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DGC 47 Sprachphilosophie Universität Athen, WiSe 2015-16 Winfried Lechner Skriptum, Teil 1 SPRACHE UND PHILOSOPHIE 1. WAS IST SPRACHPHILOSOPHIE? In diesem ersten Teil des Skriptums zur Sprachphilosphie (im Weiteren mit SP abgekürzt) wird zu Beginn kurz dargestellt, welche Aufgaben die SP hat, welche Beziehung zwischen SP, Linguistik und Philosophie besteht, sowie wie sich die SP historisch als ein Teilgebiet der Philosophie entwickelt hat (Abschnitt 1). Im Anschluss an eine Zusammenfassung einiger wichtiger philosophischer Strömungen in Abschnitt 2, wird der Begriff der Idee eingeführt werden, so wie er in der antiken Philosophie verwendet wurde (Abschnitt 3). Wie wir sehen werden spielen Ideen (heute vielfach auch Konzepte genannt), sowie deren Eigenschaften, eine entscheidende Rolle in vielen Bereichen der SP. Hinweise zum Skriptum Dies ist der erste Teil eines mehrteiligen Skriptums. Ich werde für diese Teile immer wieder auch den Begriff Handout verwenden. Da es sich um eine noch nicht abgeschlossene Arbeit, also work in progress, handelt, sind Kommentare aller Art jederzeit willkommen! Sollten Sie (i) Teile unverständlich, schwierig oder unvollständig finden, (ii) Fragen, Vorschläge oder Anregungen (auch zur Übersetzung ins Griechische) haben, oder (iii) formale Fehler (Rechtschreibung, inhaltlich, ...) entdecken, wäre ich sehr dankbar, wenn Sie mir ein kurzes Email zukommen lassen könnten ([email protected] ). 1. Aufbau und Notation: Dieses Skriptum enthält zentrale Hintergrundinformation, die Sie für das Seminar benötigen (Stoff/ύλη). Weitere wichtige Literatur (Artikel, Einführungsbücher, Links zu online verfügbaren philosophischen Wörterbüchern und Enzyklopädien, etc....) finden Sie auf η-τάξη. Wichtig! Die Reihenfolge, in der die Inhalte im Seminar diskutiert werden wird, folgt nicht immer dem Aufbau des Skriptums. Die Diskussion der Debatte Rationalismus vs. Empirismus (Behaviorismus, Konnektionismus) wird z.B. im Seminar bereits früh begonnen, und zieht sich als roter Faden durch den Kurs. Aus logistischen Gründen wird das Thema im Skriptum jedoch relativ spät, in einigen Abschnitten zusammengefasst. 2. Inhalt : Mit Ausnahme der Ausführungen auf den nächsten Seiten werden in diesem Skriptum die Geschichte und die Entwicklung des Gebietes der SP nur sehr am Rande behandelt werden. In den meisten Fällen werden die Themen, Probleme und Theorien nicht in ihren historischen Kontext eingebettet, sondern mit den heute verfügbaren Methoden und mit heutigem Vokabular vorgestellt werden. Auf diese Art und Weise wird es leichter, den teilweise komplexen Ideen auf systematische Art und Weise in ihrer Entwicklung zu folgen. Diese Strategie ist auch besser mit der grundlegenden Strategie des Kurses vereinbar. Es sollen nämlich in diesem Seminar die Themen und Probleme nicht einfach aufgelistet, sondern so behandelt werden, wie man dies im wissenschaftlichen Alltag tut. Die Idee ist die gleiche wie bei einem Kochkurs: wenn man Kochen lernen will, muss man Kochen, man darf sich nicht auf das Lesen von Kochbüchern oder das Studium von TV-Kochsendungen beschränken. Analoges gilt für die SP (und alle Wissenschaften): wenn man wissen will, was SP ist, dann sollte man am besten SP betreiben (Show, don’t tell!).

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DGC 47 Sprachphilosophie Universität Athen, WiSe 2015-16Winfried Lechner Skriptum, Teil 1

SPRACHE UND PHILOSOPHIE

1. WAS IST SPRACHPHILOSOPHIE?

In diesem ersten Teil des Skriptums zur Sprachphilosphie (im Weiteren mit SP abgekürzt) wird

zu Beginn kurz dargestellt, welche Aufgaben die SP hat, welche Beziehung zwischen SP,

Linguistik und Philosophie besteht, sowie wie sich die SP historisch als ein Teilgebiet der

Philosophie entwickelt hat (Abschnitt 1). Im Anschluss an eine Zusammenfassung einiger

wichtiger philosophischer Strömungen in Abschnitt 2, wird der Begriff der Idee eingeführt

werden, so wie er in der antiken Philosophie verwendet wurde (Abschnitt 3). Wie wir sehen

werden spielen Ideen (heute vielfach auch Konzepte genannt), sowie deren Eigenschaften, eine

entscheidende Rolle in vielen Bereichen der SP.

Hinweise zum Skriptum

Dies ist der erste Teil eines mehrteiligen Skriptums. Ich werde für diese Teile immer wieder auch

den Begriff Handout verwenden. Da es sich um eine noch nicht abgeschlossene Arbeit, also work

in progress, handelt, sind Kommentare aller Art jederzeit willkommen! Sollten Sie (i) Teile

unverständlich, schwierig oder unvollständig finden, (ii) Fragen, Vorschläge oder Anregungen

(auch zur Übersetzung ins Griechische) haben, oder (iii) formale Fehler (Rechtschreibung,

inhaltlich, ...) entdecken, wäre ich sehr dankbar, wenn Sie mir ein kurzes Email zukommen

lassen könnten ([email protected]).

1. Aufbau und Notation: Dieses Skriptum enthält zentrale Hintergrundinformation, die Sie für

das Seminar benötigen (Stoff/ύλη). Weitere wichtige Literatur (Artikel, Einführungsbücher,

Links zu online verfügbaren philosophischen Wörterbüchern und Enzyklopädien, etc....) finden

Sie auf η-τάξη. Wichtig! Die Reihenfolge, in der die Inhalte im Seminar diskutiert werden wird,

folgt nicht immer dem Aufbau des Skriptums. Die Diskussion der Debatte Rationalismus vs.

Empirismus (Behaviorismus, Konnektionismus) wird z.B. im Seminar bereits früh begonnen, und

zieht sich als roter Faden durch den Kurs. Aus logistischen Gründen wird das Thema im

Skriptum jedoch relativ spät, in einigen Abschnitten zusammengefasst.

2. Inhalt: Mit Ausnahme der Ausführungen auf den nächsten Seiten werden in diesem Skriptum

die Geschichte und die Entwicklung des Gebietes der SP nur sehr am Rande behandelt werden.

In den meisten Fällen werden die Themen, Probleme und Theorien nicht in ihren historischen

Kontext eingebettet, sondern mit den heute verfügbaren Methoden und mit heutigem Vokabular

vorgestellt werden. Auf diese Art und Weise wird es leichter, den teilweise komplexen Ideen auf

systematische Art und Weise in ihrer Entwicklung zu folgen. Diese Strategie ist auch besser mit

der grundlegenden Strategie des Kurses vereinbar. Es sollen nämlich in diesem Seminar die

Themen und Probleme nicht einfach aufgelistet, sondern so behandelt werden, wie man dies im

wissenschaftlichen Alltag tut. Die Idee ist die gleiche wie bei einem Kochkurs: wenn man

Kochen lernen will, muss man Kochen, man darf sich nicht auf das Lesen von Kochbüchern oder

das Studium von TV-Kochsendungen beschränken. Analoges gilt für die SP (und alle

Wissenschaften): wenn man wissen will, was SP ist, dann sollte man am besten SP betreiben

(Show, don’t tell!).

1.1. EINGRENZUNG DES GEBIETES

(1) - (4) listet einige Fragen auf, die in der modernen Sprachphilosophie (SP) behandelt werden:

(1) Philosophiea. Was sind Bedeutungen?

Beispiel: Bedeutet der Name James Joyce das selbe wie die definiteNominalphrase der Autor des Ulysses, der 1882 in Dublin geboren wurde?

b. Was ist Referenz? Was passiert, wenn man mit Sprache auf die Welt verweist?

c. Beeinflusst Sprache das Denken?Beispiel: Existiert das Konzept/die Idee GRÜN auch in Sprachen, die keinspezielles Wort für GRÜN besitzen?

d. Gibt es eine Sprache der Gedanken? Sind Gedanken ähnlichen Gesetzen unterworfenwie natürliche Sprache?

(2) Linguistika. Was ist eine natürliche Sprache? Die Menge aller möglichen Sätze, die Menge aller

Sätze, die geäußert wurden, oder ein abstraktes System?b. Wie sind die Gesetze der natürlichen Sprache formal definiert? Handelt es sich um

Regeln im Kopf der Sprecher oder Regeln, die auch ohne Sprecher existieren?c. Unterscheiden sich Sprachen in der Art, wie sie Bedeutungen ausdrücken?

(3) Logik, Metamathematik, mathematische Linguistika. Hat jeder syntaktisch korrekte Satz auch eine Bedeutung?b. Ist jede Bedeutung sprachlich ausdrückbar? c. Was ist der Unterschied zwischen natürlichen Sprachen und den formalen Sprachen

der Logik und Mathematik? Kann man in natürlichen Sprachen das gleicheausdrücken wie in formalen Sprachen?

(4) Kognitionswissenschaft/Biologie/Biolinguistika. Wie wird Sprache erworben? Ist die Sprachfähigkeit angeboren, wie die Fähigkeit auf

zwei Beinen zu gehen, oder wird sie durch Instruktion erlernt, wie das Schachspieloder das Autofahren.

b. Was sind die biologischen Grundlagen des Sprachsystems?c. Was ist das Verhältnis zwischen Sprache und anderen kognitiven Systemen wie dem

Sehen, Zählen, Musik, dem Orientierungssinn oder dem Immunsystem?

Wie aus (1) - (4) ersichtlich wird, sind einige Fragestellungen der SP weitgehend philosophisch

ausgerichtet ((1)), wohin andere sich als eher linguistisch orientiert erweisen ((2)). Daneben

befasst sich SP aber ebenso mit Themen, die im Bereich der mathematischen Logik liegen ((3))

sowie mit Problemen, welche die biologischen Grundlagen der menschlichen Sprache betreffen,

deren Entwicklung im menschlichen Organismus und die Beziehung zwischen Sprache und

anderen kognitiven Fähigkeiten ((4)). Zudem ist es nicht immer möglich, die einzelnen Fragen

einem einzigen Gebiet zuzuweisen: (1)a wird z.B. nicht nur in der Philosophie, sondern genauso

in der Linguistik diskutiert; mögliche Antworten auf (2)b hängt von linguistischen, aber ebenso

von mathematischen und von biologischen Faktoren ab; und (3)c wird sowohl in der

mathematischen Linguistik als auch in der theoretischen Linguistik behandelt. Der Begriff der

‘Sprachphilosophie’ besitzt demnach mehrere, nicht immer genau voneinander abgrenzbare

Bedeutungen.

Dies stellt aber keinen Grund zur Besorgnis dar. Auch in anderen Wissenschaften ist es nicht

3 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2015-16

immer erforderlich - oder oft gar nicht möglich - präzise anzugeben, welche Fragen in den

Aufgabenbereich dieses Gebietes fallen, und welche nicht. Insbesondere in den

Naturwissenschaften (Biologie, Chemie, Physik und Geologie) sind derartige Verhältnisse häufig

anzutreffen. Sowohl Chemie als auch Physik untersuchen z.B. die Zusammensetzung der

Materie. Durch die Fortschritte in diesen Gebieten in den letzten hundert Jahre kommt es jedoch

in vielen Bereichen, etwa bei der Forschung zu der Struktur von Molekülen, häufig zu

Überschneidungen. Die Untersuchung des Aufbaus von Molekülen führt etwa zu Fragen, die

sowohl für Chemie als auch Physik relevant sind. Eine klare Trennlinie zwischen Chemie und

Physik existiert demnach nicht. Ähnlich verhält es sich mit vielen Fragen der Sprachphilosophie,

die, wie eingangs bereits erwähnt, oft auch in anderen Gebieten, wie etwa Linguistik,

Biolinguistik, Logik, Computerwissenschaft, und der kognitiven Neurophysiologie untersucht

werden. Daher ist es weder möglich noch notwendig, SP mit einer konkreten Gruppe von

Problemen oder Erkenntnissen zu identifizieren. Im Folgenden wird somit auch nicht versucht

werden, eine präzise Definition von ‘Sprachphilosophie’ zu geben. Statt dessen werden im

Verlauf dieses Kurses einige wichtige Fragen, die sich in der SP als relevant erwiesen haben,

skizziert werden.

Im verbleibenden Teil dieses ersten Abschnitt folgen einige Bemerkungen zu den Begriffen

Wissenschaft und Theorie, die dazu dienen, den allgemeinen Rahmen zu definieren, in dem SP

behandelt werden wird.

Fragen vs. Antworten: Generell behindern Überschneidungen zwischen unterschiedlichen

Gebieten, wie sie oben beschrieben wurden, den Fortschritt der Forschung nicht, sondern

erweisen sich im Gegenteil in vielen Fällen sogar von Vorteil. Der Grund dafür liegt in der Art

und Weise, wie Wissenschaft in der Praxis funktioniert, und wie man die moderne

wissenschaftliche Methode (auch methodischer Naturalismus genannt) versteht. Bei

Wissenschaft handelt es sich nämlich im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Meinung nicht um

eine statische Ansammlung von Daten, Generalisierungen über Daten, oder einen Katalog von

Naturgesetzen, Theorien und Analysen, sondern um ein lebendiges, dynamisches Gebilde aus

Fragen und Strategien, diese Fragen zu beantworten. Dabei sind die Fragen selbst von größerer

Bedeutung als die Antworten. Das ist so, da Fragen, wenn sie sinnvoll gestellt werden können,

auf neue Konstellationen von Ideen und Fakten, auf neue Lösungsstrategien, und somit auf neue,

mögliche Erkenntnisse verweisen. Ein Beispiel aus der Linguistik verdeutlicht dies:

Im Deutschen und im Griechischen gibt es die palatalen und velaren Frikative [ç] und [x].

(5) zeigt, dass die Wahl im Deutschen vom vorangehenden Vokal abhängt. (6) dokumentiert

weiters, dass im Griechischen der folgende, und nicht der vorangehende Vokal für diese

Entscheidung verantwortlich ist.

vorausgehender Laut folgender Laut(5) a. la[x]en [a] [c]

b. le[ç]zen [e] [c]c. to[x]ter []] [c]d. li[ç]ter [x] [c]

(6) a. i[x]οs [I] [o] b. o[ç]ι [o] [I]

#1: Sprache und Philosophie 4

Griechische und Deutsch weisen also auf der einen Seite ähnliche Eigenschaften auf - beide

Sprachen besitzen zwei Arten von Frikativen, die vom lokalen Kontext abgängig sind -

unterscheiden sich aber auch systematisch in der Richtung, in der die Eigenschaften eines Lautes

die Eigenschaften eines anderen Lautes beeinflussen. Diese Beobachtung ist auf den ersten

Eindruck verwunderlich und stellt daher ein Rätsel dar. Aber sie führt auch zu neuen, potentiell

interessanten Fragen. Deutsch und Griechisch unterscheiden sich auch in weiteren

phonologischen Eigenschaften, z.B. dem Verhalten von velaren und palatalen Frikativen in nicht

vokalischen Kontexten, also nach bzw. vor Konsonanten und an Wortgrenzen. Im Deutschen

taucht in diesen Umgebungen der palatale Frikativ auf (Milch, Chemie), im Griechischen

dagegen die velare Version (σαχλή, αχ βαχ). Dies wirft offensichtlich die Fragen auf, ob diese

beiden sprachspezifischen Unterschiede miteinander in Verbindung stehen, und ob es möglich

ist, beide Beobachtungen auf eine gemeinsame, einheitliche Erklärung zurückführen. Weiters

ergeben sich aus diesen Überlegungen Themen für mögliche zukünftige Projekte. Gibt es z.B.

andere phonologische Prozesse im Griechischen und Deutschen, die ähnliche Unterschiede in

der Direktionalität aufweisen? Warum unterscheiden sich die beiden Sprachen genau auf diese

Art und Weise? Liegen die Unterschiede in der historischen, diachronen Entwicklung, oder in

synchronen Faktoren?

Offensichtlich stellt also das Vorhandensein einer noch nicht beantworteten Frage an und

für sich kein Problem dar, zumindest dann nicht, wenn diese auf interessante neue Fragen

hinweist. Dieses auf den ersten Blick kontraintuitive (. nicht intuitive) Prinzip gilt ganz

allgemein in den Wissenschafted. Und genau aus diesem Grund erweist sich interdisziplinäre

Forschung oft stimulierend. Die Untersuchung eines Phänomens in unterschiedlichen

Wissenschaften kann nämlich nicht nur neue, bisher unbekannte, Perspektiven eröffnen, sondern

auch zu neuen Fragestellungen führen.

Wissenschaftliche Theorien: Es wurde bereits erwähnt, dass Wissenschaft dynamisch

funktioniert, und keine statische Sammlung von Erkenntnissen darstellt. Wissenschaft ist kein

Katalog oder Kanon von Fakten, sondern ein System um neue Erkenntnisse zu erwerben und

neue Fragen zu stellen. Dieser dynamische Aspekt spiegelt sich auch in den Methode wieder,

die in allen Forschungsprogrammen verwendet werden: der formalen Theorie.

Theorien sind Modelle eines Ausschnittes aus der Welt, die möglichst präzise darstellen

sollen, wie sich dieser Ausschnitt aus der Welt verhält. Man kann sich eine Theorie auch als eine

Ansammlung von Strategien vorstellen, die einem erlaubt, unterschiedliche Fragen über die Welt

zu beantworten. Etwas spezifischer setzt sich jede Theorie aus zumindest drei Teilen zusammen:

(i) einer Menge von Annahmen oder Hypothesen, (ii) einer Menge von Vorhersagen, die aus

diesen Annahmen abgeleitet werden können, und (iii) Tests, die eine Methode zur Verfügung

stellen, die Richtigkeit oder Korrektheit dieser Vorhersagen zu überprüfen. Die Hypothese, dass

Hitze durch Bewegung von Molekülen zustandekommt, macht z.B. die Vorhersage, dass im

Vakuum, also an einem Ort ohne Moleküle, keine Hitze existieren kann. Diese Vorhersage lässt

sich durch einen Test, etwa durch das Messen der Temperatur im Weltall, überprüfen.

Theorien besitzen gegenüber bloßen Beschreibungen den großen Vorteil, von konkreten

Fakten unabhängig zu sein. Die gleiche Theorie, die einem erlaubt, die Position eines Schiffes

zu bestimmen - die Triangulation in euklidischer Geometrie - kann z.B. auch zur Berechnung der

5 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2015-16

Höhe eines Berges verwendet werden, oder um den Abstand zwischen der Erde und einem

beliebigen Stern in der Milchstraße zu messen. Man kann sich eine Theorie daher auch als eine

Sammlung von abstrakten Instrumenten vorstellen, die zu unterschiedlichen Zwecken eingesetzt

werden können.

Historisch gesehen sind Theorien wichtiger für die Entwicklung eines Gebietes, als die

tatsächlichen Ergebnisse oder konkreten Resultate. Dies zeigt sich auch daran, dass es in vielen

Fällen relativ einfach ist, Ergebnisse zu erzielen, da es sich bei diesen um nichts anderes als um

die Anwendung des abstrakten Instrumentes, der Theorie handelt. Ein neues Instrument zu

gestalten, also das Design einer neuen Theorie, ist dagegen eine viel komplexere Aufgabe, die

nach Kunstfertigkeit und Intuition verlangt, sowie nach meist komplexen Überlegungen, oft

langwieriger Überprüfung der empirischen Konsequenzen der Theorie und insbesondere viel

Ausdauer.1 Wie sich im Verlauf der Ausführungen zeigen wird, steht auch für die moderne SP -

genauso wie für Formal- und Naturwissenschaften - nicht so sehr die Kategorisierung von Daten,

und Katalogisierung von Erkenntnissen im Vordergrund, sondern vielmehr die Suche nach

interessanten Konstellationen von Fragen und Antworten, sowie die Untersuchung der

Konsequenzen, die sich daraus ergeben.

1.2. (ÄUSSERST) KURZE GESCHICHTE DER MODERNEN SP

Obwohl der Terminus Sprachphilosophie selbst erst um die Mitte des 19. Jh geprägt wurde,

wurde Sprache schon seit der Antike eine besondere Stellung in der westlichen Philosophie

zugesprochen. Anstatt einer systematischen Darstellung der historischen Entwicklungen werden

im Folgenden einige wenige zentrale Hypothesen der SP eingeführt werden, die charakteristisch

für Fragestellungen und typische Argumentationsstrategien des Gebietes sind.

Antike bis 20. Jh. Historisch betrachtet - genauer genommen bevor es im späten 18. Jh. zur

Ausformung der Linguistik zu einer eigenständigen Disziplin kam - befasste sich Philosophie mit

vielen Eigenschaften der Sprache, die nach heutigem Verständnis nicht in den Bereich der

Philosophie, sondern der Sprachwissenschaft fallen würden. So existieren unzählige

philosophische Studien über typisch semantische Themen wie Prädikation, Ambiguität, die

Bedeutung von Nominalphrasen (Plato, Aristoteles, Philosophen der Stoa), oder den Beitrag von

logischen Konstanten wie und, oder und nicht (in der mittelalterliche Scholastik; s.u.). Aber

Philosophen arbeiteten auch in anderen Gebieten der Grammatik, sie suchten nach einer

Definition von Sprache (Johann Gottfried Herder, 1744–1803 oder Wilhelm von Humboldt,

1767-1835), erörterten grundlegende Fragen wie jene der sprachlichen Universalien, oder die

Unterscheidung zwischen Kompetenz und Performanz (Humboldt) und spekulierten über den

Sprachursprung (Herder). Im Mittelalter führte des Weiteren die Notwendigkeit, eine große

Anzahl griechischer Texte ins Lateinische übersetzen zu müssen, zu einer intensiven Befassung

mit grammatischen Phänomenen in beiden Sprachen, aber auch grundsätzlichen Fragen nach der

Übersetzbarkeit. Alle diese Themen wurden bis heute immer wieder, und mit teils

unterschiedlicher Motivation, durch die SP aufgegriffen.

1Es ist offensichtlich, dass diese einfache Erkenntnis von jenen, die verlangen, dass Wissenschaft immeranwendbar sein muss, nicht verstanden wird.

#1: Sprache und Philosophie 6

Frege Wittgenstein Russell

Eine ähnliche Situation war übrigens bis ins 17. Jahrhundert für das Verhältnis zwischen

Philosophie und den Naturwissenschaften (Physik, Chemie, Biologie, Geologie) charakteristisch.

Vor dem Entstehen der modernen Physik, das üblicherweise mit dem Erscheinen von Newtons

Philosophiae Naturalis Principia Mathematica im Jahre 1687 angesetzt wird, wurden alle Fragen

und Forschungen innerhalb der natural philosophy2, also innerhalb der Philosophie, behandelt.

Moderne SP und analytische Philosophie: Im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert ließen

Fortschritte in der historischen Sprachwissenschaft das eigenständige Gebiet der Linguistik im

heutigen Sinne des Wortes entstehen. Unabhängig davon kam es um die Jahrhundertwende vom

19. zum 20. Jahrhundert zu wichtigen

Entwicklungen in den Gebieten der Logik und

Mathematik, die es erstmals möglich machten,

präzise Fragen zu der Bedeutung, also den

semantischen Eigenschaften von Sprache zu

stellen. Diese Entwicklungen führten zur

Begründung eines neuen Gebietes innerhalb der

Philosophie, der sogenannten analytische

Philosophie. Wichtige Grundsteine für die analytische Philosophie setzten die Logiker und

Philosophen Gottlob Freges (1848-1925), Bertrand Russell (1872-1970) und Ludwig

Wittgenstein (1889-1951). Weitere entscheidende Impulse kamen auch von den Mitgliedern des

Wiener Kreis, einer Vereinigung von Philosophen um Moritz Schlick (1882-1936) und Rudolf

Carnap (1891-1970), die die Richtung des logischen Positivismus vertraten.

Ganz allgemein setzt sich die analytische Philosophie zum Ziel, Fragen und Probleme

möglichst präzise darzustellen, um diese dann mit möglichst exakten Methoden einer Lösung

zuzuführen. Präzision wird dabei häufig durch Formalisierung des Problems in einer formalen

Sprache wie Logik oder Mathematik erreicht.3 Formalisierung bietet eine Reihe von Vorteilen:

(i) es wird - zumindest im Idealfall - möglich, die eigentliche Natur des Problems deutlicher

zutage treten zu lassen; (ii) eine präzise formalisierte Theorie kann besser auf empirische

Korrektheit überprüft werden; (iii) durch Formalisierung kann sichergestellt werden, dass eine

Theorie konsistent ist, d.h. dass die Theorie keine Widersprüche enthält; (iv) Formalisierung hilft,

versteckte Annahmen sichtbar zu machen; (v) schließlich ist es in einer exakt formalisierten

Theorie oft einfacher, die einzelnen Schritte, die von der Fragestellung zu möglichen Erklärungen

führen, transparent darzustellen und somit nachvollziehbar zu machen.

Für die SP waren diese Entwicklungen insofern relevant, als die Domäne der SP danach fast

vollständig im Bereich der analytischen Philosophie lag. Das führte dazu, dass ab der Wende

vom 19. zum 20. Jahrhundert4 die wichtigsten Fragen der SP sehr oft mit den formalen Methoden

der Logik untersucht worden. Dadurch wurde es in einem größeren Ausmaß möglich,

2Natural philosphy ist nicht zu verwechseln mit der Naturphilosophie des Deutschen Idealismus,vertreten durch Fichte, Hegel, Kant, Schelling und andere.3Wie solche formalen Sprachen konkret aussehen wird später noch eingehend behandelt werden.4Üblicherweise wird der Beginn der modernen SP mit Frege (1884) angesetzt. (Frege, Gottlob. 1884. DieGrundlagen der Arithmetik.)

7 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2015-16

sprachphilosophische Theorien präzise zu formulieren, sowie deren empirische und formale

Korrektheit zu überprüfen.

Linguistic turn: Das Entstehen der analytischen Philosophie ging mit einem weiteren

Entwicklung einher: der steigenden Bedeutung der Untersuchung von natürlicher Sprache in der

Philosophie. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde nämlich offensichtlich, dass viele klassische

Probleme der Philosophie mit der Art und Weise zusammenhängen, wie diese Probleme

sprachlich präsentiert und formuliert werden. So hoffte man z.B., das bereits seit der Antike

bekannte Lügnerparadox auf Eigenschaften von Sprache zurückführen zu lassen.5

Lügnerparadox: Der Satz in (7) illustriert das Lügnerparadoxon.

(7) Ich lüge jetzt gerade.

Das Paradox besteht darin, dass Satz (7) weder wahr sein kann, noch falsch. Angenommen(7) ist wahr. Dann ist es falsch, dass der Sprecher lügt. Dies widerspricht aber derBehauptung von (7). (7) kann also nicht wahr sein. Angenommen (7) ist falsch. Dann istes falsch, dass der Sprecher lügt, er/sie spricht also die Wahrheit. Doch dies widersprichtwieder der Aussage von (7). Man gelangt also zum paradoxed Resultat, dass (7) wederwahr noch falsch sein kann.

Die Hinwendung der Philosophie zur Analyse von natürlicher Sprache wird auch mit dem Begriff

des linguistic turn assoziiert.6

Im Rahmen des linguistic turn kam es auch zu einer Befassung mit den Konsequenzen von

sprachlichem Handeln. Wenn ein Sprecher (8) äußert, macht er/sie nicht nur eine Aussage über

die Zukunft, sondern gibt auch ein Versprechen ab:

(8) Ich werde nie wieder rauchen

Der Frage, wie es zu diesem und ähnlichen Effekten kommt, wurde erstmals von John Austin

(1911-1960) und John Searle (*1932) nachgegangen. Austin und Searle zählen zu den

wichtigsten Repräsentanten der sogenannten Philosophie der Alltagssprache (ordinary language

philosophy), deren Untersuchungen insbesondere in die Ausbildung der Sprechakttheorie sowie

der linguistischen Disziplin der Pragmatik Eingang fanden.

Fragen und Themen der modernen SP: Die weitere Diskussion vorwegnehmend, wird es an

diesem Punkt möglich, die Aufgaben der modernen SP inhaltlich etwas näher zu begrenzen. Im

weitesten Sinne versteht man heute unter SP jenen Teilbereich der analytischen Philosophie, in

dessen Mittelpunkt das Interesse an der Beziehung zwischen Sprache, Realität und dem Denken

steht. Nun wird die Verbindung von Sprache und Welt über Bedeutungen vermittelt. Daraus

ergibt sich, dass zumindest die folgenden Fragen in der Geschichte der SP eine zentrale Position

einnehmen:

5Erste Versionen des Paradoxes wurden von Ευβουλίδης (4. Jh. v. Chr.) und von Επιµενίδης (6. Jh. v.Chr.) formuliert. Die auf SP gesetzte Hoffnung war übrigens verfrüht, das Paradox ist bis heute ungelöst.6Linguistic turn ist ein anderer Ausdruck, der nur sehr vage definiert ist, und für unterschiedliche Autorenunterschiedliche Bedeutungen trägt. Einem weiteren Publikum wurde der Begriff Ende der 1960er Jahredurch den Philosophen Richard Rorty gemacht.

#1: Sprache und Philosophie 8

" Was sind Bedeutungen? Wie werden sie repräsentiert? Handelt es sich bei Bedeutungen

um abstrakte Entitäten7 wie Ideen, Konzepte oder Relationen, oder um abstrakte Dinge

in der Welt?

" Wo befinden sich Bedeutungen? In der Welt oder in unseren Köpfen?

" Erwerb von Bedeutungen: Wie gelangen Bedeutungen - und sprachliches Wissen

allgemein - in die Köpfe der Menschen? Wie wird Sprache erworben?

" Was ist Referenz? Wie kommt die Verbindung zwischen der Bedeutung eines Zeichens

und einem Ding in der Welt zustande?

" Welchen Einfluß hat der Kontext auf die Bedeutung? Wie stellt man Kontexte dar?

" Sprache als kognitives System: Was ist die Beziehung zwischen dem Sprachsystem und

dem nicht-sprachlichen Denken? Gibt es mentale Prozesse, die ohne Sprache

auskommen? Existiert eine Sprache des Denkens? Was ist die Beziehung zwischen

Sprache und anderen mentalen Systemen (Musik, Orientierung, Immunsystem,...)?

" Evolution: Wie, wann und warum haben sich Sprache und komplexes Denken in der

Entwicklungsgeschichte des Menschen entwickelt?

" Sprache - Wirklichkeit: Was ist die Beziehung zwischen Sprache und Realität? Sind beide

unabhängig von einander? Hat die Realität einen Einfluss auf die Art, wie das

Sprachsystem aufgebaut ist, oder beeinflusst die Sprache unsere Sicht der Welt?

Konstruiert Sprache die Wirklichkeit, wie manche behaupten?

Durch das Aufkommen des eigenständigen Gebietes der Kognitionswissenschaften, sowie

der Computerwissenschaften und der natürlichsprachlichen Semantik in der zweiten Hälfte des

20. Jahrhunderts kam es zu weiteren leichten Verschiebungen in der zentralen Themenstellung,

die grundlegenden Interessen und Fragen der SP blieben jedoch die gleichen.

Aus dem oben Gesagten lassen sich fünf größere Themen destillieren, in deren Bereich die

zentralen Fragen der modernen SP fallen:

(9) a. Darstellung von Bedeutung (Logik, Semantik, Pragmatik)b. Repräsentation von Wissen (Epistemologie, Kognitionswissenschaften, Biologie),

insbesondere von sprachlichem Wissen (Kompetenz) c. Fragen nach den ontologischen Grundlagen der Begriffe d. Sprachliches Handeln (Pragmatik)e. Methodologie der Linguistik (Wie argumentiert man in der Linguistik? Wie werden

sprachliche Daten gewonnen und interpretiert? Welche formale Eigenschaftenbesitzen linguistische Theorien?)

Dieses Skriptum konzentriert sich auf Fragen der formalen Sprachphilosophie; Themen der

Pragmatik und der Methodologie werden nicht weiter behandelt werden.

Bevor wir uns einigen zentralen Themen der Sprachphilosophie zuwenden, soll eine

Übersicht über einige der philosophischen Grundbegriffe gegeben werden, die im weiteren

Verlauf dieses Kurses immer wieder auftauchen werden.

7Unter einer Entität versteht man in der Philosophie etwas, das existiert.

9 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2015-16

2. MINIMALE PHILOSOPHIE

Der vorliegende Abschnitt stellt in kürzester Form einige grundlegende Strömungen der

(westlichen) Philosophie vor. Weitere Ausführungen zu philosophischem Hintergrund folgen an

Stellen, an denen die Diskussion dies nötig macht.

2.1. ZWEI PROMINENTE TAXONOMIEN

Eine einfache Strategie, einen ersten Eindruck vom Gewerbe der Philosophie zu erlangen, wird

durch Taxonomien zur Verfügung gestellt. Taxonomien sind Versuche, eine systematische

Einteilung von Objekten oder Phänomenen in Klassen zu finden.

Taxonomie I: Einer bekannten Einteilung zufolge lässt sich

Philosophie als ein Haus mit drei Regionen darstellen

(http://de.wikipedia.org/wiki/Philosophie). Für den

vorliegenden Kurs sind insbesondere die folgenden

drei klassischen Bereiche der Philosophie von

Relevanz:

Die Logik befasst sich mit der Darstellung von

Beziehungen zwischen Bedeutungen wie z.B.

Folgerung (s. u. (26)).

Die Ontologie/Metaphysik fragt danach, welche

Dinge (Entitäten) in der Welt existieren, sowie nach

deren Eigenschaften. Typische Fragen sind: gibt es

physikalische und abstrakte Objekte, Gedanken, Ideen,

Geister, Gott? Was ist Realität?

Die Epistemologie (Erkenntnistheorie) untersucht,

wie der Mensch Wissen über die Welt erwirbt, auf

welche Art und Weise er die Dinge erkennt. Was ist

Wissen?

Daneben existieren einige weitere traditionelle Gebiete (Wissenschaftstheorie, Ästhetik,

Rechtsphilosophie) und eine Unzahl von neuen Disziplinen (Philosophie des Geistes,

Philosophie der Musik, ....). Sprache wird insbesondere in der Philosophie des Geistes

untersucht, einer Richtung, die sich mit der Frage beschäftigt, wie mentale Vorgänge wie z.B.

dem Sehen, Fühlen, Denken, Wünschen oder eben Sprache funktionieren.

Taxonomie II: Immanuel Kant formulierte in der Kritik der Reinen Vernunft (1781/1787) die

seiner Meinung nach vier wichtigsten Fragen der Philosophie wie folgt:

(10) a. Was kann ich wissen? (Epistemologie/Erkenntnistheorie, Logik) b. Was soll ich tun?

c. Was darf ich hoffen? d. Was ist der Mensch? (Kognitions- und Kulturwissenschaft)

Sprachphilosophische Untersuchungen konzentrieren sich vorwiegend auf die Suche nach

Antworten zu Fragen aus der ersten und der letzten Gruppe.

#1: Sprache und Philosophie 10

2.2. EINIGE HAUPTSTRÖMUNGEN DER PHILOSOPHIE

Philosophische Theorien, die untereinander Ähnlichkeiten aufweisen, bilden philosophische

Strömungen oder Richtungen. Im Weiteren Verlauf des Skriptums werden wir einige dieser

Strömungen näher kennen lernen, einige wenige davon werden hier kurz synoptisch vorgestellt.

Die wichtigsten Strömungen unterscheiden sich in der Art und Weise, wie sie die Welt der

konkreten, materiellen Dinge mit der abstrakten Welt, also der Gesamtheit aller Eigenschaften,

Begriffe und Ideen, in Verbindung setzen. Dabei spielen insbesondere zwei Repräsentanten aus

diesen beiden Welten eine entscheidende Rolle: der menschliche Körper und der menschliche

Geist. Des weiteren lassen sich zwei Arten von Fragen unterscheiden, die in der

Philosophiegeschichte in unterschiedlicher Form immer wieder auftauchen:

" Was ist die Beziehung zwischen Geist und Körper?

" Wie kommt die Beziehung zwischen Geist und Körper zustande?

2.2.1. Was ist die Beziehung zwischen Geist und Körper?

Organismen, die ein Bewusstsein besitzen, bestehen aus zwei grundsätzlich unterschiedlichen

Teilen: dem Körper und dem Geist. Körper und Geist kommunizieren zwar miteinander, sie

können aber nicht direkt miteinander gleichgesetzt werden. Wenn

jemand das links stehende Bild von Lucio Fontana betrachtet, dann sind

zwei unterschiedliche Phänomene beobachtbar. Auf der einen Seite

finden im Auge und im Gehirn biochemische Prozesse statt, wie z.B. die

Aktivierung von Neuronen, die gemessen und experimentell untersucht

werden können. Auf der anderen Seite entsteht aber auch ein

Sinneseindruck des Bildes, eine subjektive mentale Repräsentation.

Ähnliches gilt auch für andere Sinneseindrücke (Gehör, Geruch,

Geschmack, Tastsinn). In all diesen Fällen besteht das Gesamtphänomen aus einer physikalisch

messbaren und einer mentalen, nicht direkt quantifizierbaren Komponente. Ein weiteres Beispiel

für die Unterscheidung zwischen Körper und Geist bildet die Trennung zwischen physischer und

psychischer Gesundheit.

Auch in die Analyse von Phänomenen findet diese Dichotomie Eingang. Wird ein

Neuropsychologe gefragt, was beim Betrachten des Bildes von Fontana passiert, dann wird

diese/r eine völlig andere Antwort geben, als etwa ein Kunstkritiker. Auf Grund dieser Tatsache

finden wir oft zwei gänzlich unterschiedliche Erklärungen für ein und das selbe Phänomen. So

gibt es z.B. divergierende Antworten zur Frage, was Aggression ist (kulturell bedingtes vs.

physiologisch gesteuertes Verhalten), wie gewisse psychische Erkrankungen zu behandeln sind

(Psychoanalyse vs. Pharmaka), ob der Mensch einen freien Willen besitzt (ja vs. nein), oder was

die grundlegenden Eigenschaften von Sprache sind (dient der Kommunikation vs. formales

biologisches System). Diesen Beobachtungen liegt auch die Unterscheidung zwischen

Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften zugrunde.

Seit 350 Jahren wird in der Philosophie intensiv die Frage diskutiert, wie die beiden Aspekte

von Körper und Geist miteinander in Beziehung stehen. Die wichtigsten Positionen sind

Dualismus und Monismus, die jeweils wieder in unterschiedlichen Formen vertreten wurden.

Lucio Fontana. 1959.Concept Spatiale

11 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2015-16

(Ontologischer) Dualismus: Dualistische Theorien nehmen an, dass die mentalen Prozesse in

unserem Hirn von grundlegend anderer Natur sind als die Welt. Zu den wichtigstes historischen

Vertretern zählen Plato, Aristoteles, Thomas von Aquin, Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716)

und insbesondere Rene Descartes (1596-1650; Cartesianischer Dualismus). Der Dualismus steht

im Gegensatz zu Monismus und Pluralismus. Wichtige moderne Dualisten inkludieren Noam

Chomsky (*1928, MIT) and den Philosophen David Chalmers.

Monismus: Geist und Körper sind Ausformungen einer einzigen Entität. Steht im Gegensatz zum

Dualismus und Pluralismus. Es existieren unterschiedliche Arten des Monismus, darunter die

zwei wichtigesten Vertreter:

" Physikalismus oder Materialismus: Die Realität besteht aus Materie, d.h. aus

physikalischen Entitäten, und aus nichts anderem. (Für weitere Details s.u.)

" Idealismus. Allen Dingen liegen mentale Vorgänge zugrunde. Nur der Geist ist real (s.u.).

Monismus steht im Gegensatz zum Dualismus und Pluralismus.

Pluralismus: Vertritt die Ansicht, dass mehr als zwei Arten von Entitäten gibt. Neben Geist und

Körper werden, je nach Theorie, Bewusstsein, Zahlen oder Bedeutungen als weitere abstrakte

Entitäten postuliert. Pluralismus steht im Gegensatz zum Dualismus und Monismus.

Philosophie des Geistes und Dualismus: Descartes stellte fest, dass mentale Vorgänge - also der

Geist - nicht den gleichen Gesetzen folgt wie physikalische Köper. Dies stellte für ihn ein

Argument für eine dualistische Auffassung dar: Körper und Geist sind zwei getrennte Objekte.8

In der modernen theoretische Physik existieren physikalische Objekte existieren nur

epiphänomenal:9 man kann sie zwar (manchmal) sehen, berühren oder hören, aber in Wahrheit

besteht alle Materie, also auch die kleinsten Teile wie Atome, die Elementarteilchen oder

Quanten aus kleinen Wellen (String Theory). Chomsky (2000) weist darauf hin, dass somit die

Dualismusdebatte (Gibt es eine Trennung zwischen Geist und der physikalischen Welt?) sinnlos

ist, einfach da keine physikalischen Objekte existieren. Interessanterweise folgt für Chomsky

daraus aber nicht automatisch ein monistisches, physikalistisches Weltbild. Dies ist so, da es

momentan noch keine konkrete Theorie gibt, die erklären kann, wie mentale Vorgänge auf

biologische, neurophysiologische Prozesse reduziert werden können. Daher ist es, nach

Chomsky, methodologisch (zumindest vorläufig) nicht sinnvoll, davon auszugehen, dass Geist

und Körper eine Einheit bilden. Die kann, laut Chomsky, erst geschehen, wenn sich die

grundlegendere Wissenschaft - also die Neurobiologie - so weit entwickelt hat, dass sie

linguistische Erkenntnisse darzustellen in der Lage ist (vgl. Physik - Chemie Anfang des 20.

Jahrhunderts.)

2.2.2. Wie entsteht die Beziehung zwischen Geist und Körper?

Auf die Frage, wie die Beziehung zwischen Geist und Körper zustandekommt, also wie Wissen

8Descartes nahm an, dass es einen ganz spezifischen Ort gibt, an dem Körper und Geist interagieren: dieZirbeldrüse (επίφυση). Diese Ansicht ist aus heutiger Sicht nicht korrekt.9Ein Epiphänomen ist ein sekundäres Phänomen oder Nebenprodukt. Rauch ist z.B. ein Epiphänomenvon kleinen Partikeln in der Luft oder das Zu-Boden-Fallen eines Apfels ein Epiphänomen derSchwerkraft.

#1: Sprache und Philosophie 12

und abstrakte Ideen in das menschliche Gehirn gelangt, wurden in der Geschichte der Philosophie

im Grunde zwei (Gruppen von) Antworten gegeben.

Rationalismus - Wissen ist angeboren: Rationalisten vertreten die Ansicht, dass Erkenntnis,

Wissen und die Fähigkeit zu Denken auf angeborenen Eigenschaften des Geistes basieren, und

nicht nur auf Erfahrungen (s. Empirismus). Descartes, Leibniz, Baruch Spinoza und (teils)

Immanuel Kant waren prägende Repräsentanten im 17-18 Jh. Heute prominent vertreten durch

Noam Chomsky und Jerry Fodor (Rutgers Universität, NY). Steht im Gegensatz zum

Empirismus.

Empirismus - Wissen ist erlernt: Steht im Gegensatz zum Rationalismus. Dem Empirismus

zufolge basiert alle Erkenntnis auf Erfahrungen, die ein Individuum in der Welt macht. Radikale

Ausformungen des Empirismus nehmen an, dass Wissen ausschließlich durch Erfahrung

erworben werden kann. Historisch wurde der Empirismus im 17.Jh durch die schottisch-

englischen Philosophen Francis Bacon, George Berkley, Thomas Hobbes, David Hume und John

Locke vertreten. Wird im 20. Jh. insbesondere mit dem Wiener Kreis (Rudolf Carnap, Moritz

Schlick,..), den psychologischen Behavioristen (John Watson, Burrhus F. Skinner) und dem

Philosophen Willard van Orman Quine (1908 - 2000) assoziiert. Zu den wichtigsten neueren

empiristischen Theorien zählt der Konnektionismus (David Rumelheart, James McClelland,

Patricia Churchland, Paul Smolensky) der zu einem späteren Zeitpunkt noch eingehender

behandelt werden wird.

Zwei Warnungen & online Information: Erstens gibt es eine große Anzahl an philosophischen

Richtungen, die miteinander in einer sehr komplexen Relation stehen. Man kann daher nur in den

seltensten Fällen sagen, dass Hypothese X oder Annahme Y mit einer einzigen Richtung

kompatibel ist. Zweitens werden die Termini von unterschiedlichen Schulen und zu

unterschiedlichen Epochen teilweise unterschiedlich interpretiert. Begriffe wie Idealismus sind

z.B. ambig. Idealismus bei Hegel bedeutet etwas anderes als der Idealismus Platos. Bei

Verwirrung empfiehlt es sich am besten, die Begriffe nachzuschlagen. Die beste Quellen im Netz

stellt die Stanford Encyclopedia of Philosophie (http://plato.stanford.edu/contents.html) zur

Verfügung. Dort findet man Artikel zur Sprachphilosophie genauso wie zur Philosophie der

Linguistik (s. Eintrag zu Philosophy of Linguistics). Gute Online-Information auf Deutsch bietet

im Allgemeinen auch Wikipedia (http://de.wikipedia.org). Ein recht ausführliches Online-

Lexikon der Philosophen findet sich hier: http://www.philosophenlexikon.de/index.htm.

2.3. SPRACHLICHES WISSEN UND SPRACHPHILOSOPHIE

Wie hängen nun diese unterschiedlichen Hypothesen bezüglich der Beziehung von Geist und

Körper mit Sprache und Sprachphilosophie zusammen? Welchen Unterschied macht es, ob man

das Sprachsystem als Dualist, Rationalist oder als Empirist verstehen will? Im Folgenden soll ein

konkretes Beispiel eine kurze Vorschau auf diesen Zusammenhang ermöglichen.

Head Movement Constraint: Satz (11) kann so wie in (11)a oder so wie in (11)b interpretiert

werden. Dies zeigt, dass das Modalverb können sowohl das höhere Prädikat (gewinnen; (11)a)

oder das eingebettete Prädikat (tanzen; (11)b) modifizieren kann (die Beispiele und Diskussion

13 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2015-16

folgen Berwick et. al 2011).10

(11) Hunde die tanzen können gewinnen.a. Hunde, die tanzen, können gewinnen.b. Hunde, die tanzen können, gewinnen.

In (12) wird aus Satz (11) eine Entscheidungsfrage gebildet. Interessanterweise kann diese Frage

nun jedoch nur so wie in (12)a beantwortet werden; (12)b ist keine passende Antwort auf (12):

(12) Können Hunde die tanzen, gewinnen?a. Ja, das stimmt. Hunde, die tanzen, können gewinnen.b. *Ja, das stimmt. Hunde, die tanzen können, gewinnen.

Daraus kann gefolgert werden, dass können nur aus dem Hauptsatz verschoben werden kann.

(13)a ist eine mögliche Struktur des Satzes, (13)b jedoch nicht:

(13) a. Können Hunde [CP die tanzen] gewinnen __?b. *Können Hunde [CP die tanzen __] gewinnen?

Diese Beschränkung gilt nun nicht nur in Sätzen wie (12) und in Sprachen wie dem Deutschen,

sondern ganz generell. Werden in einer Sprache Entscheidungsfragen durch Bewegung des Verbs

an die erste Stelle gebildet, so kann immer nur das strukturell höchste Verb verschoben werden.

Man nennt dieses Generalisierung auch die Kopfbewegungsbeschränkung (Head Movement

Constraint, kurz HMC). Ein weiteres Beispiel für die Effekte des HMC finden sich in dem

Kontrast in (14). In (14)a wird das höchste Verb bewegt, in (14)b dagegen das zweithöchste.

(14)c zeigt, dass die Ungrammatikalität nicht auf die Tatsache zurückgeführt werden kann, dass

die erste Stelle des Satzes nur von einem finiten Verb eingenommen werden kann:

(14) a. Wird Maria [VP es lesen müssen] __?b. *Müssen Maria [VP es lesen __] wird?c. Lesen wird Maria es wohl __ müssen.

Der HMC wird ausserdem durch typologische Evidenz unterstützt, es handelt sich um ein

Prinzip, das universell gilt, also in allen Sprachen.11

Coordinate Structure Constraint: Ein qualitativ dem HMC ähnliche Beschränkung kann in (15)

beobachtet werden. Bei den Sätzen in (15) handelt es sich um Konjunktionen, in denen zwei

Sätze - die beiden Konjunkte - durch die Konjunktion und miteinander verbunden sind. (15)b

belegt, dass das Objekt im zweiten Konjunkt durch das Pronomen es ersetzt werden kann. Das

Pronomen bezieht sich dabei auf das Huhn, was durch Verwendung des selben Subskripts (die

Zahl ‘2’) an der NP das Huhn und am Pronomen angezeigt wird. (15)c demonstriert, dass es

möglich ist, beide Objekte gleichzeitig zu bewegen. Durch den Kontrast zwischen (15)c auf der

einen Seite und (15)d und (15)e auf der anderen Seite wird schließlich offensichtlich, dass immer

10Robert C. Berwick, Paul Pietroski, Beracah Yankama & Noam Chomsky. 2011. Poverty of the StimulusRevisited. Cognitive Science 35.7:1207-1242.11Es gibt auch Ausnahmen, dies ist für die vorliegenden Zwecke aber nicht wichtig.

#1: Sprache und Philosophie 14

beide Objekt bewegt werden müssen:

(15) a. Hans weiss, dass Maria das Huhn gekauft hat und Peter das Huhn gekocht hat.b. Hans weiss, dass Maria hat das Huhn2 gekauft hat und Peter es2 gekocht hat.c. Hans weiss, was2 Maria t2 gekauft hat und Peter t2 gekocht hat.d. *Hans weiss, was2 Maria t2 gekauft hat und Peter es gekocht hat.e. *Hans weiss, was2 Maria es gekauft hat und Peter t2 gekocht hat.

Man beachte, dass (15)d/e semantisch wohlgeformt sind, die Sätze sind in der intendierten

Bedeutung mit (15)c. Die Sätz besitzten also eine klar definierbare Interpretation, die so wie in

(16) angegeben werden kann:

(16) Sag mir den Namen des Objekts x, sodass Hans weiss, dass Maria x gekauft hat, unddass Peter x gekocht hat.

Der Grund für die Ungrammatikalität von (15)d liegt daher nicht daran, dass (15)d keine

Bedeutung zugewiesen werden kann. Aus dieser Überlegung folgt, dass es ein syntaktisches

Gesetz geben muss, das die Bildung von (15)d verbietet. Konkret zeigen die Kontraste (15)c,

dass es nicht möglich ist, ein Element asymmetrisch aus nur einem der beiden Konjunkt zu

bewegen. Die Bäume in (17) stellen den Unterschied zwischen erlaubter, symmetrischer

Bewegung aus beiden Konjunkten ((17)a) und unmöglicher, asymmetrischer Bewegung aus dem

zweiten Konjunkten ((17)b) graphisch dar:

(17)

a. CP 3

was2 C’ 3

C° TP wgo

TP und TP 6 6

Maria t2 Peter t

2

gekauft hat gekocht hat

b. *CP 3

was2 C’ 3

C° TP wgo

TP und TP 6 6

Maria es Peter t2

gekauft hat gekocht hat

Da dieses Prinzip in koordinierten Sätzen gilt, nennt man es den Coordinate Structure Constraint

(CSC; Ross 1967). Wie genau der CSC formuliert wird, ist hier nicht relevant.

Wie werden HMC und CSC erworben? Eine wichtige Frage, die sich an diese Beobachtung

anschließt, ist: Wie erlernen Kinder syntaktische Prinzipien wie HMC und CSC? Da HMC und

CSC ein Teil der Grammatik sind und die mentale Grammatik ein Teil des (unbewussten)

Wissens, hängt diese Frage mit der generellen Frage nach dem Erwerb von Wissen zusammen.

Im Prinzip ist es möglich, die folgenden zwei Antworten zu formulieren, von denen jede eine

unterschiedliche philosophische Position unterstützt:

(18) a. HMC und CSC werden - genauso wie weite Bereiche der Grammatik - erlernt. DieseHypothese steht mit den Annahmen des Empirismus im Einklang.

L b. HMC und CSC sind angeboren. Dies ist für den Rationalismus typische Annahme.

15 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2015-16

Doch welche der beiden Antwort ist nun korrekt? Offensichtlich lernen Kinder diese Prinzipien

nicht im selben Sinne, wie sie das Schreiben lernen, das Spielen eines Musikinstruments oder

das Schachspiel - nur die wenigesten Eltern sind sich z.B. der Existenz von HMC und CSC

überhaupt bewußt. Dennoch machen Kinder systematisch keine Fehler, die auf eine Verletzung

von HMC oder CSC hinweisen würden. Kein Kind produziert z.B. Sätze wie (15)d. Doch wie

erwerben Kinder dieses Wissen? Die einzig plausible Antwort ist: HMC und CSC müssen nicht

gelernt werden, sondern sind Teil der angeborenen Grammatik. Nur die rationalistische

Hypothese (18)b kann also erklären, wie Sprecher HMC, CSC und alle anderen Gesetze der

Grammatik erwerben. Man nennt dieses Argument gegen den Empirismus auch das poverty-of-

stimulus Argument.

Eine weitere Frage von sprachphilosophischer Bedeutung hat mit der Natur der beiden

Prinzipien zu tun.

(19) a. HMC und CSC existieren als unabhängige, abstrakte Beschränkungen; sie existierenalso unabhängig von den konkreten Sätzen, in denen sie auftreten. Diese Sichtweiseist am besten mit dem Dualismus und dem Pluralismus kompatibel.

b. HMC und CSC existieren nur in den sprachlichen Äußerungen, den konkretenSätzen. Diese Hypothese ist mit dem Physikalismus und Materialismus kompatibel.

Welche der beiden Hypothesen (19) korrekt ist wird zur Zeit noch heftig debatiert.

Im Verlauf des Kurses wird noch im Detail gezeigt werden, wie man aus linguistischen

Beobachtungen Argumente für unterschiedliche philosophische Positionen gewinnen kann. Dabei

werden immer auch die einzelnen philosophischen Begriffe klarer und präziser formuliert

werden. Schließlich wird erklärt werden, welche Bedeutung diese Ergebnisse für so zentrale

Probleme der Philosophie, wie die Suche nach der Natur des Denken, haben.

In (18) wurden zwei Hypothesen vorgestellt, die erklären, wie (unbewusstes) sprachliches

Wissen erworben wird. Wissen stellt zudem eine abstrakte Entität, ein abstraktes Objekt dar.

Doch bisher wurde noch nicht darauf eingegangen, worum es sich bei abstrakten Objekten

überhaupt handelt, welche Eigenschaften sie besitzen, wo sich diese befinden, oder wie

Abstraktheit zustande kommt - wenn es sie denn überhaupt gibt. Der nächste Abschnitt wendet

sich daher dem Konzept der Abstraktheit in der (Geschichte der) Philosophie zu, und führt einige

zentrale Positionen zu diesem Thema ein.

3. PLATO: IDEEN, SPRACHE UND WIRKLICHKEIT

Das Erkennen von Regelmäßigkeit in der Natur stellt eine notwendige Strategien zum Überleben

dar. Wer gelernt hat, dass das Aussehen von gewissen Pflanzen und Tieren systematisch mit

deren Eigenschaften (essbar, giftig, verwendbar als Kleidung, ...) zusammenhängt, besitzt

entscheidende Vorteile bei der Nahrungsbeschaffung, bei der Vermeidung von Gefahr und in

anderen Bereichen. Eine Spezies, die über das Konzept TIGER verfügt, braucht nicht jeden

einzelnen Tiger als solchen zu kennen, um zu wissen, dass Tiger eine Gefahr darstellen. Analog

dazu bietet die Kenntnis des Konzepts APFELBAUM wichtige Vorteile bei der Suche nach

Nahrung. Ideen erlauben es also, von einzelnen Individuen auf eine allgemeine Regelmäßigkeit

zuschließen. Offensichtlich verfügt der Mensch über eine Vielzahl solcher Konzepte als Teil

#1: Sprache und Philosophie 16

seiner kognitiven Grundausstattung.

3.1. PLATOS IDEENWELT

Doch wie identifiziert man nun ein konkretes Tier als Tiger, eine spezifische Schlange als Kobra

oder einen Baum als Apfelbaum? Eine mögliche Antwort lautet: indem man das Konzept (20)a

kennt, und dann den Schluss in (20)b anwendet:

(20) a. Das Konzept TIGER (z.B. die Summe aller Eigenschaften, die für Tigercharakteristisch sind - vier Beine, größer als ein Mensch, gelb, schwarze Streifen,...).

b. Das konkrete Individuum12, das vor mir steht, weist (20)a auf.

Die in (20)a gespeicherte konzeptuelle Information kann auch als eine Idee im Sinne Platons

(3./4. Jh. v. Chr.) verstanden werden.13 Plato verwendete etwas unterschiedliche Argumente,

sowie ein anderes Vokabular, aber der Grundgedanke des Platonismus ist der selbe. Er sieht so

aus. Die Welt besteht nicht nur aus physikalischen Entitäten, sondern enthält eine Vielzahl von

abstrakten Ideen, also raum- und zeitlose Entitäten. Diese unterscheiden sich von konkreten

Individuen wie einem Stein, einem Tiger oder der Stadt Athen nur dadurch, dass sie nicht durch

unsere Sinne direkt wahrnehmbar sind. Ideen sind demnach realer Bestandteil unseres

Universums, und umgeben uns genauso, wie die Dinge des sichtbaren Universum.

Weiters korrespondieren Ideen mit diesen stofflichen Objekten auf systematische Art und

Weise, da sie zwischen uns und der Welt vermitteln. Diese Verbindung stellt laut Plato sogar die

einzige Möglichkeit dar, um die eigentliche Realität zu erkennen, da das Aussehen der Dinge

irreführend sein kann. Will man das Wesen der Dinge erkennen, muss man daher die Ideen

analysieren. Daraus folgt, dass alle Erkenntnis von der Existenz von Ideen abhängig ist. Gibt es

keine Ideen, so kann man die Realität auch nicht erkennen. Diese epistemologische Dimension

des Platonismus wurde im Höhlengleichnis ausgedrückt.

(21) Kurzfassung Höhlengleichnis: Die Menschheit ist in einer Höhle gefangen, unser Blickvermag nur die Schatten der Dinge wahrzunehmen. Die wahre Realität ist jedoch vorunseren Augen verborgen, sie ist in den Ideen versteckt. Und diese Ideen offenbaren sichausschließlich durch philosophische Analyse.

Ideen können also als abstrakte Repräsentationen von Objekten in der Welt aufgefasst werden,

die uns in die Lage versetzen, die Realität zu erkennen. In unserem Vokabular entsprechen Ideen

den Konzepten.14

12In der Philosophie und in der Logik wird jedes Objekt, egal ob es belebt ist oder nicht, als Individuumbezeichnet. Diese Individuen können konkret sein (Albert Einstein, die Erde) oder abstrakt (Pegasus, diegrößte Zahl, das 20. Jahrhundert). Das wichtigste Kriterium, das festlegt ob etwas ein Individuum ist odernicht, ist, dass sie voneinander getrennte Einheiten darstellen. Diese Eigenschaft wird Individuationgenannt. Albert Einstein oder ein konkreter Tiger sind z.B. individuierbar; auf einen Tigerzahnzusammen mit dem linken Fuß Einsteins trifft dies nicht zu.13Idee wird hier als Fachausdruck verwendet, und sollte nicht mit Idee in der Bedeutung ‘Einfall’ oder‘Gedanke’ (Ich habe eine Idee!) verwechselt werden.14Genauer gesagt sind die beiden Begriffe nicht vollkommen synonym, aber für unsere Zwecke sind dieUnterschiede irrelevant.

17 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2015-16

Davidson Lewis

3.2. EINORDNUNG DES PLATONISMUS

Zu diesem Zeitpunkt ist es sinnvoll, kurz auf die Einordnung des Platonismus in Bezug auf

andere Strömungen der Philosophie, sowie auf mögliche Alternativen einzugehen. Alle drei

unten skizzierten Theorien tragen den Präfix ‘ontologisch’, da es sich um Theorien der

Wirklichkeit handelt und da somit Hypothesen über die Realität formuliert werden. Im Anschluss

daran wird dann der sprachphilosophisch wichtigste Teil von Platos Weltbild vorgestellt werden -

die Diskussion um die Richtigkeit von Wörtern.

(Ontologischer) Realismus: Platonismus stellt eine Form des ontologischen Realismus dar, der

davon ausgeht, dass die Realität von den mentalen Vorgängen in unserem Kopf vollständig

getrennt ist. Welt und Geist sind unabhängig von einander. Die Welt existiert auch dann, wenn

sie nicht von uns wahrgenommen werden kann. Man stelle sich vor, dass es die Menschheit nicht

geben würde. Für ontologische Realisten ändert dies nichts an der Tatsache, dass die Welt

existiert. Eine der möglichen Gegenposition ist der Solipsismus, demzufolge die Wirklichkeit

ausschließlich in unseren Vorstellungen zu finden ist.

(Ontologischer) Idealismus/Konzeptualismus: Die Wirklichkeit besteht ausschließlich aus Ideen

oder Konzepten. Diese Ansicht wird heute von niemandem ernsthaft vertreten, da sie zu

Solipsismus führt, also der Idee, dass nur der eigene Geist existiert, und dass es sich bei der

physikalische Welt um eine Illusion handelt. Solipsismus ist methodologisch gefährlich, da er

alle ernsthaften wissenschaftlich Fragen nach dem Aufbau der Natur überflüssig macht.

(Ontologischer) Materialismus/Physikalismus: Alles, was existiert, besteht aus Materie, und

unsere Wahrnehmung kann sich daher nur auf physikalisch existente Objekte beziehen. Dieses

Weltbild wurde in der Moderne insbesondere durch Donald

Davidson (1917-2003) und David Lewis (1941-2001)

geprägt, die beide zu den wichtigsten Sprachphilosophen der

Gegenwart zählten. Im Physikalismus ist, was immer wir an

physikalischer Realität beobachten, auf genau eine

physikalische Konstellation zurückzuführen. Daher erscheint

uns die Welt deterministisch, und die Realität wird erklärbar.

Genau aus diesem Grund kann z.B. ein Bild, etwa jenes von

Davidson, nur dann in ein anderes Bild, etwa jenes von Lewis, übergehen, wenn die

physikalischen Eigenschaften des Bildes selbst sich ändern. Umgekehrt gibt es jedoch viele

Methoden, Lewis oder Davidson zu repräsentieren. Ein Foto, ein Druck, eine Skizze oder eine

abstrakte Darstellung vermögen das gleiche. Der Welt steht also mehr als eine Methode zur

Verfügung steht, ein und das selbe Objekt abzubilden, aber jede Konstellation von Daten und

Sinneseindrücken entspricht genau einem physikalischen Objekt (oder Vorgang).

Der Physikalismus ist insbesondere deswegen wichtig, da er ein geeignetes Weltbild für die

wissenschaftliche Methode bereitstellt, auf der seit Galileo Galilei (1564-1642) alle Erkenntnis

über die physikalische Umwelt basiert. Eine weitere Konsequenz des Physikalismus ist, dass

etwas über das offensichtliche Vorhandensein von abstrakten, nicht-stofflichen, nicht-

physikalische Dingen - wie etwa das menschliche Bewusstsein - gesagt werden muss. Der

Mensch nimmt z.B. bewusst köperlichen Schmerz wahr. Schmerz ist weiters als Aktivierung von

gewissen Nervenzellen im Gehirn messbar. Aber Schmerz ist nicht dasselbe wie die Aktivierung

#1: Sprache und Philosophie 18

der Nervenzellen. Die Empfindung von Schmerz ist also nicht allein als ein elektrochemischer

Prozess erklärbar. Ähnliche unklar ist der Status von anderen abstrakten Objekten wie z.B.

Konzepten, Zahlen, sprachlichen Bedeutungen, Musik und anderen abstrakten Entitäten, die wir

nur in unserem Bewusstsein wahrnehmen.

Emergenz: Wie erklärt ein Physikalist, für den das gesamte Universum nur aus stofflichen

Dingen besteht, nun die offensichtliche Existenz von abstrakten Objekten und mentalen

Vorgängen (Schmerzempfindung, etc...)? Eine Möglichkeit besteht darin, die physikalischen

Zustände und die mentalen Phänomene durch die Beziehung der Emergenz miteinander zu

verbinden. Emergenz15 beschreibt das Auftauchen (lat. emergere) von neuen Eigenschaften in

einem System, die nicht alleine durch die Teile des Systems erklärt werden können. Ein

klassisches Beispiel ist die Eigenschaft von Wasser, flüssig zu sein. Ein einzelnes Wassermolekül

ist nicht flüssig, Wasser dagegen ist eine Flüssigkeit. Die Eigenschaft des Flüssig-Seins kann also

nicht auf die einzelnen Teile von Wasser zurückgeführt werden. Emergenz wurde zur Erklärung

vieler auf den ersten Blick unterschiedliche Phänomene in Physik, Chemie, Biologie, Soziologie

und Ökonomie verwendet. Leben, im biologischen Sinne, ist zum Beispiel nicht etwas, das sich

auf die einzelnen Zellen eines Körpers reduzieren lässt, sondern entsteht erst durch das gesamte

System aller Zellen. Denken ist nicht die Summe aller Neuronen im Gehirn, sondern ein

emergente Eigenschaft. Das Verhalten eines Schwarms von Vögeln entsteht erst durch das

komplexe Zusammenarbeit von vielen Tieren, und kann nicht durch Beobachtung der einzelnen

Vögel erklärt werden. Und Emergenz spielt auch eine wichtige Rolle in der Forschung zu

Bewusstsein, Geist und Kognition. Mit Hilfe von Emergenz kann man besser verstehen, wie aus

rein physikalischen Entitäten, etwa aus der elektrochemischen Aktivierung von Nerven, in

unserem Bewusstsein nicht-physikalische Zustände wie Schmerz entstehen. Auch das subjektive

Gefühl, das beim Hören von Musik entsteht, lässt sich nicht allein durch die Summe der

elektrischen Impulse im Gehirn erklären, Musik ist also ebenso ein emergentes Phänomen.

Generell sind alle mentale Eigenschaften emergent, sie können nicht auf die Teile des

Systems (neuronale Aktivität) reduziert werden. Eine besonders wichtige Klasse von mentalen

Objekten stellen Ideen oder Konzepte dar. Die meisten Philosophen und Kongnitionsforscher

nehmen an dass es sich bei Konzepten, um die Grundbausteine des Denkens handelt. Einfache

Konzepte können weiters zu komplexeren Konzepten verbunden werden. Wer z. B. die beiden

Konzepte BUCH und ROT kennt, kann diese zum Konzept ROTES BUCH kombinieren (mehr dazu

in Teil 2 des Skriptums).

3.3. IDEEN/KONZEPTE: KONSEQUENZEN, PROBLEME UND HERAUSFORDERUNGEN

Aus der Annahme, dass unser Bewusstsein Konzepte zu verarbeiten in der Lage ist, ergibt sich

eine Vielzahl von Fragen, die in unterschiedlicher Form immer wieder im Laufe der

Philosophiegeschichte aufgetaucht sind. (22) listet einige der wichtigsten dieser Fragen auf, zu

einigen der Themen werden wir im Laufe des Kurses wieder zurückkehren.

15Der Begriff der Emergenz geht auf den Schriftsteller und Philosophen George Henry Lewes (1817-1878) zurück. Ähnliche Ideen finden sich aber zumindest schon in der Metaphysik von Aristoteles.

19 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2015-16

(22) a. Was sind Ideen oder Konzepte, wie sehen sie aus, wie werden sie repräsentiert?

i. Ideen sind mentale Bilder.ii. Konzepte stellen Definitionen dar.iii. Es handelt sich um Algorithmen, zur Individuation (Fußnote 12 und Handout #2)

b. Problem der Inflation: Gibt es für alles eine Idee oder ein Konzept?

i. Existieren Ideen, die für Dinge stehen, die nicht existieren (Pegasus)? ii. Gibt es auch Ideen von Ideen (oder Ideen von Ideen von Ideen,...) iii. Kann ein einzelnes Ding durch zwei unterschiedliche Ideen repräsentiert werden?

c. Ontologie: Wo befinden sich Ideen oder Konzepte?

i. Ideen sind Teil der Welt, die uns umgibt (Platonismus). ii. Konzepte sind Teils unseres Geist, also befinden sich in unseren Köpfen

(Konzeptualismus).iii. Es gibt keine Ideen/Konzepte; es handelt sind dabei um Konstrukte in unserem

Geist oder Bewusstsein, die jedoch mittels Emergenz auf rein physikalischeEigenschaften reduzierbar sind. (Physikalismus)

Neben diesen drei Reaktionen sind auch hybride Antworten möglich.

d. Kompositionalität: Wie werden Ideen oder Konzepte kombiniert? Gibt es komplexeKonzepte wie JUNGER TIGER oder ANGEBLICHER TIGER, DER SICH ALS GEFÄRBTER

HUND HERAUSSTELLTE?

e. Können sich Ideen oder Konzepte über die Zeit verändern? Wenn ja, wie?

Die Punkte in (22) sind insbesondere deswegen für unsere Zwecke relevant, da die Diskussion

für oder gegen spezifische Positionen in sehr vielen Fällen mittels sprachphilosophischer

Argumente geführt wurde. Wie immer werden sich die Ausführungen auf einen kleinen

Ausschnitt aus dem gesamten Spektrum der Meinungen beschränken. Im Folgenden wird kurz

zu Plato zurückgekehrt werden, zu dessen Dialog Kratylos, in der Plato die Verbindung zwischen

Ideen und Sprache untersucht. Im Anschluss wenden wir uns den so genannten Universalien und

schließlich deren Beziehung zu Prädikaten zu.

3.4. DER KRATYLOS DIALOG

Im Dialog Κratylos (Κρατύλος) diskutiert Κratylos mit Hermogenes über die Frage, wie die

Dinge zu ihren Namen kommen. Während Κratylos die Auffassung vertritt, dass jedes Ding

seinen von Natur aus richtigen Namen besitzt (φύσει), argumentiert Hermogenes für die These,

dass alle Wörter durch Übereinkunft zwischen den Sprechern, durch Konvention, interpretiert

werden (θέσις). Kratylos plädiert also für das, was häufig als Naturalismus (oder Analogismus)

bezeichnet wird, während Hermogenes These für den Konventionalismus (Anomalismus) typisch

ist. Für Naturalisten ist Sprache regelmäßig, für Konventionalisten ist dagegen das Unregelhafte,

die Abweichung für Sprache charakteristisch. Beginnen wir mit der zweiten Richtung.

3.3.1. Konventionalismus

Definition: Die Namen für die chemischen Elemente werden ab 1919 von einem Komitte

festgelegt: S bezeichnet z.B. Schwefel, O steht für Sauerstoff, und C für Kohlenstoff. Diese

Konvention wird von allen Chemikern eingehalten, es wäre nicht sinnvoll, die Namen und

#1: Sprache und Philosophie 20

Symbole willkürlich zu ändern, etwa auf einmal Z statt S für Schwefel zu verwenden. Auch die

Notation für die Verbindungen sind streng reglementiert: CO2 steht für Kohlendioxid, nicht etwa

OCO oder COO, obwohl alle drei Namen die gleiche Information beinhalten (ein

Kohlenstoffatom und zwei Sauerstoffatome). Diese Regelungen waren jedoch nicht immer gültig,

sie wurden erst Ende des 19. Jh. eingeführt. Früher waren daher viele Verbindungen unter

anderen Namen oder Symbolen bekannt. CO2 wurde z.B. auch ‘COO’ geschrieben, etc...

Die Anhänger des Konventionalismus vertreten die Ansicht, dass die Verbindung zwischen

Form und Inhalt bei Worten ähnlich geartet ist. Die Bedeutung eines Wortes wird demnach durch

Übereinkunft, also durch eine Konvention festgelegt. Der Gedanke kann auch auf die Syntax

erweitert werden; so wie nicht COO, sondern CO2, geschrieben wird, heißt es das Haus und nicht

Haus das.

Probleme für Konventionalismus: Konventionalismus kann, zumindest in seiner reinen,

radikalsten Form, nicht korrekt sein, da er zumindest mit folgenden Problemen konfrontiert wird:

" Ursprung: Wer hat diese Konventionen begründet? Einzelne Personen? Dann sollte die

Konvention nicht für alle gelten. Die gesamte Sprachgemeinschaft? Dann stellt sich die Frage,

wie und wann sie dies getan hat. Wurde etwa gewählt und über den Namen des Konzepts TIGER

abgestimmt? Oder kam die Konvention von oben, von Gott?

" Neue Namen: Jeder kann Dingen neue Namen geben. Dies geschieht z.B. ständig in der

Werbung. Dennoch sind diese neuen Namen nicht durch Konvention zustande gekommen. Es

kann also nicht korrekt sein, dass alle Dinge ihren Namen durch Konvention erhalten.

" Produktivität/Rekursivität: Ein und das selbe Ding kann unterschiedliche Namen tragen.

Der Präsident der USA im Jahre 2014 und Barack Obama referieren auf das selbe Individuum.

Genaugenommen ist die Anzahl der Namen, die jedem Ding zugewiesen werden kann unendlich

groß, da jede NP durch einfache Mittel rekursiv verlängert werden kann: der Präsident der USA

im Jahre 2014, der in Washington wohnt; der Präsident der USA im Jahre 2014, der in

Washington wohnt und auf Hawaii geboren wurde,... sind alles NPs mit Obama als Referenten.

Dies würde bedeuten, dass für jede einzelne dieser NPs eine Konvention existieren müßte - also

unendlich viele Konventionen, nur um die möglichen Namen eines einzigen Individuums zu

erklären.

" Nicht alle Wörter bezeichnen Dinge und nicht alle Wörter referieren. Wie kommen nicht-

referenzielle Ausdrücke wie und, nicht, wenn....dann, kein Schüler, jeder Kritiker oder viele

Bilder zu ihrer Bedeutung? Man beachte auch, dass die Bedeutung dieser Ausdrücke - mit

Ausnahme einer kleinen Gruppe mit Ausbildung in formaler Semantik - kaum jemandem bekannt

sein dürfte (jeder Kritike denotiert die Menge der Eigenschaften, die jeder Kritiker besitzt). Wie

können dann diese Bedeutungen mittels Konvention festgelegt werden?

" Nehmen wir an, alle diese Probleme könnten umgangen werden. Dennoch bleiben

weitere, unüberwindliche Hindernisse für einen reinen Konventionalismus. Die Bedeutung vieler

Ausdrücke variiert nämlich entweder mit dem Kontext oder mit anderen Ausdrücken im Satz.

Wenn es in einer Situation 100 Kritiker gibt, müssen mindestens 50 das Buch gelesen haben, um

(23) wahr zu machen; die meisten Kritiker bezieht sich also auf 50 oder mehr Individuen in der

21 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2015-16

Welt mit gewissen Eigenschaften. Sind es aber 500 Kritiker, so steigt die Anzahl jener, die das

Buch gelesen haben müssen auf 251. Bedeutet dies, dass zwei Konventionen existieren, eine für

Situationen mit 100 Kritikern und eine für Situationen mit 500 Kritikern? Und was passiert mit

Situationen mit 51 oder 52 oder 8,712 oder 10א Kritikern? Es müßte also eine unendliche Anzahl

von Konventionen geben, nur um das Subjekt von (23) zu interpretieren. Ähnliches gilt für (24):

(23) Die meisten Kritiker haben das Buch gelesen.

(24) Keiner1 konnte seine1 Bilder verkaufen.

Fazit: Radikaler Konventionalismus kann zentrale Eigenschaften von Sprache nicht erklären, und

ist daher nicht haltbar.

3.3.2. Naturalismus

Definition: Jedes Ding besitzt seinen Namen aufgrund der Eigenschaften, die es besitzt.

Dergestalt kann jedem Ding der richtige Name zugewiesen werden. Hermogenes verweist auf

Analogien mit der physikalischen Welt, wo man auch für jedes Objekt die passende Substanz

wählt. [Die Beispiele stammen von mir; WL]. Zur Anfertigung eines Pfeiles nimmt man z.B. ein

langes, rundes und leichtes Objekt; das am besten geeignete Grundmaterial für eine Presse stellt

dagegen ein schwerer, flacher Gegenstand dar. Genauso sollte es mit der Sprache sein. Jedes

Wort dient einem Zweck, und daher sollte die Form des Wortes diesem Zweck so gut wie

möglich folgen. (25) macht einige versteckte Annahmen des Arguments sichtbar:

(25) a. Ein Wort ist eine Wortform, es besteht also aus einer lautlichen Form ohne Inhalt.b. Wörter dienen einem Zweck, sie erfüllen eine Funktion - dies ist ihre Bedeutung. c. Die Funktion der Wörter ist der Funktion von Objekten vergleichbar, die der Mensch

angefertigt hat. Y Wortformen werden durch Konvention mit ihrer Bedeutung verbunden.

Anmerkung zur Notation: das Symbol Y signalisiert die logische Folgebeziehung. Sie wird auch

logische Folgerung oder Implikation genannt. Wird ein Symbol verwendet, so wie in (26)b,

sprechen wir von symbolischer Darstellung.

(26) a. A folgt aus B (oder A impliziert B), genau dann, wenn es nicht möglich ist,dass A wahr ist und B falsch ist.

b. Symbolisch: A Y B

Beispiel: Wenn (27)a wahr ist, muss auch (27)b wahr sein. Es ist nicht möglich, sich eine

Situation vorzustellen, in der (27)a wahr, aber (27)b falsch ist.

(27) a. Maria und Hans arbeiteten. b. Y Maria arbeitete.

(28) a. Jeder Teilnehmer schläft.b. Y Mindestens ein Teilnehmer schläft.

(Einige) Probleme für Naturalismus: Naturalismus stößt in seiner radikalen Form auf ebenso

unüberwindbare Probleme wie der Konventionalismus. Einige der ungelösten Fragen sind:

" Welches Prinzip bestimmt, was der korrekte Name ist? Wird dies durch ein Naturgesetz

#1: Sprache und Philosophie 22

festgelegt? Warum besitzen dann Dinge unterschiedliche Namen in unterschiedlichen Sprachen?

(Naturgesetze sollten im ganzen Universum gültig sein.)

" Welche Funktion besitzen Wörter? Ein Messer dient zum Schneiden. Was aber ist die

Funktion der Wörter Messer oder schneiden? Was für eine Funktion drückt nicht schneiden aus?

" Es existieren viele Objekt mit mehr als einem Namen (s. Obama Beispiel weiter oben).

Warum hat nicht jedes Ding nur einen Namen, nämlich den am besten geeigneten?

" Wörter verändern sich im Laufe der Zeit, während die Dinge konstant bleiben. Die

Zahlwörter für 5 und 10 haben sich etwa wie folgt aus dem Althochdeutschen/Gotischen

entwickelt. Die Zahlen selbst unterliefen natürlich keine Veränderung.

(29) Althochdeutsch/Gotisch Neuhochdeutsch

[fimf] > [fymf] ‘fünf’[téxum] > [tse:n] ‘zehn’

Diese und viele ähnliche Beobachtungen widersprechen offensichtlich der Grundannahme des

Naturalismus, da die Beziehung zwischen Name und Zahl entweder im Althochdeutschen nicht

optimal war, oder aber heute nicht korrekt ist.

Fazit: Radikaler Naturalismus kann zentrale Eigenschaften von Sprache nicht erklären, und ist

daher nicht haltbar.

3.3.3. Das Urteil des Sokrates/Plato

Sokrates, der als Stellvertreter Platos eingreift, bringt weitere Einwände sowohl gegen die

Positionen des Konventionalismus, als auch gegen Naturalismus vor. Konkret vertritt er die

Meinung, dass die Wirklichkeit bekannt sein muss, um den Wahrheitsgehalt einer Aussage

festzustellen. Um zu wissen, ob Der Mt. Everest ist der höchste Berg wahr ist, muss man wissen,

wie ein Teil der Welt beschaffen ist. Die Kenntnis der Realität ist demnach Voraussetzung um

die Korrektheit oder Angemessenheit eines Namens oder eines Wortes zu überprüfen. Daraus

folgt, dass Wörter und Sätze - sowie Sprache allgemein - nichts über die Welt direkt aussagen.

Die Frage, ob Wörter ‘richtig’ verwendet werden oder nicht, ist daher laut Plato nicht

beantwortbar.

Plato kommt also zum Schluss, dass es nicht möglich ist, Konzepte oder Ideen aus der

sprachlichen Form alleine, also aus der Lautgestalt der Worte, abzuleiten. Dies hat wichtige

Konsequenzen für die gesamte platonische Philosophie. Wahre Einsicht in die Natur der Welt

kann nur durch Denken gewonnen werden, nicht jedoch durch Analyse der Lautgestalt,

Untersuchung der Wortformen oder Etymologie.

Interpretation - was wäre, wenn Plato Saussure gekannt hätte? Zur Zeit Platos war das Wort eine

nicht-analysierbare Einheit; der Begriff des Zeichens (Saussure16), das Inhalt und Form

beinhaltet, war noch nicht bekannt. Die Form konnte also niemals von der Bedeutung eines

16Für Hintergrundinformation siehe z.B. Teil 1 des Skriptums zur Semantik (DGY 15):http://eclass.uoa.gr/modules/document/file.php/GS284/SemIntro2014%2001%20Ziele%20%26%20Aufgaben.pdf

23 DGC 47 Sprachphilosophie WiSe 2015-16

Wortes getrennt betrachtet werden. Daher war es natürlich auch nicht möglich, nur den

semantischen Gehalt des Wortes - ohne dessen Form - mit der Idee in Zusammenhang zu

bringen. Dies führt zu den in (30) dargestellten Verhältnissen:

(30) Plato - ohne Zeichentheorie:

TigerWort TigerObjekt in der Welt

TIGER Idee/Konzept

Aus heutiger Sicht ist bekannt, dass Wörter als symbolische Zeichen zu interpretieren sind. Die

Bedeutung kann also von der Form abgespalten, getrennt werden. Diese wichtige Erkenntnis

macht es möglich, Wörter wieder mit der Welt in Verbindung zu bringen. So wie in der

grafischen Darstellung (31) etwas vereinfacht gezeigt, steht die Denotation des Wortes auf der

einen Seite durch die Denotationsfunktion ƒ.„ mit dem Konzept (in der Semantik auch Intension

genannt), und auf der anderen Seite mit dem Objekt in der Welt (Extension) in Verbindung.17

(31) Plato - mit Zeichentheorie:

Form: [tI:gX]

Bedeutung: ƒTiger„ TigerObjekt in der Welt

Wort

TIGER Idee/Konzept

Nach heutigem sprachphilosophischen Wissen fungieren also Wörter sozusagen als Namen für

Ideen oder Konzepte. Die Analyse der Wörter - und von Sprache im Allgemeinen - wäre damit

nicht nur hilfreich bei der Suche nach den Ideen, sondern sogar äußerst eng mit der Analyse von

Ideen und Konzepten, also nach Plato den essentiellen Entitäten, verbunden.

Vorschau: " Allgemeine, abstrakte Eigenschaften (= Universalien)

" Die Kopula sein bei Plato: Identität vs. Prädikation

" Prädikate als Universalien

" Universale Eigenschaften in der Grammatik (Chomsky vs. Skinner)

17Für jeden Ausdruck α gilt, dass ƒα„ die Denotation, also die Bedeutung, von α darstellt.