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Fátima Irmgard Jehle Wolfgang Bouché HEINRICHS-VERLAG GMBH Bayerische Verlagsanstalt Bamberg Pilgerwege

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Fátima

Irmgard JehleWolfgang Bouché

HEINRICHS-VERLAG GMBHBayerische Verlagsanstalt Bamberg

Pilgerwege

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2. Auflage 2015 © 2011, Heinrichs-Verlag GmbH, Bayerische VerlagsanstaltBamberg und Bayerisches Pilgerbüro MünchenAlle Rechte der Vervielfältigung und Verbreitung, einschließ-lich Film, Funk, Fernsehen und sonstiger elektronischer Medien sowie der Fotokopie und des auszugsweisen Nach-drucks vorbehaltenText: Irmgard Jehle, Wolfgang Bouché, Engelbert Siebler undBayerisches Pilgerbüro Fotos: Bayerisches Pilgerbüro München, Irmgard Jehle, PeterSantor und Heinrichs-VerlagKarte: cartomedia, Angelika Solibieda, KarlsruheSatz und Gestaltung: Bayerische Verlagsanstalt BambergDruck und Bindung: Haßfurter Medienpartner GmbH & Co. KG, Haßfurt am MainPrinted in GermanyISBN 978-3-89889-164-6

Mit kirchlicher DruckerlaubnisBamberg, 5. April 2011, Nr. 140/2011

Georg Kestel, Generalvikar

Titelbild: Blick auf die Basilika. Umschlagrückseite: Der großePlatz vor der Basilika ist gefüllt von Gläubigen aus aller Welt.

Gedruckt auf 100 % chlorfrei gebleichten Papier

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Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

Portugal, ein kleines Land mit großer Geschichte . . . . 10Europa um 1917 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15Am Rande Europas: Portugal . . . . . . . . . . . . . . . . 16Im Herzen Portugals: Fátima . . . . . . . . . . . . . . . . 18

Die Seherkinder: Lucia, Francisco und Jacinta. . . . . . . 21Lucia dos Santos (22. März 1907 – 13. Februar 2005)

Kindheit in Fatima (1907–1921) . . . . . . . . . . . . . . 23Bei den Dorotheerinnen in Pontevedra und Tuy (1925–1946) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26Im Karmel von Coimbra (1948–2005) . . . . . . . . . 30

Die Geschwister Francisco und Jacinta Marto . . . . . . . 32Francisco Marto (11. Juni 1908 – 4. April 1919). . . . 33Jacinta Marto (11. März 1910 – 20. Februar 1920). . 34

Vorbereitung auf die Begegnung mit der Gottesmutter: die drei Engelerscheinungen von 1916 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

Der Engel des Friedens (Frühjahr 1916). . . . . . . . . 39Der Engel Portugals (Sommer 1916) . . . . . . . . . . . 40Die geistliche Kommunion (Herbst 1916) . . . . . . . 42

Die sechs Marienerscheinungen von Mai – Oktober 1917. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

1. Erscheinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452. Erscheinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483. Erscheinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504. Erscheinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555. Erscheinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566. Erscheinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

Inhaltsverzeichnis

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Die drei Teile des Geheimnisses von Fátima. . . . . . . . 62Der 1. Teil: Die Vision der Hölle . . . . . . . . . . . . . . 63Der 2. Teil: Die Ankündigung des 2. Weltkriegs und die Bekehrung Russlands . . . . . . . . . . . . . . . 64Der 3. Teil: Verfolgung und Leiden der Kirche. . . . 68

Die symbolischen Bilder des 3. Teils . . . . . . 71Der weiß gekleidete Bischof . . . . . . . . . . . . 71Der Kreuzweg der Kirche . . . . . . . . . . . . . . 72Der Engel mit dem Flammenschwert . . . . . 74

Die Botschaft von Fátima: ein Weg in die Zukunft . . . 77Die prophetische Dimension. . . . . . . . . . . . . . . . . 79Die Realität von Himmel und Hölle . . . . . . . . . . . 80Aufruf zu Buße, Umkehr und Gebet für den Frieden der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82Das Rosenkranzgebet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83Die Verehrung des unbefleckten Herzens Mariens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85Gott im Geheimnis der Dreifaltigkeit und der Eucharistie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89Solidarität und Zeugnis mit und in der Kirche . . . 90

Fátimas Entwicklung zum Wallfahrtsort . . . . . . . . . . 92Die Pilgermadonna: Maria begleitet die Kirche auf ihrem Weg durch die Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

Das Heiligtum von Fátima (Santuário) . . . . . . . . . . . 100Die Cova da Iria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Die Erscheinungskapelle (Capelinha, Capela das Apariçoes) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101Der große Platz (Recinto do Santuário) . . . . . . . . . . 103Die Basilika Unserer Lieben Frau vom Rosenkranz (Basilica antiga). . . . . . . . . . . . . . . 106Die Kirche der Allerheiligsten Dreifaltigkeit (Igreia da Santissima Trindade) . . . . . . . . . . . . . . . . 110

Die Beichtkapelle (Capela da Reconciliação) . . . . . 114

Inhaltsverzeichnis

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Die Anbetungskapelle (Capela do Santissimo Sacramento) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114Die ehemalige Krankenherberge, das Haus Unserer Lieben Frau von den Schmerzen (Casa de Retidos das Dores) . . . . . . . . . . . . . . . . . 115Das Haus Unserer Lieben Frau vom Berg Karmel mit dem Rektorat des Heiligtums (Casa de Na. Sa. do Carmo) . . . . . . . . 117Die Ausstellung „Licht und Frieden“ (Luz e Paz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118Die Berliner Mauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120Das Denkmal für Bischof José Alves Correia da Silva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122Die Denkmäler für die Päpste Pius XII., Paul VI. und Johannes Paul II. . . . . . . . . . . . . . . 123Das Pastoralzentrum Paul VI. (Centro Pastoral Paulo VI) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

Pilgerstätten außerhalb des Heiligtums . . . . . . . . . . 125Der kleine oder ungarische Kreuzweg (Via Sacra, Caminho dos Pastorinhos, Calvário Húngaro). . . . . . 125Der Kalvarienberg (Calvário) mit der Kapelle des hl. Stephan von Ungarn . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Valinhos: die Kapelle der vierten Marien-erscheinung (Monumento dos Valinhos) . . . . . . . . . 134Die Loca do Cabeço (auch Loca do Anjo – Ort der Engelserscheinung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134Aljustrel, die Heimat der Seherkinder . . . . . . . . . . . 135 Die Pfarrkirche Unserer Lieben Frau von den Sorgen (Na. Sa. dos Frazeres) . . . . . . . . . . . 136Das Museum für sakrale Kunst im Seminar der Consolata Missionare (Missóes Consolata) . . . . . 136Das Wachsmuseum Fátima (Museu de Cera) . . . . . . 137Das Wachsmuseum über das Leben Jesu (Museu Vida de Cristo) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

Inhaltsverzeichnis

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Das Haus der „Blauen Armee“ und Unsere Liebe Frau von Kazan (Exercito Azul; Domus Pacis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

Ausflüge in das Umland von Fátima . . . . . . . . . . . . 142„Saudade“ – die besondere Gefühlswelt Portugals . . 142Die Hauptstadt Lissabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144Batalha, das Kloster der hl. Maria vom Sieg (Mosteiro da Batalha) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155Das Marienkloster von Alcobaça (Mosteirode Santa Maria de Alcobaça) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160Nazaré und das Santuario Na. Sa. da Nazaré . . . . . . 166Óbidos, die Stadt der Königinnen . . . . . . . . . . . . 169Tomar, die Klosterburg der Christusritter (Convento da Ordem de Cristo) . . . . . . . . . . . . . . . . 171Coimbra: die Stadt des Wissens und der „Saudade“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

Lieder und Gebete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180Gebete des Engels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180Rosenkranz-Zwischengebet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180Tagesgebet zum Gedenktag unser Lieben Frau von Fátima . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181Ave von Fátima . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181Lied der seligen Hirtenkinder . . . . . . . . . . . . . . . . . 183Zwischengesang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184Abschiedslied von Fátima . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185Messtexte für den 13. MaiGedenktag Unserer Lieben Frau in Fátima . . . . - . . . 186Vater unser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190Ave Maria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190Treze de Maio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

Literaturangaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

Inhaltsverzeichnis

7Papst Benedikt XVI. vor der Statue der Madonna im Mai 2010.

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Portugal ist ein kleines Land im äußersten WestenEuropas, das „Land des Sonnenuntergangs“ – doch miteiner großen Vergangenheit. Phönizier, Griechen, Kel-ten, Römer, Westgoten und Mauren wechselten sich inder Herrschaft des Landes ab und hinterließen ihreSpuren. Mit seinem Sieg über die Mauren im Jahr1139 erwarb sich Afonso Henriques das Anrecht aufden Königstitel und führte sein Land in die Unab-hängigkeit; 1279 wurden die noch heute gültigenGrenzen festgelegt. Drei Königshäuser (die Burgun-der seit 1143, die Avis ab 1385 und die Bragança von1640–1919) regierten das Land bis zur Ausrufung derRepublik im Jahr 1910.

Nach der Vertreibung der Mauren (Reconquista)wurden die Portugiesen zu einem Volk der Seefahrerund Entdecker. Heinrich der Seefahrer (1394–1460)unternahm selbst keine Entdeckungsreisen, doch alsMitglied der königlichen Familie und Großmeister derChristusritter wurde er zum bedeutendsten Fördererund Auftraggeber. Er veranlasste Expeditionen an dieWestküste Afrikas um neue Märkte für Gewürz-,Gold- und Sklavenhandel zu erschließen. Die portu-giesische Sprache und Kultur wurde in die neuent-deckten Gebiete gebracht. Missionare begleiteten dieExpeditionen und verbreiteten den christlichen Glau-ben in der „Neuen Welt“. Vasco da Gama entdeckte1497 den Seeweg nach Indien, Ferdinand Magellanbrach von Portugal aus 1519 zu seiner ersten Welt-umsegelung auf; Portugiesen gründeten Kolonien inSüdamerika, Afrika und dem Fernen Osten, Han-delsniederlassungen entstanden. Unter König Ma-nuel I. (1495–1521) hatte Portugal seinen Höhepunkterreicht, es war die führende See- und Kolonialmacht.

Portugal, ein kleines Land mit großer Geschichte

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Ein riesiges Kolonialreich war entstanden, das erst1974 die letzten Gebiete in die Unabhängigkeit ent-ließ. Der nach dem König benannte manuelinischeStil spiegelt den Reichtum, die Vielfalt und das Selbst-bewusstsein dieser Epoche.

Schon 1588 begann der langsame Niedergang mitdem Sieg der Engländer über die spanisch-portugie-sische Armada. Portugal versank mehr und mehr indie Bedeutungslosigkeit. Als napoleonische Truppen1810 das Land überfielen, plünderten und zerstörtensie zahlreiche Kulturgüter. In der Folge kam das Landnicht mehr zur Ruhe, die wirtschaftliche Lage war ka-tastrophal, mehrmals stand Portugal vor dem Staats-bankrott. 1910, nur zwei Jahre nach der ErmordungKönig Karl I. und des Thronfolgers Ludwig Philippauf offener Straße, wurde die Monarchie gestürzt, derThronfolger Emmanuel I. des Landes verwiesen. EineRevolution folgte der nächsten, eine Regierung löste

Geschichte

Wild rauscht das Meer an Portugals Küsten.

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die andere ab. Durch die politische Instabilität warPortugal erneut am Rande des Ruins und wirtschaft-lich hoch verschuldet. Die Situation verschärfte sich,als es 1916 in den Ersten Weltkrieg hineingezogenwurde. Die Trennung von Kirche und Staat wurde sys-tematisch betrieben und sollte das Christentum ganzaus Portugal verbannen. Doch die religionsfeindlichePolitik brachte nicht den erwünschten Erfolg: Tau-sende hatten im Oktober 1917 das Sonnenwunder ge-sehen und Fátima hatte sich tief im Bewusstsein desVolkes verankert.

Eine gewisse Stabilität erreichte Portugal erst wieder durch die Machtübernahme von Antonio deOliveira Salazar, der ab 1928 eine antikommunisti-sche, konservativ-katholische Militärdiktatur aufbautemit einer faktischen Entmachtung des Parlaments. AlsMinisterpräsident (seit 1932) blieb Salazar über Jahr-zehnte die politische Führungspersönlichkeit. Unterseiner Regierung wurden moderne Entwicklungenblockiert, auf eine solide Bildung des Volkes kein Wertgelegt. Dagegen wurden Kirche und Religion bewusstgefördert und für die Zwecke der Militärjunta ausge-nutzt, 1940 wurde das Konkordat mit dem Vatikan er-neuert. Bereits im Mai 1931 hatte der portugiesischeEpiskopat unter Leitung des Kardinals von Lissabondie Weihe Portugals an Maria vollzogen. Als die Bischöfe 1936 zur Nationalwallfahrt nach Fátima auf-riefen, pilgerte ein Jahr später eine halbe Million Por-tugiesen aus allen Landesteilen samt der Regierungzur „Beschützerin Portugals“. Ihr drängendstes Anlie-gen war die Bitte um die Bewahrung vor Krieg undKommunismus. Vom Zweiten Weltkrieg blieb Portu-gal verschont, es wurde zur Drehscheibe für Verfolgtevieler Nationen, die von dort aus in sichere Drittländergelangen konnten.

Geschichte

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Papst Pius XII. charakterisierte in einer Radioan-sprache „Regina del santissimo rosario“ vom Oktober1942 die Situation der großen Seefahrernation Portu-gal: „In einer tragischen Stunde der Finsternis und Ver-wirrung, da das portugiesische Staatsschiff abgeirrt warvom Kurs seiner Traditionen und wie verloren im anti-christlichen und antinationalen Wettersturm dem Schiff-bruch entgegenzutreiben schien, da griff der Himmelhelfend ein. Und aus der Finsternis strahlte das Licht auf,aus dem Chaos wuchs die Ordnung empor, aus demSturm war Meeresstille, und Portugal konnte an die zer-rissenen Fäden seiner verlorenen Überlieferungen wiederanknüpfen … Die erste Ehrerweisung und Danksagung gebührt der seligsten Jungfrau, der Königin und Mutterdes Marienlandes. Mit Recht müssen wir bekennen, dassdie Gottesmutter euch mit wahrhaft außerordentlichenGunsterweisen überhäuft hat.“

Korkeichen im Nebel.

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Portugal war zu dieser Zeit das ArmenhausEuropas. Die Bevölkerung blieb in Unwissenheit undAnalphabetentum. Daran änderte auch Salazars Nach-folger Marcello Caetano nichts, der 1968 die Machtübernahm. Durch die teuren Kolonialkriege stand Por-tugal erneut vor dem Staatsbankrott. Der Umbruchkam mit der sog. Nelkenrevolution: Am 25. April 1974gelang unter General Spínola der Putsch. In Freudeüber den unblutigen Sturz der Diktatur steckten tau-sende jubelnder Portugiesen den Soldaten Nelken indie Gewehrläufe und an die Uniformen. Der Weg zurDemokratie und zu längst überfälligen Reformen warfrei, die Nelke wurde zum Symbol der Freiheit. Beiseinem Portugalbesuch im Mai 2010 fasste Papst Benedikt XVI. die Ereignisse des 20. Jahrhunderts zu-sammen und lud ein, sich den neuen Herausforde-rungen zu stellen: „Aus einer weisen Sicht des Lebensund der Welt leitet sich die rechte Ordnung der Gesellschafther. Die Kirche hat ihren Platz in der Geschichte, sie ist be-reit, mit denen zusammenzuarbeiten, welche die mensch-liche Auffassung vom Leben grundsätzlich achten undnicht an den Rand drängen oder auf den Privatbereich re-duzieren … Die republikanische Wende, die vor hundertJahren in Portugal stattgefunden hat, hat – in der Tren-nung von Kirche und Staat – einen neuen Raum der Frei-heit für die Kirche eröffnet, dem die beiden Konkordatevon 1940 und 2004 in kulturellen Bereichen und kirchli-chen Vorhaben, die stark von raschen Änderungen geprägtsind, Gestalt gegeben haben. Die durch die Veränderungenhervorgerufenen Schwierigkeiten sind im Allgemeinenmutig angegangen worden. Das Leben in einer Pluralitätvon Wertesystemen und ethischen Vorgaben macht es er-forderlich, sich zur Mitte des eigenen Ichs und zum Kerndes christlichen Glaubens aufzumachen, um die Qualitätdes Zeugnisses auf die Heiligkeit hin zu stärken und Wege

Geschichte

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der Sendung zu finden, die bis zur Radikalität des Mar-tyriums gehen.“ (Papst Benedikt XVI. bei seiner An-kunft in Lissabon am 11. Mai 2010)

Europa um 1917

Die Erscheinungen von 1916/17 fanden weit weg vonden politischen Krisenherden im portugiesischen Fá-tima statt, aber in der Tragweite ihrer Botschaft betra-fen sie ganz Europa, das in Auflösung begriffen war.Die Jahre waren gekennzeichnet von politischemChaos, von Krisen und Zerstörungen: Seit mehr alszwei Jahren tobte nach einem voraus gegangenenWettrüsten und neuen Waffentechniken ein Krieg,der großes Leid über die Menschen brachte. Auch dieZivilbevölkerung bekam die Folgen zu spüren; Nah-rungsmittel und Rohstoffe waren knapp; durch dieUnsummen, die der Krieg verschlang, lag die Wirt-schaft im Argen und die Arbeit blieb liegen, weil diejungen Männer in den Krieg ziehen mussten; vielekamen als Krüppel zurück oder waren an der Frontgestorben. Als 1917 Amerika in den Krieg eintrat, hatteer sich zum Weltkrieg ausgeweitet.

Viele Länder standen vor politischen Umbrüchen,vor Revolution und Bürgerkrieg – wie das russischeReich. Im April 1917 war Lenin mit 32 Anhängernnach dem Sturz von Zar Nikolaus aus seinem Schwei-zer Exil nach Russland zurückgekehrt. Im Gepäckhatte er die marxistische Ideologie, die in der Okto-berrevolution desselben Jahres den Kommunismusan die Macht führte, der mehr als 70 Jahre die Men-schen unterjochte. Alle Macht lag in den Händen derSowjets, die über das Schicksal von Millionen ent-schieden. Wesentlicher Bestandteil ihrer Ideologie wardie Zerstörung der Religion. Kirchen und Klöster wur-

Europa um 1917

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den geplündert und zerstört, Priester und Gläubigeermordet oder in Arbeitslager und Gefängnisse ver-schleppt. Zwei Jahrzehnte später bezeichnete PapstPius XI. den Kommunismus als satanische Geißel, diedie Menschen ihrer Würde und Freiheit beraubt unddie Religion mit brutalsten Mitteln verfolgt (vgl. En-zyklika „Divini Redemptoris“.

In diesem Kontext steht die Mahnung der Gottes-mutter, wenn Russland sich nicht von dieser gottes-feindlichen und atheistischen Haltung abwendet,„wird es seine Irrlehren über die Welt verbreiten, wird esKriege und Kirchenverfolgungen heraufbeschwören. DieGuten werden gemartert werden, der Heilige Vater wirdviel zu leiden haben, verschiedene Nationen werden ver-nichtet werden.“ Die Prophezeiung traf ein: Von Russ-land aus hat sich der staatlich verordnete Atheismusüber die frühere Sowjetunion auf die ehemaligen Ost-blockstaaten und weite Teile der Welt ausgebreitet, dieMenschen hinter dem Eisernen Vorhang eingesperrtund Verfolgung und Krieg ausgelöst.

Am Rande Europas: Portugal

Trotz seiner Randlage war Portugal 1916 in den bluti-gen Krieg hineingezogen worden. Die Landbevölke-rung wusste zwar wenig vom politischen Zusam-menbruch Europas, aber sie bekamen dessen Aus-wirkung zu spüren durch die Wirtschaftskrise, die Ab-schaffung der Monarchie und das Fehlen der Männer,die weit weg in einem Krieg kämpften, der die ganzeWelt ergriffen hatte.

Das Land steckte seit Jahren in einer tiefen Krise:Aus der reichen Kolonialmacht war ein hochver-schuldetes Land geworden und keine der rasch wech-selnden Regierungen schaffte es, die wirtschaftliche

Europa um 1917

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Situation zu verbessern und den erneut drohendenStaatsbankrott abzuwenden. Großen Einfluss hattendie Freimaurer und ihr antichristliches Gedankengut.Die neuen Machthaber aus liberalem Bürgertum undArbeiterbewegung wollten nach dem Vorbild der fran-zösischen Revolution Portugal zu einer Republik um-formen, d. h. Adel und Kirche wurden entmachtet undenteignet. Der katholischen Kirche wurde die Haupt-schuld an der Misere des Landes zugeschoben, wes-halb das Christentum binnen zweier Generationenaus Portugal verschwinden sollte. „Weder Gott noch Religion“ war allerorts zu hören. Der Hass gegen dieKirche wurde systematisch geschürt, die Auseinan-dersetzung zwischen Regierungsanhängern und Katholiken nahmen zu. Priester und Ordensleute wur-den vertrieben, katholische Schulen geschlossen, Kir-chenvermögen eingezogen. Nur in wenigen Kirchenkonnte weiterhin Gottesdienst gefeiert werden. DieErlaubnis Priester zu werden, erteilte nur der Justiz-

Am Rande Europas: Portugal

Die Wallfahrtskirche von Nazaré.

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minister, die Beziehungen zum Vatikan wurden ab-gebrochen. „In den ersten Jahren der Republik wurde dieKirche stark verfolgt. Die religiöse Praxis war sehr einge-schränkt und geschah im Geheimen. Kirchen wurden geschlossen, Prozessionen und das Läuten der Kirchen-glocken waren verboten, Priester wurden ins Gefängnisgeworfen, Ordensleute und Schwestern wurden ins Aus-land verbannt. In Fátima kam die Verfolgung nicht sodurch, vielleicht weil es eine zurückgezogene und fast un-bekannte Gegend war, der Pfarrer aber musste mit gro-ßer Angst vorgehen.“ (Schwester Lucia)

Im Herzen Portugals: Fátima

Fátima liegt im Zentrum Portugals, 50 Kilometer vomAtlantik und 130 Kilometer von der Hauptstadt Lissa-bon entfernt, an den Ausläufern der Aire-Berge. Es ge-hörte zum Bezirk von Vila Nova de Ourém und zurDiözese von Leiria: eine typische Landgemeinde, wiees viele in Portugal gab, mit seinen ca. 2.500 Einwoh-nern und 40 Weilern. Die Häuser waren klein, mit an-geschlossenen Ställen für die Schafe, einer Zisterneim Hof zum Sammeln des Regenwassers; zwischenden Steinmauern pflegten die Bauern ihre Felder undWeiden. In Fátima ging das Leben seit Generationenseinen gewohnten Gang, viel hatte sich nicht verän-dert. Die Bevölkerung war meist arm, hatte aber ihrbescheidenes Auskommen. Es war ein einfaches undarbeitsreiches Leben. Es gab eine Dorfschule, die nurwenige Kinder besuchen konnten; die meisten muss-ten entsprechend ihrem Alter bei der anstehenden Arbeit helfen, z. B. beim Schafe Hüten. Nur seltenkamen Fremde in das abgeschiedene Dorf, weit wegvon der großem Politik und dem Weltgeschehen. Des-halb hatte auch die religionsfeindliche Haltung der

Am Rande Europas: Portugal

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Regierung Fátima noch nicht erreicht: der Kirchen-besuch am Sonntag war selbstverständlich, die Marienfrömmigkeit seit Jahrhunderten durch die Dominikaner des nahen Klosters von Alcobaça fest verankert. Religiöse Feste boten eine willkommene Abwechslung im gleichförmigen und harten Alltag.

Das einzig besondere war der Name des Dorfes: Fátima, ein beliebter arabischer Frauenname, nach derLieblingstochter des Propheten Mohammed, Erinne-rung an die Zeit, in der das Land südlich des Tejo vonden Mauren besetzt war. Eine Legende erzählt von derschönen Tochter eines mächtigen Maurenfürsten ausAl-Kasar (dem heutigen Alcacer do Sal) namens Fá-tima und führt zurück in das Jahr 1158 zum 24. Juni.Es war der Festtag Johannes des Täufers, auch fürMuslime ein großer Prophet. Aus diesem Anlass hatteder Maurenfürst für die Familien seiner Getreuen einPicknick veranstaltet. Dabei überfielen christliche Rit-ter unter der Führung von Don Gonçales Hermin-

Im Herzen Portugals: Fátima

Alte Basilika.

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gues, dem „Schrecken der Mauren“, die ahnungsloseGruppe. Die Männer flüchteten oder wurden getötet,die Frauen gefangen genommen – darunter auch dieFürstentochter Fátima. Zusammen mit den anderenGefangenen wurde sie nach Santarém gebracht, demSitz des christlichen Königs Afonso Henriques. DonGonçales hatte sich in die schöne Fátima verliebt underbat sich vom König ihre Hand. Fátima erwiderte dieLiebe und war bereit seine Frau zu werden. Dafür liessie sich taufen und erhielt den Namen Oureana, die„Goldene“. Der König schenkte dem Paar zur Hoch-zeit Ländereien rund um das Dorf Abdegas, das Her-mingues zu Ehren seiner Frau nach ihr benannte:Oureana, das heutige Vila Nova de Ourém, die Be-zirkshauptstadt nahe Fátima. Bald nach der Hochzeitstarb Oureana und Don Hermingues trat aus Trauerin das Kloster des hl. Bernhard von Alcobaça ein. Oureana ließ er in einer kleinen Dorfkirche ca. fünfKilometer von Ourém entfernt beisetzen. Seither trägtdas Dorf um die Kirche ihren arabischen Namen Fátima.

Im Herzen Portugals: Fátima

Feierlichkeiten zum 13. Mai 2010.

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Die Ereignisse und Entwicklungen von Fátima sinduntrennbar verbunden mit den drei SeherkindernLucia, Francisco und Jacinta. Lucias Vater und die Mut-ter von Francisco und Jacinta waren Geschwister, unddie drei wuchsen zusammen in Aljustrel auf, LuciasMutter war den beiden Geschwistern wie eine zweiteMutter. Oft kamen die beiden, um mit der älterenLucia zu spielen oder ihr Gesellschaft zu leisten.

Ungefähr einen Kilometer von Fátima entferntliegt der Weiler Aljustrel, wo die drei SeherkinderLucia dos Santos und die Geschwister Francisco undJacinta Marto aufwuchsen. Dort wurden ihnen schon1916 drei Engelserscheinungen zuteil. Vor den Er-scheinungen unterschieden sich die Kinder in Nichtsvon ihren Altersgenossen. Zur Schule gingen sienicht, weil sie in Haus und Hof mitarbeiten mussten.Erst nach den Erscheinungen ging Lucia in die örtli-che Primarschule, wo sie rasch Lesen und Schreibenlernte. Von klein an wurden die Kinder von ihren El-tern zum christlichen Glauben hingeführt, aber kleineHeilige waren sie trotzdem nicht. Von ihren Eltern zurWahrheitsliebe erzogen, lebten sie eine altersgemäße,bodenständige Religiosität und fanden neben der Ar-beit noch genug Zeit zu fröhlichem Spiel. Wie sie eszuhause gelernt hatten, beteten sie mehrmals täglich.„Man hatte uns empfohlen, nach dem Vesperbrot den Ro-senkranz zu beten. Aber weil uns die Zeit zum Spielen zukurz vorkam, hatten wir eine gute Gewohnheit herausge-funden, schnell fertig zu werden: Wir ließen die Perlen glei-ten, indem wir sagten ‚Ave Maria, ave Maria, ave Maria!‘Wenn wir am Ende des Geheimnisses angekommen

Die Seherkinder: Lucia, Franciscound Jacinta

„Den Unmündigen hast dualles offenbart“ (Mt 11,25)

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waren, sagten wir das Vaterunser. So hatten wir schnellunseren Rosenkranz gebetet.“ (Schwester Lucia)

Mit den Erscheinungen änderte sich das unbe-schwerte Leben der Kinder: Den Dreien erschien drei-mal der Engel und in sechs Erscheinungen sahen siedie Gottesmutter. Francisco konnte die ErscheinungMarias nur sehen, seine Schwester Jacinta sah undhörte sie. Mit ihr sprechen und ihr Bitten übermittelnkonnte nur Lucia. Die Kinder orientierten sich vonnun an ganz an der Botschaft, die ihnen der Engel unddie Gottesmutter anvertraut hatten und die sie mitihrem Leben bezeugen wollten. Lucia hatte bei den Er-scheinungen eine Vorrangstellung, und da sie längerauf Erden bleiben würde als die beiden anderen, wares ihre Aufgabe, die Botschaft von Fátima weiterzu-geben und durch ihr Leben dafür einzutreten.

Die Seherkinder

Die drei Seherkinder (von links nach rechts) Lucia, Francisco und Jacinta.

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Lucia dos Santos (Schwester Maria das Dores bzw. alsKarmelitin Schwester Lucia vom unbefleckten HerzenMariens) 22. März 1907 – 13. Februar 2005

Kindheit in Fátima (1907 – 1921)

Lucia war das jüngste von sieben Kindern der Ehe-leute Antonio und Maria Rosa dos Santos, sie wurdeam 22. März 1907 geboren. Die Eltern waren einfa-che und fromme Bauern, die im ganzen Dorf ge-schätzt wurden, nicht zuletzt wegen ihrer Hilfs-bereitschaft. Wenige Tage nach der Geburt ließen siedas Kind am Karsamstag, den 30. März, taufen, undschon mit sechs Jahren ging Lucia erstmals zur hl.Kommunion und nicht erst wie sonst üblich mit zehnJahren. Ihre Mutter hatte sie darauf vorbereitet, und eswar Lucias Wunsch, sobald als möglich die Eucharis-tie zu empfangen. Dank ihres guten Gedächtnisses,hatte sie alle mit ihrem Wissen und ihren Katechis-muskenntnissen überrascht.

Als jüngste der Familie wurde Lucia von ihren Ge-schwistern und besonders von ihrer Mutter verwöhnt.„Überhaupt, mit Zärtlichkeiten und Liebkosungen habeich mein sechstes Lebensjahr erreicht … An den Festta-gen liebte ich, mich mit einer kleinen goldenen Schnurund mit großen Ohrringen zu schmücken, die mir bis auf die Schulter herabfielen, und ein schönes Hütchen zutragen … In der Umgegend lebte kein anderes so gut herausgeputztes Mädchen, und meine Schwestern undmeine Patin Therese brüsteten sich deshalb.“ (SchwesterLucia)

Selbst wenn sie auf Fotographien eher mürrischund ernst anmutet, hatte Lucia eine große Ausstrah-lung, besonders Kinder fühlten sich bei ihr wohl. Siehalf, auf die jüngeren Kinder in der Verwandtschaft

Lucia dos Santos

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aufzupassen. Als sie mit neun Jahren anfing, die el-terlichen Schafe auf die Weiden zu führen, schlossensich ihr die beiden Geschwister Francisco und Jacintagerne an.

Das Leben war für eine Familie mit sieben Kin-dern nicht einfach, noch dazu da Vater Antonio oftGeld für Alkohol ausgab. Selten ging er in Fátima zurKirche, da er mit dem neuen Pfarrer nicht zurecht-kam; in der Familie betete er mit seinen Kindern undwar stets zur Stelle, wenn nachbarschaftliche Hilfe gebraucht wurde. Bei Lucias Berichten über die Er-scheinungen blieb er ruhig: „Sei nicht besorgt. Wir wis-sen nicht, ob es die Wahrheit ist, wir wissen aber auchnicht, ob es Lüge ist. Hoffen wir geduldig, bis wir sehen,wie all dies enden wird.“ (Schwester Lucia)

Ganz anders Mutter Maria Rosa: Sie litt darunter,dass das Geld immer knapper wurde, ihre erwachse-nen Töchter das Haus verließen, um zu heiraten oderArbeit zu suchen. Und da waren vor allem die Pro-bleme mit Lucia, die während der Erscheinungen ge-rade zehn Jahre alt war. „Gott hat mir sieben Kindergegeben … Für wen ich am meisten besorgt bin, ist dieseLucia, weil ich nicht sicher weiß, ob Unsere Liebe Frau ihrwirklich erschienen ist.“ (Schwester Lucia)

Sie glaubte ihrer Tochter nicht, bezichtigte sie derLüge und schlug sie sogar, um sie auf den richtigenWeg zurückzubringen. Als sie nichts ausrichtenkonnte, wandte sie sich an den Pfarrer, um auf Luciaeinzuwirken. „Ich verstand die Angst der Mutter: die Un-ordnung, die durch alles in unserem Hause verursachtwurde. Und mit all dem litt sie, Gott weiß, wie viel! Ichwäre, wie die Mutter sagte, die Ursache von allem undwenn ich eingestände, dass ich lüge, würde alles aufhören.Aber ich dachte: ‚Wenn ich sage, ich hätte gelogen, dannwürde ich lügen‘.“ (Schwester Lucia)

Lucia: Kindheit in Fátima

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Dazu kam der Ärger mit den Dorfbewohnern, diewütend waren über die ständige Unruhe durch die vie-len Schaulustigen und den Weggang des Pfarrers,dem der Rummel um die Erscheinungen zu viel ge-worden war. Lucia litt unter den ständigen Vorwürfender Mutter und fühlte sich verantwortlich für die Pro-bleme in der Familie, vor allem für die finanziellenEinbußen durch den Verlust der Weiden und Felder inder Cova da Iria, die von den Besuchern niederge-trampelt wurden: „Ich erinnerte mich dann an vergan-gene Zeiten und fragte mich selbst: Wo ist die Liebe, diemeine Familie mir noch vor kurzer Zeit zeigte? Meineeinzige Erleichterung waren die Tränen, die ich vor Gottvergoss, als ich ihm mein Opfer anbot.“ (SchwesterLucia)

Bis zu ihrem Tod im Jahr 1942 zweifelte die Mut-ter an Lucia: „Geh mein Kind. Wenn du wirklich UnsereLiebe Frau gesehen hast, soll sie dich behüten. Ihr über-gebe ich dich. Wenn du aber gelogen hast, weiß ich nicht,was aus dir werden wird.“ (Schwester Lucia)

Hinter der Härte der Mutter stand die Sorge umihre Tochter. Sie begleitete Lucia am 13. Oktober zurCova da Iria. Sie hatte Angst, dass ihr dort etwas zu-stoßen könnte: „Wenn unser Kind dort sterben wird,wollen wir dort mit ihm sterben. Ohne an sich selber zudenken, wollte sie mich begleiten und ging aus dem Hausunter stürmischem Regen und einem rauen Wind, derGefahr entgegen, ohne davor zu erschrecken.“ (Schwes-ter Lucia)

Lucia liebte ihre Eltern von ganzem Herzen. Derfrühe Tod des Vaters und der Abschied von Jacinta undFrancisco trafen Lucia tief. Als die Mutter schwer er-krankte, bat Lucia inständig die Gottesmutter um ihreHilfe und versprach, an neun Tagen den Rosenkranzzu beten und dabei auf Knien von der Straße zum Er-

Lucia: Kindheit in Fátima

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scheinungsort zu rutschen – ein Beispiel, dem bisheute die Pilger folgen. Die Mutter wurde wieder ge-sund, die Probleme mit Lucia blieben. Deshalb ent-schloss sie sich, ihre Tochter aus Fátima wegzu-schicken.

Mit Hilfe des neu ernannten Bischofs da Silvakonnte Lucia ins „Asilio do Vilar“ in Porto aufgenom-men werden, das von den Dorothea-Schwestern geleitet wurde. Dort war sie vor den ständigen Be-fragungen geschützt. Zudem hatte der Bischof erhofft,dass sich mit dem Weggang der letzten lebenden Seherin der Zustrom von Pilgern nach Fátima ver-ringern würde; noch stand das Urteil über die Echt-heit der Erscheinungen aus, die kirchliche Anerken-nung erfolgte nach gründlichen Untersuchungen erst1930.

Damit Lucia unerkannt blieb, erhielt sie denNamen Maria das Dores. Niemand sollte ihre wahreIdentität erfahren, ihr war verboten, über ihre Her-kunft und die Ereignisse von Fátima zu sprechen; Be-suche in der Heimat waren nicht vorgesehen, nurselten durfte sie Briefe nach Hause schreiben. Luciawar vierzehn Jahre alt, als sie im Jahr 1921 ihr Eltern-haus für immer verließ. Bei den Dorotheerinnen emp-fing sie 1925 von Bischof José da Silva die Firmung.und bat um Aufnahme ins Postulat der Schwestern.Dazu musste sie ins spanische Pontevedra, da in Por-tugal alle religiösen Orden aufgehoben wurden.

Bei den Dorotheerinnen in Pontevedra und Tuy (1925 – 1946)

Am 24. Oktober 1925 traf Lucia im galizischen Pon-tevedra ein, wo ihr am 10. Dezember in ihrer Zelleeine weitere Marienerscheinung zuteil wurde. Die

Lucia: Kindheit in Fátima

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Gottesmutter erschien mit dem Jesuskind im Armund wies auf ihr von Dornen umgebenes Herz. DasKind sprach: „Hab Mitleid mit dem Herzen deiner hei-ligsten Mutter, umgeben von Dornen, mit denen die un-dankbaren Menschen es ständig durchbohren, ohne dassjemand einen Sühneakt machen würde, um sie heraus-zuziehen.“ (Schwester Lucia)

Dann folgte die Mahnung zur samstäglichen Süh-nekommunion, die die Gottesmutter schon bei der Er-scheinung im Juli 1917 angesprochen hatte: „MeineTochter, schau mein Herz, umgeben von Dornen, mitdenen die undankbaren Menschen durch ihre Lästerun-gen und Undankbarkeiten es ständig durchbohren. Tröstewenigstens du mich und mach bekannt, dass ich verspre-che, all jenen in der Todesstunde mit allen Gnaden, diefür das Heil dieser Seelen notwendig sind, beizustehen,die fünf Monate lang jeweils am ersten Samstag beichten,die heilige Kommunion empfangen, einen Rosenkranzbeten und mir während fünfzehn Minuten durch Be-trachtung der fünfzehn Rosenkranzgeheimnisse Gesell-schaft leisten in der Absicht, mich zu trösten.“ (SchwesterLucia)

Nachdem die Oberin und Lucias Beichtvater aufLucias Erzählung und die Bitte um Einführung derSühnesamstage skeptisch reagiert hatten, erschien imFebruar 1926 und März 1929 erneut das Jesuskind:„Bitte wieder und wieder um die Durchführung der Süh-nekommunion als Ehrung des unbefleckten Herzens Ma-riens an den ersten Samstagen. Die Zeit kommt, wennmeine Gerechtigkeit die Verbrechen verschiedener Natio-nen bestrafen wird …“ (Schwester Lucia)

Zum Noviziat wechselte Lucia im Oktober 1926ins spanische Tuy. Ihr offizieller Ordensname warSchwester Lucia Maria das Dores (Maria von denSchmerzen). Ihre zeitlichen Gelübde folgten am 3. Ok-

Bei den Dorotheerinnen

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tober 1928 und sechs Jahre später in Anwesenheitihrer Mutter die ewigen. Jetzt durfte sie ihre wahreIdentität preisgeben. Als Aufgabe wurde ihr die Mit-hilfe im klösterlichen Haushalt übertragen.

In der Hauskapelle von Tuy wurde SchwesterLucia im Jahr 1930 erneut eine Marienerscheinungzuteil, die sie in das Geheimnis der Dreifaltigkeit ein-führte und sie auf die Dringlichkeit der Weihe Russ-lands an das unbefleckte Herz Mariens durch denPapst und die Bischöfe hinwies, um die bedrohte Weltzu retten: „Ich hatte von meinen Oberinnen und mei-nem Beichtvater die Erlaubnis erbeten und erhalten, je-weils in der Nacht von Donnerstag auf Freitag von elfUhr bis Mitternacht eine heilige Stunde zu halten. EinesNachts war ich allein; ich kniete mich an das Geländerin der Mitte der Kapelle, um die Gebete des Engels zubeten. Da ich mich müde fühlte, richtete ich mich aufund betete weiter mit ausgebreiteten Armen. Nur dasewige Licht brannte. Plötzlich erhellte sich die ganze Ka-pelle durch ein übernatürliches Licht, und auf dem Altarerschien ein Kreuz aus Licht, das bis zur Decke reichte.In einem klaren Licht sah man im oberen Teil des Kreu-zes das Antlitz und den Oberkörper eines Menschen,über der Brust eine Taube, ebenfalls aus Licht, und andas Kreuz genagelt den Körper eines anderen Menschen.Ein wenig unterhalb der Taille, in der Luft schwebend,sah man den Kelch und eine große Hostie, auf die einigeTropfen Blutes herabliefen. Von der Hostie herabgleitend,fielen diese Tropfen in den Kelch. Unter dem rechtenArm des Kreuzes stand Unsere Liebe Frau; es war Un-sere Liebe Frau von Fátima mit ihrem unbefleckten Her-zen in der linken Hand. Unter dem linken Arm desKreuzes bildeten sich große Buchstaben wie aus Wasser,das auf den Altar lief und die Worte bildete ‚Gnade undErbarmen‘.“ (Schwester Lucia).

Bei den Dorotheerinnen

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Während all dieser Jahre lebte Schwester Lucia dasMotto ihrer Klostergemeinschaft „Der Wille Gottes istmein Paradies“. Zahlreiche Verhöre und Befragungenmusste sie über sich ergehen lassen, sie schrieb Briefeund verfasste auf den dringenden Wunsch des Bi-schofs da Silva eine detaillierte Niederschrift der Er-eignisse von Fátima. Schwerpunkte ihrer Darlegungensind das Leben Jacintas, die Erscheinungen des En-gels und der Gottesmutter und das Geheimnis von Fá-tima. „Vielleicht fragt jemand: Wie kommt es, dass sichdie Schwester an all das erinnert? … Wenn wir mit einemeinfachen Geschöpf sprechen, vergessen wir nach undnach, was gesagt wurde. Diese übernatürlichen Dingeprägen sich, wie wir sie sehen und hören, so tief in unsereSeele, dass es nicht leicht ist, sie zu vergessen.“ (Schwes-ter Lucia)

Unverständlich waren ihr die Spekulationen überden dritten Teil des Geheimnisses, ohne das umzu-setzen, um was die Gottesmutter gebeten hatte: einchristliches Leben in Gebet und in Hinwendung zuGott. Nach der Veröffentlichung des dritten Teils be-stätigte Lucia, dass nun alles bekannt sei und es keinweiteres Geheimnis gäbe. Die Oberin erlaubte, dassSchwester Lucia den Wunsch der Gottesmutter in

Großer Platz (Blick auf Erscheinungskapelle mit Steineiche).

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einem Brief an Papst Pius XI. weitergab, der daraufhinfür die Bekehrung Russlands betete, aber keine Weihevollzog. 1930, am Jahrestag der letzten Erscheinungvon Fátima, erklärte der Ortsbischof die Echtheit derErscheinung; die Wallfahrt nach Fátima war damit of-fiziell erlaubt.

Im Karmel von Coimbra (1948 – 2005)

Zur Krönung der Gnadenstatue in der Erscheinungs-kapelle von Fátima durfte Schwester Lucia 1946 erst-mals wieder in ihre Heimat. Vieles hatte sich dortverändert. Als sie den neu erbauten Karmel sah, er-wachte in ihr der alte Wunsch, in den kontemplativenOrden einzutreten. Sie wandte sich an Papst Pius XII.und mit seiner Erlaubnis durfte Schwester Lucia am25. März 1948, dem Hochfest der Verkündigung des

Aljustrel (Elternhaus Lucias).

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Herrn, in den Karmel der hl. Theresia von Coimbraeintreten. Sie erhielt den Ordensnamen Maria Luciavom unbefleckten Herzen. Ihre feierlichen Gelübdelegte sie am 31. März 1949 ab. Auch im Karmel über-nahm sie verschiedene Aufgaben in Haus und Gartenund stand als Ratschwester ihren Mitschwestern zurSeite. Am 21. Oktober 2003 feierte sie ihr 75-jährigesProfess-Jubiläum. Nach Fátima zurückzukehren,waren tiefe Erlebnisse, so zu den Besuchen der PäpstePaul VI. und Johannes Paul II. Ein Höhepunkt war,als sie mit einer halben Million Pilger am 13. Mai2000 der Seligsprechung ihrer Gefährten Jacinta undFrancisco durch Johannes Paul II. beiwohnen durfte.

„Unsere Liebe Frau sagte, dass ich noch einige Zeitauf Erden bleiben soll. Aber jetzt ist es schon sehr lange“,bemerkte Schwester Lucia im Jahr 2004. Seit über 75Jahren lebte sie nun schon bescheiden und zurückge-zogen als Ordensfrau, davon mehr als 40 Jahre als un-beschuhte Karmelitin in Coimbra. Am 13. Februar2005 starb sie 97-jährig, in den Händen einen Ro-senkranz, ein Geschenk von Papst Johannes Paul II.,dem sie eng verbunden war. Wie sie es gewünschthatte, wurde sie für ein Jahr auf dem Klosterfriedhofvon Coimbra beigesetzt. Am Tag ihrer Überführungnach Fatima, dem 19. Februar 2006, wurde Staats-trauer angeordnet. Im Auftrag des Papstes ehrte Kar-dinalstaatssekretär Tarcisio Bertone Schwester Lucia,die neben Jacinta in der alten Basilika von Fátima bei-gesetzt wurde.

Schon 2008 gab Papst Benedikt XVI. sein Einver-ständnis für die Einleitung des Seligsprechungspro-zesses – nicht wegen der Visionen, die Lucia zuteilwurden, sondern wegen ihres heiligmäßigen Lebens,das sie mehr als 80 Jahre in den Dienst der Botschaftvon Fátima stellte.

Im Karmel von Coimbra

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Die Geschwister Francisco und Jacinta Marto

Manuel Pedro Marto hatte Lucias Tante Olimpia ge-heiratet, die aus ihrer ersten Ehe schon zwei Kindermitbrachte. Francisco und Jacinta waren ihr achtesund neuntes Kind. Es war eine einfache, tief religiöseBauernfamilie, deren Tag durch harte Arbeit bestimmtwar. Der christliche Glaube wurde in der Gemeindeund zuhause gelebt, die Kinder lernten am Vorbildihrer Eltern.

Anders als Lucias Mutter glaubten die Martosihren Kindern und stellten sich schützend vor sie,auch in der Auseinandersetzung mit den staatlichenBehörden. Vater Manuel war überzeugt, dass seineKinder nicht lügen. Damit war er der erste, der an dieErscheinungen von Fátima glaubte.

Die Geschwister Francisco und Jacinta Marto

Pfarrkirche von Fátima mit den Statuen von Francisco und Jacinta.

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Francisco Marto (11. Juni 1908 – 4. April 1919)

Der ruhige und nachdenkliche Francisco war ein ver-träumtes Kind, das seinem Vater ähnelte; er liebte dieNatur und besonders die Vögel. „Francisco schien garnicht der Bruder Jacintas zu sein, er glich ihr weder inden Gesichtszügen, noch bei der Übung der Tugenden.Er war nicht eigensinnig und lebhaft wie sie. Er hatte imGegenteil ein friedliches und nachgiebiges Naturell.“(Schwester Lucia)

Beim Schafe Hüten zog er sich gern ein wenig zu-rück und machte Musik. Häufig spielte er auf seinerFlöte, sang selbst verfasste Lieder oder spielte seinenGefährtinnen zum Tanz auf: „Wir tanzten sehr gern,und jedes Instrument, das wir die anderen Hirten spielenhörten, reichte aus, uns zum Tanzen zu bringen.“(Schwester Lucia)

Die Erscheinungen konnte er nur sehen, tief be-eindruckt von dem strahlenden Licht und der Schön-heit der Dame. Fast mystisch klingt seine Schilderungder Ereignisse: „Ich habe gespürt, dass Gott in mir war,ich wusste aber nicht, wie … Wir brannten in jenemLicht, das Gott ist, und wir wurden nicht verbrannt. Wieist doch Gott? Das kann man nicht aussprechen! Ja, daskann keiner jemals sagen.“ (Schwester Lucia)

Was die Dame sagte, ließ er sich von Jacinta undLucia erklären. Sein Leben änderte sich und sein größ-ter Wunsch war, „unseren Herrn und Unsere Liebe Frauzu trösten, die ihm so traurig zu sein schienen.“ (Schwes-ter Lucia) Noch mehr als früher zog er sich von denanderen zurück, wie Lucia berichtet: „Wenn ich ihnfragte: ‚Francisco, warum rufst du nicht mich und Jacinta, dass wir mit dir beten?‘, antwortete er: ‚Ich betelieber allein, um nachzudenken und unseren Herrn zutrösten, der so traurig ist.‘ – ‚Francisco, was tust du

Francisco Marto

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lieber: den Heiland trösten oder die Sünder bekehren,damit keine Seele in die Hölle kommt?‘ – ‚Ich tröste lie-ber den Heiland. Hast du nicht gemerkt, wie UnsereLiebe Frau letzten Monat so traurig wurde, als sie sagte,dass die Menschen den Herrgott nicht mehr beleidigensollen, der schon so sehr beleidigt wurde? Ich möchte denHeiland trösten und dann die Sünder bekehren, damitsie ihn nicht mehr beleidigen‘.“ (Schwester Lucia) Jacinta ermahnte er, nicht so viel an die Hölle zu den-ken, sondern lieber an Jesus und seine Mutter.

Im Herbst 1918 fegte eine Epidemie über Europaund mit der Mutter und Jacinta erkrankte auch Fran-cisco an der sog. Spanischen Grippe. Er ertrug seinLeiden mit großer Geduld, war es doch eine Möglich-keit, Jesus zu trösten.

Mehrere Monate dauerte die Krankheit schon an,die Lungenentzündung hatte Francisco immer schwä-cher werden lassen. Am 3. April 1919 wurde ein Pries-ter geholt, um ihm die Beichte abzunehmen, damit eram folgenden Tag zum ersten Mal die hl. Kommunionempfangen konnte. Kurz nachdem er den „verbor-genen Jesus“ erhalten hatte, schlief er friedlich ein –ein Jahr nach den Erscheinungen, im Alter von elf Jahren.

Jacinta Marto (11. März 1910 – 20. Februar 1920)

Jacinta war im Gegensatz zu ihrem Bruder Franciscolebhaft. Sie liebte die Natur, besonders die Blumenund tanzte gern. „Sie war die erste an Ausgelassenheitund Launenhaftigkeit. Ich kann nicht sagen, dass die an-deren Kinder ihr so zuliefen wie mir“, stellte Lucia fest.Im Umgang mit anderen war Jacinta zwar gutherzig,dennoch sehr empfindsam und leicht beleidigt. Amliebsten spielte sie mit Lucia und Francisco oder hörte

Francisco Marto

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zu, wie Lucia ihnen aus dem Katechismus oder derBibel erzählte.

Die Erscheinungen veränderten Jacintas Lebenvon Grund auf: Äußerlich war ihr ruhiges Leben alsHirtin durch die ständigen Befragungen von Besu-chern und Vertretern der Behörden gestört; dazukamen Beschimpfungen und Verspottung. „Wir emp-fanden die ständigen Belästigungen als Opfer, die wir zubringen hatten, versuchten aber dennoch, uns zu entzie-hen indem wir uns versteckten.“ (Schwester Lucia) Ineiner Vision im Garten von Lucias Elternhaus sah sieviele Menschen, die auf den Straßen vor Hunger wein-ten, und den Papst, der mit den leidenden Menschenin einer Kirche betete – die Schrecken des Krieges.Fortan betete Jacinta noch intensiver, dass ihr Landdavon verschont bliebe.

Tiefgreifend war die Veränderung in JacintasWesen: aus dem unbeschwerten Mädchen wurde einruhiges Kind, dessen Hauptziel war, Opfer für dieSünder zu bringen. „Die Vision der Hölle hatte Jacintadermaßen mit Entsetzen erfüllt, dass alle Bußübungenund Abtötungen ihr wie nichts erschienen, wenn sie nureinige Seelen vor der Hölle bewahren konnte.“ (Schwes-ter Lucia) Trotz ihrer erst sieben Jahre führte Jacintaein Leben, das geprägt war von Buße, Opfern undGebet. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten suchte sie mitden beiden anderen nach Gelegenheiten für Opfer,was manchem übertrieben und sogar unvernünftig er-scheinen mag. Die Kinder verzichteten auf ihre Lieb-lingsspeisen, die sie weiterverschenkten, hielten Durstaus und banden sich zur Buße einen Strick um dieTaille. So oft sie konnten, beteten sie den Rosenkranzund die Gebete des Engels. Mit Francisco eiferte siedarum, möglichst zahlreiche Opfer zu bringen. DieKraft dazu zog sie aus ihrer Liebe zu Jesus: „Ich sage

Jacinta Marto

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Jesus so gerne, dass ich ihn liebe. Wenn ich es ihm vieleMale sage, scheint mir, dass ich eine Flamme in der Brusthabe, aber ich verbrenne mich nicht dabei … Ich habeunseren Herrn und Unsere Liebe Frau so gerne, dass ichniemals müde werde, ihnen zu sagen, dass ich sie liebe.“(Schwester Lucia)

Entsprechend dem Auftrag der Gottesmutter gingsie mit ihren beiden Freunden in die Dorfschule, umLesen und Schreiben zu lernen. Oft war sie mit Fran-cisco in der Pfarrkirche, nahe dem im Tabernakel„verborgenen Jesus“. Wenn Lucia beim Gottesdienst dieEucharistie empfangen hatte, bat Jacinta, ganz nahebei ihr zu bleiben, „denn du hast den verborgenen Hei-land in deinem Herzen.“ (Schwester Lucia) Ihr sehn-lichster Wunsch war, selbst die hl. Kommunion zuempfangen.

Als Francisco im Frühjahr 1919 an der Grippestarb, litt sie sehr. Sie selbst musste für einige Monateins Krankenhaus von Vila Nova de Ourém, wo zurLungenentzündung noch ein schmerzhafter Abszessauf der Brust dazukam, der eine offene Wunde zu-rückließ. Da sich ihr Gesundheitszustand nicht bes-serte, wurde Jacinta Anfang des Jahres nach Lissabonins Krankenhaus Santa Estefania gebracht; sie wusste,dass sie bald sterben würde. Wegen einer eitrigen Rippenfellentzündung wurden ihr zwei Rippen ent-fernt. Doch sie klagte nie, ihre Sorge galt dem dro-henden Unheil, auf das die Welt zusteuerte: „Wennsich die Menschen nicht bessern, wird Unsere Liebe Frauder Welt eine Strafe schicken, wie man bisher noch keinegesehen hat, und vor anderen Ländern wird es Spanientreffen …“ Sie war schon tot, als der Zweite Weltkriegausbrach und Spanien unter der faschistischen Schre-ckensherrschaft in einen grausamen Bürgerkrieg ver-wickelt wurde, während ihre Heimat Portugal davon

Jacinta Marto

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verschont blieb. Traurig war sie darüber, weit weg vonihren Eltern und Lucia sterben zu müssen, aber sietröstete sich, indem sie es für die Sünder aufopferte.„Hier sprach Jacinta über Dinge, die sicher über ihrenkindlichen Verstand hinaus gingen. Sie sprach über Lebensaufgaben und Verpflichtungen: gegen die Mode-strömungen, über den Ungehorsam von Priestern undOrdensleuten, Regierungen, Ärzten, über die Verfolgungder Kirche, die Ehe, die Armut …“ (Schwester Lucia)

Am Abend des 20. Februar 1920 nahm ihr einPriester die Beichte ab, die hl. Kommunion wollte erihr am nächsten Tag bringen, obwohl Jacinta ihn in-ständig bat, sie ihr sofort zu geben. Sie starb noch inderselben Nacht, allein und weit weg von ihrer Fami-lie. Jacintas Leichnam wurde zunächst in Vila Nova deOurém bestattet, bis sie im September 1935 nebenihrem Bruder auf dem Friedhof von Fátima beigesetztwurde. Nach Fertigstellung der Basilika wurden diebeiden Geschwister dorthin überführt (Jacinta in dieerste Seitenkapelle links, Francisco in die rechte). Jacintas Leib war bei der Exhumierung unverwest auf-gefunden worden.

Für Jacinta und Francisco wurde am 21. Dezem-ber 1949 der Seligsprechungsprozess eingeleitet, nachdessen Abschluss Papst Johannes Paul II. die beidenSeherkinder am 13. Mai 2000 selig sprechen konnte,im Beisein ihrer inzwischen 93-jährigen CousineLucia: „Zwei Kerzen, die Gott entzündet hat, um dieMenschheit in ihren dunklen und sorgenvollen Stundenzu erleuchten.“ (Papst Johannes Paul II. am 13. Mai2000) Ihr Gedenktag ist der 20. Februar.

Die Kinder spielten als Seher bei den Erscheinun-gen eine entscheidende Rolle, aber ausschlaggebendfür die Selig- bzw. Heiligsprechung ist ihre Bereit-schaft, durch ihr Leben die empfangene Botschaft zu

Jacinta Marto

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bezeugen. „Ihre Heiligkeit hängt nicht von den Erschei-nungen ab, sondern von der Treue und dem Engagement,mit denen sie dem einzigartigen Geschenk des Herrn undder seligen Jungfrau Maria entsprochen haben … Au-ßerdem mussten die Hirtenkinder dem starken Druck derLeute standhalten, die sie mit Zwang und schrecklichenDrohungen dazu drängten, alles zu leugnen und dieempfangenen Geheimnisse zu enthüllen. Aber sie mach-ten sich gegenseitig Mut, vertrauten auf den Herrn undauf die Hilfe ‚der Frau‘, von der Francisco sagte: ‚Sie istunsere Freundin.‘ Wegen ihrer Treue zu Gott sind sie einleuchtendes Vorbild für Kinder und Erwachsene, wie mansich – auf einfache und dennoch großherzige Weise –dem verwandelnden Wirken der Gnade Gottes anpassenkann.“ (Papst Johannes Paul II. am 17. Mai 2000)

Jacinta Marto

Hirtendenkmal.

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Die drei Engelerscheinungen von 1916

Die Bedeutung dieserbiblischen Aussage be-stätigte sich für die dreiKinder mehrfach. Schonim Sommer 1915, als dieKinder auf dem Cabeço-Hügel (Loca do Cabeço)nahe Aljustrel die Schafe

hüteten, sahen sie mehrfach eine weiße Wolke inMenschenform über den Bäumen schweben, durchdie die Sonne leuchtete. „Es schien wohl der Engel, dersich damals sicher nicht ganz zu offenbaren wagte“, soschilderte Lucia später die Vorkommnisse zwischenApril und Oktober 1915. Als sie ihren Eltern davon be-richteten, hielten sie es für Fantasiespiele der Kinder,und so dachten sie nicht weiter darüber nach und ver-brachten ihre Tage weiterhin wie gewohnt: Währendsie die Schafe hüteten, verrichteten sie ihre Gebete,tanzten und spielten vergnügt miteinander.

Der Engel des Friedens: die 1. Engelerscheinung im Frühjahr 1916

Wann die Erscheinungen genau stattfanden, lässt sichim Nachhinein nicht exakt festlegen, da die Kinderden Kalender noch nicht kannten, und in der Gleich-förmigkeit der Tage einer in den anderen überging.So konnten sie nur die Jahreszeiten unterscheiden.

Es war ein trüber Frühlingstag. Lucia hatte in Begleitung von Jacinta und Francesco die Schafe wie schon so oft auf die saftigen Wiesen des Loca do

„Ich werde einen Engel schi-cken, der dir vorausgeht. Er solldich auf dem Weg schützenund dich an den Ort bringen,den ich bestimmt habe. Achteauf ihn, und hör auf seineStimme!“ (Ex 23,20f)

Vorbereitung auf die Begegnungmit der Gottesmutter