Aber auch dieser(von manchen Wissenschaftlern und Philosophen geschtzte)Weg ist als ein Irrweg auszuweisen:

    Wahrnehmung dient nicht dazu, Bilder des Wahrgenomme-nen zu erzeugen. Dies suggerieren nur sprachlich irrefhrendeBeschreibungen z. B. von Aufbau und Funktion des menschli-chen Auges, wonach die Linse auf der Netzhaut ein Bild desGesehenen entwerfe, das dann ber Nervenzellen nach Analo-gie einer Fernsehkamera weitergeleitet wird. Die Produktionvon Bildern durch Fotoapparate, Fernsehkameras usw. dientnmlich immer dazu, Bilder (Farbfotographien, Fernsehbilder)zu erzeugen, die wieder von einem (wahrnehmenden) Men-schen betrachtet werden. Wrde aber unser Wahrnehmungs-system Bilder entwerfen, mte es im menschlichen Organis-mus eine Instanz geben, die diese Bilder ihrerseits betrachtet,wahrnimmt, erkennt und beurteilt. In der Kognitionspsycho-logie und in der Hirnforschung nennt man dies den Trug-schlu des Homunculus, also des wahrnehmenden Mensch-leins im Gehirn oder im Bewutsein, das dort das Bild des Ge-schehens, z. B. als neuronales Erregungsmuster, anschaut, er-kennt und beurteilt und dabei dann wieder ber wahrund falsch (von Wahrnehmungsurteilen) verfgen mte.

    Dieser schon auf die Naturwissenschaften zugreifende Ex-kurs und der Vorschlag, die Wahrheit von Wahrnehmungs-urteilen liee sich auf die Abbildung der wahrgenommenen

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    Wirklichkeit in unser Hirn, unser Bewutsein usw. zurck-fhren, wrde auerdem bersehen, da psychologisches,physiologisches, neurobiologisches und anderes naturwissen-schaftliches Wissen ber die Funktion des organismischenWahrnehmungsapparates seinerseits berhaupt nur dadurchzustande kommen kann, da Menschen erfolgreich wahr-nehmen knnen, was fr die Wissenschaften allemal bedeutet,da sich wissenschaftliche Beobachter ber einfache Wahr-nehmungsurteile mssen einig werden knnen. Mit anderenWorten, der Umweg ber die Naturwissenschaften und einevon ihnen erwartete Erklrung menschlicher Wahrnehmungs-leistungen als Beurteilungsinstanzen von Wahrnehmungsst-zen knnte im gnstigsten Falle nur das nachtrglich erklren,was sie selbst schon voraussetzt und in Anspruch nimmt: dieBeurteilung von Wahrnehmungsstzen nach wahr und falsch.

    Diese Nachtrglichkeit mag einen Hinweis geben, da dasEntsprechungsverhltnis von wahren Aussagen und wirkli-chen Sachverhalten als Sprachproblem, genauer, als Problemder Reihenfolge von Definitionsschritten reformuliert werdenkann. Soll also, wie die (verbesserte) Abbildtheorie der Satz-wahrheit suggeriert, das Beurteilungsprdikat wahr fr Stzedurch das Beurteilungsprdikat wirklich fr Sachverhaltedefiniert werden? Da man in diesem Fall zur Einigung berdie Wirklichkeit von Sachverhalten kommen mu, um zurEinigung ber die Wahrheit von Stzen zu gelangen, geht esalso wieder um die sprachliche Beurteilung der Wirklichkeitvon Sachverhalten in wahren Stzen. Das heit, in dieserReihenfolge von Schritten fhrt der Definitionsversuch vonwahr durch wirklich ersichtlich in einen Argumenta-tionszirkel und nicht aus dem Reden heraus und in dieWirklichkeit hinein. In jedem Anwendungsfalle der Defini-tion von wahr durch wirklich mu nmlich wieder einWahrheitsanspruch an einen Satz erhoben und eingelstwerden. Das heit, dieser Weg ist nicht gangbar, weil er inAnspruch nimmt, was er selbst erst leisten soll.

    Diese Einsicht legt den Versuch nahe, die umgekehrte Rei-henfolge der Definitionsschritte zu prfen, wonach die Wirk-

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    lichkeit von Sachverhalten dadurch definiert wird, da wir siein wahren Stzen darstellen. Und diese Reihenfolge erweistsich als gangbar, trotz erwartbarer Einwnde: Dem Sprachge-fhl des Laien ebenso wie tiefsitzenden populren Verstnd-nissen und Selbstverstndnissen vor allem von Naturwissen-schaftlern entspricht eine solche Reihenfolge nicht, weil sie jazu bedeuten scheint, da nur wirklich ist, was Menschen alswahr erkannt haben. Fast zwangslufig wird dagegen einge-wandt, da ja z. B. die Erde oder das Universum lngst wirk-lich waren, bevor es Menschen gab, die darber wahre Stzebehauptet haben wie wir ja im Alltag auch annehmen, daDinge unseres tglichen Gebrauchs auch dann wirklich sind,wenn sie gerade niemand wahrnimmt.

    Es ist eine der besten Leistungen des linguistic turn, zeigenzu knnen, da solche realistischen, d. h. auf Wirklichkeits-annahmen beruhenden Auffassungen in Scheinproblemen be-stehen, denn auch der Wirklichkeitsglubige bezglich Erdeoder Universum vor Entstehung der Menschheit kann ja nichtohne Sprache behaupten, da es die Erde schon vor Ent-stehung der wahrnehmenden und Stze produzierendenMenschheit gegeben habe. Mit anderen Worten, wer auf diemenschenunabhngige Existenz der Erde verweist, hat zu be-rcksichtigen, da er damit eine Behauptung aufstellt, nachderen Sinn und Geltung er befragt werden kann. Auch trittdas Wort wirklich, mit etwas Sprachsorgfalt betrachtet, ebennicht als Prdikator fr Erde oder Universum auf, sondernz. B. fr den Sachverhalt, da beide vor etwa zehn MillionenJahren schon bestimmte physikalische Eigenschaften hatten.Das heit, Sachverhalte und die Frage nach ihrer Wirklichkeitknnen nicht ohne Sprache, ohne ihre sprachliche Darstellungund einer damit verknpften Entscheidung des Sprechers, sieals wirklich, fiktiv, vermutet oder hnliches zu beurteilen, Ge-genstand unserer berlegungen werden. Oder kurz, es ist soerschreckend nicht, da die Definitionsreihenfolge von wahrzu wirklich die Wirklichkeit an die menschliche Ttigkeit desSprechens und des Beurteilens von Rede bindet, weil ja auer-halb der Praxis des Redens und Beurteilens die Wirklichkeit

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    von Sachverhalten auch kein Problem werden kann, das mitder Wahrheit sprachlicher Darstellungen zu tun htte. Woheraber mag es kommen, da so klar kritisierbare Auffassungentatschlich immer wieder Zuspruch erfahren?

    All die unzhligen, mit dem voranstehenden Argument kri-tisierten Varianten von Abbild-, Korrespondenz- oder auchAdquationstheorien der Wahrheit stehen letztlich unter einerLeitvorstellung, die auf den Kirchenvater Thomas von Aquinund seine klassisch gewordene Formel veritas est adaequatiorei et intellectus (Wahrheit ist die Entsprechung von Sacheund Geist, Einsicht, Wissen) zurckgeht. Statt adaequatiotauchen bereits in der frhen Scholastik auch Wrter auf wiecorrespondentia, conformitas, convenientia und andere.

    Abbild- und Korrespondenztheorien in einem Atemzug zunennen, soll nicht das Miverstndnis nahelegen, alle Korre-spondenz- oder auch Adquationstheorien der Wahrheit seienzugleich Abbildtheorien. Vielmehr erheben Abbildtheoriennur den radikalsten Anspruch auf die Korrespondenz vonWelt und Sprache. Abbildtheorien postulieren, wenn schonnicht eine eineindeutige Zuordnung von Welt- und Sprach-gegenstnden, so doch zumindest eine eindeutige, wonachjedem Sprachgegenstand genau ein Weltgegenstand zuge-ordnet sein soll. Solche Abbildtheorien gelten heute als wider-legt. Dagegen bildet es einen wichtigen Teil aktueller wahr-heitstheoretischer Diskussionen, in welchem weniger radika-len Sinne eine Korrespondenz von Sprache und Wirklichkeitangenommen werden kann, um Wahrheit zu definieren.Kandidaten hierfr sind Bedeutungstheorien (etwa mit derAnnahme, Eigennamen wrden wirkliche Dinge benennenund Prdikatoren wirkliche Eigenschaften aussagen, ber dieAuffassung, Bedeutungen von Stzen seien wirkliche Sachver-halte oder Tatsachen in der Welt, bis zu Theorien der empi-rischen Bewhrung naturwissenschaftlicher Stze, die natur-gesetzliche Regularitten beschrieben); aber auch Wirklich-keitsannahmen sogar in pragmatischen Anstzen, wonach dieFormel wahr = ntzlich eine Korrespondenz von Wirklich-keit und fr den Menschen ntzlichen Gedanken oder Ideen

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    zum Ausdruck bringt (zu all den genannten Anstzen vgl.Kapitel II, 4).

    Allen Korrespondenztheorien ist ein prinzipielles Problemgemeinsam: Als Korrespondenz-Theorie, das heit als (meta-sprachliche, explizite) Behauptung des Entsprechens von Weltund Sprache bzw. als (metasprachliche, explizite) normativeFormulierung eines Wahrheitskriteriums nmlich mssen ent-sprechende Weltgegenstnde ihrerseits sprachlich benanntwerden oder die fraglichen metasprachlichen Stze knnennicht gebildet werden. Damit fhren aber korrespondenz-theoretische Anstze prinzipiell nicht aus der Sprache herausund in die sprachfreie Wirklichkeit hinein. Vielmehr werdenSprachgegenstnde Eigennamen, Prdikatoren, Stze, Theo-rien, sprachlich formulierte Modelle usw. ins Verhltnisgesetzt zu selbst bereits sprachlich anzugebenden Weltgegen-stnden mit dem bereits genannten und prinzipiell unls-baren Problem, wie es denn bei diesem vermeintlich direktenZugriff auf die Weltgegenstnde wieder dazu kommt, da ihresprachliche Darstellung angemessen oder korrespondierendsei.

    Das Problem, da alle Korrespondenztheorien auf einepetitio principii hinauslaufen (sei es bedeutungs- oder be-whrungsbezogen), lt sich nur durch eine konstitutions-theoretische Alternative vermeiden: Weltgegenstnde, welcherArt auch immer, werden fr eine befriedigende Lsung desWahrheitsproblems durch den menschlichen Umgang mit ih-nen voneinander geschieden und nher bestimmt. Ob dies einsprachfreier, handelnder Umgang, ein sprachfreies, unbeab-sichtigtes Betroffenwerden oder ein sprachlich organisierterUmgang ist, spielt dabei keine Rolle, sofern nur die sprach-freien aktiven oder passiven Formen des menschlichen Um-gangs mit Weltdingen ber eine sprachliche Erfassungmenschlicher Handlungen die ihrerseits wieder z. B. sprach-frei handwerklich oder sprachlich sein knnen beschriebenoder vorgeschrieben werden. Das heit, korrespondenztheo-retische Auffassungen knnen nur in der Form begrndetwerden, da ein sprachlicher Umgang mit menschlich konsti-

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    tuierten Weltgegenstnden bestimmten Wahrheitskriterien un-terworfen wird, da also letztlich Sprache und Handeln kor-respondieren; und nicht zu vergessen ist, da auch handelt,wer spricht.

    Die bei Thomas von Aquin zum Ausdruck kommende,mehr oder weniger eng gesehene Entsprechung von Wirklich-keit und Wahrheit, von Sache und Wissen der Sache, vonnichtsprachlicher Wirklichkeit und sprachlicher Abbildung,ist ungeachtet ihrer Wurzeln in der griechisch antiken Philo-sophie und in der jdischen Tradition eng mit dem christ-lichen Schpfungsglauben verknpft. Es ist ein unverzicht-barer Bestandteil christlicher Glaubensberzeugung, da esdie Welt oder die Wirklichkeit als Werk eines schpfendenGottes gibt, die die menschlichen Geschpfe (mehr oder we-niger vollkommen) erkennen knnen und seit dem Kirchen-vater Augustinus auch erkennen sollen. Mit anderen Worten:Wer im Sinne der Wahrheitstheorie von Thomas an der Exi-stenz einer Welt zweifelt, die unabhngig von menschlichenErkenntnisbemhungen oder -erfolgen durch den Schpfungs-akt Gottes gesichert ist, verletzt einen fundamentalen Glau-bensgrundsatz (ein weiteres Beispiel fr die oben erwhntehistorische Belastung unserer Bildungssprache zum Wahr-heitsproblem).

    Der naive wie praktisch alle raffinierten Formen von Rea-lismus sind skularisierte Formen religisen Schpfungs-glaubens auch wenn dies manchem Naturwissenschaftler,der von der menschenunabhngigen Existenz von Natur odervon Naturgesetzen spricht, nicht deutlich sein drfte. Psycho-logisch gesehen hat dabei die (dann naturalistisch genann-te) Grundberzeugung von Naturwissenschaftlern, die Naturund ihre Gesetze bestnden menschenunabhngig und wrdenihrerseits sogar z. B. durch ihre Wirkung in menschlichenOrganismen, in der Evolution menschlicher Erkenntnis-fhigkeiten und in naturwissenschaftlichen Instrumenten Naturerkenntnis ermglichen, durchaus religise Zge. Woangenommen wird, die menschenunabhngige Existenz einernatrlichen (im Sinne von: naturgesetzlichen) Wirklichkeit

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    wrde die Naturwissenschaften selbst erst ermglichen, tau-gen deren Resultate nicht mehr, diese Existenz nachtrglich zubesttigen. Denn aus logischen Grnden kann keine Theorieihre eigenen Voraussetzungen besttigen oder beweisen. AlleRckschlsse aus anerkannten naturwissenschaftlichen Er-gebnissen auf die Existenz ihrer Gegenstnde sind logischnicht haltbar; sie sind nur Scheinargumente. Allen Adqua-tionsauffassungen der Wahrheit als Entsprechung an einemenschenunabhngige Wirklichkeit liegt damit, auch beiZuhilfenahme der Naturwissenschaften, ein Glaubensakt zu-grunde, der nach Art religiser Glaubensakte zu begreifen ist und sich damit der Frage Was ist Wahrheit? entzieht.

    3. Die Wahrheit von Stzen und die Bedeutungvon wahr

    Wenn der Kerngedanke des linguistic turn darin besteht,philosophische Probleme als Probleme ihrer sprachlichenFormulierung zu betrachten und zu lsen bzw. abzuwehren,wre zu erwarten, da alle realistischen, naturalistischen, kor-respondenz- oder adquationstheoretischen Auffassungen vonWahrheit der Kritik wenigstens derjenigen Philosophen an-heimfallen, die die sprachliche Wende mitvollzogen haben.Das ist jedoch nicht der Fall.

    Sieht man einmal von dem sehr menschlichen Umstand ab,da Programme zu proklamieren und zu erfllen (bzw. erfl-len zu knnen) durchaus zweierlei ist, so hat die sprachanaly-tische Diskussion von Existenzaussagen nicht nur klrende,sondern auch trotz technisch-formaler Exaktheit verwir-rende Auffassungen hervorgebracht: Es wurde zwar geklrt,da existieren im logischen Sinne kein Prdikator sein kannwie bauen, sprechen, regnen (das hngt damit zusam-men, da man fr ordentliche Prdikatoren immer Beispieleund Gegenbeispiele soll aufweisen knnen, was selbstver-stndlich bei der Einbung an nicht existierenden Beispie-len so seine eigenen Schwierigkeiten hat); und es wurde zwargezeigt, da an der Subjektstelle von Existenzaussagen oft

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    raffiniert zusammengesetzte sprachliche Ausdrcke, soge-nannte Kennzeichnungen (B. Russell) stehen, die sich auchfr Fiktionen und Mehrdeutigkeiten eignen wie die ltesteMoschee von Marburg, obwohl es in Marburg keine Mo-schee gibt, oder der Minister der Bundesrepublik Deutsch-land, von denen es mehr als genau einen gibt; aber es wurde(leider) auch vorgeschlagen, Existenz linguistisch gewendeteinfach als Mglichkeit aufzufassen, als Variable unter demlogischen Operator Existenzquantifikator fr den logi-schen Laien: als Wort in einer Existenzaussage vorzukom-men (am prominentesten von W. v. O. Quine). Mit anderenWorten: Eine Sache existiere, wenn ihre sprachliche Bezeich-nung in einer Existenzbehauptung vorkomme. Ersichtlichmu dies aber eine wahre Existenzbehauptung sein, wenn anwirkliche Existenz (im Unterschied zu nur fingierter) gedachtwird. So kann wieder keine Definition von wahr durchexistieren gelingen, sondern umgekehrt mu schon berwahr und falsch verfgt werden, um ber existierenoder nicht existieren zu befinden.

    Zu Recht wird der Laie und sollte der philosophischeFachmann durch eine solche Antwort irritiert sein, weil sienicht mehr enthlt, als das Problem an eine andere Stelle zuverschieben jedenfalls solange nicht Erluterungen aus dersprachphilosophischen und logischen Debatte herausfhrenund in handhabbare Vorschlge mnden, wie man die Pr-fung von Existenzaussagen auf ihre Wahrheit im Alltag wiein den Wissenschaften tatschlich auszufhren hat. Stattdessen wird in dieser Philosophie nur von einem ontologicalcommittment (Quine), also von einer Art Engagement in dieTatsache gesprochen, da berhaupt etwas existiert. Mit an-deren Worten, realistische Glaubenshaltungen werden auch(als mehr oder minder stillschweigend anerkannter Hinter-grund) von linguistisch gewendeten Philosophen einge-nommen. Sie treten auch auf in einer Diskussion des Wahr-heitsproblems mit den Mitteln, die der linguistic turn hervor-gebracht oder besonders entwickelt hat, nmlich mit Logikund mit Theorien sprachlicher Bedeutung, sei es von Wrtern,

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    sei es von Stzen. Ob damit die ursprngliche sprachkritischeoder gar metaphysik-kritische Zielsetzung des linguistic turnnoch verfolgt wird, darf man bezweifeln.

    Vor allem unter dem Gesichtspunkt der Frage, was unterwahr zu verstehen sei, sieht man sich nur noch darauf ver-wiesen, den alltagssprachlichen Sinn von Ausdrcken wie esgibt und wahr bereits zu verstehen und sie als Mittel zuakzeptieren, das logische und bedeutungstheoretische (seman-tische) Handwerkszeug des linguistic turn anzuwenden. Solst sich Wahrheitstheorie in eine Theorie der normalenSprache auf salopp gesagt: Der Laie wird aufgefordert, ersolle, statt philosophische Fragen nach der Wahrheit zu stel-len, munter auf das zurckgreifen, was er in seiner Alltags-sprache immer schon sagt und meint so unklar es auch seinmag. Da gerade solche Unklarheiten ein Motiv fr einensprachkritischen Neuanfang der linguistisch gewendeten Phi-losophie bildeten, wird also dabei bersehen.

    Eine besondere Weise, sich mit dem Wahrheitsproblemauseinanderzusetzen, hat in der gegenwrtigen Philosophie diesemantische Theorie der Wahrheit gefunden, deren AhnherrAristoteles ist. Im vierten Buch seiner Metaphysik (1011 b2628) schreibt Aristoteles: Von etwas, das ist, zu sagen,da es nicht ist, oder von etwas, das nicht ist, (zu sagen) daes ist, ist falsch; whrend von etwas, das ist, zu sagen, da esist, oder von etwas, das nicht ist, (zu sagen) da es nicht ist,wahr ist. (Klammereinfgungen von P. J.) Dieser zwar etwasunbersichtliche, aber dem Alltagsverstand durchaus plausi-ble Satz von Aristoteles wird von vielen modernen Philoso-phen als eine Definition des Wortes wahr gewertet. Dazuhat die Logik unseres Jahrhunderts, primr als Grundle-gungsdisziplin der Mathematik betrieben, hohe Standards derformalen Exaktheit sprachlicher Mittel fr das Reden berSprache und fr das Definieren erarbeitet. Sie werden in dersogenannten semantischen Theorie der Wahrheit von AlfredTarski zur Reformulierung des Aristotelischen Satzes zu einersachlich angemessenen und formal richtigen Definition be-ntzt so jedenfalls der Anspruch Tarskis.

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    Die Theorie Tarskis ist nur demjenigen verstndlich (zumachen), der zwei Bedingungen erfllt. Es mssen erstens dielogischen und sprachtheoretischen Mittel Tarskis beherrschtwerden, wenn formalisierte Sprachen mit Hilfe von Termi-ni wie undefinierte Terme, Regeln der Definition, Aus-sage, Behaupten, Axiom, Schluregel, Theoremdefiniert oder gebraucht werden, fr die allein Tarskis Wahr-heitsdefinition formal richtig ist. Und zweitens mssen vielestillschweigende Annahmen und explizite VoraussetzungenTarskis bezglich Sprache, Logik und Philosophie im allge-meinen geteilt werden, um seinem Vorschlag zu folgen. Sogeht er z. B., als wre es ebenso selbstverstndlich wie legitim,davon aus, bei der Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucksnach dessen Extension, also nach allen zutreffenden An-wendungsfllen, im Unterschied zur Unterscheidungsabsichtdes Sprechers, d. h. dem Sinn, der Intension eines sprachli-chen Ausdrucks zu fragen. Nicht nur der Laie trifft aufSchwierigkeiten, wenn er sich in der einschlgigen Diskussioninformieren mchte und dabei die tiefgreifende terminologi-sche Uneinigkeit analytischer Sprachphilosophen und Wahr-heitstheoretiker bezglich der Ausdrcke Sinn, Bedeu-tung, Extension und Intension feststellt.

    Grnde, der Theorie Tarskis und den daran anschlieen-den Philosophien nicht zu folgen, knnen folgende sein:

    (1) Zur Frage, worauf die Wrter wahr und falsch an-gewandt werden, wird von Tarski die Auffassung verworfen,Urteile oder berzeugungen (als psychologische Phno-mene) zuzulassen. Statt dessen werden sprachliche Aus-drcke, speziell Stze als Kandidaten fr wahr und falschangenommen und diese als physikalische Gegenstnde be-zeichnet. Zwar findet sich darin schon die oben erwhnte Tu-gend einer linguistisch gewendeten Philosophie, an die Stelleeiner mentalen oder Bewutseinssprache eine solche berbeobachtbare Phnomene zu setzen. Aber es wird dabeivllig bersehen, da Wrter oder Stze keine physika-lischen Gegenstnde sind. Sie sind zuerst einmal als Mittelalltglicher Kommunikation nicht nur von Menschen her-

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    vorgebracht und bentzt, sondern sie mssen auch erfolgreichbentzt werden, damit (z. B. unter den speziellen technischenZwecken eines Akustikers oder Tontechnikers) daraus durchAbblendungen oder Methodenbeschrnkungen so etwas wiephysikalische Phnomene (nmlich Schallereignisse) werdenknnen. Oder kurz: Wer Wrter und Stze als bloe Schall-ereignisse nimmt, denen dann durch irgendwelche ZustzeSinn und Bedeutung, Anwendungsbezug und Wahrheit zu-kommen sollen, stellt die Sache methodisch auf den Kopf.Dabei ist ein solches Vorgehen noch nicht einmal selbst-konsistent, insofern es nmlich selbst schon mit dem An-spruch auf Verstndlichkeit und Geltung auftritt, wenn esdiesen methodischen Kopfstand formuliert.

    (2) Ein weiterer Einwand gegen die WahrheitstheorieTarskis ergibt sich ungeachtet aller Bemhungen, seine freinen speziellen Fall von formalen Kunstsprachen formulierteTheorie auf Wahrheitsprobleme der Alltagssprache zu ber-tragen da dem Handlungscharakter des Redens nichtRechnung getragen wird. So wird z. B. der nur handlungs-theoretisch zu klrende Unterschied zwischen dem Behaupten,dem Fragen, dem Auffordern, dem performativen Sprechennicht erfat. Sollte die Frage von wahr und falsch viel-leicht nur eingebettet in die kulturelle Gesamtleistungmenschlicher Sprache beantwortet werden knnen wobei jasprachliche Kommunikation gelegentlich, z. B. in der drama-tischen Situation eines Schiffsuntergangs, allein ber Befehleund Aufforderungen gelingt , und sollte damit das Wahr-heitsproblem nicht schon in einer erfolgreichen Aufforde-rungspraxis eine Erluterungsgrundlage finden, ist diesemantische Theorie der Wahrheit auch nicht von Fernemehr zustndig.

    Ein bleibendes Verdienst der semantischen Theorie ist je-doch eine eigene Unterscheidung von Wahrheitsdefinition undWahrheitskriterium. Mit anderen Worten: Wie schon die zi-tierte Wahrheitsdefinition von Aristoteles, so ist auch das im-mer wieder zitierte Tarskische Beispiel: ,Der Schnee ist weiist wahr genau dann, wenn der Schnee wei ist. eben nur

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    ein Typ von Wahrheitsdefinition, d. h. legt den Gebrauchdes Wortes wahr, nicht aber das Verfahren der berpr-fung der Wahrheit eines Satzes fest. Insofern lt sich einesolche Definition auf alle verschiedenen berprfungsmetho-den der Geltung von Aussagen beziehen, ob es sich nun umeinen arithmetischen oder einen geometrischen, einen physi-kalischen oder einen historischen, einen Alltagssprachen- odereinen Kunstsprachensatz handelt.

    Ein zweites Verdienst der Klrung des Wahrheitsbegriffsdurch Tarski liegt darin, da eine Beziehung zwischen zweiSprachebenen hergestellt und geklrt wird, die im Effekt vordem Fehler schtzen kann, eine tatschlich erfolgte, begrnde-te Zustimmung einer Sprechergruppe zu einem Satz mitWahrheit durch Begrndung zu verwechseln. Dies sei aneinem Beispiel erklrt: Angenommen, ein Regierungschefhalte eine Neujahrsansprache ber das Fernsehen, in der erWirtschaftsdaten ber das abgelaufene Jahr bekanntgibt, dieausweislich der Daten seiner eigenen Wirtschafts- und Finanz-minister falsch sind. Spter stelle sich heraus, da die Fern-sehanstalt versehentlich die Ansprache aus einem der Vorjah-re statt der aktuellsten Neujahrsrede gesendet hat. Damalstrafen die vorgetragenen Wirtschaftsdaten noch zu. DiesesBeispiel soll die Frage veranschaulichen, ob es sein kann, daeine Aussage, die einmal falsch war, nun pltzlich wahr wird und umgekehrt. Mit anderen Worten: Kann ein wahrer Satzauch falsch sein und ein falscher wahr, wenn nur zustzliche,neue Einsichten zur Begrndung oder Widerlegung hinzutre-ten wie im Beispiel der Fernsehrede die richtige Zeitangabeder Aufzeichnung?

    Hier kann Tarskis Theorie den Hinweis geben, da die Be-deutung des Wortes wahr (und analog falsch) im me-tasprachlichen Satz A ist wahr (A steht fr eine bestimmteAussage) immer nur dann gilt, wenn A gilt und analog beifalsch. Das heit, da wahre Aussagen nicht falsch werdenknnen und umgekehrt, sondern da das Prinzip gilt: Einmalwahr, immer wahr bzw. einmal falsch, immer falsch. Esmag vorkommen, da spter eingesehen wird, da frhere

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    Begrndungen vielleicht fehlerhaft oder frhere Formulierun-gen eines Satzes unvollstndig waren wie ja auch die zumfalschen Zeitpunkt gesendete Fernsehansprache gegen Mi-verstndnisse durch explizite Nennung von Jahreszahlen ge-feit wre.

    Mit anderen Worten, die Tarskische Theorie verbietet, daein Satz in der Metasprache als wahr bezeichnet wird, deres objektsprachlich nicht ist, und analog gilt das fr falsch.Dabei geht es um mehr als blo den Umstand, da man ebeneinen Satz nicht wahr nennen sollte, der es nicht ist. Vielmehrverbirgt sich dahinter ein fundamentales Problem der Irrtums-anflligkeit jeglichen menschlichen Urteils: Angenommen,wahr solle per definitionem nur aufgrund einer Begrn-dung eines Satzes diesem zugesprochen werden siehe dazuausfhrlich S. 111, dann wird es selbstverstndlich vorkom-men, da eine Begrndung gegeben und fr erfolgreich gehal-ten wird; man darf dabei sogar an Extrembeispiele von Ver-llichkeit wie mathematische Beweise denken. Damit ist abernicht prinzipiell ausgeschlossen, da spter ein Fehler in derBegrndung entdeckt wird. Soll man dann sagen, der einst-mals wahre, weil begrndete Satz sei nun neuerdings falschgeworden, oder soll man sagen, man habe sich eben bezglichdes Vorliegens einer Begrndung und damit bezglich derWahrheit des entsprechenden Satzes geirrt? Dies schliet jakonsequent das Risiko ein, da fr die neuere, jngere ber-zeugung auch nur wieder das tatschliche Vorliegen einer(prinzipiell irrtumsanflligen) Begrndung angefhrt werdenkann. Fr diese kann dann noch ausgefhrt werden, warumsie einen Fehler der frheren, vermeintlichen Begrndung ver-meidet aber ob nicht spter noch einmal ein (anderer) Be-grndungsfehler entdeckt werden knnte, kann nicht ausge-schlossen werden.

    Das heit, da die Fehlbarkeit von Begrndungen und da-mit von Beurteilungen sprachlicher Aussagen auf Wahrheitprinzipiell nicht behebbar ist. Es gibt auch fr die bestbe-grndeten oder gar bewiesenen Aussagen nicht so etwas wiedie absolute Sicherheit; sie lt sich schon gar nicht daran

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    ausweisen, da (etwa nach dem Konsens der Experten) eineBegrndung tatschlich gelungen sei. Wahrheit ist in diesemSinne nicht absolut endgltig, sondern fr vorgelegte Be-grndungen nur vorbehaltlich vermiedener Argumentations-und Begrndungsfehler gesichert.

    Ein Nebeneffekt dieser Einsicht ist es, da Zeitangaben, dieeinen Einflu auf die Wahrheit oder Falschheit von Aussagenhaben, immer auf die Ebene der objektsprachlichen Aussagen,nicht aber zu den metasprachlichen Beurteilungen auf Wahr-heit oder Falschheit gehren. Intuitiv verfhrt auch jeder All-tagssprachensprecher in dieser Sache richtig, weil ja z. B. beieiner Zeugenaussage vor Gericht festgestellt wird, der Zeugehabe zum Zeitpunkt t das Ereignis E beobachtet, und diesknne er jederzeit beschwren, nicht aber, der Zeuge habe einEreignis E beobachtet, was er zum Zeitpunkt t beschwren,aber zu einem anderen Zeitpunkt t nicht beschwren knne.

    Die an der Theorie Tarskis zu gewinnende Erkenntnis, daeine Wahrheitsdefinition zugleich eine Beziehung zwischender Wahrheit auf der objektsprachlichen und der metasprach-lichen Ebene herstellt, lt sich auch dahingehend auswerten,da wie das Beispiel mit der Neujahrsansprache zeigt Begrndung als Ausweis der Wahrheit eines Satzes nicht alstatschlich geleistetes Produkt, sondern als Erkenntnisziel, alsregulative Idee zu verstehen ist. Das heit, wer verstehenwill, was eine Begrndung ist, kann dies nicht an Exemplarengelungener Begrndungen erreichen wie man ja auch dasWort wahr nicht dadurch erlernen kann, da man sich einegroe Anzahl wahrer Stze als Beispiele vor Augen fhrt undentsprechend falsche Stze als Gegenbeispiele. Fr Begrn-den mu vielmehr eine Liste von Anforderungen an Verfah-ren zur Auszeichnung begrndeter Stze angegeben werden.Was dies im einzelnen heit, wird in Kapitel IV erlutert.

    Obgleich die Theorie Tarskis aus der gegenwrtigen Dis-kussion von Wahrheitstheorien, wie sie im folgenden Ab-schnitt Lust und Last der Gegenwart angesprochen wird,nicht mehr wegzudenken ist, bleiben zusammenfassend fol-gende Mngel festzuhalten:

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    Die Erwartung etwa eines Laien oder eines Wissenschaft-lers, von einer Wahrheitstheorie zu erfahren, mit welchenMitteln er ber die Wahrheit eines Satzes entscheiden kn-ne, wird enttuscht. Die Theorie betrifft die Wahrheitsde-finition, leistet aber keine Hilfe fr Verifizierungs- oderKontrollverfahren irgendeiner Art;

    damit fehlen auch mgliche Verbindungen zwischen Wahr-heitsdefinition und Wahrheitskriterien etwa derart, da jadas Interesse am Wahrheitsproblem legitimerweise auch inder tatschlichen Anwendung auf Entscheidungen begrn-det ist, Stze nach wahr und falsch zu beurteilen. Ob alsoz. B. nicht zuerst wenigstens fr bestimmte Flle von Wahr-heiten zu klren wre, aufgrund welcher Kriterien sie fest-gestellt (oder gar hergestellt) werden knnen, bevor sichdann daran eine Wahrheitsdefinition anschlieen lt, kannim Rahmen des Tarskischen Ansatzes gar nicht diskutiertwerden. Eine methodische Ordnung von Wahrheitskriteri-um und Wahrheitsdefinition gibt es im Rahmen des Ansat-zes von Tarski nicht;

    ob den zahlreichen stillschweigenden oder expliziten An-nahmen, die in die Theorie Tarskis eingehen, zugestimmtwerden kann oder nicht, tritt heute tatschlich nur als un-begrndete Entscheidung der Gruppenzugehrigkeit zu ei-ner philosophischen Richtung auf. Sie lt sich im AnsatzTarskis selbst weder begrnden noch widerlegen, wederrechtfertigen noch mit Grnden ablehnen, sondern gewinntZge eines Naturereignisses, das sich nur noch feststellenoder beschreiben lt. Die Wozu-Frage kann hier nicht ge-stellt werden, und zwar noch nicht einmal fr die formali-sierten Sprachen, fr die Tarski seine Theorie entwickelthat. Ihr fehlt, mit anderen Worten, ein Bezug nicht nur zurWelt des alltglichen Lebens, sondern sogar zur Welt derWissenschaft.

    Der mangelnde Bezug zur Praxis, in der das Wahrheits-problem auftritt wie lebensweltlich beim Richter, wissen-schaftlich beim Forscher bildet auch das zentrale Charak-teristikum einer wahrheitstheoretischen Diskussion, wie sie in

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    der Sicht mancher moderner, vor allem aus dem englischenSprachbereich stammender Philosophen das Kernstck gegen-wrtiger theoretischer Philosophie darstellen. Diesem gleich-sam als Abschlu historischer Erblasten zu sehenden Teil phi-losophischen Geschehens gilt der nchste Abschnitt.

    4. Lust und Last der Gegenwart

    Zunchst einmal ist die Perspektive auf die Gegenwart wiederzu erweitern, indem die Beschrnkung auf Wahrheitsdefi-nitionen aufgegeben und auch Wahrheitskriterien in Betrachtgezogen werden. Auerdem ist Gegenwart genauer zu be-stimmen, da sich die modernen, aktuell diskutierten Wahr-heitstheorien in der zweiten Hlfte unseres Jahrhunderts(engere Gegenwart) auf sprachanalytische Themen undVorlieben zusammenziehen, whrend in der ersten Hlfte des20. Jahrhunderts (weitere Gegenwart) ein anderer philo-sophischer Horizont bestimmend war in so verschiede-nen Anstzen wie der pragmatischen Theorie der Wahr-heit von William James (1907), der phnomenologischenWahrheitsdiskussion von Edmund Husserl (1901) und MartinHeidegger (1927) sowie einer an den exakten Wissenschaf-ten interessierten Diskussion etwa durch Rudolf Carnap (ab1926), Carl Gustav Hempel (ab 1935), oder Karl Popper (ab1935).

    Klammert man hier die wissenschaftstheoretische Wahr-heitsdebatte aus, die sich ber B. Russell und L. Wittgensteinin manchen Perspektiven auf G. Frege zurckverfolgen ltund in wichtigen Aspekten von der Philosophie des linguisticturn geprgt ist sie durchzieht als Wissenschaftstheorie auchdie zweite Hlfte des Jahrhunderts und wird gesondert inKapitel III besprochen , so handelt es sich bei der Unter-scheidung von engerer und weiterer Gegenwart nicht nur umdie chronologisch grobe Zweiteilung des Jahrhunderts, son-dern um den grundlegenden Unterschied, da den frherenAnstzen noch ein wesentlich breiteres philosophisches Er-kenntnisinteresse zugrunde lag. Die Diskussion der sprach-

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    analytischen Wahrheitstheorien dagegen fhrt immer mehr zufachphilosophisch internen, formalistisch-scholastischen Er-starrungen, zu Abblendungen und Beschrnkungen. Gemessenam Programm dieses Buches ist dafr die Ferne oder Aus-klammerung jeglicher Wozu-Frage das deutlichste Abgren-zun