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1 Poetiken der Migration. Ein Glossar. Wie erzählt Literatur von Flucht und Vertreibung? Wie vom Leben im Exil oder als illegaler Einwanderer in Europa? Wie verarbeiten einzelne Texte die Themen Kultur- konflikt, Fremdheit, Gewalterfahrung und Sprachproblematik? Anlässlich des Seminars 'Poetiken der Migration' unter der Leitung von Prof. Dr. Christiane Solte-Gresser im Wintersemester 2012/13 haben Master-Studierende der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft ein Glossar mit methodo- logischen Begriffen und Kategorien zu diesem Forschungsfeld entwickelt. Herausgegeben von Kristina Höfer. Alterität/Fremdheit Das Fremde ist das, was nicht der eigenen Identität zugeordnet wird und ungewöhnliche und befremdliche Erfahrungen weckt. Was als ‚fremd‘ definiert wird, hängt von sub- jektiven Erlebnissen und Kriterien ab, die relativ, perspektivisch und standortgebunden, d.h. stark von der eigenen Kultur geprägt sind. Das Verhältnis zwischen Identität und Alterität ist fast immer ein hierarchisches, in dem das Fremde abgewertet oder ausge- grenzt wird, um auf diese Weise die eigene Identität zu festigen. Laut Julia Kristeva liegt das Fremde in der eigenen Identität verborgen. Ein wichtiges Moment bei der Begegnung mit dem Fremden ist daher die ambivalente Gleichzeitig- keit von Ablehnung und Faszination. In Literatur, aber auch anderen Kunstwerken, können nicht nur Stoffe und Motive, son- dern auch Formen und Ausdrucksweisen als ‚fremd‘ empfunden werden, sodass sich bei der Rezeption eine Vielzahl von Interpretationsspielräumen und -möglichkeiten auftun. Darüber hinaus thematisieren literarische Texte häufig Alteritätserfahrungen, indem Fremdheit in Erzähltexten, Theaterstücken, Gedichten oder anderen Gattungen ästhetisch inszeniert wird. Die (eigenen) Wahrnehmungen, Erfahrungen und Stereo- typenbildungen lassen sich durch literarisches Schreiben und Lesen über Alterität her- vorbringen, illustrieren, reflektieren, überprüfen und in Frage stellen. Literatur Bossinade, Johanna: Die Stimme des Anderen. Zur Theorie der Alterität. Würzburg 2011. Kristeva, Julia: Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt am Main 2001. Guthke, Karl: Der Blick in die Fremde. Das Ich und das andere in der Literatur. Tübingen 2000. (Qianqian Zhong)

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Poetiken der Migration. Ein Glossar.

Wie erzählt Literatur von Flucht und Vertreibung? Wie vom Leben im Exil oder als

illegaler Einwanderer in Europa? Wie verarbeiten einzelne Texte die Themen Kultur-

konflikt, Fremdheit, Gewalterfahrung und Sprachproblematik?

Anlässlich des Seminars 'Poetiken der Migration' unter der Leitung von Prof. Dr.

Christiane Solte-Gresser im Wintersemester 2012/13 haben Master-Studierende der

Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft ein Glossar mit methodo-

logischen Begriffen und Kategorien zu diesem Forschungsfeld entwickelt.

Herausgegeben von Kristina Höfer.

Alterität/Fremdheit

Das Fremde ist das, was nicht der eigenen Identität zugeordnet wird und ungewöhnliche

und befremdliche Erfahrungen weckt. Was als ‚fremd‘ definiert wird, hängt von sub-

jektiven Erlebnissen und Kriterien ab, die relativ, perspektivisch und standortgebunden,

d.h. stark von der eigenen Kultur geprägt sind. Das Verhältnis zwischen Identität und

Alterität ist fast immer ein hierarchisches, in dem das Fremde abgewertet oder ausge-

grenzt wird, um auf diese Weise die eigene Identität zu festigen.

Laut Julia Kristeva liegt das Fremde in der eigenen Identität verborgen. Ein wichtiges

Moment bei der Begegnung mit dem Fremden ist daher die ambivalente Gleichzeitig-

keit von Ablehnung und Faszination.

In Literatur, aber auch anderen Kunstwerken, können nicht nur Stoffe und Motive, son-

dern auch Formen und Ausdrucksweisen als ‚fremd‘ empfunden werden, sodass sich bei

der Rezeption eine Vielzahl von Interpretationsspielräumen und -möglichkeiten auftun.

Darüber hinaus thematisieren literarische Texte häufig Alteritätserfahrungen, indem

Fremdheit in Erzähltexten, Theaterstücken, Gedichten oder anderen Gattungen

ästhetisch inszeniert wird. Die (eigenen) Wahrnehmungen, Erfahrungen und Stereo-

typenbildungen lassen sich durch literarisches Schreiben und Lesen über Alterität her-

vorbringen, illustrieren, reflektieren, überprüfen und in Frage stellen.

Literatur

Bossinade, Johanna: Die Stimme des Anderen. Zur Theorie der Alterität. Würzburg 2011.

Kristeva, Julia: Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt am Main 2001.

Guthke, Karl: Der Blick in die Fremde. Das Ich und das andere in der Literatur. Tübingen

2000.

(Qianqian Zhong)

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Autorschaft

In der Literaturwissenschaft generell die Theorie der Urheberschaft eines literarischen

Textes. In Verbindung mit Migration als literarischem Thema ein teilweise strittiger

Begriff, der vor allem zwei Hauptfragen aufwirft:

(a) Problem, inwieweit die Biographie des/der Autors/in selbst mit den fiktionalen

Themen der Migration übereinstimmt. Während manche Schriftsteller/innen ihre eige-

nen Fluchterlebnisse und damit aus ‚erster Hand’ berichten (etwa Natalia Ginzburg in

autobiographischen Essays über ihre Verbannung innerhalb Italiens während des

Faschismus), haben andere Autor/innen keinen direkten Migrationshintergrund, müssen

sich also zum größten Teil auf Augenzeugenberichte oder Dokumentationen verlassen

(etwa Marie NDiaye: Trois femmes puissantes).

(b) Verwendung von Pseudonymen, da expatriierte, verfolgte oder illegal immigrierte

Personen ‚ohne Stimme’ anonym bleiben wollen oder müssen (vgl. etwa die Comic-

Sammlung ‚Paroles sans Papiers’). Unter Pseudonym schrieb auch der Schriftsteller

Kurt Tucholsky (1890–1935), 1933 aus Deutschland ausgebürgert, der Texte unter den

Namen ‚Theobald Tiger‘, ‚Ignaz Wrobel‘, ‚Peter Panter‘ und ‚Kaspar Hauser‘ verfasste.

Auch noch heute wählen Autoren Pseudonyme, zum Beispiel der algerische Schrift-

steller Mohammed Moulessehoul, der im Exil in Frankreich als ‚Yasmina Khadra‘

publiziert.

Literatur

Detering, Heinrich: Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart/Weimar 2002.

Jannidis, Fotis u.a. (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000.

(Jonas Nesselhauf)

Die Andere Literatur

Der Begriff der Anderen Literatur hebt die Stellung der Migrantenliteratur innerhalb der

Nationalliteratur hervor. Die Zuordnung zu dieser Literatur erfolgt nicht mehr über die

Person des/der Autors/in, sondern vor allem über die Andersartigkeit der Texte inner-

halb der jeweiligen Nationalliteratur. ‚Anders‘ ist die Migrantenliteratur insofern, als

dass die Einwohner/innen des Empfangslandes aus der Perspektive des/der Migranten/in

als Fremde dargestellt werden. Dies ermöglicht es Ersteren, sich mit diesem für sie

ungewohnten Fremdbild auseinanderzusetzen und anhand dessen ein Bild von sich

selbst zu entwerfen. Der Begriff der Anderen Literatur ist jedoch immer auch proble-

matisch, da er explizit den Aspekt der ‚Andersartigkeit‘ betont und daher zu einer

besonderen Rezeptionshaltung herausfordert, die von den Autor/innen nicht immer

intendiert ist. Er ist somit weniger neutral als bspw. der Terminus der Migrations-

literatur.

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Literatur

Ackermann, Irmgard: „Deutsche verfremdet gesehen – Die Darstellung des ‚Anderen‘ in der

‚Ausländerliteratur‘“. In: Amirsedghi, Nasrin / Bleicher, Thomas (Hrsg.): Literatur der Migra-

tion. Mainz 1997, S. 60–73.

Nell, Werner: „Zur Begriffsbestimmung und Funktion einer Literatur von Migranten“. In:

Amirsedghi, Nasrin / Bleicher, Thomas (Hrsg.): Literatur der Migration. Mainz 1997, S. 34–48.

(Carolin Marie Buchheit)

Exilliteratur

Exilliteratur (auch Emigratenliteratur) bezeichnet Werke, die im Exil entstehen oder

nach der Rückkehr aus dem Exil Exilerfahrungen thematisieren. Ein Aufenthalt im Exil

erfolgt meist aus politischen oder religiösen Gründen und wird vom Staat erzwungen

oder vom Einzelnen freiwillig realisiert. Waren vor Ende des 18. Jahrhunderts häufig

Religionskonflikte, z.B. zwischen Protestanten und Katholiken, Auslöser für das Exil,

rückte ab Ende des 18. Jahrhunderts die Verfolgung und Vertreibung politischer oder

auch ‚rassischer‘ Gegner, z.B. während des Nationalsozialismus, in den Vordergrund.

Themen der Exilliteratur sind z.B. Reflexion des politischen Engagements, Überprüfung

der Identität oder auch Anpassungsprobleme der Exilant/innen. Interessant ist außerdem

die Aufnahme und Verbreitung von Exilliteratur im jeweiligen Heimatland der

Autor/innen.

Wichtige Exilschriftsteller/innen sind u.a. Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Nelly

Sachs und Vladimir Nabokov.

Literatur

Krohn, Claus-Dieter u.a. (Hrsg.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933–1945.

Darmstadt 1998.

(Qianqian Zhong)

Expatriierung/Repatriierung

Expatriierung

Lat. Verbannung, Ausweisung; konkret auf den Entzug der Staatsangehörigkeit und die

damit verbundene Ausbürgerung bezogen und oft ein politischer Akt und unter Zwang.

Im Dritten Reich wurden etwa Thomas Mann (1875–1955), Erich Maria Remarque

(1898–1970) oder Kurt Tucholsky (1890–1935) die deutsche Staatsbürgerschaft entzo-

gen; in der DDR wurde der Liedermacher Wolf Biermann (1936–) während eines Gast-

spiels in der Bundesrepublik 1976 vom SED-Regime ausgebürgert. Möglich ist auch die

durch die Auflösung eines Staates notwendig gewordene Migration (etwa Auflösung

des Staates Jugoslawien im Jahre 1991). Interessanterweise bezeichneten sich in Europa

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lebende amerikanische Schriftsteller/innen in den 1920er Jahren selbst als ‚expatriates‘

(etwa Ernest Hemingway, F. Scott Fitzgerald, Gertrude Stein und Ezra Pound). Im Ge-

gensatz dazu die Repatriierung.

Repatriierung

Im Gegensatz zur Expatriierung die Wiederaufnahme und Rückkehr, verbunden mit der

Erlangung der Staatsbürgerschaft.

(Jonas Nesselhauf)

Gastarbeiterliteratur

Die Gastarbeiterliteratur ist eine für Deutschland spezifische Unterkategorie der

Migrantenliteratur. Sie wurde von Autor/innen verfasst, die zwischen 1950 und 1970

von der deutschen Regierung als Gastarbeiter/innen aus dem europäischen Ausland

angeworben wurden und umfasst sowohl lyrische als auch prosaische Texte in deutscher

Sprache zum Thema Migration. Dargestellt werden u.a. (persönliche) Erfahrungen mit

Fremdheit sowie die Problematik des Fremdsprachenerwerbs. Trifft der Begriff des

Gastarbeiters auf die erste Generation dieser Autor/innen noch zu, ist er für Autor/innen,

die aus einer Gastarbeiterfamilie stammen, selbst aber Akademiker/innen sind oder für

Schriftsteller/innen, die sich mit Migration befassen, aber nicht im Zuge der Gast-

arbeiterbewegung nach Deutschland kamen, nicht mehr gültig. Daher wurden der Be-

griff der Gastarbeiterliteratur und der mit ihm verwandte, ähnlich restriktive Begriff der

Ausländerliteratur durch den allgemeineren Terminus der Migrationsliteratur abgelöst.

Literatur

Aktürk, Aysegül: Interkulturelles Lernen im Deutschunterricht: Vorschläge zur Didaktisierung.

Hamburg 2009.

Rösch, Heidi: „Migrationsliteratur im interkulturellen Diskurs“. (Der Text basiert auf dem Vor-

trag zu der Tagung Wanderer – Auswanderer – Flüchtlinge 1998 an der TU Dresden)

<http://www.fulbright.de/fileadmin/files/togermany/information/2004-

05/gss/Roesch_Migrationsliteratur.pdf >, 07.02.2013.

(Carolin Marie Buchheit)

Globalität/ Globalismus

Globalität ist ein Begriff aus der Wirtschaft, der die durch Globalisierung herbeigeführte

Vernetzung von Konzernen usw. beschreibt und ein Gegenkonzept zur Regionalität

darstellt. Im Bereich der Kultur findet Kulturkontakt und -transfer statt, so dass euro-

zentristische Vorstellungen und bestehende kulturelle Grenzen überschritten werden

können.

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In einer solch vernetzten und auf interkulturellen Austausch ausgerichteten Welt kann

eine ‚neue Weltliteratur‘ und -kultur entstehen. Allerdings setzt die globale Verbreitung

einer Kultur voraus, dass ihre Ausdrucksform weltweit verständlich und von Traditio-

nen unabhängig ist. Medien, die auf Bilder und Klänge zurückgreifen, sind dazu besser

geeignet als Medien, die mit Sprache und Schrift arbeiten.

Globalisierungsgegner weisen auf die Gefahr einer ‚Einheitskultur‘ hin und befürworten

daher die Förderung kultureller Partikularitäten, z.B. durch die Produktion globalisie-

rungskritischer Kunst.

Der Globalisierungsansatz von Elke Sturm-Trigonakis, der sich gegen tradierte Vor-

stellungen von National- oder Migrationsliteratur richtet, liefert auf einer systemtheore-

tischen Grundlage ein Konzept der ‚neuen Weltliteratur’, das davon ausgeht, dass

solche oftmals mehrsprachig organisierten Texte Globalisierungsphänomene besonders

gut repräsentieren.

Literatur

Rehbein, Boike / Schwengel, Hermann: Theorien der Globalisierung. Konstanz 2008.

Reichardt, Ulfried: Globalisierung. Literaturen und Kulturen des Globalen. Berlin 2010.

Schmeling, Manfred / Schmitz-Emans, Monika / Walstra, Kerst (Hrsg.): Literatur im Zeitalter

der Globalisierung. Würzburg 2000.

Sturm-Trigonakis, Elke: Global playing in der Literatur. Ein Versuch über die neue Weltlitera-

tur. Würzburg 2007.

(Qianqian Zhong)

Hybridität

Lat. hibrida: Mischling. Ursprünglich im biologischen Bereich gebraucht: von zweierlei

Herkunft, Zwitter, Mischling,

Sprachwissenschaft: Hybride Sprachformen entstehen aus zwei oder mehreren Sprachen

oder Vermischung von Elementen zweier Sprachen (z.B. Endungen aus einer anderen

Sprache).

Hybridität bezeichnet das Zusammenfließen mehrerer unterschiedlicher Kulturen,

Künste, Medien, Genres zu neuen Einheiten. Hybride Formen entstehen in einem offe-

nen Kulturbereich, in dem verschiedene Traditionen, Nationen, Sprachen, Stile und

Gattungen gleichberechtigt existieren.

In der postkolonialen Literatur- und Kulturtheorie ist Hybridität eine transkulturelle

Denkfigur und wird von Homi K. Bhabha und Néstor García Canclini verwendet, um

Dichotomien wie Selbst/Anderer, Zentrum/Peripherie oder Kolonisator/Kolonisierter zu

überwinden.

Nach Bhabha sind Kulturkontakte nicht mehr essenzialistisch bzw. dualistisch, sondern

spielen sich als unlösbare und wechselseitige Durchdringung von Identität und Alterität

in einem ‚dritten Raum‘ ab (‚third space‘, ‚in-between‘). Bhabha sieht Autoren wie V.S.

Naipaul oder Salman Rushdie als beispielhaft für Künstler des ‚in-between‘.

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Literatur

Bhabha, Homi K.: The Location of Culture. London/New York 2000.

García Canclini, Néstor: Culturas híbridas. Mexico 1990.

(Dietlinde Conrad)

Identität (kulturelle)

Die kulturelle Identität eines Menschen setzt sich aus (persönlichen) Erfahrungen mit

Alterität zusammen und bildet sich in Abgrenzung zum kulturell Anderen. Charakteris-

tisch für die Herausbildung der kulturellen Identität eines Individuums ist mit Stuart

Hall ihre Prozesshaftigkeit. In sich abgeschlossene, nationale Kulturen werden im Zeit-

alter von Globalisierung und Migration aufgesprengt. Kulturelle Identitäten bestehen

somit nicht mehr als gesicherte Einheiten, sondern befinden sich in einem permanenten

Prozess des ‚Gebildet-Werdens‘, d.h. sie sind transitorisch und immer unvollständig.

Amin Maalouf betont, dass jeder Mensch mehrere, teilweise sich widersprechende

Identitätsmerkmale in sich vereint, die seine individuelle Identität ausmachen. Muss

sich ein Individuum, z.B. aus religiösen Gründen, für eine Zugehörigkeit entscheiden,

entstehen sogenannte ‚identités meurtrières‘, die oftmals auch verleugnete Bestandteile

der eigenen Identität bekämpfen.

Da kulturelle Identität zunächst entwickelt werden muss und meist durch Konflikte ent-

steht, ist sie immer auch problematisch; gleichzeitig ist sie produktiv für das Schreiben

von Literatur, indem sie das Hervorbringen von Identität illustriert, reflektiert und kriti-

siert. Der Prozess der Identifikation mit oder der Abgrenzung von einer Identität kann

sowohl bei der Produktion als auch bei der Rezeption eines literarischen Textes bewusst

gemacht und hinterfragt werden.

Literatur

Hall, Stuart: „Die Frage der kulturellen Identität“. In: Ders.: Rassismus und kulturelle Identität.

Ausgewählte Schriften 2. Hamburg 1994, S. 180–222.

Maalouf, Amin: Les Identités meurtrières. Paris 2001.

(Qianqian Zhong)

Imagologie

Die Imagologie ist ein wichtiger komparatistischer Forschungszweig, der sich mit nati-

onalen Selbst- und Fremdbildern (Auto- und Heteroimages) auseinandersetzt. Die frühe

Imagologie war v.a. in der französischen Komparatistik eine positivistisch ausgerichtete

Völkerpsychologie, die von der Existenz beschreibbarer Nationalcharaktere ausging. In

den 1960-er bzw. 1980-er Jahren orientierte sich die Imagologie mit Hugo Dyserinck

neu. Ihre Aufgabe besteht nun nicht mehr darin, Nationalstereotypen zu bestimmen und

zu beschreiben, sondern Genese und Wirkung solcher ‚images‘ herauszuarbeiten mit

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dem (auch außerliterarischen) Ziel, ideologisierende Kategorien bzw. Vorstellungen,

wie Volkscharakter oder nationales Denken, aufzubrechen und für ungültig zu erklären.

Literatur

Dyserinck, Hugo: „Komparatistische Imagologie. Zur politischen Tragweite einer europäischen

Wissenschaft von der Literatur“. In: Dyserinck, Hugo / Syndram, Karl Ulrich (Hrsg.): Europa

und das nationale Selbstverständnis. Imagologische Probleme in Literatur, Kunst und Kultur

des 19. und 20. Jahrhunderts. Bonn 1988, S. 13–38.

Fischer, Manfred S.: Nationale Images als Gegenstand Vergleichender Literaturgeschichte.

Untersuchungen zur Entstehung der komparatistischen Imagologie. Bonn 1981.

Florack, Ruth: Bekannte Fremde. Zur Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Li-

teratur. Tübingen 2007.

(Kristina Höfer)

Interkulturalität

Als Oberbegriff umfasst Interkulturalität Phänomene wie Multi- und Transkulturalität

und bezeichnet als solcher die Interaktion zwischen Kulturen. Der Umgang mit anderen

Kulturen, z.B. durch die Beschäftigung mit fremdsprachiger Literatur, ist ein wesentli-

cher Bestandteil der Komparatistik. Eine interkulturell oder auch fremdhermeneutisch

ausgerichtete Literaturwissenschaft beschäftigt sich u.a. mit Fragen von Identität und

Alterität, kultureller Differenz, Nationalstereotypen und Mehrsprachigkeit.

Wolfgang Welsch grenzt Interkulturalität von Transkulturalität ab, indem er kritisch

betont, dass das Konzept der Interkulturalität auf Herders ‚Kugelmodell‘ zurückgreift,

dem eine essenzialistische Vorstellung von kulturellen Entitäten zugrunde liegt, d.h.

Kulturen bestehen als stabile, voneinander abgegrenzte Einheiten. Zwischen ihnen fin-

det ein Dialog statt, der zwar gegenseitiges Verstehen unterstützt, nicht aber zur Über-

schreitung bzw. Auflösung kultureller Grenzen führt.

Literatur

Hofmann, Michael: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Paderborn 2006.

Schmeling, Manfred: „Literarischer Vergleich und interkulturelle Hermeneutik. Die literari-

schen Avantgarden als komparatistisches Forschungsparadigma“. In: Zima, Peter V. (Hrsg.):

Vergleichende Wissenschaft. Interdisziplinarität und Interkulturalität in den Komparatistiken.

Tübingen 2000, S. 187–199.

Welsch, Wolfgang: „Was ist eigentlich Transkulturalität?“. In: Lucynda Darowska und Claudia

Machold (Hrsg.): Hochschule als transkultureller Raum? Beiträge zu Kultur, Bildung und Dif-

ferenz. Bielefeld 2009, S. 39–65.

(Kristina Höfer)

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Kulturelle Differenz

Kulturelle Differenz bezeichnet generell Unterschiede und Grenzziehungen zwischen

Kulturen und Individuen, die in einer multikulturellen Gesellschaft als abgeschlossene,

voneinander abgegrenzte Einheiten mit stabilen Rändern bestehen. In einer trans-

kulturellen Gesellschaft lösen sich diese Trennlinien auf, Grenzen werden brüchig und

durchlässig, sodass Differenz mit Homi K. Bhabha nicht mehr nur zwischen Kulturen

und Individuen, sondern auch in deren Inneren besteht. Bhabha versteht Differenz als

Trennlinie und Bindeglied in einem. Sie ist daher ambivalent und muss durch Hybridi-

sierungsprozesse, z.B. Mimikry, permanent erzeugt werden, um (kulturelle) Identität

neu auszuhandeln.

Für eine Fokussierung von kultureller Differenz auf Literatur und Kultur vgl. ‚Third

Sprace‘/‚Dritter Raum‘.

Literatur

Bonz, Jochen / Struve, Karen: „Homi K. Bhabha: Auf der Innenseite kultureller Differenz: ‚in

the middle of differences‘“. In: Moebius, Stephan / Quadflieg, Dirk (Hrsg.): Kultur. Theorien

der Gegenwart. Wiesbaden 2006, S. 140–153.

Moosmüller, Alois: „Kulturelle Differenz: Diskurse und Kontexte“. In: Ders. (Hrsg.): Konzepte

kultureller Differenz. Münster u.a. 2009, S. 13–45.

Wieviorka, Michel: Kulturelle Differenzen und kollektive Identitäten. Hamburg 2003.

(Kristina Höfer)

Kulturkontakt

Kulturkontakt meint das Miteinander-in-Berührung-kommen zweier oder mehrerer

Kulturformen, z.B. durch Reisen, literarische Übersetzung oder Themen und Formen

von Kunstwerken. Im Kontext der Migration kann Kulturkontakt sowohl zu einer

Akkulturation, einem veränderten bzw. angepassten Verhalten von Individuen und

Gruppen, als auch zu Abgrenzung führen. Kulturkontakt ist zudem ein essentieller Be-

standteil der interkulturellen Literatur, die danach strebt, einen Kontakt bzw. Diskurs

zwischen den Kulturen herzustellen, z.B. indem dem/der Leser/in mit Hilfe eines litera-

rischen Textes eine andere Kultur näher gebracht wird. Durch den Vergleich postkolo-

nialer Werke aus der Perspektive der ehemals kolonisierten Völker oder der Kolonisato-

ren kann die gegenseitige Beeinflussung von zwei oder mehr Kulturen nachvollzogen

und das notwendigerweise vorhandene Machtgefälle zwischen diesen ausgemacht

werden.

Literatur

Knatz, Lothar / Caspar, Norbert / Otabe, Tanehisa (Hrsg.): Kulturelle Identität und Selbstbild:

Aufklärung und Moderne in Japan und in Deutschland. Berlin/Münster 2011.

Lüsebrink, Hans-Jürgen: Interkulturelle Kommunikation. Interaktion, Fremdwahrnehmung,

Kulturtransfer. Stuttgart/Weimar 2005.

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Rösch, Heidi: „Migrationsliteratur im interkulturellen Diskurs“. (Der Text basiert auf dem Vor-

trag zu der Tagung Wanderer – Auswanderer – Flüchtlinge 1998 an der TU Dresden)

<http://www.fulbright.de/fileadmin/files/togermany/information/2004-

05/gss/Roesch_Migrationsliteratur.pdf >, 07.02.2013.

Thomas, Alexander / Kammenhuber, Stefan / Schroll-Machl, Sylvia (Hrsg.): Handbuch Inter-

kulturelle Kommunikation und Kooperation. Band 2: Länder, Kulturen und interkulturelle

Berufstätigkeit. Göttingen 2003.

(Carolin Marie Buchheit)

Kulturtransfer

Kulturwissenschaftliche Bezeichnung für Prozesse, in denen Kulturgüter, kulturelle

Muster und Strömungen sowie die dazugehörigen Verhaltensweisen aus einem kultu-

rellen Zusammenhang in einen anderen übernommen bzw. übertragen werden, wobei

nicht nur die Übernahme, sondern auch die produktive Aneignung, Um- und Neudefini-

tion eine Rolle spielen. Die Wechselwirkungen zwischen Kulturen können bestehen in:

Übertragung, Aneignung, Annäherung, Austausch, Abwehr, Vermittlung, Rezeption.

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kulturtransfer begann Mitte der 80er

Jahre am Beispiel der kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich

(Hans-Jürgen Lüsebrink, Michel Espagne und Michael Werner). Das Phänomen des

Kulturtransfers ist auch ein wichtiger Bestandteil der interkulturellen Literaturwissen-

schaft.

Große Unterschiede zwischen den Kulturen sowie eine Kluft zwischen der Vorstellung

und der Wirklichkeit einer anderen Kultur können zum ‚Clash of Cultures‘ führen

(Samuel P. Huntington).

Literatur

Espagne, Michel / Werner, Michael (Hrsg.): Transferts. Les relations interculturelles dans

l'espace franco-allemand (XVIIIe et XIXe siècle). Paris 1988.

Espagne, Michel / Greiling, Werner (Hrsg.): Frankreichfreunde. Mittler des französisch-

deutschen Kulturtransfers (1750-1850). Leipzig 1996.

Lüsebrink, Hans-Jürgen: Interkulturelle Kommunikation, Interaktion, Fremdwahrnehmung,

Kulturtransfer. Stuttgart/Weimar 2005.

Lüsebrink, Hans-Jürgen / Schmeling, Manfred / Solte-Gresser, Christiane (Hrsg.): Zwischen

Transfer und Vergleich. Theorien und Methoden der Literatur- und Kulturbeziehungen aus

deutsch-französischer Perspektive. Stuttgart 2013 (im Druck).

(Dietlinde Conrad)

Literaturen ohne festen Wohnsitz

Das Konzept des Romanisten Ottmar Ette setzt sich kritisch mit Entwürfen wie Natio-

nal-, Migrations- und Weltliteratur auseinander, da es die Oppositionen, die diesen

Begriffen zu Grunde liegen, aufbrechen will. Die ‚Literaturen ohne festen Wohnsitz‘ rü-

cken Bewegungen zwischen Orten, Zeiten, Räumen, Gesellschaften und Kulturen in den

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Vordergrund. Als Reaktion auf die Wechselwirkungen zwischen lebensweltlichen Ver-

änderungen und literarischen Entwicklungen macht Ette Grenzen und Grenzziehungen

sichtbar und hinterfragt so das homogenisierende Konzept der Weltliteratur.

Literatur:

Ette, Ottmar: ÜberLebensWissen: 2: ZwischenWeltenSchreiben, Literaturen ohne festen Wohn-

sitz. Berlin 2005.

(Hanna Matthies)

Métissage

Lat. miscere, mixtus.

Wortfamilie: métis, métisse, im Bereich der Biologie: gekreuzt, Kreuzung. Mestize

Métissage: Kreuzen

Während unter dem Begriff ‚Métissage‘ die Verbindung von zwei Kulturen zu

verstehen ist, wird in Gegenkonzepten wie der ‚Négritude‘ die eigene Kultur von ande-

ren abgegrenzt. Léopold Sédar Senghor setzt sich mit diesem Begriff auseinander und

plädiert für einen ‚métissage culturel‘.

Literatur

Senghor, Léopold Sédar: Liberté, Bd. 1: Négritude et humanism. Paris 1964.

(Dietlinde Conrad)

Migrantenliteratur

Migrantenliteratur ist ein Sammelbegriff für deutschsprachige Literatur von

Migrant/innen und beschäftigt sich thematisch mit Migration und persönlichen Erfah-

rungen des/der Autors/in im jeweiligen Einwanderungsland. Der Begriff „läuft [aller-

dings] als Genrebezeichnung Gefahr, alles, was immigrierte oder minderheiten-

angehörige AutorInnen produzieren, Migrantenliteratur zu nennen.“ (Rösch 1998) So

ergibt sich ein enger, sich nicht auf die Literarizität oder Ästhetik des Textes beziehen-

der Literaturbegriff, welcher die soziale Stellung der Autor/innen betont, da die Zuord-

nung zur Migrantenliteratur über den Migrationshintergrund des/der Autors/in erfolgt.

Zudem lenkt der Begriff eine Rezeptionshaltung, mit der der jeweilige Text allein als

Ausdruck von Migrationserfahrungen verstanden wird.

In der Migrantenliteraturforschung stellt das Herkunftsland der Autor/innen ein wichti-

ges Analysekriterium dar. Ein zentrales Arbeitsgebiet ist hier die ‚Literatur türkischer

Migrant/innen in der Bundesrepublik Deutschland‘. Ein komparatistischer Zugang wird

unterstützt, indem vermehrt Wissenschaftler/innen mit türkischen Wurzeln und turkolo-

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gischen Kompetenzen über Literatur türkischer Migrant/innen forschen (z.B. Göktürk

1994, Kurayazici 1997, Yesilada 1997).

Weitere wichtige Thesen stammen u.a. von Frederking („Schreiben gegen Vorurteile“,

1985) und Wierschke („Schreiben als Selbstbehauptung“, 1994).

Literatur

Rösch, Heidi: „Migrationsliteratur im interkulturellen Diskurs“. (Der Text basiert auf dem Vor-

trag zu der Tagung Wanderer – Auswanderer – Flüchtlinge 1998 an der TU Dresden)

<http://www.fulbright.de/fileadmin/files/togermany/information/2004-

05/gss/Roesch_Migrationsliteratur.pdf >, 07.02.2013.

(Sarah Maurer)

Migration

Migration bezeichnet den dauerhaften Wechsel des Wohnortes meist von einem Land in

ein anderes. Gründe für Migration sind u.a. Flucht aus Krisen- oder Kriegsgebieten,

Hoffnung auf bessere Arbeits- und Bildungschancen, Verbesserung der Lebensqualität,

politische oder religiöse Verfolgung. Spezifische Unterformen der Migration sind

Emigration (Auswanderung aus dem eigenen Land), Immigration (Einwanderung in ein

fremdes Land) und Remigration (Rückwanderung aus einem fremden Land in das Hei-

matland).

Das durch Migration verursachte Aufeinandertreffen mehrerer unterschiedlicher Kultu-

ren führt sowohl zu Kulturkontakt und Vermischung von z.B. Nationalitäten, Rassen,

Sprachen, als auch zu Konflikten und Abgrenzung.

Durch die literarische Darstellung von Migration und damit verbundenen Themen wie

Grenzerfahrung, Identität, kulturelle Differenz, Fremdheit, Sprache oder Mobilität

werden Migrationsproblematiken vergegenwärtigt.

Literatur

Chambers, Iain: Migration. Kultur. Identität. Tübingen 1996.

Matzner, Michael (Hrsg.): Handbuch: Migration und Bildung. Weinheim/Basel 2012.

Oltmer, Jochen: Globale Migration. Geschichte und Gegenwart. München 2012.

(Qianqian Zhong)

Migrationsliteratur

Migrationsliteratur ist eine Sammelbezeichnung für alle Texte, die sich mit Migration

auseinandersetzen. Im Mittelpunkt steht das durch Migration bedingte Aufeinander-

treffen verschiedener Kulturen und die damit verbundenen Integrations- und Verständ-

nisprobleme innerhalb einer multikulturellen Gesellschaft. Während bei der

Migrantenliteratur die Herkunft des/der Autors/in ausschlaggebend ist, gilt bei der Mig-

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rationsliteratur die thematische Konzeption des Werkes als entscheidendes Zuord-

nungskriterium. Da Literatur zum Thema Migration jedoch nicht ausschließlich von

Einwanderern verfasst wird, sollte der enge Begriff der Migrantenliteratur durch den

Begriff der Migrationsliteratur ersetzt werden.

Literatur

Büker, Peter / Kammler, Clemens (Hrsg.): Das Fremde und das Andere: Interpretationen und

didaktische Analysen zeitgenössischer Jugend- und Kinderbücher. Weinheim/München 2003.

Declerq, Elien: „‚Écriture migrante’, ‚littérature (im)migrante’, ‚migration literature’: réflexions

sur un concept aux contours imprécis“. In: Revue de littérature comparée 399 (2011/3), S. 301–

310.

Rösch, Heidi: „Migrationsliteratur im interkulturellen Diskurs“. (Der Text basiert auf dem Vor-

trag zu der Tagung Wanderer – Auswanderer – Flüchtlinge 1998 an der TU Dresden)

<http://www.fulbright.de/fileadmin/files/togermany/information/2004-

05/gss/Roesch_Migrationsliteratur.pdf >, 07.02.23013.

(Carolin Marie Buchheit)

Mimikry

Homi K. Bhabhas Konzept der kolonialen Mimikry bezeichnet eine subversive Strategie

der Kolonialisierten, die koloniale Macht nachzuahmen. Charakteristisch für die

Mimikry ist nicht die vollständige Assimilation, sondern die ironische Ambivalenz von

Ähnlichkeit und Differenz („almost the same, but not quite“ Bhabha 2000, S. 86). Da

die Nachahmung nur teilweise vollzogen wird und der Kolonialherr nicht vollständig

durch den Kolonialisierten repräsentiert, d.h. widergespiegelt, werden kann, haftet der

Mimikry ein bedrohliches Moment an, das den kolonialen Machtdiskurs unterläuft und

seine Instabilität aufzeigt.

Für die Fokussierung der Mimikry auf Literatur und Kultur vgl. den Beitrag zu ‚Third

Space‘/‚Dritter Raum‘.

Literatur

Bhabha, Homi K.: The Location of Culture. London/New York 2000.

Strohmaier, Alexandra: „Zu Homi K. Bhabhas Theorem der kolonialen mimikry“. In: Babka,

Anna / Malle, Julia (Hrsg.): Dritte Räume. Homi K. Bhabhas Kulturtheorie. Kritik. Anwendung.

Reflexion. Wien/Berlin 2012, S. 69–85.

Struve, Karen: Zur Aktualität von Homi K. Bhabha. Einleitung in sein Werk. Wiesbaden 2013.

(Kristina Höfer)

Mobilität

Mobilität meint die allg. Fähigkeit, sich zu bewegen, wobei der Begriff Unterkategorien

wie ‚soziale‘, ‚geistige‘ und ‚passive Mobilität‘ aufweist: ‚soziale Mobilität‘ bezeichnet

den sozialen Auf- oder Abstieg einer Person in einer Gruppe, 'geistige Mobilität' die

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Denkfähigkeit einer Person und ‚passive Mobilität‘ die Bewegung von Waren und

Kulturgut. Ist mit Mobilität eine Bewegung oder ein Ortswechsel gemeint, kann diese

unterschiedliche Gründe haben: Es könnte sich um eine Bildungs- oder Urlaubsreise

handeln, aber auch um eine Reise aus politischen oder religiösen Gründen, welche auch

unfreiwillig (Verfolgung) geschehen kann. Mobilität wird durch neue Verkehrsmittel

und daraus resultierenden neuen Reisemöglichkeiten gefördert.

Mobilität führt zu interkulturellem Austausch, Kulturtransfer, Perspektivenwechsel und

einer anderen Wahrnehmung des eigenen Landes bzw. der eigenen Kultur, was sich

sowohl auf die Produktion als auch auf die Rezeption literarischer Texte auswirkt. Diese

Erfahrungen können in literarischen Texten, z.B. in Reise- und Erfahrungsberichten,

festgehalten werden, indem sowohl das Geschehen als auch die Emotionen während der

Reise geschildert und Eindrücke über die fremde Kultur sowie ihre Einflüsse auf die

eigene thematisiert werden.

Durch die Mobilität können nicht nur Texte über Reisen und Kulturkontakt entstehen,

sondern auch für mehrere Menschen zugänglich gemacht und verbreitet werden.

Literatur

Taddei, Elena / Müller, Michael / Rebitsch, Robert (Hrsg.): Migration und Reisen. Mobilität in

der Neuzeit. Innsbruck 2012.

Kaelble, Hartmunt: Historische Mobilitätsforschung. Darmstadt 1978.

(Antonella Ziewacz)

Multikulturalität

Multikulturalität oder Multikulturalismus bezeichnet das Nebeneinander-Bestehen von

Kulturen in einer Gesellschaft, die zwar anerkannt und hierarchisch gleichrangig, aber

immer noch voneinander abgegrenzt existieren. Im Gegensatz zur Transkulturalität

findet hier kaum Austausch und Überschreitung der eigenen Kulturgrenzen statt.

Die eigene, aus der Heimat mitgebrachte Kultur stellt somit einen problematischen Un-

terschied zur Kultur des Landes dar; es besteht die Gefahr von zu starker Abgrenzung

und im Extremfall Ghettoisierung, der Aufbau einer Parallelgesellschaft. Gleichzeitig

können Stereotype und Vorurteile zwischen den verschiedenen Kulturen nicht abgebaut

14

werden, vgl. dazu etwa die stereotype Darstellungen von Türken in der deutschen

Comedy (z.B. Erkan und Stefan) oder den Roman Russendisko von Wladimir Kaminer.

Dieses Multikulturalitäts-Konzept wird von Vertretern der Interkulturalität und der

Transkulturalität stark kritisiert, etwa von Welsch: „Der Multikulturalismus sieht die

Partialkulturen innerhalb einer Gesellschaft noch immer wie Kugeln oder Inseln an und

befördert dadurch tendenziell Ghettoisierung.“

Literatur

Bronfen, Elisabeth / Marius, Benjamin / Steffen, Therese (Hrsg.): Hybride Kulturen. Beiträge

zur angloamerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen 1997.

Huntington, Samuel P.: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahr-

hundert. Wien 1996.

Welsch, Wolfgang: „Was ist eigentlich Transkulturalität?“. In: Darowska, Lucynda / Machold,

Claudia (Hrsg.): Hochschule als transkultureller Raum? Beiträge zu Kultur, Bildung und Dif-

ferenz. Bielefeld 2009, S. 39–65.

(Jonas Nesselhauf)

Nomadismus

Nomadismus bezeichnet die ständige Wanderung mit dem gesamten Hausrat von einer

Station zur nächsten (in Bezug auf die Viehzucht: von einer Weidefläche zur nächsten).

Ein fester Wohnsitz existiert nicht, sodass die dauerhafte Eingliederung in Institutionen

und Normen der Gesellschaft schwierig ist. Somit ist Nomadismus eine Wanderung

ohne endgültige Ankunft. Es existieren unterschiedliche Arten von Nomadismus, bspw.

der ‚Fernwanderer Nomadismus‘, bei dem im Laufe eines Jahres mehrere 100 Kilo-

meter zurückgelegt werden. Dementsprechend gibt es auch den ‚Nahwanderer Noma-

dismus‘. Hier pendelt man zwischen Sommer- und Wintergebiet. Nomadismus ist in

Asien und Afrika verbreitet, er kommt aber auch in Skandinavien vor.

Die für den westlichen Kulturkreis zugleich befremdliche und faszinierende Lebens-

weise ganzer Nomadenvölker wurde in der Literatur vielfach von Außenstehenden

beschrieben und in Bezug zur eigenen Lebensweise gesetzt. Zudem können ‚Nomaden‘

durch das Medium Text die eigene Lebensweise aus ihrer Sicht darstellen und auf diese

Weise ein Bild ihrer Kultur vermitteln.

Literatur

Scholz, Fred: Nomadismus. Theorie und Wandel einer sozio-ökologischen Kulturweise. Stutt-

gart 1995.

Vajda, Laszlo: Untersuchungen zur Geschichte der Hirtenkulturen. Wiesbaden 1968.

(Antonella Ziewacz)

Orientalismus

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Orientalismus als eine Form des Exotismus ist ein vom Westen geführter Diskurs über

den Orient, der mit Oppositionspaaren wie Zentrum/Peripherie, Überlegene/Unter-

legene, Eigenes/Fremdes arbeitet und auf diese Weise die westliche Dominanz über den

Orient beschreibt. In Orientalism (1978) stellt Edward Said die These auf, der Orient sei

eine westliche Erfindung des 19. Jahrhunderts, entstanden v.a. durch abwertende oder

romantisierende franz. und brit. Darstellungen des Orients in Literatur, Kunst und

Wissenschaft, um in Abgrenzung dazu die eigene Identität herauszubilden und zu

stärken.

Sein Konzept von Orientalismus überträgt Said in Culture and Imperialism (1993) auf

andere vom Kolonialismus geprägte Kulturen und kommt zu dem Ergebnis, dass diese

erst durch den imperialistischen Einfluss dominanterer Kulturen ‚geschaffen‘ wurden.

Für literatur- und kulturwissenschaftliches Arbeiten ist Saids Verständnis von Orienta-

lismus dort hilfreich, wo das ‚Andere‘ als Gegenbild zum ‚Eigenen‘ konstruiert wird

und stereotype Selbst- und Fremdzuordnungen stattfinden.

Literatur

Said, Edward: Culture and Imperialism. New York 1993.

Said, Edward: Orientalism. New York 1978. (Kristina Höfer)

Postkolonialismus

Einerseits beinhaltet der Begriff Postkolonialismus eine rein zeitliche Komponente, die

sich auf die geschichtlichen Abläufe nach der Unabhängigkeit der (ehemaligen) Kolo-

nien bezieht. Andererseits bezeichnet Postkolonialismus einen Theorieansatz, der im

Bereich der Literatur vorrangig bei der Analyse solcher Texte Anwendung findet, die

sich mit Kolonialismus bzw. Postkolonialismus auseinandersetzen. Der Schwerpunkt

des postkolonialen Interpretationsansatzes liegt in der thematischen Betrachtung von

gesellschaftlichen Hierarchien und der konkreten Darstellung der ehemaligen Koloni-

almächte, der ehemaligen Kolonien oder der dort lebenden Menschen. Zeitpunkt der

Textproduktion, Sprache des Textes sowie Herkunft des/der Autors/in sind in der post-

kolonialen Betrachtungsweise von Texten zwar relevant, thematische und strukturelle

Aspekte stehen allerdings im Vordergrund.

Das Hauptziel postkolonialer Theorien ist es, eurozentrische Denkansätze zu relativie-

ren und in Frage zu stellen.

Stuart Hall oder Homi K. Bhabha gehören zu den wichtigsten Vertretern des Postkolo-

nialismus.

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Literatur

Hall, Stuart: „Wann war ‚der Postkolonialismus‘? Denken an der Grenze“. In: Bronfen, Elisa-

beth / Marius, Benjamin / Steffen, Therese (Hrsg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-

amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen 1997, S. 219–246.

Loomba, Ania: Colonialism, Postcolonialism. London 2009.

Meyer, Michael: The Compact Introduction to Literature. Reading, Thinking, Writing. Boston

u.a. 2009.

Castro Varela, María do Mar / Dhawan, Nikita: Postkoloniale Theorie: Eine kritische

Einführung. Bielefeld 2005.

Young, Robert J.C.: Postcolonialism: A Very Short Introduction. Oxford u.a. 2003.

(Anna Schoon)

Reiseliteratur

Die Reiseliteratur umfasst Texte, die den Ablauf bzw. Verlauf, die Beschreibung und

Eindrücke einer Reise festhalten. Es existieren keine formale Verbindlichkeiten (Bsp:

Tagebucheintrag, Brief); ein wichtiges, durchgängiges Moment ist aber die Themati-

sierung des Schreibprozesses. Als eine der ältesten Literaturgattungen blickt sie auf eine

lange Entwicklung zurück (z.B. Homers Odyssee, die zeigt, dass Reiseliteratur nicht mit

Erfahrungsbericht gleichzusetzen ist.). In der Antike verfasste man zudem die ‚itinera‘,

einfache, zur Orientierung dienende Marschkarten mit nicht näher beschriebenen Weg-

stationen (z.B. die Tabula Peutingeria aus dem 4. Jhd.). Durch Pilgerreisen im Mittel-

alter entstanden objektive Berichte über fremde Länder. Eine subjektive Meinung wurde

vermieden, da die Neugier als Sünde galt. Im 16. Jahrhundert forderte Giovanni Batista

Romusio in seiner ‚Anleitung zum Beobachten‘ Reisende zur präzisen Wahrnehmung

auf. Mit Laurence Sternes Sentimental Journey through France and Italy rückten sub-

jektive, die Emotionen der Reisenden fokussierende Beschreibungen in den Vorder-

grund. Im Biedermeier wurden neben den Reiseeindrücken auch die Fortbewegungs-

mittel thematisiert. Ab der Jahrhundertwende entstand eine neue Unterkategorie der

Reiseliteratur, nämlich der Auswandererbrief. Somit ist eine Entwicklung von der

objektiven Reisebeschreibung zu einer subjektiven, wertenden Beobachtung zu erken-

nen.

Eine Funktion der Reiseliteratur ist das stellvertretende Sehen. Weitere Funktionen sind,

z.B. die sprachliche Gestaltung von Fremdheitserfahrung, Konfrontation mit dem Ande-

ren und damit einhergehend mit dem Eigenen.

Aus der Reiseliteratur entstanden Arbeiten zu den unterschiedlichen Mentalitäten

(Wuthenow) und es entwickelte sich auch eine Reisetheorie (Stewart).

Literatur

Brenner, Peter: Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vor-

studie zu einer Gattungsgeschichte. Tübingen 1990.

Ecker, Gisela / Röhl, Susanne (Hrsg.): In Spuren Reisen. Vor-Bilder und Vor-Schriften in der

Reiseliteratur. Berlin 2006.

17

(Antonella Ziewacz)

Stereotyp/Nationalstereotyp

Stereotyp ist ein weiter Begriff, der in zahlreichen Disziplinen verwendet wird

(Psychologe, Soziologie oder Literaturwissenschaft). Walter Lippmann prägte in den

1960er Jahren den Begriff des Stereotyps als Produkt des notwendigen, kognitiven Vor-

gangs, die Komplexität der Welt zu reduzieren, um sie zu verstehen. Problematisch sind

Stereotype, wenn sie zu Vorurteilen oder ideologisch aufgeladen werden und so gesell-

schaftliche Hierarchien etablieren und festigen.

Im Bereich der Selbst- und Fremdwahrnehmung von Nationalitäten spielen Stereotype

ebenfalls eine wichtige Rolle. Komplexitätsreduktion ist auch hier Ursprung der verein-

fachten Darstellung von Nationalitäten: Eine Nation wird auf die von außen am stärks-

ten wahrgenommenen Eigenschaften reduziert; Realität und Fiktion vermischen sich

hierbei meist. Nationalstereotype etablieren sich über persönliche, durch entsprechende

Vorurteile geprägte Erfahrungen und über wiederholte Darstellungen in den Medien.

In der Literatur funktionieren Stereotype ähnlich wie in der Realität, auch wenn in

literarischen Texten die sprachliche Verfasstheit solcher Bilder vom Anderen im Vor-

dergrund steht. Einerseits sind insbesondere in der Erzählliteratur gerade bei Neben-

charakteren Reduktionen und Anspielungen auf Eigenschaften unabdingbar.

Ironischerweise verleiht eben dieses Anspielen auf dem/der Leser/in bekannte Voran-

nahmen dem Text eine gewisse Tiefe. Dennoch ist der übermäßige Gebrauch von Ver-

allgemeinerungen sowohl in der Literatur als auch in Medien wie Film und Theater mit

Vorsicht zu genießen, da Stereotype durch ständige Wiederholungen gefestigt werden,

was wiederum zu Vorurteilen und Diskriminierung in der außertextlichen Wirklichkeit

führen kann. Zahlreiche Texte erweisen sich daher auch als ein subtiles Spiel mit be-

kannten Stereotypen, durch das die vermeintlich bekannten Eigenschaften durchaus in

Frage gestellt oder dekonstruiert werden können.

Literatur

Florack, Ruth: Bekannte Fremde: Zu Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Liter-

atur. Tübingen 2007.

Florack, Ruth: Nation als Stereotyp: Fremdwahrnehmung und Identität in deutscher und fran-

zösischer Literatur. Tübingen 2000.

Lippmann, Walter: Public Opinion. London 1961.

(Anna Schoon)

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Subaltern Studies/Subaltern Speech

In ihrem programmatischen Essay „Can the subaltern speak?“ setzt sich die Literatur-

theoretikerin Gayatri Spivak kritisch mit den poststrukturalistischen Bestrebungen, das

Subjekt als Inhaber von Autorität und Macht abzuschaffen, auseinander. Französische

Intellektuelle gaben vor, mit Arbeiter/innen der ‚dritten Welt’ im Klassenkampf auf

einer Ebene zu sein und nicht mehr für sie zu sprechen, sondern mit ihnen zu agieren.

Spivak hingegen betont, dass das Ersetzen von Repräsentation durch revolutionäre

Aktion ideologiefestigend wirkt und die Subjekte der ‚dritten Welt’ zu Objekten des

westlichen Blicks degradiert. Der Versuch westlicher Intellektueller, sich als Subjekt

transparent zu machen, festigt koloniale Machtstrukturen und unterstützt ökonomische

Interessen des Westens. Der doppelbödige Begriff ‚subaltern‘ (Untergebener) themati-

siert gleichzeitig die Unterdrückung durch den Westen und den vereinfachenden west-

lichen Blick auf ‚die armen Unterdrückten‘. Zudem verweist der Begriff auf die Situa-

tion indischer Frauen, die durch das dortige Patriarchat und den Imperialismus doppelt

unterdrückt werden.

In Bezug auf Literatur ermöglicht dieser Ansatz, Repräsentationslogiken offen zu legen

und nach ihrer Funktion zu fragen. Im engeren Sinne eignet er sich zur Untersuchung

von Texten, in denen westliche Autor/innen Figuren aus anderen Kulturen schaffen, sie

sprechen lassen oder über sie sprechen.

Literatur

Spivak, Gayatri Chakravorty: „Can the subaltern speak?“. In: Morten, Stephen: Gayatri

Chakravorty Spivak. London 2003, S. 66–111.

(Hanna Matthies)

Third Space/Dritter Raum

Der ‚dritte Raum‘ ist ein imaginärer Zwischen- bzw. Schwellenraum, in dem Hierar-

chien und Dichotomien zwischen Kulturen aufgelöst sind. Kulturelle Identitäten und

Differenzen werden im ‚dritten Raum‘ immer wieder neu verhandelt und entstehen als

Produkt kultureller Hybridisierung durch permanentes Oszillieren zwischen festen

Identifikationsmöglichkeiten.

Das Konzept des ‚dritten Raums‘ ist ein wichtiger Bestandteil der Kulturtheorie Homi

K. Bhabhas und lässt sich dann anwenden, wenn mehrere (ambivalente) kulturelle Zu-

gehörigkeiten aufeinandertreffen und zusammenwirken, sodass sowohl nationalphilolo-

gische als auch multi- oder interkulturelle Blickwinkel nicht mehr ausreichen, z.B. bei

Texten, die zur ‚neuen Weltliteratur‘ zählen.

19

Literatur

Babka, Anna / Malle, Julia (Hrsg.): Dritte Räume. Homi K. Bhabhas Kulturtheorie. Kritik.

Anwendung. Reflexion. Wien/Berlin 2012.

Bhabha, Homi K.: The Location of Culture. London/New York 2000.

Struve, Karen: Zur Aktualität von Homi K. Bhabha. Einleitung in sein Werk. Wiesbaden 2013.

(Kristina Höfer)

Transkulturalität

Im Gegensatz zur Interkulturalität findet hier eine zunehmende Vernetzung und Vermi-

schung der Kulturen infolge von Globalisierung und Migration statt. Die Kulturen

innerhalb der Gesellschaft sind nicht mehr eindeutig fixiert, kaum noch voneinander zu

trennen.

Nach Welsch ist in der Transkulturalität fremdes Element in der eigenen Person zu er-

kennen, die Gesellschaft ist damit – schematisch gesprochen – nicht nur aus eindeutig

‚roten’ und ‚blauen’ Personen gemischt, sondern auch jedes Individuum ist selbst wie-

der eine Mischung aus Einflüssen der ‚roten’ und ‚blauen’ Kultur. Diese Vermischung

ist laut Welsch durch Globalisierung und Migration längst der Normalfall: „Für jedes

Land sind die kulturellen Gehalte anderer Länder tendenziell zu Binnengehalten gewor-

den.“ (Welsch 2009)

Eine solche Überschreitung von Kulturgrenzen findet sowohl auf der gesellschaftlichen

Makroebene statt (etwa in der Konsumkultur oder der Medizin), wie aber auch auf der

Mikroebene, wo sich unterschiedliche ethnische und kulturelle Hintergründe in einer

Gesellschaft verstärken.

Literatur

Welsch, Wolfgang: „Was ist eigentlich Transkulturalität?“. In: Darowska, Lucynda / Machold,

Claudia (Hrsg.): Hochschule als transkultureller Raum? Beiträge zu Kultur, Bildung und Diffe-

renz. Bielefeld 2009, S. 39–65.

(Jonas Nesselhauf)

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Vielsprachigkeit/Multilinguale Literatur

Multilingualität beschreibt generell den/die in mehreren Sprachen schreibende/n

Autor/in:

(a) Besonders Schriftsteller/innen mit Migrations- oder Fluchterfahrung schreiben

mehrsprachig, sowohl in ihrer Heimatsprache, als auch in der zumeist ‚neuen’ Sprache,

etwa Milan Kundera und Agota Kristof, die aus Tschechien bzw. Ungarn in den franzö-

sischen Sprachraum geflohen sind.

(b) Gerade Autor/innen in (sprachlichen) Minderheiten können durch multilinguale

Literatur ihr Lesepublikum erweitern, auch über die eigene Sprache hinaus. Beispiele

dafür finden sich etwa bei hispanoamerikanischen Schriftsteller/innen der USA

(‚Spanglish‘) wie Rolando Hinojosa oder Gloria Anzaldúa, aber auch in Regional-

dialekten wie dem Sächsischen oder dem Saarländischen.

(c) Einen besonderen Fall von (b) bilden multilingual aufgewachsene Schrift-

steller/innen, z.B. Samuel Beckett (1906–1989), der in irischem Umfeld aufwächst und

später in Frankreich und im französischsprachigen Afrika lebt. Ähnliche Beispiele las-

sen sich in Staaten mit mehreren offiziellen Landessprachen oder Amtssprachen fest-

stellen, etwa in Kanada oder der Schweiz.

(d) Ein Sonderfall des/der multilingualen Schriftstellers/in ist der Selbstübersetzer. Dies

ist dabei oft mehr als eine reine ‚Übertragung’ in eine andere Sprache, sondern eine

(durch den/die Autor/in als Urheber mögliche) für den neuen Sprach- und Kulturraum

angepasste ‚Umschreibung’ des Textes. So übersetzten etwa der deutsche Schriftsteller

Stefan Heym (d.i. Helmut Flieg, 1913–2001) oder auch Samuel Beckett ihre Werke

selbst.

Literatur

Bhatia, Tej K. / Ritchie, William C. (Hrsg.): The Handbook of Bilingualism. Malden, MA 2012.

Hutchinson, Peter: Stefan Heym. Dissident auf Lebenszeit. Würzburg 1999.

Pittler, Andreas: Samuel Beckett. München 2006.

Schmeling, Manfred / Schmitz-Emans, Monika (Hrsg.): Multilinguale Literatur im 20.

Jahrhundert. Würzburg 2002.

Venuti, Lawrence (Hrsg.): The Translation Studies Reader. London 2000.

(Jonas Nesselhauf)

Weltliteratur (neue)

Goethes Idee der Weltliteratur meint, dass die einzelnen Nationalliteraturen durch inter-

kulturellen Austausch und Übersetzung gleichermaßen an einer Weltliteratur partizipie-

ren. ‚Neue Weltliteratur‘ ist eine Bezeichnung für im Zeitalter von Migration und

Globalisierung entstehende Texte, die aufgrund sprachlicher, inhaltlicher oder formaler

Aspekte nicht mehr nur einer Nationalliteratur zugeordnet werden können, also trans-

national sind, z.B. von Emine Sevgi Özdamar, Salman Rushdie oder Michael Ondaatje.

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Einer literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit solchen Texten sollten Theo-

rien und Methoden zugrunde liegen, die diese Tendenzen berücksichtigen und methodi-

sche Grenzen der Nationalphilologien überschreiten, z.B. eine transareale Literaturwis-

senschaft, wie sie Ottmar Ette vorschlägt.

Literatur

Bachmann-Medick, Doris: „Multikultur oder kulturelle Differenzen? Neue Konzepte von Welt-

literatur und Übersetzung in postkolonialer Perspektive“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für

Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 68/4 (1994), S. 585–612.

Lamping, Dieter: Die Idee der Weltliteratur. Ein Konzept Goethes und eine Karriere. Stuttgart

2010.

Sturm-Trigonakis, Elke: Global playing in der Literatur. Ein Versuch über die neue Weltlitera-

tur. Würzburg 2007.

(Kristina Höfer)

Writing Back

Im Kontext der postkolonialen Literaturanalyse bezeichnet ‚Writing Back‘ das

‚Anschreiben‘ gegen einen europäischen Text aus einer postkolonialen Situation heraus.

Das Hauptziel ist es, die Dominanz europäischer Literatur bzw. in europäischer Litera-

tur ausgedrückter Werte und Weltansichten in Frage zu stellen, zu relativeren und aus

dem Zentrum der Wahrnehmung zu drängen.

Der Begriff geht zurück auf den Literaturkritiker und Autor Salman Rushdie, der in den

frühen 1980er Jahren den Zeitungsartikel „The Empire writes back with a vengeance“

veröffentlichte (The Times, 3. July 1982).

Eines der prominentesten Beispiele ist Chinua Achebes Things Fall Apart (1958), ein

Roman der ausdrücklich gegen Joseph Conrads Heart of Darkness (1899) gerichtet ist.

Heart of Darkness wurde lange als ein frühes Werk gegen die brutalen Kolonialprakti-

ken Belgiens gefeiert, bis Achebe 1975 das Gegenteil behauptet und Conrad als Rassis-

ten bezeichnet. Achebe bezieht sich insbesondere auf die Darstellung der Afrikaner

(z.B. häufige Verwendung von Tiermetaphern) und deren Verwendung von Sprache.

Literatur

Achebe, Chinua: „An Image of Africa: Racism in Conrad’s Heart of Darkness”. In: Conrad,

Joseph: Heart of Darkness. Authoritative Text. Backgrounds and Contexts. Criticism. New

York/London 42006, S. 336–349.

Ashcroft, Bill / Griffiths, Gareth / Tiffin Helen: The empire writes back. Theory and practice in

post-colonial literature. London 1989.

Hawkins, Hunt: „Heart of Darkness and Racism“. In: Conrad, Joseph: Heart of Darkness.

Authoritative Text. Backgrounds and Contexts. Criticism. New York/London 42006, S. 365–

375.

Thieme, John: Postcolonial con-texts: Writing back to the Canon. London/New York 2001.

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(Anna Schoon)

Zusammenlebenswissen

Ottmar Ette hebt mit diesem Begriff die dynamische Verschränkung und Interaktion

von Literatur(wissenschaft) und außerliterarischer Welt hervor. Gegensätze zwischen

Realität und Fiktion lösen sich in Wechselwirkungen auf. Dadurch entstehen Spiel-

räume zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in denen Zusammenleben

erprobt oder häufiger das Scheitern eines solchen beobachtet werden kann. ‚Zusammen-

lebenswissen‘ beschreibt keinen Idealzustand, sondern konzentriert sich auf Bewe-

gungsgeschichten von Menschen, die sowohl Zerstörung, als auch dynamischen Aus-

tausch oder einen kreativen Schaffensprozess anregen können. Im Gegensatz zu

identitären Konzepten, wird erfolgreiches Zusammenleben aus der kulturellen Differenz

heraus verstanden.

Literatur

Ette, Ottmar: ÜberLebensWissen: 3: ZusammenLebensWissen: List, Last und Lust literarischer

Konvivenz im globalen Maßstab. Berlin 2010.

(Hanna Matthies)