Politische Implikationen der Kinder- und Jugendberichte

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Politische Implikationen der Kinder- und Jugendberichte Was Kinder- und Jugendberichte bewirken und wer Nutzen daraus ziehen kann Die Kinder- und Jugendberichterstattung ist ein gesetzlich normiertes Instrument zur Analyse der Lebenssituation von Kindern und Ju- gendlichen in Deutschland und zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe. Primärer Bezugspunkt der Kinder- und Jugend- berichte sind nicht die aktuellen Fachfragen der Kinder- und Jugendhilfe, sondern die Lebenslagen der Kinder und Jugendlichen. An deren Befinden richten die unabhängigen Sachverständigen, die von der Bundesregierung mit der Ausarbeitung des Berichts beauftragt werden, ihre Analysen und Empfehlungen aus. Und an diesem gesellschaftlichen Auftrag müssen sich letztlich die Leistungen der Kin- der- und Jugendhilfe messen lassen. Die Bundesregierung ist nach § 84 SGB VIII ver- pflichtet, dem Deutschen Bundestag und dem Bundesrat in jeder Legislaturperiode einen Be- richt über die Lebenssituation junger Menschen und die Bestrebungen und Leistungen der Kin- der- und Jugendhilfe vorzulegen. Neben der Be- standsaufnahme und Analyse sollen die Berichte Vorschläge zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe enthalten. Adressaten der Kinder- und Jugendberichte Neben dem Bund (Bundestag) und den Län- dern (Bundesrat) gehören die Kommunen als verfassungsmäßiger Bestandteil der Länder glei- chermaßen zu den Adressaten der Kinder- und Jugendberichte. Dies ist von entscheidender Be- deutung, da die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe weit- gehend auf der kommunalen Ebene erbracht werden und junge Menschen ihre Lebensrealität dort erfahren. Durch die spezifi- sche Verfasstheit der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland sind neben den öffentlichen auch die freien Träger der Kinder- und Ju- gendhilfe angesprochen. Neben politischen Mandatsträgern in Bund, Ländern und Kom- munen sind Führungs- und Fachkräfte in Institutionen und Orga- nisationen durch die Kinder- und Jugendberichte gefordert. Die Fachpraxis steht ebenso wie die Wissenschaft in der Verantwor- tung, wenn es um die Gestaltung des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen in Deutschland geht. Schutz, Förderung und Be- teiligung erfahren Kinder und Jugendliche in ihrem Alltag, daher kann die Auswertung und Umsetzung der Kinder- und Jugend- berichte nicht auf Politik und Fachgremien beschränkt bleiben. Zukunftsthemen und Paradigmenwechsel Kinder- und Jugendberichte lenken den Blick auf Themen, die sich auf der Grundlage wissenschaftlicher Analysen abzeichnen, deren Bedeutung und Tragweite aber in Politik und Fachpraxis noch nicht hinreichend erkannt sind. So haben die letzten Berich- te wahre Paradigmenwechsel eingeleitet und große Ausbaupro- gramme und gesetzliche Leistungsansprüche vorbereitet, wie fol- gende Beispiele zeigen: Obwohl die Wissenschaft bereits seit Mitte des vorigen Jahr- hunderts die frühe Kindheit als entscheidend für die weitere Entwicklung der Persönlichkeit erkannt hat, galten die ersten drei Lebensjahre zumindest in Westdeutschland als ausschließ- liche Privatangelegenheit der Eltern und waren ein Tabu für öf- fentliche Angebote. Noch zur Zeit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten Anfang der 1990er Jahre prallten hier ideologische Welten aufeinander. Der 10. Kinder- und Jugend- bericht (KJB) nahm 1998 erstmals das Kindesalter in den Fo- kus und forderte eine „eigenständige Kinderpolitik“, mit dem 11. KJB (2002) wurden die „öffentliche Verantwortung für das Aufwachsen“ und der Ausbau der sozialen Infrastruktur pro- klamiert, der 12. KJB (2005) stellte die frühe Förderung und Bildung in den Mittelpunkt und bereitete den flächendecken- den Ausbau der Kindertagesbetreuung samt Rechtsanspruch für die unter Dreijährigen vor. Voraussetzung für die großflächige Einführung der Frühen Hil- fen in den letzten Jahren war neben der verstärkten öffentlichen Abstract / Das Wichtigste in Kürze Kinder- und Jugendberichte analysieren die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen und machen sie zum Maßstab für die Angebote und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe. Politik, Träger, Fachpraxis und Wissenschaft finden im Kinder- und Jugendbericht umfassende Daten und Empfehlungen zur Anpassung der Kinder- und Jugendhilfe an die gesellschaftliche Entwicklung. Keywords / Stichworte Kinder- und Jugendbericht, Jugendpolitik, gesellschaftliche Verantwortung, Kinder- und Jugendhilfe, Weiterentwicklung Karl-Heinz Struzyna *1952 Studium der Erziehungs- wissenschaften, Psy- chologie und Soziolo- gie. Regierungsdirektor im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frau- en und Jugend, zuvor Lei- ter eines Jugendamts und bundesweiter Modellpro- gramme in der freien Kin- der- und Jugendhilfe. Karl-Heinz.Struzyna@ bmfsfj.bund.de 24 Sozial Extra 2 2014: 24-27 DOI 10.1007/s12054-014-0041-x Praxis aktuell Kinder- und Jugendbericht

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Politische Implikationen der Kinder- und Jugendberichte

Was Kinder- und Jugendberichte bewirken und wer Nutzen daraus ziehen kann

Die Kinder- und Jugendberichterstattung ist ein gesetzlich normiertes Instrument zur Analyse der Lebenssituation von Kindern und Ju-gendlichen in Deutschland und zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe. Primärer Bezugspunkt der Kinder- und Jugend-berichte sind nicht die aktuellen Fachfragen der Kinder- und Jugendhilfe, sondern die Lebenslagen der Kinder und Jugendlichen. An deren Be­nden richten die unabhängigen Sachverständigen, die von der Bundesregierung mit der Ausarbeitung des Berichts beauftragt werden, ihre Analysen und Empfehlungen aus. Und an diesem gesellschaftlichen Auftrag müssen sich letztlich die Leistungen der Kin-der- und Jugendhilfe messen lassen.

Die Bundesregierung ist nach § 84 SGB VIII ver-p�ichtet, dem Deutschen Bundestag und dem Bundesrat in jeder Legislaturperiode einen Be-richt über die Lebenssituation junger Menschen und die Bestrebungen und Leistungen der Kin-der- und Jugendhilfe vorzulegen. Neben der Be-standsaufnahme und Analyse sollen die Berichte Vorschläge zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe enthalten.

Adressaten der Kinder- und JugendberichteNeben dem Bund (Bundestag) und den Län-

dern (Bundesrat) gehören die Kommunen als verfassungsmäßiger Bestandteil der Länder glei-chermaßen zu den Adressaten der Kinder- und Jugendberichte. Dies ist von entscheidender Be-

deutung, da die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe weit-gehend auf der kommunalen Ebene erbracht werden und junge Menschen ihre Lebensrealität dort erfahren. Durch die spezi�-sche Verfasstheit der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland sind neben den ö�entlichen auch die freien Träger der Kinder- und Ju-gendhilfe angesprochen.Neben politischen Mandatsträgern in Bund, Ländern und Kom-

munen sind Führungs- und Fachkräfte in Institutionen und Orga-nisationen durch die Kinder- und Jugendberichte gefordert. Die Fachpraxis steht ebenso wie die Wissenschaft in der Verantwor-tung, wenn es um die Gestaltung des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen in Deutschland geht. Schutz, Förderung und Be-teiligung erfahren Kinder und Jugendliche in ihrem Alltag, daher

kann die Auswertung und Umsetzung der Kinder- und Jugend-berichte nicht auf Politik und Fachgremien beschränkt bleiben.

Zukunftsthemen und ParadigmenwechselKinder- und Jugendberichte lenken den Blick auf Themen, die

sich auf der Grundlage wissenschaftlicher Analysen abzeichnen, deren Bedeutung und Tragweite aber in Politik und Fachpraxis noch nicht hinreichend erkannt sind. So haben die letzten Berich-te wahre Paradigmenwechsel eingeleitet und große Ausbaupro-gramme und gesetzliche Leistungsansprüche vorbereitet, wie fol-gende Beispiele zeigen:•Obwohl die Wissenschaft bereits seit Mitte des vorigen Jahr-

hunderts die frühe Kindheit als entscheidend für die weitere Entwicklung der Persönlichkeit erkannt hat, galten die ersten drei Lebensjahre zumindest in Westdeutschland als ausschließ-liche Privatangelegenheit der Eltern und waren ein Tabu für öf-fentliche Angebote. Noch zur Zeit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten Anfang der 1990er Jahre prallten hier ideologische Welten aufeinander. Der 10. Kinder- und Jugend-bericht (KJB) nahm 1998 erstmals das Kindesalter in den Fo-kus und forderte eine „eigenständige Kinderpolitik“, mit dem 11. KJB (2002) wurden die „ö�entliche Verantwortung für das Aufwachsen“ und der Ausbau der sozialen Infrastruktur pro-klamiert, der 12. KJB (2005) stellte die frühe Förderung und Bildung in den Mittelpunkt und bereitete den �ächendecken-den Ausbau der Kindertagesbetreuung samt Rechtsanspruch für die unter Dreijährigen vor.

•Voraussetzung für die groß�ächige Einführung der Frühen Hil-fen in den letzten Jahren war neben der verstärkten ö�entlichen

Abstract / Das Wichtigste in Kürze Kinder- und Jugendberichte analysieren die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen und machen sie zum Maßstab für die Angebote und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe. Politik, Träger, Fachpraxis und Wissenschaft �nden im Kinder- und Jugendbericht umfassende Daten und Empfehlungen zur Anpassung der Kinder- und Jugendhilfe an die gesellschaftliche Entwicklung.

Keywords / Stichworte Kinder- und Jugendbericht, Jugendpolitik, gesellschaftliche Verantwortung, Kinder- und Jugendhilfe, Weiterentwicklung

Karl-Heinz Struzyna *1952

Studium der Erziehungs-wissenschaften, Psy-chologie und Soziolo-gie. Regierungsdirektor im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frau-en und Jugend, zuvor Lei-ter eines Jugendamts und bundesweiter Modellpro-gramme in der freien Kin-der- und Jugendhilfe.

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Sozial Extra 2 2014: 24-27 DOI 10.1007/s12054-014-0041-x

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Verantwortung für die ersten Lebensjahre und der Erkenntnis-se über das dieser Lebensphase innewohnende Bildungspoten-zial auch ein systemübergreifendes Denken und Handeln, wie sie der 13. KJB (2009) für das Zusammenwirken von Kinder- und Jugendhilfe und Gesundheitssystem forderte.

•Bereits der 11. KJB (2002) fragt nach den Wirkungen der Kin-der- und Jugendhilfe und befeuert eine breite Debatte über die Qualität ihrer Leistungen. Ein Bundesmodellprogramm zur „Wirkungsorientierten Jugendhilfe“ folgte. Der 14. KJB (2013) fordert nunmehr in seiner abschließenden Leitlinie, dass „sich die Kinder- und Jugendhilfe ihrer eigenen Wirkungen verge-wissern und darüber Rechenschaft ablegen muss“. Er sieht die Kinder- und Jugendhilfe „in der Mitte der Gesellschaft“ und damit in neuer gesellschaftlicher Verantwortung angekommen.

•Die rasante Entwicklung der sog. „neuen Medien“ wurde in den zurückliegenden Jahren in weiten Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe ignoriert, oftmals mit Skepsis betrachtet und in der Politik vorrangig unter Schutzgesichtspunkten diskutiert. Mit dem 14. KJB wird klar, welche Bedeutung die elektroni-schen Medien für das Aufwachsen von Kindern und Jugendli-chen gewonnen haben: Die fortschreitende Mediatisierung hat die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen tiefgreifend verändert. Wer als Kind und mehr noch als Jugendlicher nicht über Zugang zu Computer, Internet und Smartphone verfügt, ist nicht nur bei der Aneignung von Wissenskompetenz be-nachteiligt, sondern wird auch aus sozialen Kontexten ausge-koppelt. Für die „Generation Online“ muss es – ohne den Kin-der- und Jugendschutz aus dem Blick zu verlieren – vorrangig darum gehen, die Chancen und Potenziale dieser Medien zu nutzen und allen Kindern und Jugendlichen Zugang zu ver-scha�en, um soziale Ungleichheit und Ausgrenzung zu vermei-den. Dass angesichts der anhaltend rasanten technologischen und sozialstrukturellen Entwicklung hier Forschungsbedarf besteht, hat die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zum 14. KJB anerkannt und die Prüfung eines ressortübergreifen-den Forschungsprogramms „Aufwachsen in der digitalen Me-dienwelt“ angekündigt.

•Der 14. KJB identi�ziert zahlreiche weitere Themen mit Zu-kunftspotenzial. Dazu gehören: Das Jugendalter als eigenstän-dige Lebensphase, die eine Neukonzipierung der Jugendpolitik in Deutschland notwendig macht; der Ausbau der Ganztagsbe-treuung und die damit verbundene Veränderung der Lebens-welten junger Menschen; die tendenzielle Verlagerung von Ar-mutslagen vom Kindesalter in das Jugend- und frühe Erwach-senenalter; die Bedeutung des dritten Lebensjahrzehnts und die Rolle der Übergänge bis zur Berufseinmündung und zur eigenen Familiengründung; die zunehmende Verschränkung von ö�entlicher und privater Verantwortung für das Aufwach-sen und neue Mischungsverhältnisse bei der Ausgestaltung der „Wohlfahrtsproduktion“.

•Nicht zuletzt rücken Kinder- und Jugendberichte die Situati-on und die Strukturen in Deutschland zunehmend in den eu-

ropäischen Vergleich und ermöglichen dadurch, Anregungen aus andern Ländern aufzugreifen.

Die gesellschaftliche Verortung der Kinder- und JugendhilfeDas Fazit des 14. KJB, bezogen auf die Kinder- und Jugendhilfe,

fällt eindeutig aus: Die Kinder- und Jugendhilfe trägt heute zum Gelingen des Aufwachsens nahezu aller Kinder und Jugendlichen bei und ist als sozialstaatliches Leistungsfeld in der Mitte der Ge-sellschaft und damit in neuer Verantwortung angekommen.Daraus folgt: Mit der gesellschaftlichen Entwicklung verändern

sich auch die Aufgaben und Ziele der Kinder- und Jugendhilfe. Die Kinder- und Jugendhilfe bleibt zukunftsfähig, wenn sie den gesellschaftlichen Wandel rezipiert und ihre Leistungen an ge-sellschaftliche Veränderungen anpasst. Dies betri�t grundlegen-de Aspekte, wie das Verhältnis von privater und ö�entlicher Ver-antwortung, das von der Jugendberichtskommission neu ausbuch-stabiert wird. Für die Kommission stellen ö�entliche und private Verantwortung keine Gegensätze dar, kein Entweder–Oder dia-metraler Dimensionen, sondern ein sich ergänzendes Ineinander-greifen im Sinne eines Sowohl-als-auch. Dabei geht es nicht allein um ein theoretisches Konstrukt: Das Zusammenwirken mit den Eltern ist für sämtliche Leistungsangebote der Kinder- und Ju-gendhilfe höchst relevant.An diesem Beispiel wird deutlich, was die Kinder- und Jugend-

berichterstattung leistet: Sie verortet die Kinder- und Jugendhil-fe in der Gesellschaft, erarbeitet Orientierungen für die Ausrich-tung der Angebote und Leistungen und trägt dadurch wesentlich zu Anpassungs- und Zukunftsfähigkeit der Kinder- und Jugend-hilfe bei.

Die parlamentarische Beratung des 14. KJB auf BundesebeneWährend die Bundesregierung in der unmittelbaren Pflicht

steht, dem Bericht der Sachverständigenkommission ihre Stel-lungnahme beizufügen, steht es den übrigen Adressaten frei, ob und wie sie sich mit den Berichtsergebnissen auseinandersetzen.Die Bundesregierung hat in der Kabinettsitzung am 30.1.2013

den Bericht der unabhängigen Jugendberichtskommission zur Kenntnis genommen und ihre Stellungnahme zum Bericht be-schlossen. Unmittelbar anschließend hat die Bundesregierung den 14. Kinder- und Jugendbericht (KJB) dem Deutschen Bundestag zugeleitet und die Abgeordneten in einer Regierungsbefragung in-formiert sowie erste Fragen beantwortet.Der Deutsche Bundestag hat den 14. KJB dem zuständigen Aus-

schuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur Beratung zugewiesen. Im Ausschuss wurde am 10.6.2013 zunächst eine ö�entliche Anhörung durchgeführt, in der geladene ExpertIn-nen aus der Berichtskommission sowie aus Verbänden und Wis-senschaft jeweils eine schriftliche Stellungnahme einreichten und die Fragen der Abgeordneten beantworteten. In seiner Sitzung am 26.06. hat der Ausschuss mit anerkennenden Statements aller Fraktionen der Jugendberichtskommission gedankt und die Bera-tung des 14. KJB abgeschlossen. Es gab wenig inhaltliche Kont-

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roversen. Ein Antrag der SPD fand als Oppositionsantrag erwar-tungsgemäß keine Mehrheit. Das parlamentarische Verfahren im Bundestag wurde damit in der 17. Legislaturperiode mit Kennt-nisnahme und ohne weitere Entschließung ordnungsgemäß abge-schlossen. Es ist allerdings möglich, in der neuen Wahlperiode er-neut Anträge zum 14. KJB einzubringen.Oftmals sind Kinder- und Jugendberichte die einzige Gelegen-

heit in einer Legislaturperiode, bei der sich der Deutsche Bundes-tag in einer Plenarsitzung mit der Kinder- und Jugendpolitik in ih-rer Gesamtheit befasst. So haben etwa zum 11. KJB, der wie der 14. KJB ein Gesamtbericht war und der erstmals die ö�entliche Verantwortung für das Aufwachsen in den Blick nahm, mehrere Fraktionen Anträge eingebracht. Die unterschiedlichen Positionen wurden in mehreren Ausschüssen diskutiert, der Entschließungs-antrag der damaligen Regierungsfraktionen im Plenum des Deut-schen Bundestags mehrheitlich verabschiedet.Zeitgleich mit dem Bundestag wurde der 14. KJB dem Bundes-

rat zugeleitet. Die Länderkammer hat am 3.05.2013 eine Stel-lungnahme (BR-Drucksache 86/13) verabschiedet, die den von der Berichtskommission gewählten Ansatz würdigt, die Wei-terbehandlung in den zuständigen Gremien auf der Ebene von Bund, Ländern und Kommunen emp�ehlt und die freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe und ihre Zusammenschlüsse anregt, die vielfältigen Impulse für ihre Fachdiskussionen sowie die Wei-terentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe zu nutzen. Inhaltlich begrüßt der Bundesrat die zentrale Rolle und Funktion, die die Berichtskommission den Jugendämtern beimisst, sowie ihren Vor-schlag, „die Jugendämter zu lokalen strategischen Zentren für Fra-gen des Aufwachsens“ weiterzuentwickeln. Darüber hinaus weist der Bundesrat im Hinblick auf den Ausbau der Ganztagsbetreu-ung auf die wachsende Bedeutung des Schulsystems hin. Von der Bundesregierung fordert der Bundesrat eine bessere Verzahnung der Rechtskreise des Zweiten, Dritten, Achten und Zwölften Bu-ches Sozialgesetzbuch. Angesichts des absehbaren weiteren Auf-gabenzuwachses in der Kinder- und Jugendhilfe fordern die Län-der die Bundesregierung zu Verhandlungen über die Verteilung der Finanzressourcen auf.

Der politische Diskurs in Ländern und KommunenKinder- und Jugendberichte bieten den politischen Parteien um-

fassendes Material und aktuelle Befunde, um ihr kinder- und ju-gendpolitisches Pro�l auf allen Ebenen zu schärfen, Anträge zu formulieren und in parteiinterne wie in parlamentarische Gremi-en einzubringen. Dies trägt dazu bei, dass die Belange von Kin-dern und Jugendlichen im politischen Leben besser wahrgenom-men werden. Als Gesamtbericht thematisiert der 14. KJB aktu-elle Entwicklungen, die die gesellschaftliche Zukunftsgestaltung tangieren, wie den demogra�schen Wandel und das Generatio-nenverhältnis. Er dürfte daher besonders dort von Interesse sein, wo langfristige Politikkonzepte zu entwickeln sind: in Ministeri-en und in den Programm- und Strategiekommissionen der poli-tischen Parteien.

Mit dem in § 84 SGB VIII als Adressat genannten Bundesrat sind die Länder unmittelbar angesprochen. Die Landesregierungen ha-ben sich mit der oben genannten Stellungnahme des Bundesrats positioniert. In Landtagen werden Kinder- und Jugendberichte diskutiert, wenn eine Fraktion oder ein Ausschuss dies anstößt. Ein solcher Impuls kann insbesondere vom Landesjugendhilfeaus-schuss ausgehen, der sich mit der aktuellen Lage junger Menschen und allen Angelegenheiten der Kinder- und Jugendhilfe befasst, u. a. durch Anregungen und Vorschläge zur Weiterentwicklung der Jugendhilfe oder zur Landesjugendhilfeplanung.Analog zum Bericht auf Bundesebene erstellen mehrere Landes-

regierungen mittlerweile spezi�sche Landes-Kinder- und Jugend-berichte, entweder als Sachverständigenbericht (z.B. Sachsen, Rheinland-Pfalz) oder als Ministeriumsbericht (z.B. Nordrhein-Westfalen). Diese Landesberichte können wichtige Ergänzungen zu den bundesweiten Befunden der Kinder- und Jugendberichte darstellen und landespolitische Schwerpunkte setzen.Auf der kommunalen Ebene geht es um kinder-, jugend- und fa-

milienfreundliche Städte und Gemeinden, um das Erkennen von Risiken und neuen Problemlagen, um die Steuerung von Leis-tungen und Ausgaben. Die Rezeption der Ergebnisse der Kinder- und Jugendberichte und eine vorausschauende Planung können gerade in den Kommunen Fehlinvestitionen vermeiden und den Mitteleinsatz auf vorhandene Bedarfe konzentrieren. Nicht zu-letzt wollen Kommunen im Zuge des demogra�schen Wandels kommunale Markenzeichen setzen, um junge Bevölkerungsgrup-pen zu binden. Zu all diesen Fragen liefern Kinder- und Jugend-berichte Erkenntnisse und Anregungen, die es zu nutzen gilt. Da-bei kommt es oftmals auf die Initiative einzelner Personen an, aus diesem Fundus zu schöpfen und die Argumente in den politischen Diskurs vor Ort zu tragen.

Fachliche Weiterentwicklung Aus Daten und Fakten generiert die Jugendberichtskommission

anwendbares Wissen zur Gestaltung des Aufwachsens von Kin-dern und Jugendlichen. Zur Verständlichkeit und Akzeptanz trägt die spezi�sche Zusammensetzung der Kommission aus Wissen-schaft und Fachpraxis bei. Kinder- und Jugendberichte bekommen dadurch eine wichtige Impuls- und Anregungsfunktion für die fachliche Weiterentwicklung und gehören auf die Tagesordnung sämtlicher Gremien auf allen Ebenen der ö�entlichen und der frei-verbandlichen Kinder- und Jugendhilfe. Selbstverständlich spie-len sie auch in der Aus- und Weiterbildung eine gewichtige Rolle, und ebenso als Themenquellen für Wissenschaft und Forschung.Die Landesministerien und die Landesjugendämter als überört-

liche Träger haben im Rahmen ihrer gesetzlichen Aufgaben die Weiterentwicklung der Jugendhilfe anzuregen und zu fördern. Dies realisieren sie u. a. durch Fachtagungen und Fortbildungen zum Kinder- und Jugendbericht sowie durch Empfehlungen. Die meisten Angebote und Leistungen der Kinder- und Jugend-

hilfe werden auf der kommunalen Ebene realisiert. Verbesserun-gen können sich dort unmittelbar auf die Lebenswelten von Kin-

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dern und Jugendlichen auswirken. Eine zentrale Rolle spielen die Jugendhilfeausschüsse als Schnittstellen zwischen Politik und Fachpraxis sowie die Jugendhilfeplanung, die die vom Kinder- und Jugendbericht beschriebenen Entwicklungen auf die örtliche Ebene herunterbrechen und dem Jugendhilfeausschuss geeignete Konsequenzen vorschlagen kann.Die Fachverbände erwarten jeden Kinder- und Jugendbericht mit

Spannung. Sie diskutieren Konsequenzen für das eigene Tätigkeits-feld und erarbeiten teilweise umfangreiche Stellungnahmen. Die-se setzen sich teils kritisch mit den Feststellungen der Berichts-kommission auseinander. Zahlreiche Veranstalter auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene führen Fachtagungen durch, bei denen der Kinder- und Jugendbericht – häu�g durch Mitglieder der Sachverständigenkommission – vorgestellt wird und Umset-zungsmöglichkeiten im jeweiligen Arbeitsfeld erörtert werden. Keine Fachzeitschrift verzichtet auf einen Beitrag über den Kin-der- und Jugendbericht, nicht selten bilden mehrere Beiträge aus unterschiedlichen Perspektiven das Schwerpunktthema einer Aus-gabe. Auf diesen Wegen �nden die Kinder- und Jugendberichte Ein-

gang in die Fachpraxis. Allerdings sind Kinder- und Jugendbe-richte keine Rezeptbücher mit praktischen Handlungsanweisun-gen, besonders nicht die Gesamtberichte (jeder dritte Kinder- und Jugendbericht ist ein Gesamtbericht), die sich nicht auf ein Schwerpunktthema, sondern auf die Gesamtentwicklung konzen-trieren. Vielmehr ermöglichen Kinder- und Jugendberichte die gesellschaftliche Einordnung der eigenen Arbeit, weisen auf quan-titative Veränderungen bei den Zielgruppen und auf neue Prob-lemlagen hin, motivieren zu konzeptionellen und methodischen Anpassungen und Weiterentwicklungen. Vor allem fordern Kin-der- und Jugendberichte beständig dazu heraus, die Leistungsan-gebote an den Bedarfslagen von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien zu messen. Im Alltag der Fachpraxis vollziehen sich Veränderungen schlei-

chend und sind nicht immer klar zu erkennen. Die Kinder- und Jugendberichte analysieren bundesweite Statistiken und Untersu-chungen, um daraus Entwicklungstrends zu erkennen. Dies ver-setzt die Fachkräfte und insbesondere die Jugendhilfeplanung in die Lage, anhand regionaler und lokaler Daten die spezi�sche Aus-prägung vor Ort festzustellen und zu reagieren. So tre�en etwa die Auswirkungen des demogra�schen Wandels, der sich abzeich-nende Fachkräftemangel und Migrationsbewegungen die kommu-nalen Gebietskörperschaften in sehr unterschiedlichem Ausmaß. Hingegen sind die Folgen der technologischen Entwicklung wie die zunehmende Nutzung elektronischer Kommunikations- und Informationsmittel überall spürbar. Wenn bereits Zweijährige Vi-deos auf ihre Tablet-Computer laden und Jugendliche soziale An-erkennung mehr und mehr in sozialen Netzwerken erfahren und dabei unkontrolliert persönliche Daten preisgeben, so muss dies Konsequenzen nicht nur für die Fortbildung der Fachkräfte, son-dern auch für die Konzepte und Methoden der Angebote und Ein-richtungen der Kinder- und Jugendhilfe haben.

Zukunft der Kinder- und JugendberichterstattungKinder- und Jugendberichte setzen eine politische und fachli-

che Dynamik zugunsten der aufwachsenden Generation in Gang. Sie tragen wesentlich dazu bei, dass die Kinder- und Jugendhilfe sich eng an den Lebenslagen der Kinder und Jugendlichen orien-tiert und ihrem gesetzlichen Auftrag gerecht wird, gesellschaftli-che Entwicklungen nachvollzieht und sich fachlich weiterentwi-ckelt. Ihre Wirkung und Steuerungsrelevanz entfalten die Berich-te eher lang- als kurzfristig.Während der erste (1965) und der zweite Jugendbericht zu-

nächst als Ministeriumsbericht gestaltet waren, hat sich mit ei-ner Gesetzesänderung im Jahr 1967 das Prinzip des Sachverstän-digenberichts durchgesetzt. Die Bundesregierung beruft eine un-abhängige Kommission aus mindestens (bis 2005: maximal) sieben Sachverständigen – in der Regel aus der Wissenschaft und aus der Praxis – und fügt deren Bericht ihre Stellungnahme bei. Diese Verfahrensweise vermeidet eine reine Regierungsberichterstat-tung und bringt mehr Anregungs- und Entwicklungspotenzial in die Berichte und die nachfolgenden Diskurse. Nach diesem Kon-zept haben sich Kinder- und Jugendberichte als wirksames Mit-tel zur Politikberatung auf allen Ebenen und als politisches Inst-rument zur Verbesserung der Lebenssituation von jungen Men-schen in Deutschland bewährt.Erwogen wird, das System der Kinder- und Jugendberichterstat-

tung zu einer indikatorengestützen Berichterstattung auszubauen. Dabei soll der in der Regel alle vier Jahre erscheinende Bericht nicht wie bisher von der jeweiligen Sachverständigenkommission in vollem Umfang neu konzipiert werden. Vielmehr könnte eine Reihe von de�nierten Indikatoren jedem Bericht vorangestellt, an-hand der jeweils aktuellen Daten fortgeschrieben, zur Kennzeich-nung der Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen dienen. Eine solche Neuerung verspräche eine Vergleichbarkeit der nach gleicher Systematik erhobenen Befunde im Längsschnitt von Be-richt zu Bericht. Dieses Verfahren setzt allerdings eine Verständi-gung über geeignete Indikatoren voraus, die über lange Zeiträume als Kennzahlen für die Lebenssituation junger Menschen tragfä-hig sind und auf breite gesellschaftliche Akzeptanz stoßen. Kon-krete Vorschläge dazu stehen bislang aus. s

KINDER- UND JUGENDBERICHTE

SETZEN EINE POLITISCHE UND

FACHLICHE DYNAMIK ZUGUNSTEN

DER AUFWACHSENDEN

GENERATION IN GANG.

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