Politische Studien Nr. 373 Die Neue Ökonomie - …...Das gewaltige internationale Medien-echo, das...

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51. Jahrgang • September/Oktober 2000 • ISSN 0032-3462 POLITISCHE STUDIEN Atwerb-Verlag KG Patrick Moreau POLITISCHE STUDIEN-Zeitgespräch mit dem Politikwissenschaftler zu der Herausforderung durch Rechts- extremismus und Populismus in Europa Andreas Feser Mehr Transparenz für die SPD-Finanzen Daniel Dietzfelbinger Von der Religionssoziologie zur Sozialen Marktwirtschaft: Leben und Werk Alfred Müller-Armacks Schwerpunktthema: Die Neue Ökonomie – Handel im Internet mit Beiträgen von Roland Fleck Hans-Joachim Heusler Hans-Joachim Lindstadt Christian Löfflmann Markus Söder Steffen Städtler 373 Zweimonatszeitschrift für Politik und Zeitgeschehen Hanns Seidel Stiftung eV

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51. Jahrgang • September/Oktober 2000 • ISSN 0032-3462

POLITISCHES T U D I E N

Atwerb-Verlag KG

Patrick MoreauPOLITISCHE STUDIEN-Zeitgesprächmit dem Politikwissenschaftler zu der Herausforderung durch Rechts-extremismus und Populismus in Europa

Andreas FeserMehr Transparenz für die SPD-Finanzen

Daniel DietzfelbingerVon der Religionssoziologie zur Sozialen Marktwirtschaft: Leben und Werk Alfred Müller-Armacks

Schwerpunktthema:

Die Neue Ökonomie –Handel im Internetmit Beiträgen von

Roland Fleck Hans-Joachim HeuslerHans-Joachim LindstadtChristian Löfflmann Markus Söder Steffen Städtler

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Z w e i m o n a t s z e i t s c h r i f t f ü r P o l i t i k u n d Z e i t g e s c h e h e n

HannsSeidelStiftung eV

51. Jahrgang • September/Oktober 2000 • ISSN 0032-3462

POLITISCHES T U D I E N

Atwerb-Verlag KG

Patrick MoreauPOLITISCHE STUDIEN-Zeitgesprächmit dem Politikwissenschaftler zu der Herausforderung durch Rechts-extremismus und Populismus in Europa

Andreas FeserMehr Transparenz für die SPD-Finanzen

Daniel DietzfelbingerVon der Religionssoziologie zur Sozialen Marktwirtschaft: Leben und Werk Alfred Müller-Armacks

Schwerpunktthema:

Die Neue Ökonomie –Handel im Internetmit Beiträgen von

Roland Fleck Hans-Joachim HeuslerHans-Joachim LindstadtChristian Löfflmann Markus Söder Steffen Städtler

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Reinhard C. Vor 50 Jahren: Gescheiterte Macht-Meier-Walser ergreifung der österreichischen Kom-

munisten – Der spektakuläre Putsch-versuch der KPÖ im Herbst 1950 istheute fast vergessen .......................... 5

Dieter Kiehl Johannes Hampel wurde 75 ............ 11

Patrick Moreau POLITISCHE STUDIEN-Zeitgesprächmit dem Politikwissenschaftler zu derHerausforderung durch Rechtsextre-mismus und Populismus in Europa . 17

Schwerpunktthema: Die Neue Ökonomie –Handel im Internet

Siegfried Höfling Einführung ....................................... 25

Markus Söder Das Internet als Chance für den Mittelstand........................................ 27

Hans-Joachim Kommt „Otto Normalsurfer“? – Ent-Lindstadt wicklung und Bedeutung des elektro-

nischen Handels für die Wirtschaft... 31

Hans-Joachim Der Virtuelle Marktplatz Bayern – Heusler Ein All-Winners-Game? .................... 35

Christian Löfflmann Bezahlen im Internet......................... 47

Roland Fleck Chancen des E-Commerce aus derSicht der Stadt Nürnberg ................ 57

Steffen Städtler Die Neue Ökonomie – Handel im Internet: Ein Statement..................... 65

Inhalt

Andreas Feser Mehr Transparenz für die SPD-Finanzen ........................................... 67

Daniel Dietzfelbinger Von der Religionssoziologie zur Sozia-len Marktwirtschaft: Leben und WerkAlfred Müller-Armacks ...................... 85

Ludger Helms Das britische Parteiensystem in der Ära Blair ......................................... 101

Jutta Engbers Ausgrenzung oder Integration – Auf- bzw. Übernahme des Personalsdes Staatsapparates der DDR in den öffentlichen Dienst der Bundes-republik Deutschland...................... 113

Das aktuelle Buch ........................................................ 128

Buchbesprechungen ........................................................ 130

Ankündigungen ........................................................ 142

Autorenverzeichnis ........................................................ 143

Das gewaltige internationale Medien-echo, das die Bildung der schwarz-blauen Regierungskoalition in Wienund die Krise zwischen Österreich undden übrigen 14 EU-Regierungen aus-lösten, täuscht über die Tatsache hin-weg, dass wichtige Stationen der zeit-geschichtlichen Entwicklung Öster-reichs nach wie vor im Ausland kaumgeläufig sind. Nahezu unbekannt istetwa, dass vor 50 Jahren Österreich dasSchicksal drohte, durch einen kommu-nistischen Putschversuch eine „volks-demokratische Ordnung“ übergestülptzu bekommen. Mit einem Aufruf zumGeneralstreik im September 1950 ziel-te die Kommunistische Partei Öster-reichs (KPÖ) auf eine grundlegendeVeränderung der politischen Verhält-nisse. Der radikale Flügel der Parteiinitiierte Gewaltaktionen, um ein Ein-greifen der Besatzungsmächte zu pro-vozieren, womit auch eine Spaltungdes Landes bewusst in Kauf genom-men wurde.

Mit einem Wähleranteil von lediglichrund fünf Prozent stand die Kommu-

nistische Partei Österreichs (KPÖ) imJahre 1950 vor einem machtpoliti-schen Scherbenhaufen: Im Gegensatzzu den Schwesterparteien in den vonder Sowjetunion beherrschten Nach-barstaaten Ungarn und Tschechoslo-wakei besaßen sie weder Rückhalt beiden Gewerkschaften noch die Potenzeiner Arbeiter-Einheitsfront oder gar ei-ne Beteiligung an der Regierung. Diemachtpolitische Auseinandersetzungzwischen den österreichischen Koali-tionsparteien ÖVP und SPÖ einerseitsund der sich mit dem Stalinismus voll-kommen identifizierenden KPÖ ande-rerseits schien, mit Ausnahme zweierhypothetischer Fälle, bereits endgültigentschieden zu sein. Die erste Ausnah-me wäre der Fall einer militärischenIntervention der Sowjetunion mit demZiel einer Abtrennung des östlichenTeiles Österreichs von den westlichenBundesländern gewesen. Die zweiteAusnahme bezog sich auf den Falleiner tiefgreifenden Unzufriedenheitin der österreichischen Bevölkerungmit der Koalitionsregierung und demÖsterreichischen Gewerkschaftsbund

Vor 50 Jahren: Gescheiterte Machtergreifung der

österreichischen Kommunisten

Der spektakuläre Putschversuch der KPÖ im Herbst 1950 ist heute fast vergessen

Reinhard C. Meier-Walser

Politische Studien, Heft 373, 51. Jahrgang, September/Oktober 2000

Reinhard C. Meier-Walser6

(ÖGB). Dieser zweite Fall trat 1950 einund entwickelte sich im September/Oktober unter der Regie der KPÖ zueinem bedrohlichen Massenstreik mitschweren, putschartigen Auseinander-setzungen.

Weit verbreitet war damals der Ärgerüber das vierte sog. „Lohn-Preis-Ab-kommen“. Diese Abkommen warenwenig wirksame Abmachungen zwi-schen dem ÖGB, den Kammern der ge-werblichen Wirtschaft und den Land-wirtschaftskammern in Übereinkunftmit der Bundesregierung, um die seit1945 starke Inflation zu dämpfen unddas verzerrte Preis- und Lohngefüge zukorrigieren. Allmählich schöpfte je-doch die Arbeiterschaft den Verdacht,die Regierung wolle ihre gesamten fi-nanziellen Schwierigkeiten mit Hilfedieser Abkommen auf dem Rücken desVolkes bereinigen – eine Vorstellung,die die Kommunisten propagandis-tisch geschickt auszuschlachten ver-standen.

Als jedenfalls am 22. September 1950im Rundfunk amtlich mitgeteilt wur-de, dass eine vierte Lohn-Preis-Eini-gung zwischen den Sozialpartnern er-zielt worden sei, malte die kommu-nistische Tageszeitung „Volksstimme“sofort eine drastische Senkung desLebensstandards an die Wand undforderte die Zurücknahme des „Preis-treiberpaktes“. Die KPÖ konzentrierteihre Agitation zunächst darauf, die vonder Regierung versprochene „volleAbgeltung der Preiserhöhungen“ be-stimmter Grundnahrungsmittel zu ver-höhnen und die Bevölkerung aufzu-wiegeln. Am 26. September beganndann gleichzeitig in Wien, Nieder- undOberösterreich die kommunistischinitiierte und mit Flugblättern vorbe-

reitete Streikaktion. Bis zum 30. Sep-tember traten mehr als 100.000 Arbei-ter in den Ausstand. KommunistischeRollkommandos aus den unter sowje-tischer Verwaltung stehenden USIA-Betrieben (des ehemaligen „DeutschenEigentums“ in Österreich) fuhren um-her und zwangen die Belegschaften an-derer Unternehmen mit Gewalt zur Ar-beitsniederlegung. Es kam zu blutigenAuseinandersetzungen zwischen De-monstranten und Sicherheitswache-Beamten. Das Kanzleramt am WienerBallhausplatz wurde von rund 6000Menschen, die die Absperrungen über-wunden hatten, regelrecht belagert.

Noch bedrohlicher als die Zusammen-stöße, die zahlreiche Schwerverletzteforderten, waren für die innere Sicher-heit der Republik an diesem Streiktagjedoch die Versuche der niederöster-reichischen Kommunisten, das Nach-richten- und Verkehrsnetz zu blockie-ren und die ringsum von dem sow-jetisch besetzten Niederösterreich um-gebene Bundeshauptstadt von derAußenwelt abzuschneiden. Mitgliederder KPÖ sowie des rund 2000 Mannstarken, militärisch geschulten undmit modernen Schusswaffen ausgerüs-teten „Werkschutzes“ der sowjetischverwalteten Betriebe besetzten mehrerePostämter, unterbrachen den Telefon-und Telegrafenverkehr und blockiertenBahnlinien und Verbindungsstraßen.

In dem im Süden und Westen vonamerikanischen, jenseits der Donau imNorden und Osten von sowjetischenStreitkräften besetzten Oberösterreichergab sich eine von der SPÖ als „kom-munofaschistisches Bündnis“ apostro-phierte Konstellation. Das Land standwegen des unverhältnismäßig hohenAnteils von ehemaligen Nationalsozia-

Gescheiterte Machtergreifung der österreichischen Kommunisten 7

listen und aufgrund Tausender von„Displaced Persons „ seit Jahren unterpolitischen und sozialen Spannungen.Vor allem in der Hauptstadt Linz ko-operierten während des Streikputschesdie Anhänger des im Jahre 1949 ge-gründeten „Verbandes der Unabhängi-gen“ (VdU) – der Vorläuferorganisationder FPÖ –, der sich als Sammelbeckenfür die rund 500.000 „minderbelaste-ten“ ehemaligen Nationalsozialistenund die politisch heimatlosen Reprä-sentanten des deutschnationalen La-gers anbot, mit den randalierendenKommunisten – ein interessengesteu-ertes, zweckrationales Bündnis zwi-schen den die ideologischen Extremevertretenden Gruppierungen.

Aus der Sicht der österreichischen Bun-desregierung war zu Beginn der Un-ruhen vor allem das Verhalten der sowjetischen Besatzungsmacht vonBedeutung, die eine eskalierende Si-tuation zum Anlass eines Eingreifensnehmen und ihre Besatzungszoneeinschließlich Wiens von den westli-chen Zonen hätte separieren können.Wien konnte im Unterschied zu Berlinim Falle einer sowjetischen Blockadenicht aus der Luft versorgt werden,weil die Flughäfen der Westmächteaußerhalb der Stadtgrenzen inmittender sowjetischen Zone lagen. Zusätz-lich genährt wurde das Gefühl der Be-drohung, als die russische Stadtkom-mandantur am 25. September den imsowjetischen Sektor Wiens gelegenenPolizeikommissariaten strikt verbot,am nächsten Tag Sicherheitskräfte indie Innenstadt abzukommandieren.Diese offene Behinderung der Exeku-tive gab mit den Ausschlag für das „in-offizielle“ Interventionsersuchen, dasBundeskanzler Figl am 26. Septemberan die amerikanische Seite richtete, das

die USA unter Erwägung einer mögli-chen Verwicklung in einen Konfliktmit der Sowjetunion jedoch zurück-wiesen.

Deutlich wurde bereits zu Beginn desAusstandes, dass die KPÖ von Seitender sowjetischen Besatzungsmacht kei-ne offene Unterstützung, sondern le-diglich passiven Beistand erwartendurfte. Nicht zuletzt deshalb trat be-reits am ersten Streiktag in der KPÖ-Führung ein Dissens über die Kampf-taktik auf. Generalsekretär Fürnberg,der Verbindungsmann der Parteispitzezur russischen Seite, berichtete nach ei-ner Besprechung mit sowjetischenFunktionären dem Politbüro der KPÖ,die sowjetischen Genossen seien „un-zufrieden und beunruhigt“, da sich inerster Linie USIA-Arbeiter im Ausstandbefänden und der Streik somit haupt-sächlich die sowjetische Planerfüllungund weniger die österreichische Regie-rung treffe. Nach einer hitzigen Dis-kussion entschloss sich die Mehrheitder Anwesenden, den Streik abzubre-chen, die nächsten Tage zu massiverAgitation zu nutzen und den Kampfspäter auf breiterer Basis fortzusetzen.

Die Unterbrechung des Streikes ver-schaffte den staatstragenden Kräfteneine Atempause, die zur Aufklärungder Bevölkerung genutzt wurde. Regie-rung und Gewerkschaftsbund hattenerkannt, dass die aufgetretene Aktions-gemeinschaft von Kommunisten undSozialisten nicht nur aufgrund derkommunistischen Agitation, sondernauch wegen ungenügender Informa-tion der Bürger über das neue Lohn-Preis-Abkommen entstanden war.

Die massive Aufklärung wirkte. An derfür den 30. September einberufenen

Reinhard C. Meier-Walser8

„gesamtösterreichischen Betriebsräte-konferenz“ nahmen deshalb fast nurnoch Kommunisten teil. Die Drohungder „Volksstimme“, im Falle der Ab-lehnung der geforderten Rücknahmedes Lohn-Preis-Abkommens würden„wuchtige und disziplinierte Arbeiter-demonstrationen an allen Orten Öster-reichs“ initiiert, war lediglich Bluff.Wesentlich bedrohlicher erschienenmassive kommunistische Gewalt- undSabotageakte, mit denen die sowjeti-sche Besatzungsmacht zum Eingreifenveranlasst werden sollte. ZusätzlicheNahrung erhielt die Furcht vor einerrussischen Intervention, als am 3. Ok-tober auf Befehl der sowjetischenStadtkommandantur Wiens und zahl-reicher örtlicher sowjetischer Kom-mandanturen in Niederösterreich dieösterreichische Exekutive lahm gelegtwurde.

Am Nachmittag des 4. Oktober riegel-ten die Kommunisten alle großen Ein-fallstraßen nach Wien durch Blocka-den ab. In Niederösterreich liefertenschwer bewaffnete USIA-Rollkomman-dos den Belegschaften zahlreicher Be-triebe regelrechte Schlachten, bei de-nen Firmenangehörige mit Messern,Eisenstangen und Stahlruten schwerverletzt wurden.

In Wiener Neustadt errichteten dieAufständischen nach der Besetzungdes Hauptpostamtes eine Art proviso-rischen Regierungssitz. Ein 170 Mannstarker Sicherheitswache-Verband, dender im Innenministerium tagende Kri-senstab zur Verstärkung nach WienerNeustadt entsandt hatte, musste nachblutigen Zusammenstößen mit denStreikenden auf strikten Befehl des so-wjetischen Landeskommandanten vonNiederösterreich wieder abziehen.

Auch am nächsten Tag ging über Wienund Niederösterreich noch einmaleine Gewalt- und Terrorwelle hinweg,derengleichen Österreich nach denWorten Innenminister Helmers seitdem Einmarsch der Nationalsozialistenim März 1938 nicht mehr erlebt hatte. Als jedoch in den Abendstunden des 5. Oktober auch den hartnäckigstenVorkämpfern des Ausstandes das Schei-tern ihrer Aktion deutlich wurde, er-klärte das Präsidium der „gesamtöster-reichischen Betriebsrätekonferenz“ denStreik für beendet.

Nach ihrer Niederlage wiesen die Kom-munisten jegliche Putschabsicht brüskvon sich. Dennoch kann kein Zweifelbestehen, dass zumindest der radikaleFlügel der Partei mit der Initiierungvon Gewalt- und Sabotageakten einEingreifen der sowjetischen Besat-zungsmacht zu provozieren versuchte,um die Errichtung einer „Volksdemo-kratie Ost-Österreich“ durchzusetzen.Die Sowjetunion ließ sich jedoch nichtzum Einsatz von Waffengewalt bewe-gen, weil Moskau den Konflikt auf dieinnerösterreichische Politik begrenzenwollte. Aus der Perspektive der sowje-tischen Führung wäre eine machtpo-litische Aufwertung der KPÖ mittelseines Generalstreiks auf Kosten der Ko-alition zwar durchaus zu begrüßen ge-wesen. Ein militärisches Eingreifen, daszu einer Gegenintervention der West-mächte und letzten Endes vielleichtsogar zur Entstehung eines zu West-deutschland-Westösterreich vereinig-ten neuen NATO-Staates hätte führenkönnen, sollte jedoch vermieden wer-den.

Ebenso wie die Sowjetunion warenauch die Westmächte nicht daran in-teressiert, wenige Monate nach dem

Gescheiterte Machtergreifung der österreichischen Kommunisten 9

Ausbruch des Koreakrieges einen neu-en internationalen Konfliktherd inEuropa entstehen zu lassen. Daher ver-weigerten sie trotz mehrfacher Auffor-derung durch Bundeskanzler Figl undAußenminister Gruber jegliches Ein-greifen in der österreichischen Haupt-stadt.

In diesem Zusammenhang muss vorallem die Rolle des damaligen Vorsit-zenden der Holz- und Bauarbeiterge-werkschaft, Franz Olah, als Partner derAbwehrstrategie der Bundesregierunggewürdigt werden. Olah stellte denkommunistischen Schlägern eine 2000Mann starke, mit Holzknüppeln be-waffnete Arbeitertruppe entgegen. Eskann gar nicht hoch genug einge-schätzt werden, dass es Olah und sei-nen Männern durch ihr beherztes Ein-greifen gelang, die kommunistischenSabotage- und Gewaltakte auf ein Maßzu begrenzen, das es den westlichenAlliierten erlaubte, sich dem Interven-tionsersuchen Figls und Grubers ohneGesichtsverlust zu entziehen.

Wenn es zu einem militärischen Vor-gehen der Westmächte gegen kommu-

nistische Aufwiegler gekommen wäre,hätte dies zu einer Verschärfung desKonfliktes geführt und Zusammen-stöße zwischen dem russischen Ele-ment und den westlichen Besatzungs-mächten wahrscheinlicher gemacht.Wenn es hingegen den Kommunistengelungen wäre, die Rücknahme desLohn-Preisabkommens durch die Eska-lation der Gewalt zu erzwingen undder Bundesregierung und dem ÖGBdadurch schwere Prestigeverluste bei-zubringen, hätte dies für den Prozessder Wiedergewinnung der Souverä-nität und Freiheit Österreichs einenschweren Rückschlag mit unwägbarenKonsequenzen für die Zukunft desLandes bedeutet.

Weil Franz Olah, ab 1959 Präsident desÖsterreichischen Gewerkschaftsbundesund von 1963 – 1964 Innenminister,später alle Ämter niederlegen musste,aus der SPÖ ausgeschlossen wurde undim Jahre 1969 wegen Veruntreuungvon Gewerkschaftsgeldern zu einemJahr Kerker verurteilt wurde, erinnertsich die SPÖ heute nicht mehr gern andie große Leistung des Helden von1950.

Professor Dr. Johannes Hampel, Päda-goge und Sozialkundler, geboren inTroppau, wurde am 24. August 75 Jah-re alt. Der in Augsburg lebende Uni-versitätslehrer und Publizist war überviele Jahre Landes- und Bundesvorsit-zender der Katholischen Erzieherge-meinschaft (KEG) ebenso Vorsitzenderder Gesellschaft für christlich-jüdischeZusammenarbeit in Schwaben undführt seit 1988 das Augsburger Buko-wina-Institut, das sich dem ethnischenAusgleich vor allem in Südosteuro-pa widmet. Der Hanns-Seidel-Stiftungund ihrer politischen Bildungsarbeit istProfessor Hampel seit langem eng ver-bunden: Von 1970 bis 1973 war er Di-rektor der Akademie für Politik undZeitgeschehen und von 1972 bis 1985Chefredakteur der von der Hanns-Sei-del-Stiftung herausgegebenen POLITI-SCHEN STUDIEN.

Johannes Hampels persönliches, beruf-liches und politisches Leben ist gewissnicht typisch für unsere Zeit, die dieZeitgenossen bisweilen zu zielführen-der geistiger Monokultur zu verpflich-ten scheint. Johannes Hampels Lebenentwickelte sich auf verschiedenenparallel verlaufenden, sich aber immerwieder über geistige Weichen verbin-denden Gleisen: das Leben des gläubi-gen katholischen Christen, des enga-

gierten Pädagogen, des an der gesell-schaftlichen Basis wirkenden homopoliticus, des aus reicher, zum Teilschmerzhafter eigener Erfahrung undbreitem historischem Wissen schöp-fenden Aktivisten der Versöhnung undschließlich das Leben des Hochschul-lehrers und Publizisten, der einen rei-chen Schatz an Kenntnissen und Er-kenntnissen an seine Mitwelt weiter-geben kann.

Dass an dieser Stelle vor allem der Publizist Hampel gewürdigt wird, ob-gleich er das Lehren für den wichtig-sten Teil seiner Vita hält und un-endlich viel Zeit für sein Bemühen umdie Aussöhnung von Völkern, Ethnien,Rassen und Religionen aufgewendethat, sei damit begründet, dass Johan-nes Hampel über Jahre als Chefredak-teur die POLITISCHEN STUDIEN maß-geblich geprägt, gestaltet und be-fruchtet hat. Das aktuelle Bild der Zeit-schrift trägt deutlich den Stempel auchseines Wirkens. Unter seiner Schriftlei-tung wandelten sich die POLITISCHENSTUDIEN formal und inhaltlich voneiner frei im konservativ-liberalenRaum schwebenden, eher der kontem-plativen Würdigung politischer Vor-gänge und Entwicklungen zuneigen-den Zeitschrift, wie der MünchnerVerleger Günter Olzog sie unter der

Johannes Hampel wurde 75

Dieter Kiehl

Politische Studien, Heft 373, 51. Jahrgang, September/Oktober 2000

Dieter Kiehl12

Ägide der Münchner Hochschule fürpolitische Wissenschaften seit 1950entwickelt und zu beträchtlichem An-sehen geführt hatte, ohne freilich fes-ten wirtschaftlichen Boden unter dieFüße zu bekommen, 1972 zu „der“ Pu-blikation der Hanns-Seidel-Stiftung.

Die „freundliche Übernahme“ der Re-daktion, etwas später auch der Heraus-geberschaft bescherte der Stiftung einpublizistisches Flaggschiff, das freilichvon seinem Kapitän mit Umsicht undSensibilität geführt werden wollte. Ka-pitän Hampel hatte einen Kurs zu steu-ern, der den politischen Zielen der Stif-tung diente, ohne dass die Publikationan Kompetenz und GlaubwürdigkeitEinbußen erlitt, und er musste sich da-vor hüten, die trotz aller Nähe zwi-schen Stiftung und CSU gezogene un-sichtbare Grenze zu überschreiten undin den Geruch der Parteihörigkeit zu geraten. „Im Sinne der Satzung der Hanns-Seidel-Stiftung“, so schriebHampel damals in einem Kommentar,„geht es darum, auf der Grundlagechristlicher Auffassung vom Menschendie Konsequenzen politischen Han-delns zu überdenken und dabei diegroße Bandbreite möglicher Lösungensichtbar zu machen. Eine auf ’Partei-linie’ liegende Zeitschrift könne imGrunde niemandem dienen, weil die-ses Medium für Indoktrination das un-tauglichste ist.“

Der Kommandowechsel an Bord derPOLITISCHEN STUDIEN kam nichtvon ungefähr. Die Veränderungen inder Medienszene hatten dazu geführt,dass die ursprüngliche Publikationnicht mehr genug „Wasser unter demKiel“ hatte. Die Nachkriegszeit warvorbei; mit wachsender Eigenständig-keit hatte der neue Staat immer mehr

Aufgaben zu lösen und an diesen Lö-sungen immer mehr Bürger wie po-litisch und administrativ Tätige zu be-teiligen. Immer mehr Fachwissen wargefordert, aber auch immer mehr dieFähigkeit, über dieses Fachwissen hin-aus die großen Zusammenhänge er-kennen zu können. Beides zu ver-mitteln und dabei die Grundlagenchristlicher Weltsicht zu erhalten undzu festigen, das war jetzt die Aufgabeder POLITISCHEN STUDIEN. Es warJohannes Hampel, der das Schiff aufden neuen Kurs setzte und es überJahre auf diesem Kurs steuerte. Die POLITISCHEN STUDIEN, schrieb er1974 in einem Rückblick auf die erstePhase des Erscheinens als Publikationder Hanns-Seidel-Stiftung, hätten denEhrgeiz, eine politische Zeitschrift undnicht eine politikwissenschaftlicheZeitschrift zu sein. „Über praktischeFragestellungen Theoretiker und Prak-tiker miteinander ins Gespräch zubringen, ist eine der Aufgaben der Zeit-schrift. Was humane Arbeitswelt, Ge-

Prof. Dr. Johannes Hampel im Jahre 1994 wäh-rend einer Israel-Exkursion. Photo: privat

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rechtigkeit der Bildungschancen, Ge-wissensbindung, Nation, Deutschlandbegrifflich bedeuten, lässt sich nur mit Hilfe des theoretischen Exkursesklären; was die praktische Politik, diepolitische Pädagogik und die Mei-nungsbildung in der Öffentlichkeitdaraus folgern, muss ebenfalls in derZeitschrift zu lesen sein.“ Er empfindedankbar „Last und Lust“ der Aufgabe,eine Zeitschrift mitzugestalten, verges-sene Probleme zu erspüren, kompeten-te Autoren zu gewinnen und so die„schöpferische Spannung zwischenDenkbarem,Wünschbarem und Mach-barem beständig neu zu erzeugen.“

Zu den kompetentesten Autoren ge-hörte gewiss Johannes Hampel selbst –jenseits der schwierigen Aufgabe, einebekannte und angesehene Publikationohne Gesichts- und Gewichtsverlusteiner neuen herausgeberischen Inten-tion anzupassen. Johannes Hampel hatin den vielen Jahren seiner Arbeit für

die Stiftung und die POLITISCHENSTUDIEN immer wieder selbst zur Fe-der gegriffen, sein Wissen, seine Erfah-rungen, seine Weisheit eingebracht.Dabei sollte nicht übersehen werden,mit welcher Hingabe er sich den ande-ren selbstgestellten Aufgaben widmete:dem für ihn so wichtigen Auftrag desLehrens und dem ebenso wichtigenAuftrag des Versöhnens – auf beidenFeldern begnügte er sich nicht mit derTheorie, wie sein Engagement für dieKEG, die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und für„sein“ Bukowina-Institut beweist.

75 Jahre und kein bisschen müde?Vielleicht nicht mehr ganz so kräftig,meint Johannes Hampel. „Ich habe inmeinem Leben viele Bäume gepflanzt,Samen ausgeworfen, und es geht mir,wie Jesus es im Gleichnis beschriebenhat. Vieles davon fällt unter Dornenund auf steinigen Boden, aber manch-mal trägt er hundertfache Frucht.“

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Johannes Hampel wurde 75 15

POLITISCHE STUDIEN: In Deutsch-land hat im Sommer 2000 die Diskus-sion um den Rechtsextremismus undein mögliches Verbot der NPD hoheWellen geschlagen. Wenn man sich inEuropa umsieht, dann scheinen aberdie Erfolge rechtspopulistischer Partei-en weit augenfälliger zu sein als aus-gesprochen neonazistische Parteienund Bewegungen. Könnten Sie unszunächst erläutern, wo die Gründe die-ses Erfolges rechtspopulistischer Par-teien liegen?

Patrick Moreau: Die populistischenParteien sind für viele Wähler attraktivgeworden, weil sie es verstanden ha-ben, von den „etablierten“ Parteienvernachlässigte Themen wirkungsvollaufzugreifen. Es gelang ihnen, den Ein-druck zu erwecken, nur sie würden die

„wahren Interessen“ des Volkes vertre-ten. Zu den wichtigsten mobilisieren-den Themen gehören: die Amerika-nisierung der großen Städte mit derEntstehung von Ghettos und der Aus-breitung von Banden, mit wachsenderKriminalität, dem Auftreten inter-national operierender Mafias. Hinzukommen ökologische Bedrohungen,der Rückgang der Nationalsprache, Sittenverfall, Auflösung familiärer Beziehungen, massive unkontrollierteEinwanderung aus Osteuropa und derDritten Welt sowie die damit verbun-denen schwer lösbaren Integrations-und Finanzierungsprobleme (Renten,soziale Sicherung, Ausbildung etc.). Soziale Modernisierung und die Er-höhung der Mobilität – Auswirkungender Globalisierung – werden vor allemvon den Wählern als bedrohlich emp-

POLITISCHE STUDIEN-Zeitgesprächmit dem Politikwissenschaftler

Patrick Moreau zu der Herausforderung durch

Rechtsextremismus undPopulismus in Europa

Politische Studien, Heft 373, 51. Jahrgang, September/Oktober 2000

Patrick Moreau wurde 1951 in Wetzlar geboren und studierte Phi-losophie und Geschichte an der Universität Paris I – Sorbonne.Seine Promotion 1978 behandelte die „Kampfgemeinschaft Re-volutionärer Nationalsozialisten“ in den Jahren 1930 bis 1935.1984 habilitierte er sich am „Institut d'Etudes Politiques“ zu Pa-ris mit einer Arbeit über die SPD im politischen Leben der Bun-desrepublik Deutschland 1964 – 1976. Ein weiterer Arbeitsschwer-punkt sind kommunistische und linksextremistische Parteien inEuropa. Gegenwärtig ist er Forschungsdirektor am „Centre Natio-nal de la Recherche Scientifique“ (CNRS) in Paris und Berlin.

POLITISCHE STUDIEN-Zeitgespräch18

funden. Was die europäische Integra-tion betrifft, machen sich die populis-tischen Rechtsparteien die Furcht vorbürokratischem Zentralismus, verschärf-ter ökonomischer Konkurrenz, demVerlust der nationalen Währung undder Instabilität des EUROS zu nutze.

Manche dieser Befürchtungen sindoffenkundig schwach begründet, an-dere wiederum nur allzu gut. Die de-mokratischen Eliten haben es langeversäumt, auf die offenen Fragen zurZukunft Osteuropas und zu den Aus-wirkungen der Osterweiterung der EUklare Antworten zu geben. Niemandweiß, wie die damit verbundenenMigrationsströme gesteuert werdensollen. Die demokratischen Parteienhaben Parteien à la FPÖ mit ihremSchweigen zu Problemen dieser Art die Möglichkeit eröffnet, sich mit all-zu einfachen Rezepten Gehör zu ver-schaffen. Die Berufung auf das „an-gestammte Volk“ und sein Recht aufden „nationalen Boden“ findet beigroßen Teilen der Bevölkerung An-klang. Mit buntscheckigen ideologi-schen Angeboten haben es die Rechts-populisten verstanden, einfache, klarformulierte Antworten auf komplexeFragen zu geben. Freilich geschiehtdies auf der Basis eines Programms, dasvielfach vage bleibt und zahlreiche Widersprüche aufweist.

POLITISCHE STUDIEN: Was machtdenn Ihrer Meinung nach generell diewesentlichen Elemente dieses europäi-schen Populismus aus?

Patrick Moreau: Im Hinblick auf denWahlerfolg verzeichnen die populisti-schen Gruppierungen der extremenRechten den augenscheinlichsten Er-folg (in der Schweiz, in Österreich, in

Dänemark und in Belgien), währenddie traditionellen gewaltbereiten For-mationen à la NPD im Hinblick aufihren Wahlerfolg stagnieren. Aber wasversteht man unter Populismus? Hin-ter diesem Wort verbirgt sich nicht nureine kommunikative Beziehung zwi-schen den unterschiedlichen Führern(wie z.B. Bossi, Haider, Le Pen) mitdem Volk. Der Populismus dieser Par-teien stellt eine Mischung aus hete-rogenen Elementen dar: Wohlstands-chauvinismus, übersteigerter Natio-nalismus, Gegnerschaft zum Regimeder Parteien, zu Europa, starker Indi-vidualismus, gepaart mit dem Appellan die Prinzipien von Ordnung undMoral, die den Einzelnen und seineUmwelt (Familie, Arbeit, „natürlicheGemeinschaften“, Sprache) schützensollen. Auch wenn diese Parteien dieLegitimität der Demokratie in ihremLand nicht offen in Frage stellen, be-finden sie sich doch im Konflikt miteiner Anzahl der sie tragenden Prin-zipien. Die Zurückweisung des Staatesals Ausdruck des kollektiven Willensder Bürger, die Kritik an Repräsenta-tion und Wahlen (der Slogan „Demo-kratisierung der Demokratie“), dieFeindschaft gegenüber den Prinzipienindividueller und sozialer Gleichheitund gegenüber allen Maßnahmen, diein diese Richtung wirken, die Gegner-schaft gegenüber der sozialen Integra-tion so genannter „Randgruppen“ (z.B.von Minderheiten), die Ausbeutungfremdenfeindlicher Stimmungen unddie Stimulierung eines Rassismus derDifferenz (ein Ethnopluralismus nachdem Geschmack der „Neuen Rechten“)sind Belege für antidemokratische Ten-denzen. Die skrupellose Instrumentali-sierung kollektiver Ängste, Aversionenund Mentalitäten (abgestimmt auf dasjeweilige Milieu) bildete in den neun-

POLITISCHE STUDIEN-Zeitgespräch 19

ziger Jahren das Herzstück der popu-listischen Parteienstrategie. Gleichesgilt für den Appell an den „kleinenMann“ und an dessen so genannten„gesunden Menschenverstand“, der als„natürliches“ Gegengewicht zur „fal-schen Rationalität“ derer „da oben“hervorgehoben wird.

POLITISCHE STUDIEN: Populisti-schen Gruppierungen wird ja der Vor-wurf gemacht, sie seien politikunfähig.Setzt der Populismus also deshalb ge-zielt auf die Ängste bestimmter Teileder Bevölkerung, um diese für ihre po-litischen Ziele zu instrumentalisieren?Wo liegen hier Gemeinsamkeiten zuFaschismus und Nazismus?

Patrick Moreau: Die populistischenRechtsparteien lehnen den Moder-nisierungsprozess der europäischenGesellschaften und die damit einher-gehende Individualisierung der Le-bensstile und Verhaltensformen ab.Aus ihrer Sicht bringt diese Entwick-lung Beklemmung hervor; sie nährt oftunkontrollierbare Ängste und führt zuindividueller Orientierungslosigkeit.Die Partei bietet sich da als Auffangge-meinschaft an. Sie stellt den Wählerneine auf der Idee einer nationalenSchicksalsgemeinschaft (gegen Men-schen anderer Herkunft und Hautfarbeetc.) basierende Sicherheitsideologiezur Verfügung. Gegen die verbreiteteAkzeptanz einer sozialdarwinistischenWelt versprechen diese Parteien denMenschen, sie zum einen gegen dieHärten der Modernisierung zu schüt-zen und sie zum anderen zu Ge-winnern des Sozialdarwinismus zu ma-chen. Dies geschieht durch das vageVersprechen, man werde den Staatzwingen, die Politik zu ihren Gunstenzu ändern.

Da die Populisten wissen, dass dieAngst vor sozialer Deklassierung mo-bilisierend wirkt, setzen sie auf dieUnkenntnis der Mechanismen von Ge-sellschaft und Wirtschaft. Sie sugge-rieren ihren Wählern, alles in dendemokratischen Systemen sei falscherSchein, korrumpiert und vorgetäuscht.Die etablierten Parteien werden ange-klagt, diese Situation herbeigeführtund sie aus Profitgier zementiert zu ha-ben. Alle Hoffnungen sollen sich aufeinen neuen starken Mann richten. Ih-re Vorstellung von Stärke entlehnendiese Parteien im Übrigen nicht demNationalsozialismus (ein Führer, einepyramidale Partei), sondern eher derFähigkeit des Parteichefs „die Dinge inOrdnung zu bringen“. Dabei wird dasSystem als solches keineswegs völlig inFrage gestellt. Diese Parteien sind mit-hin keine revolutionären faschisti-schen Parteien, wohl aber eine moder-

„Die populistischen Rechtsparteien machen sichdie Furcht vor bürokratischem Zentralismus,verschärfter ökonomischer Konkurrenz, demVerlust der nationalen Währung und der Insta-bilität des EUROS zu Nutze.“ Foto: privat

POLITISCHE STUDIEN-Zeitgespräch20

nisierte Variante der rechtsradikalenGedankenwelt.

POLITISCHE STUDIEN: In welchengesellschaftlichen Bereichen könnenpopulistische Parteien denn am ehes-ten Wähler mobilisieren? Wo liegendie Ansatzpunkte für die Ansprachedieser Schichten?

Patrick Moreau: Diese populistischenParteien profitieren ohne Zweifel vonjenen Wählern, die sich vom Wandelzur Dienstleistungsgesellschaft – mitguten Gründen oder auch nicht – inihrem sozialen Status bedroht fühlen.Frustration und Angst vor ökonomi-scher Benachteiligung nähren Frem-denfeindlichkeit und begünstigen dieStimmabgabe für die extreme Rechte.

Der Rechtspopulismus beutet überdiesweitere Bruchzonen der Gesellschaftenaus – wie die Erosion der traditionellensozialen Milieus und die zunehmendeFragmentierung infolge der wachsen-den Individualisierung von sozialenund ökonomischen Risiken. Die Ab-schwächung religiöser Bindungen gehtmit einer Individualisierung von Le-bensformen und einer Erhöhung dergeographischen Mobilität einher. Erprofitiert außerdem von der Angst derMänner vor der „Befreiung der Frau“,dem Sichtbarwerden „unkonventionel-len“ Sexualverhaltens und den Orien-tierungsproblemen moralischer undsozialer Art. Die sich lockernden sozia-len Bindungen führen zu einer Ver-vielfältigung von Mentalitäten undegozentrischen Verhaltensweisen, demVerschwinden sozialer Verantwortlich-keit, zunehmender Isolierung und Ein-samkeit – vor allem in den Gebietenmit hoher Bevölkerungsdichte. All dieshat zu einer Art politischer Lähmung

bei zahlreichen Wählern geführt. In-folgedessen steigt die Wahlabstinenz,während sich die Konkurrenz zwi-schen den Parteien verschärft. Ge-wachsen ist die Zahl der Wähler, diezum Experimentieren neigen und be-reit sind, ihre Stimme neuen politi-schen Formationen zu geben. Davonprofitieren die populistischen Parteien.Sie spielen zudem mit der Angst voreiner „Ausländerflut“. Die unvermeid-lichen ökonomischen und kulturellenKonflikte zwischen Zuwanderern undEinheimischen werden zum Gegen-stand einer politischen Propaganda,die den tatsächlichen oder vermeint-lichen Folgen der „multikulturellenGesellschaft“ eine von Wohlstands-chauvinismus genährte ethnozentri-sche Weltsicht gegenüberstellt.

POLITISCHE STUDIEN: Sind dierechtspopulistischen Parteien wirklichdie neuen Arbeiterparteien, wie dasetwa für die FPÖ behauptet wurde?

Patrick Moreau: Die Stärkung derrechtspopulistischen Parteien ist aufeine Reihe einander ergänzender Fak-toren zurückzuführen, die in ihrerGesamtheit den Aufstieg des Rechts-populismus begünstigen. In den mei-sten Ländern Westeuropas lässt sichdie Herausbildung einer „Zweidrittel-gesellschaft“ beobachten, in der einDrittel der Bevölkerung nicht vom so-zial-ökonomischen Modernisierungs-prozess profitiert und langfristig vonseinen Segnungen ausgeschlossenbleibt – oder ausgeschlossen zu wer-den fürchtet. Dabei bilden die Ar-beitslosen keineswegs die privilegierteKlientel der rechtspopulistischen Par-teien. Vielmehr neigen sie eher zumRückzug aus der Politik. Sie radikali-sieren sich nur langsam.

POLITISCHE STUDIEN-Zeitgespräch 21

Nach ihrer Wählerschaft lassen sichdie erfolgreichen rechtspopulistischenParteien als „neoproletarische“ Partei-en charakterisieren. Die Überrepräsen-tation von Arbeitern und unqualifi-zierten Beschäftigten – häufig in fort-geschrittenem Lebensalter, mit niedri-gem Lebensstandard und Bildungsgrad– hat mehrere Ursachen: die sich be-schleunigende Auflösung der traditio-nellen sozialdemokratischen Milieus,das unwiderrufliche Auseinanderfallender angestammten Arbeiterkultur – ih-rer Organisationen ebenso wie ihrerbewusstseinsformenden Inhalte –, dieIndividualisierung der Verhaltensfor-men, die verbreitete Angst der „Neo-proletarier“, aufgrund ihres Alters undihrer mangelnden Qualifikation als dienächsten Opfer der Modernisierung anden sozialen Rand gedrängt zu werden.Aus eben diesen Gründen ist z.B. dieFPÖ 1996 – vor der SPÖ – zur wahlso-ziologisch führenden Arbeiterpartei ge-worden. Die Gewerkschaftsbindunghat sich auch stark abgeschwächt.

POLITISCHE STUDIEN: Es gibt abersicher noch andere wichtige Gründefür den Erfolg der FPÖ ...

Patrick Moreau: Die FPÖ hat z.B. vomÜberdruss vieler Wähler mit dem Ne-potismus, dem berühmten „Proporz“und den Manövern der Parteiführun-gen profitiert. Seit Ende der achtzigerJahre haben ferner zahlreiche Skandaledie Unzufriedenheit mit den „Etablier-ten“ verstärkt. Die politische Klasse istin vielen Ländern Europas in den Ge-ruch eigennütziger Machenschaftengeraten. Die Bürokratisierung der poli-tischen Eliten, die Tendenz zur Selbst-reproduktion, die wachsende Unfähig-keit, mit dem Bürger in klaren Wortenzu kommunizieren – all dies hat die

europäische Demokratie geschwächt.Populisten à la Haider spielen sich zumHoffnungsträger all jener auf, die ihreeigenen Interessen schlecht vertre-ten wähnen. Die Selbstausrufung zum„Anwalt des Volkes“ bildet einen kon-stanten Bestandteil der rechtspopu-listischen Propaganda.

Die rechtspopulistischen Parteien sindmehr als ihre Konkurrenten von derPräsenz und Präsentation, vor allemihrer Spitzenfiguren, in den Medienabhängig. Angesichts organisatorischerSchwächen, einer teilweise unzurei-chenden soziostrukturellen Veranke-rung und einer extremen Abhängigkeitvon den Gefühlen und Stimmungender öffentlichen Meinung, sind solcheParteien auf eine kontinuierliche Me-dienresonanz dringend angewiesen.Da diese Parteien Formationen mitstarker Abhängigkeit von einer kleinenPersonengruppe um den Parteichefsind, müssen sie sich als Medien- undTelevisionsparteien präsentieren, alseine Agentur symbolischer Mobilisa-tion, die im Diskurs einer Persönlich-keit verschiedenste Protesthaltungenund -themen zu artikulieren und aus-zubeuten sucht. Die Präsenz und argu-mentative Kraft des populistischenVolkstribunen bildet zugleich die Stär-ke und die Schwäche der Partei. OhneHaider, le Pen oder Bossi geht nichts.

POLITISCHE STUDIEN: Wir habenbereits erstaunliche Erfolge rechts-populistischer Parteien in einzelneneuropäischen Ländern erlebt. Wie se-hen die Zukunftsaussichten aus undgibt es Ansätze für die internationaleKoordination ihrer Arbeit?

Patrick Moreau: Die Existenz, manch-mal sogar der Durchbruch bei Wahlen

POLITISCHE STUDIEN-Zeitgespräch22

der extremistischen und populisti-schen rechten Parteien seit Beginn der90-er Jahre in Europa dürfen in ihrenAuswirkungen auf Politik und Verhal-ten der europäischen Gesellschaftennicht unterschätzt werden. Die Regie-rungsbeteiligung der FPÖ in Österreichwar ein Signal – der Vlaams Blok (VB)und der Front National (FNb) in Bel-gien, die Centrumdemokraten in denNiederlanden, die Front National (FN)in Frankreich, die Lega Nord in Italien,die Schweizerische Volkspartei undschließlich die Dänische Volksparteiwarten weiter auf ihre Chance. Sie allesind im Großen und Ganzen nicht zu dauerhaften Akteuren in den po-

litischen Systemen ihrer Länder ge-worden. Sie wildern ausdauernd imWählerpotenzial aller demokratischenParteien. Die internationalen Effektedieser Zuwächse an Wählerstimmensind zwar noch begrenzt, aber den-noch real. Die extreme populistischeRechte und die Wähler, die von ihremAngebot angezogen werden, wissen,dass ihre Stimmen nicht mehr verlo-ren sind. Sie sind sich dessen bewusst,dass eine „Eurorechte“ im Entstehenist, jenseits der organisatorischen Zer-splitterungen, der unterschiedlichensozialen oder historischen Veranke-rung und der Verschiedenheit derideologischen Bezüge.

Die Fragen stellte Dr. Gerhard Hirscher, Referent für Grundsatzfragen der Po-litik, Parteien und Politische Theorien der Akademie für Politik und Zeitge-schehen der Hanns-Seidel-Stiftung e.V., München.

Schwerpunktthema

Die Neue Ökonomie –Handel im Internet

v.l.n.r.: Georg Dintenfelder (Siemens), Steffen Städtler (Dr. Städtler Systemhaus), Lawrence Nell(Experdia de Reisen), Dr. Markus Söder, MdL, Dr. Roland Fleck (Stadt Nürnberg), Christian Löffl-mann (Sparkassen Verband Bayern)Zuversichtlich hinsichtlich des Erfolgs von e-commerce und e-business diskutierten die Expertenmit Vertretern des fränkischen Mittelstands.

Jedes fünfte bayerische Unternehmengeneriert heute bereits Umsatz überdas Internet. Der Internationale Wäh-rungsfonds erwartet, dass der elektro-nische Handel bis 2003 Jahr für Jahr 56% zulegen und dann ein Volumenvon 2,8 Billionen Dollar (7% desWeltsozialprodukts) erreicht wird.

Die Experten sehen im Internet vor-wiegend neue Chancen, wobei dieUmsatzerwartungen von Branche zuBranche sehr unterschiedlich sind. Derbayerische Mittelstand beklagt jedochHindernisse beim Einstieg in den elek-tronischen Handel, die er von Seitender Politik zu beseitigen wünscht: feh-lende verbindliche Zahlungsabwick-lung, mangelnde Rechtssicherheit ei-nes elektronischen Vertrags, Problemder Rechtsgültigkeit elektronischer Un-terschriften, Rücktrittsrecht und Ähn-liches. Zudem sind den meisten Un-ternehmen die Förderprogramme zumAufbau des elektronischen Handelsweithin unbekannt.

Eine kürzlich in Nürnberg durchge-führte Veranstaltung der Akademie fürPolitik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung versuchte über die Mög-lichkeiten der Internetnutzung für denHandel zu informieren und Lösungen

für die anstehenden Probleme zu dis-kutieren. Einige Kurzreferate stellenwir hier anschließend vor.

Bei den meisten Teilnehmern aus mit-telständischen Betrieben überwog dieabwartende Haltung bezüglich des Ein-stiegs ins Internetgeschäft. Besonderspositiv wurden aber die Bündlungs-aktivitäten der bayerischen Staatsre-gierung aufgenommen. Der „VirtuelleMarktplatz Bayern“ zeigt einen schein-bar sicheren Weg auf, dass E-Commer-ce auch zum E-Geschäft wird. Dervirtuelle Marktplatz Bayern ist im Prin-zip eine Reaktivierung der Genossen-schaftsidee. In diesem Konzept ist derMittelständler nicht Einzelkämpfer,sondern kann sich aufgrund der Mög-lichkeit eines nachfragegetriebenenMarktplatzes mit anderen Anbieternzusammentun. Die Betriebskosten derE-Commerce-Logistik lassen sich mini-mieren.

An Lösungen für größere Zahlungs-sicherheit wird derzeit gearbeitet. DieExperten betonten jedoch mit Nach-druck, dass im E-Commerce-GeschäftSchnelligkeit den Vorrang vor Sicher-heit haben muss und SchnelligkeitWettbewerbsvorsprung und damit Ge-winn bedeutet.

Einführung

Siegfried Höfling

Politische Studien, Heft 373, 51. Jahrgang, September/Oktober 2000

Der Mittelstand steht vor neuen Her-ausforderungen. Denn die Wirtschafts-ordnung ändert sich rasant. Die Inter-nationalisierung der Volkswirtschaftenbetrifft auch den Kernbereich der deut-schen Wirtschaft – den Mittelstand. Er-folgreiche Marktakteure müssen inter-national arbeiten und sich auf neueTransparenzanforderungen einstellen.Die Konzentrationsprozesse durch Fu-sionen erfordern neue Strukturen fürden Mittelstand, um auf Dauer erfolg-reich im Wettbewerb bestehen zukönnen. Zusammenschlüsse mittel-ständischer Unternehmer zu virtuellenUnternehmen, virtuelle Mittelstands-cluster oder Planungen über das „co-branding“ bieten ungeahnte Wettbe-werbschancen. Grundlage dieser Er-folgsmodelle ist die Vernetzung desMittelstandes über das Internet. DerMittelstand könnte als flexible Einheitder Gewinner der Internet-Entwick-lung werden. Denn die Erfolgsfaktorender digitalen Marktwirtschaft bestim-men sich nach Geschwindigkeit, Prä-zision und Wissen, nicht nach Größe,Mitarbeiterzahl oder Bilanzsumme.Wichtig ist für den Mittelstand nur,sich auf die veränderte Welt einzu-stellen.

Das Netz bietet unglaubliche Chan-cen. Allerdings erfordert es eine völlige

Neudefinition des Unternehmens. Esreicht nicht aus, das Internet als bloßesMarketinginstrument zu begreifen. DieGeschäftsidee einer jeden „company“muss auf die neuen Anforderungenhin überprüft und entsprechend posi-tioniert werden. Die Wertschöpfungs-ketten werden dadurch neu generiert.Wer das nicht tut, wird in wenigenJahren nicht mehr wettbewerbsfähigsein. Denn die ganze Welt verschmilztzu einer „business-community“. Preis,Leistung und der „after-sales-service“sind dort global transparent und ste-hen im Wettbewerb. E-commerce undE-business werden zu den Grundmus-tern der Wirtschaftsordnung. Dabeiverändern sich auch die Positionen derMarktteilnehmer.

Gewinner ist zuerst der Kunde undKäufer. Während man früher vom An-gebot des Verkäufers abhängig war,welcher sich lokal und regional prä-sentiert hat, erhält man heute Leistun-gen aus der ganzen Welt. Statt einerangebotsorientierten Wirtschaft ent-wickelt sich das Netz zu einer nach-frageorientierten Ordnung. Dadurchsinken die Preise, und der Service wirdals Wettbewerbskriterium verbessert.Kundenkartelle und „power-shopping“werden daher die Zukunft sein. Es ent-steht eine neue Gruppe von Dienst-

Das Internet als Chance für den Mittelstand

Markus Söder

Politische Studien, Heft 373, 51. Jahrgang, September/Oktober 2000

Markus Söder28

leistern, die „infomediaries“. Diesebündeln Kundenwünsche im Netz undgeben sie an die Wirtschaft weiter. An-ders als der traditionelle Großhändlerist er Vertreter des Kunden. Preisab-sprachen und lokale Monopolsitua-tionen verschwinden, und ein neuesSystem von virtuellen Kundengenos-senschaften entsteht.

Gewinner dieser Entwicklung sind ne-ben den reinen Internet-Anbieternauch die Firmen, die die Chancen desMediums für ihr „business“ nutzenkönnen. Für den Mittelstand bietensich z.B. enorme Chancen durch hoheEinsparpotenziale im Bereich Lage-rung, Logistik und Vertrieb. Durch zen-trale Steuerung können indirekte Kos-ten (Verwaltung) und firmeninterneBeschaffungskosten gesenkt, das Con-trolling effektiviert und die Zuliefer-Auswahl wirtschaftlicher ausgerichtetwerden. Durch die Zusammenarbeitmit anderen mittelständischen Unter-nehmen bilden sich größere virtuelleUnternehmenscluster, die flexibel inder ganzen Welt agieren können. Pro-fitieren kann aber nur der, der sich aufdiese neue Welt einstellt.

Dabei reicht es jedoch nicht, sich nureine Homepage einzurichten – die ge-samte Infrastruktur, das ökonomischeDenken, Vertrieb und Logistik stehenauf dem Prüfstand. Auch Führungs-kräfte müssen sich mit der Technikauskennen – der PC ist Chefsache. Dabei sind etwaige Probleme weni-ger technisch als vielmehr mental zusehen.

Wer heute jedoch die Realität ignoriert,vergreift sich an den vitalen Interessenunserer Volkswirtschaft. Das Netz ver-ändert nur die Wege, nicht die Werte.

Der „content“ der Netzangebote mussgenauso definiert werden wie bisher.Wir müssen nur lernen, die neuenMöglichkeiten optimal zu nutzen. DerMittelstand kann die Chancen erken-nen und umsetzen. Durch Aufklärung,Bewusstseinsschaffung und Consultingmuss der Mittelstand auf seinem Wegin die digitale Marktwirtschaft be-gleitet werden. Die bayerische Politikist dabei ein wichtiger Partner. In einerAntragsoffensive im Landtag fordertdie CSU eine Beratungskampagne un-ter der Federführung der Software-Offensive Bayern und Bayern-Innova-tiv zusammen mit den Kammern undVerbänden der bayerischen Wirtschaftfür E-commerce. Diese soll den Inter-net-Auftritt, die Erfassung von Wert-schöpfungspotenzialen im Netz sowieeine Zertifizierung von Internetdienst-leistern für die mittelständische Wirt-schaft umfassen.

Zudem soll Bayern den Anstoß zurEntwicklung branchenspezifischer In-ternetportale für den Mittelstand ge-ben. Dadurch entstehen gemeinsamemittelständische Einkaufs- und Han-delsplattformen. In einer spezifischenForm sind dabei „Digiregios“ zu etablie-ren, d.h. bayerisch-tschechische oderbayerisch-italienische Mittelstandspor-tale, um über neueste Spracherken-nungs- und -übersetzungssoftware dieAnbahnung von Geschäftsbeziehun-gen zu erleichtern. Für den Mittelstandsollen E-commerce-Kompetenzzentrenaufgebaut werden, die vor Ort alsTechnologiezellen und Mittelstands-parks virtuelle Anbieter räumlich undlogistisch verbinden. Um den Anreizzur Umstellung zu erhöhen, ist an ei-nen „digitalen business-plan-wettbe-werb“ zu denken, der die effektivstenUmstrukturierungen prämiert.

Das Internet als Chance für den Mittelstand 29

Neben der Umstellung der unterneh-merischen Führung bedarf es zudemeiner breit angelegten Qualifizierungs-offensive für Mitarbeiter. Dazu sindvom AK Wirtschaft der Landtagsfrak-tion umfangreiche Initiativen gestartetworden. Dies gilt im Übrigen für alleMitarbeiter, denn nur wenn eine Ge-sellschaft voll technisiert ist, bleibt sie

im Spiel des 21. Jahrhunderts top. ImBereich der Wissensgesellschaft ist jetzt„time-to-market“, also die Zeit zur Ent-scheidung.

In wenigen Jahren haben sich die Wett-bewerbsstrukturen etabliert. Der Mit-telstand hat die besten Chancen dabei– sie müssen nur genutzt werden.

1. Einführung

Um die Antwort gleich vorweg zu ge-ben:„Otto Normalsurfer“kommt nicht –er ist schon millionenfach da: 4 Mio.Deutsche haben schon einmal on-line gekauft. Es gibt bereits Studienüber das Kaufverhalten der „Ottos“, jenachdem über welchen Provider derEinstieg ins Internet erfolgt (T-Online,AOL, etc.). Aber es wird für die Markt-forschung dennoch wesentlich schwie-riger werden, weil sie es in Zukunftnicht mehr mit „Otto Normalverbrau-cher“ zu tun hat, sondern dem „hybri-den Kunden“. Der Kunde fährt mitdem Mercedes preisbewusst zu Aldiund besucht anschließend eine sünd-haft teure Vernissage.

2. Wie werden sich die Dingeentwickeln?

Während das Radio 38 Jahre brauchte,um 50 Mio. US-Haushalte zu errei-chen, schaffte das Fernsehen dieseMarke in nur 13 Jahren. Das Internetbrauchte dafür keine fünf Jahre. Unddie Entwicklung in Europa läuft ana-

log. Es gab 1997 acht Millionen Inter-netnutzer, 1998 bereits 15 Millionen,und wir werden die 50 Mio. spätestens2003 erreichen. Die Marktdurchdrin-gung läuft mit einer irren Geschwin-digkeit ab, so dass es für die Unter-nehmen – gerade im Mittelstand –allerhöchste Zeit ist aufzuspringen, umnicht überrollt zu werden.

Man kann davon ausgehen, dass dieelektronischen Medien eine Basisinno-vation sind, vergleichbar der Dampf-maschine oder dem Mikrochip, die dievorhandenen Wirtschaftsstrukturenstark verändern werden. Das gilt so-wohl für die B2B-Beziehung (businessto business) als auch für B2C, denHandel via Internet. Der momentaneNutzungsschwerpunkt liegt zwar nocheindeutig auf der B2B-Seite (85% An-teil), aber die Dynamik liegt vor allemin der B2C-Entwicklung.

Nun könnte sich der Handel zunächsteinmal gelassen zurück lehnen: DerEinzelhandelsumsatz via Internet be-trug 1998 mit rund 1 Milliarde DM ge-rade mal 0,2% des gesamten Einzel-handelsumsatzes (722 Mrd.). Aber 1999

Kommt „Otto Normalsurfer“?

Entwicklung und Bedeutung des elektronischen Handels

für die Wirtschaft

Hans-Joachim Lindstadt

Politische Studien, Heft 373, 51. Jahrgang, September/Oktober 2000

Hans-Joachim Lindstadt32

wurden bereits 3 Milliarden erreicht,für 2001 rechnet man mit 20 – 25 Mil-liarden Umsatz. Die Zahlen fallen jenach Studie etwas unterschiedlich aus,aber die Entwicklungsdynamik wirdvon allen bestätigt.

Für uns als Kammer bedeutet dies, dasswir unsere 80.000 Mitgliedsfirmenüber solche neuen Entwicklungen in-formieren, sensibilisieren und konkre-te Unterstützung anbieten müssen.Das tun wir auch in großem Umfang.E-business ist derzeit ein Kernthemader IHK. Wir bieten hier eine Vielzahlvon Informationsveranstaltungen, Se-minaren, Anwender-Clubs, Erfa-Kreiseetc. an. In diesem Zusammenhang haben wir auch Ende 1999 eine reprä-sentative Umfrage bei eintausend un-serer mittelfränkischen Firmen durch-geführt. Das Ergebnis zeigt eine ins-gesamt gute Beteiligung am Internet,wobei die Region Nürnberg etwas hin-ter dem Raum München zurückliegt.Sorge bereitet allerdings, dass der mit-telständische Einzelhandel rund 20Prozentpunkte hinter den Internetak-tivitäten von Industrie und Dienstleis-tern zurückliegt. Die Kammer wird sichdeshalb besonders um diese Zielgruppebemühen.

3. Strukturwandel durch E-commerce

Wir gehen davon aus, dass die zuneh-mende Marktdurchdringung bei B2Bund mehr noch bei B2C starke Verän-derungen in der Wirtschaftsstrukturhervorrufen wird. Erste Anzeichen sindbereits deutlich zu erkennen. Generellzeichnet sich die WirtschaftsregionNürnberg durch einen massiven Struk-turwandel von einer Industrieregion

zur Dienstleistungsgesellschaft aus. Inden letzten 20 Jahren haben sich dieBeschäftigungsanteile mehr als umge-kehrt.

Wir haben heute 60% der Arbeitsplät-ze im Dienstleistungssektor, und dieDynamik nimmt in den letzten Jahrenzu. Hohen Anteil hat hieran die IuK-Branche. Nach einer aktuellen Studiehaben wir inzwischen rund 8.000 Unternehmen in diesem Bereich in der Region, und der Sektor „New eco-nomy“ boomt: Namen wie consors,WWL, Computec, Bintec, Waveligtoder Atrada stehen auch für denunmittelbaren Internet-Bezug dieserBranche. Die Region hat nach unsererEinschätzung hervorragende Startbe-dingungen für die Internetzukunft.

4. Pilotprojekte

Wir haben mit Media@Komm und E-commerce bei zwei bundesweitenWettbewerben gewonnen, aus deneneine Reihe von Pilotprojekten wie RegioSign-Card, Franken Mall oder Kegom initiiert werden. Und wir sindselbstverständlich beim „VirtuellenMarktplatz Bayern“ mit dabei.

5. Firmenbesatz

Wir haben zum anderen über unsereHochschulen und über unseren Fir-menbesatz mit der starken IuK-Ge-wichtung eine sehr gute vorhandeneWirtschaftsstruktur, auf der wir auf-bauen können. Eine besondere Bedeu-tung kommt dabei sicherlich Kar-stadt und Quelle zu. E-commercegehört für den Versandhandel zurKernkompetenz. Bestellannahme, La-

Kommt „Otto Normalsurfer“? 33

geraufbau, Kommissionierung, Ver-packung, Versand, Debitoren-Manage-ment, Retouren und Garantieabwick-lung sind Arbeitsvorgänge, die für denFernabsatz zum täglichen Geschäftgehören. Ein Blick auf die Topsites inDeutschland zeigt dann auch den Ver-sandhandel auf den Plätzen vier bissechs.

6. Wie werden sich die Strukturen verändern?

Durch die elektronischen Medien wer-den sich die Wertschöpfungskettenverkürzen. D.h. die direkte Beziehungzwischen Hersteller und Kunden wirdsich verstärken. Den größten Druckwird dabei der intermediäre Handel be-kommen: Großhandel, Handelsver-treter, also die zwischengeschaltetenHandelsstufen. Im stationären Einzel-handel wird sich die Konkurrenzsitua-tion verschärfen. Insbesondere derPreisdruck wird über die globale Infor-mationsmöglichkeit erheblich zuneh-men. Allerdings besteht für die meis-ten auch die Chance, sich dabei zubeteiligen. Mittlerweile gibt es hierzahlreiche Angebote durch externeDienstleister. Für kleine mittelständi-sche Einzelhandelsbetriebe, die dentechnischen, organisatorischen und fi-nanziellen Aufwand scheuen, gibt esfertige Produktpakete zu kaufen. DasPaket umfasst die Internetseiten fürden Shop mit bis zu 500 Artikeln, denEintrag in die großen Suchmaschinen,Adress- und Bonitätsprüfung, das Be-stellmanagement, die Versendung derWaren, die Sendungsverfolgung, dieHausabholung und die Zahlungsab-wicklung. Das ist E-commerce lightmit monatlicher Grundgebühr undsendungsabhängigem Entgelt.

Es werden auch nicht die Großen dieKleinen fressen, sondern die Schnellenund Wendigen werden die Nase vornehaben, und es gibt größere Markt-chancen auch für Nischenanbieter. DieChancen sind da. Nur muss man sieauch nutzen. Ein professionell gestal-teter passiver Internetauftritt ist für20.000,– DM zu haben, Interaktivitätist allerdings wesentlich teurer. Abergerade der Mittelstand kann überregionale oder Branchenportale gutkooperieren und sich damit die Kostenteilen.

7. Rechtliche/politische Aspekte

Wir haben für den Internet-Handel ei-nen sehr hohen Harmonisierungsbe-darf weltweit, aber insbesondere inner-halb der EU. Bisher gilt in der EU dasHerkunftslandprinzip, jeder unterliegtseinen nationalen Regelungen. Daswar wohl auch „auf die Schnelle“nicht anders zu regeln. Die Folgen sindaber sehr unterschiedliche Start- undMarktchancen. Wir haben in Deutsch-land das mit Abstand differenziertesteWettbewerbsrecht. Erste Auswirkungendes Internets sind bereits zu sehen: Ra-battgesetz und Zugabeverordnung wer-den wohl in Zukunft entfallen. Das istauch grundsätzlich richtig, aber wich-tig erscheint mir, nicht ein „race to thebottom“ zu bekommen.

Wir brauchen Mindestregelungen zumSchutz des Mittelstandes und des Ver-brauchers. Was passiert, wenn mannicht harmonisiert, zeigt ein Beispielaus dem Sport. Man stelle sich folgen-des Szenario vor: Bei der Fußball-Euro-pameisterschaft treten die Portugiesenmit 13 Spielern an, die Franzosen dür-fen unbegrenzt auswechseln, die Ita-

Hans-Joachim Lindstadt34

liener spielen mit zwei Torhütern, unddie Niederländer bekommen für dreiEckbälle einen Elfmeter. Das ganzeklingt zwar sehr lustig, ist aber bei denWettbewerbsbedingungen innerhalbder EU tatsächlich so. Die Großen kön-nen dadurch reagieren, dass sie sichAuslandstöchter zulegen, für den Mit-telstand ist dies aber kaum möglich.

Zweiter Aspekt: Die Gefahr der Überre-gulierung. Bei der rechtlichen Neu-regelung des E-commerce zeigt sichaber auch die Gefahr einer möglichenÜberregulierung. Warum beispielswei-se die Ordnung des Adressraums durchRegierungsorganisationen und nichtmehr durch die Privatwirtschaft erfol-gen soll, ist nicht ganz verständlich.Ich sehe in diesem Zusammenhangauch die große Gefahr einer zusätz-lichen Besteuerung des Internets. Ei-gentlich war es immer so, ob Zündhöl-zer oder Benzin, bei Massen-Artikelnhaben die öffentlichen Hände diesesehr gerne mit aufgehalten. In denUSA ist übrigens der Internet-Han-del gegenüber dem stationären Han-del steuerlich sogar begünstigt (bis2006), um die Entwicklung voranzu-treiben.

8. Technologische Entwicklung

Hier sehe ich für die Wirtschaft insbe-sondere zwei wichtige Aspekte:

� Zum einen die Verbesserung der Da-tensicherheit. Der „I love you Virus“hat uns die Anfälligkeit und den da-mit verbundenen volkswirtschaftli-chen Schaden drastisch vor Augengeführt (zwei Milliarden Dollar plus8 Milliarden Dollar Folgeschäden).Mit zunehmender Verbreitung vonE-business wird die Datensicherungumso wichtiger.

� Zweiter wichtiger Aspekt: die digi-tale Signatur, d.h. die beglaubig-te rechtsverbindliche Unterschrift.Es wäre eine entscheidende Ver-besserung, wenn man in Zukunft Kfz-Zulassungen oder Carnets beider IHK via Bildschirm erledigenkönnte. Wir entwickeln derzeit eineRegio-Sign-Card im Rahmen desmedia@Komm-Wettbewerbs, mit derall diese Dinge vom Schreibtisch/Wohnzimmer aus erledigt werdenkönnen (Zeitersparnis, Verkehrsent-lastung). Auch hier haben wir fürunsere Region durchaus die Chance,an der Spitze mit zu marschieren.

Das Internet wird nicht nur die Preis-vorteile eines weltweiten Wettbewerbsfür den Kunden bringen, sondern aucheinen weiteren Aspekt. E-commercewird den Handelskuchen neu vertei-len. Es bietet für den Handel insgesamtaber auch die Chance, seinen Konsum-anteil am verfügbaren Haushaltsein-kommen gegenüber anderen wenigerinternetfähigen Ausgaben zu erhöhen.

Die Bayerische Staatsregierung un-ternimmt seit 1994 im Rahmen derInitiative BayernOnline große An-strengungen, Bayern zügig und nachMöglichkeit schneller als andere Staa-ten und Regionen in die Telekommu-nikationsgesellschaft zu führen. Mitrund 150 Millionen DM wurden über50 Pilotprojekte initiiert, die ein Pro-jektvolumen von über 500 MillionenDM umfassen und Module aus allenLebensbereichen darstellen, die jetzt in den Virtuellen Marktplatz Bayern(VMB) einfließen sollen. Der VMB solldabei die virtuelle Ebene der Telekom-munikationsgesellschaft zur Unterstüt-zung unserer physischen Welt wider-spiegeln. Mit der Realisierung des VMBfindet die Initiative ihren Abschluss.Die folgenden 10 Thesen sollen dieGrundüberlegungen wiedergeben, diezur Initiierung des VMB geführt ha-ben. Danach soll dies schwerpunkt-mäßig näher erläutert werden, ohnedabei aber wirklich in die Tiefe gehenzu können.

1. Zehn Thesen

� Der Marktplatz ist seit jeher der öf-fentliche Ort zum Austausch vonWaren, Informationen und Dienst-leistungen, einschließlich der Ange-

bote der Öffentlichen Hand für dieBürger. Er dient damit der Befriedi-gung der Bedürfnisse der Marktteil-nehmer.

� Die Bedürfnisse der Marktteilneh-mer treffen sich grundsätzlich: DieAnbieter sind zufrieden, wenn dieangebotenen Leistungen nachge-fragt werden, die Kunden, wenn ih-re Nachfrage zielgenau befriedigtwird. Ein fairer Handel wird vonbeiden Seiten prinzipiell akzeptiert.

� Die Problematik liegt darin zu er-mitteln, wer die gesuchten Leistun-gen anbietet, wer die angebotenenLeistungen nachfragt und ob Leis-tung und ggf. Gegenleistung als fairzu bezeichnen sind. Je größer dieZahl der vergleichbaren Angebotebzw. Nachfragen, umso leichter istLetzteres. Notwendig ist hierfür eintransparenter Markt.

� Transparenz bedeutet für die Anbie-ter optimale Informationen über dieBedürfnisse und Vorlieben der Kun-den sowie über die Angebote derKonkurrenz, für die Kunden opti-male Informationen über die Ange-bote des Marktes.

� Der Betreiber des Marktplatzes istfür einen funktionierenden Markt-platz verantwortlich. Er sorgt für ei-nen diskriminierungsfreien Zugangzum Marktplatz, für rechtmäßiges

Der Virtuelle Marktplatz Bayern –Ein All-Winners-Game?

Hans-Joachim Heusler

Politische Studien, Heft 373, 51. Jahrgang, September/Oktober 2000

Hans-Joachim Heusler36

Verhalten der Marktteilnehmer, fürWettbewerb und Transparenz.

� Der herkömmliche, dem einzelnenMarktteilnehmer zugängliche Marktleidet sowohl auf der Angebots- alsauch auf der Nachfrageseite untermangelnder Vielfalt und mangeln-der Transparenz, und hieraus resul-tieren suboptimale Ergebnisse beihohen Transaktionskosten für dieMarktteilnehmer.

� Das Internet bietet die theoretischeMöglichkeit des Zugangs zur Ge-samtheit aller Angebote und Nach-fragen dieser Welt bei optimalerTransparenz. In der Praxis werdensich dennoch immer gewisse Gren-zen ergeben, weil nicht jeder Anbie-ter seine Leistung gegenüber jedemKunden erbringen kann.

� In der Praxis ist erst ein kleinerBruchteil aller Angebote und Nach-fragen dieser Welt über das Interneterreichbar. Doch schon jetzt über-fordern insbesondere die Informa-tionsmöglichkeiten die Teilnehmerdes virtuellen Internet-Marktes.

� Die Überforderung hat ihre Ursachedarin, dass die Inhalte des Internetsnicht im Sinne eines Data-Ware-house strukturiert sind.

� Ein virtueller Marktplatz, der dieBedürfnisse der Marktteilnehmerbesser befriedigt als die herkömm-lichen Märkte, ist realisierbar. DerVirtuelle Marktplatz Bayern soll diesdemonstrieren.

2. Die herkömmlichen Märkte –relativ effizient

Erhebungen in den USA haben erge-ben, dass ein Großteil aller Produktin-formationen, die der Konsument tag-täglich erhält, an seinen tatsächlichen

Bedürfnissen vorbeigeht. Untersuchun-gen sprechen von Streuverlusten inHöhe von 98 Prozent. Und dennochnützen die Unternehmen diesen Wegzum Kunden, weil es bisher keinenbesseren gab. Um einen ersten Ver-kaufserfolg bei einem Konsumenten zuerzielen, benötigt ein Anbieter er-heblich mehr Versuche, als wenn erüber den betreffenden Kunden opti-mal informiert wäre. Die Akquisitions-kosten sind demnach höher, als siesein müssten. Auch wenn die schlech-te Response-Rate für die Anbieter letzt-lich immer noch wirtschaftlich ist, sokönnte mit einer höheren Treffer-quote die Wirtschaftlichkeit deutlicherhöht werden.

Bei näherem Hinsehen wird deutlich,dass eine höhere Trefferquote im In-teresse nicht nur der Anbieter, sondernauch der Konsumenten und sogar desStaates läge:

� Durch eine höhere Trefferquotekönnten unsere Unternehmen undsonstigen Anbieter sowohl ihrenUmsatz bzw. ihre Produktivität er-höhen als auch ihre Marketing- undVertriebskosten senken.

� Die Nachfrager wiederum wärendankbar, wenn sie von ungewoll-ter Information befreit würden und durch gezielte Informationengleichzeitig ihren Transaktionsauf-wand, d.h. ihren zeitlichen und fi-nanziellen Aufwand bei der Beschaf-fung von Information, Waren undDienstleistungen, einschließlich Be-hördengänge, senken könnten.

� Eine höhere Marketingeffizienz ver-bessert die Wettbewerbsfähigkeit ge-rade auch im internationalen Wett-bewerb. Hiervon profitiert nicht nurdas Unternehmen, sondern auch un-

Der Virtuelle Marktplatz Bayern – Ein All-Winners-Game? 37

sere Volkswirtschaft. Hinzu kommt,dass Ressourcen eingespart werdenkönnen, die anderweitig verwendbarsind. Entsprechendes gilt für dieBehörden, die effizienter arbeitenkönnen, was dem Ziel einer schlan-ken und dennoch bürgerfreundli-chen öffentlichen Verwaltung zu-gute kommt.

� Eine höhere Konsumenten- undBürgerzufriedenheit ist sowohl imInteresse der Anbieter als auch desStaates.

3. Das Internet – der Traum vom friktionslosen Markt

Das Internet hat die Hoffnung vomfriktionslosen Markt genährt. Es er-scheint auf den ersten Blick geradezuideal, die Adressaten von Informatio-nen, Produkten und Dienstleistungenzu minimalen Kosten direkt anzuspre-chen. Der Nachfrageseite bietet das In-ternet die theoretische Möglichkeit,sich aus diesem umfassenden Angebotdas geeignetste herauszusuchen.

In der Praxis zeigt sich das Internet je-doch nicht als der gewünschte trans-parente Markt, sondern als riesiger ungeordneter und undurchschauba-rer Wühltisch, in den der suchendeMarktteilnehmer mit viel Mühe erstOrdnung bringen muss. Dies ist abge-sehen von der nötigen intellektuel-len Leistung zeitaufwendig und inDeutschland mangels Flatrate beliebigteuer. Hinzu kommt auf Anbieter- undNachfrageseite ein gewisses Misstrauenhinsichtlich der Sicherheit von Trans-aktionen über das Internet. Das bedeu-tet, dass die heimischen Marktteilneh-mer das Internet für die Beschaffungvon Informationen, Waren und Dienst-

leistungen in geringerem Maße nut-zen, als dies möglich wäre. Untervolkswirtschaftlichen Gesichtspunk-ten ist dies als ineffizient zu bewerten.Für den Staat ergibt sich daher die Auf-gabe, solche Hemmnisse zu beseitigen.

3.1 Wie kommt Ordnung und Transparenz ins Internet?

Verschiedene Unternehmen habenSuchmaschinen und virtuelle Ein-kaufszentren installiert, die es für denKonsumenten schon heute lohnendmachen, Informationen, Produkte undDienstleistungen über das Internetnachzufragen. Er profitiert durch Zeit-ersparnis und auch günstigere Ein-kaufsergebnisse, sei es vom Preis odervon der Passgenauigkeit des Produktes.Diese Hilfsmittel haben auch für dieAnbieter von Waren und Dienstleis-tungen Vorteile gebracht: Die Kostender Zustellung von Produktinformatio-nen an Konsumenten mit Netzzugangwurden wesentlich gesenkt. Immermehr Produktgruppen werden identifi-ziert, die es für den Verkäufer lohnens-wert machen, das Internet als Mar-ketingplattform zu nutzen. Die mo-derne IuK-Technik ermöglicht es dar-über hinaus, ohne größeren Aufwand– allerdings unter Beachtung der ein-schlägigen Vorschriften – konkreteoder abstrakte Kundenprofile zu erstel-len, welche die Marketingbemühun-gen wesentlich erleichtern.

Durch die wachsende Zahl von Netz-teilnehmern wird der Wert der Nut-zung des Internets für Anbieter undKonsumenten überproportional gestei-gert (Netzwerkeffekt). Gleichzeitig er-geben sich hierdurch für die Netzteil-nehmer Amortisationseffekte, weil die

Hans-Joachim Heusler38

Teilnahmekosten auf immer mehrTransaktionen verteilt werden. DieNutzung des Netzes wird daher mit zu-nehmenden Teilnehmerzahlen interes-santer.

Dies bewirkt eine Zunahme der Nut-zungsfrequenz durch den einzelnenNetzteilnehmer. Hierdurch wiederumergeben sich Lerneffekte, welche dieEffizienz der Teilnahme am Internet er-höhen und erneut einen Anreiz für zu-sätzliche Netznutzung erzeugen.

3.2 Die Kehrseite des Erfolges

All dies hat aber Schattenseiten, diedas Interesse an der Nutzung des In-ternets durch die Marktteilnehmer zu-nehmend reduzieren können, denndie wachsende Zahl der Netzteilneh-mer und Angebote überfordert dieheute gängigen Hilfsmittel des Inter-nets. Direktmarketing per Internetwird für die Konsumenten zur Beläs-tigung („spam“) und erzeugt – wasWunder – bei den Netzteilnehmern be-reits heftige Abwehrreaktionen, die bis in die Gerichtshöfe hinein reichen.

Gleiches gilt für das heimliche Erstel-len von Nutzerprofilen durch Internet-Unternehmen.

Allen Hoffnungen zum Trotz, wie siesich auch in den Börsennotierungenwiderspiegeln, hat sich das Internet da-her bisher nicht als Marketingwunder-waffe bestätigt und den Traum vomfriktionslosen Markt nicht erfüllt.

Der Erfolg des Internets und seiner In-strumente ist die Ursache dafür, dassdiese Instrumente nicht mehr erfolg-reich sind.

3.3 Verbesserung der Transparenzzwischen Konsumenten undUnternehmen

Zusammenfassend lässt sich feststellen:Der Bedarf für eine Optimierung derMarktwirtschaft im Sinne einer Ver-besserung der Markttransparenz zurReduzierung der Transaktionskosten ist vorhanden. Die herkömmlichenMarktinstrumente sind weitgehendausgereizt. Das Internet ist weder heu-te noch künftig ein Ersatz für die exis-tierenden Märkte. Es bietet aber nachAnsicht vieler die Voraussetzungen füreine Ergänzung der herkömmlichenMärkte, die zu einem Optimierungs-schub für unsere Marktwirtschaft füh-ren wird.

In den USA wird bereits über einenneuen Unternehmenstyp diskutiert,der unter Nutzung des Internets dieRolle des Mittlers zwischen Konsu-menten und Unternehmen spielenund die Vorteile des Internets bei Aus-blendung der Schattenseiten für beideSeiten nutzbar machen soll: der Info-mediary (vgl. Hagel,John/Singer, Marc:Net Worth: shaping markets when cu-stomers make the rules, Boston, MA,1999).

Auch nach Ansicht der BayerischenStaatsregierung ist es erforderlich, dieTransparenz zwischen Konsumentenund Unternehmen zu verbessern unddas Internet hierfür einzusetzen. DieStaatsregierung wird jedoch nicht war-ten, bis sich ein Unternehmen findet,das den Infomediary spielt, sonderneinen Weg gehen, der das staatlicheZiel eines optimal funktionierendenMarktes verfolgt, dabei die Mentalitätder hiesigen Bevölkerung berücksich-tigt und dennoch eine privatwirt-

Der Virtuelle Marktplatz Bayern – Ein All-Winners-Game? 39

schaftliche Abwicklung gewährleistet:den Aufbau des „Virtuellen Marktplat-zes Bayern“. Dabei verspricht sich dieStaatsregierung ein „All-Winners-Ga-me“. Ob es ein solches wird, hängt vonden Beteiligten ab. Es könnte Verlierergeben, nämlich all diejenigen, die die-se neue Plattform nicht, zu spät odernicht richtig nützen.

4. Die Lösung: Der VirtuelleMarktplatz Bayern (VMB)

Damit der Marktplatz aber auch ge-nutzt wird, muss er nach den Be-dürfnissen seiner Kunden geschnittensein. Dabei sind Kunden des VMB so-wohl Anbieter als auch Nachfrager. Zuberücksichtigen ist, dass alle Anbieterauch potenzielle Nachfrager sind undumgekehrt. Inhaltlich soll der virtuelleMarktplatz im Sinne eines klassischenMarktplatzes möglichst alle Angele-genheiten des täglichen Lebens un-terstützen, einschließlich der Behör-dengänge. Trotz der zu erwartendenVielfalt soll der Marktplatz funktionellso ausgestattet sein, dass er sich für al-le Teilnehmer als „one-stop-shop“ dar-stellt.

Im Hinblick auf das Erfordernis vonbester Kundenorientierung sind diver-se Dienste denkbar, etwa Kommunika-tionsdienstleistungen, wie die Ange-bote eines Internet-Serviceprovidersoder von Telekommunikationsunter-nehmen im Sprach-, Daten- und Fax-bereich, um den Anbieter beim Mar-keting zu unterstützen. Kundenorien-tierung ist auch gegenüber den Konsu-menten angezeigt. Hierzu gehörenzum Beispiel eine selbsterklärende Be-nutzerführung beginnend mit einerSchritt-für-Schritt-Hilfe, eine Demo zur

Information über die Möglichkeiten,die der Marktplatz bietet, eine perma-nent zur Verfügung stehende Hilfe-funktion und auch ein ansprechendesLayout; denn der Kunde soll sich wohlfühlen auf seinem Marktplatz.

Dem Wohlfühlen dient vor allem diePersonalisierung des Portals, d.h. zuge-schnitten auf seinen Wohnort und sei-ne persönlichen Interessen. Was die Ge-schäfte des täglichen Lebens betrifft,kannausdem Gesamtangebotdes Markt-platzes ein individuelles Angebot her-ausgefiltert werden. Die Personalisie-rung gelingt umso besser , je mehr An-gaben der Marktplatzkunde dem Markt-platzbetreiber hierzu überlässt. Zusätz-lich sollte der Marktplatzkunde dieMöglichkeit haben, sein Portal an seinepersönlichen Vorlieben und Bedürfnis-se selbst anzupassen, insbesondere wasdie Zusammenstellung seines persönli-chen Einkaufszentrums betrifft.

Zur Kundenorientierung gehören kom-fortable Suchfunktionalitäten. Inso-weit hat sich das Lebenslagenprinzipbewährt, das – kombiniert mit Cross-Selling-Angeboten – beiden Seiten,dem Anbieter und dem Kunden, opti-male Ergebnisse bringt. Aber auch an-dere Formen des Themeneinstiegs wer-den von den Nutzern geschätzt. Fürgewisse Anlässe erwartet der Suchendeeinen geografischen Einstieg. ZumStandard gehört außerdem eine Such-maschine, die dem Nutzer weiterhilft,wenn er mit einem spontanen Begriffzum Ziel kommen will, etwa weil erüber die sonstigen Suchfunktionennicht erfolgreich war. Dies gilt vor al-lem auch für Angebote außerhalb desstrukturierten Marktplatzes im offenenInternet. Für die Suche innerhalb desVMB kann der Betreiber naturgemäß

Hans-Joachim Heusler40

einen erhöhten Komfort bieten, wieFreitextsuche, Produktkategoriesuche,Schlagwortsuche, Eingabe einer Frageoder Sortierung nach Domains. Diefortschreitende Technik und findigeKöpfe erlauben immer intelligentereSuchmaschinen.

4.1 Einrichtung von regionalen vir-tuellen Marktplätzen (RVM)

Die Erfahrungen aus dem Bürgernetz-Projekt der Bayerischen Staatsregierungzeigen, dass die Nachfrage nach Infor-mationen überwiegend das örtlicheund regionale Umfeld betrifft. Dahererschien eine Regionalisierung desVMB erforderlich. Dies soll dadurch er-reicht werden, dass unter dem Dachdes VMB regionale virtuelle Markt-plätze (RVM) mit eigenen Subdomainsnach dem Muster „www.Name derzentralen Stadt.baynet.de“ eingerichtetwerden sollen. Als adäquate Strukturwurde die Gliederung Bayerns in Land-kreise und kreisfreie Städte übernom-men, wobei eine Kooperation vonLandkreis und angrenzender kreisfrei-er Stadt angeregt wurde. Hinsichtlichder Kooperationen wurde den dezen-tralen Partnern freie Hand gelassen.Dies gilt auch für die Wahl der jeweili-gen Subdomains.

Aufgabe des Betreibers des VMB ist es,die dezentralen Marktplätze in denVMB möglichst dergestalt zu integrie-ren, dass sich die Inhalte aller ver-knüpften Marktplätze dem Kunden alsein durchgängiges Angebotssortimentdarstellen. Hierzu hat er ein schlüssigesund Erfolg versprechendes Integra-tionskonzept vorzulegen. Eng damitverknüpft sind ein schlüssiges Marke-ting- und Vertriebskonzept sowie ein

schlüssiges Realisierungs- und Be-triebskonzept.

Ein solches Integrationskonzept um-fasst eine gemeinsame Domainver-waltung unter Berücksichtigung einerzentral/dezentralen Domainstruktur.Erforderlich sind weiter ein standardi-siertes Verlinkungskonzept, standardi-sierte Navigationsregeln sowie standar-disierte Datenmodelle und -strukturen.Aus Praktikabilitätsgründen muss einedezentrale Inhaltspflege möglich sein.Die Berechtigungsstruktur hierfür mussdie Zuständigkeiten klar widerspiegelnund unberechtigte Änderungen vonInhalten verhindern.

4.2 Bestandteile des VMB und der RVB

Alle Marktplätze, der VMB und dieRVM, sollen folgende vier Bestandteileumfassen:

� ein möglichst vielfältiges Bündelvon Angeboten (kommerzielle,nicht-kommerzielle, einschließlichBehördenwegweiser, und Commu-nity-Angebote),

� Instrumente zur Unterstützung derMarktteilnehmer (z. B. elektroni-sches Beschaffungswesen oder „vir-tuelle Marktbegleiter“),

� sichere Zahlungssysteme und � ein Logistikkonzept, um die Belie-

ferung der Marktteilnehmer mitGütern zu optimieren.

Im Hinblick auf die Bedürfnisse derMarktkunden braucht der Betreiber desVMB ein integriertes Sicherheitskon-zept, das sowohl den VMB als auch dieRVM umfasst. Dieses sollte mit Zertifi-zierungsfunktion und der Möglichkeit

Der Virtuelle Marktplatz Bayern – Ein All-Winners-Game? 41

digitaler Signatur ausgestattet werden,sobald die gesetzlichen Rahmenbedin-gungen hier eine breite Anwendungermöglichen. Nötig ist weiterhin einintegriertes Zahlungssystem, das gesi-cherte Transaktionen auch über dieGrenzen der RVM hinaus garantiert.Für ein in sich schlüssiges Gesamtan-gebot sollte der VMB-Betreiber inso-weit als Clearingstelle für die RVM die-nen. Sinnvoll ist ferner einLogistikkonzept für den VMB, dasauch die Logistikbedürfnisse der RVMunterstützt.

Zentrale Mehrwertdienste

Da keine der angeschriebenen Kom-munen gezwungen werden kann undsoll, einen RVM zu errichten und zubetreiben bzw. betreiben zu lassen, derden Kriterien der Ausschreibung ent-spricht, sollte der Betreiber des VMBauch eine Einbindung anderer, nichtVMB-konformer RVM anbieten mitdem Ziel, den Regionalbetreiber mög-lichst bald zu einer Integration zu be-wegen. Hierzu bedarf es attraktiverzentraler Mehrwertdienste. Diese sindaber auch zur Erhöhung der Akzeptanzund Verstärkung der Bindung zwi-schen dem VMB und dem bereits inte-grierten RVM sinnvoll, wenn sie vomBetreiber des VMB besser und/odergünstiger angeboten werden könnenals vom dezentralen Betreiber. Diesentlastet die RVM-Betreiber sowie diefür die Pflege der Inhalte zuständigenPersonen und Institutionen.

Hierzu gehört eine technische und in-dividualisierbare Marktplatzplattform,die dem Betreiber des RVM aus Akzep-tanzgründen möglichst viel Gestal-tungsspielraum lässt, um den Bedürf-

nissen nach regionaler Identität undIndividualität Rechnung zu tragen.Hier sollte der Subsidiaritätsgrund-satz gelten: So wenig Uniformität wiemöglich, aber so viel wie nötig. Dahersollten offene standardisierte Schnitt-stellen zwischen VMB und RVM vor-gesehen werden. Nützlich sind weiterein zentrales Inhalte-Management-system und ein zurückhaltender Style-guide, der unbeschadet aller regiona-len Identität eine gewisse CorporateIdentity ermöglicht.

Der Zugang zum Marktplatz soll allenin Bayern ansässigen Anbietern zutransparenten, diskriminierungsfreienPreisen offen stehen. Im Sinne der er-wähnten Kundenorientierung solltenden Anbietern Hilfen für die Erstellungoptimaler Angebote bereitgestellt wer-den, etwa Shoplösungen, die auch von kleinen Unternehmen problemlosselbst erstellt und gepflegt werden kön-nen. Diese zentral vorzuhalten, könn-te ein weiterer Mehrwert der Integra-tion in den VMB sein.

Zu den zentralen Diensten des VMBgehört vor allem auch die Vermark-tung der Inhalte der RVM. Einen be-sonderen Mehrwert stellt insoweit dieMöglichkeit des VMB dar, über dieGrenzen der RVM hinaus Cross-Sel-ling-Angebote zusammenzustellen. Ent-sprechendes gilt für die Nachfrageseite.Auch hier kann der integrale Markt-platz interessante Möglichkeiten schaf-fen wie Einkaufsgemeinschaften, dieüber die Grenzen der RVM hinausrei-chen.

Für eine weltweite Vermarktung im In-teresse der Anbieter ist Mehrsprachig-keit erforderlich. Für den Einstieg soll-te das Angebot des VMB zumindest

Hans-Joachim Heusler42

auch in englischer Sprache vorliegen.Hier kann der Betreiber des VMB zen-trale Unterstützung gewähren.

Von großem Interesse für die Attrak-tivität der RVM sind auch Systeme wiez.B. ein integrierter Behördenwegwei-ser, der die Landkreisgrenzen über-schreitend alle kommunalen und Lan-desbehörden umfasst. Unverzichtbarist insoweit ein zentraler Behörden-wegweiser mit Mindestinformationen,die sicherstellen sollen, dass der Kundezumindest die zuständige Behörde fin-det und Grundinformationen zu seinerNachfrage erhält, selbst wenn die zu-ständige Behörde auf dem jeweiligenRVM noch keine diesbezüglichen In-formationen vorhält. Vergleichbar sindandere zentrale Informationen, die fürganz Bayern gültig, aber von regiona-lem Interesse sind, sowie attraktive An-wendungen, etwa aus dem Spielebe-reich.

Im Hinblick auf minimale Transak-tionskosten und beste Kunden- undAnbieterzufriedenheit besteht einegroße Nachfrage nach Benutzerprofi-len und Nachfragestatistiken. Im Fallevon attraktiven Gegenleistungen, seiensie finanzieller Natur oder in Form vonverbessertem Service, werden vieleKunden durchaus bereit sein, demMarktplatzbetreiber diesbezügliche In-formationen über ihre Bedürfnisse undVorlieben zu überlassen. Selbstver-ständlich sind hierbei die Bestimmun-gen des Datenschutzes und anderereinschlägiger Vorschriften zu beach-ten. Entscheidend ist, dass der Betrei-ber das Vertrauen des Kunden genießtund es nicht missbraucht. Dass diesmöglich und üblich ist, zeigen die Bei-spiele des Arztes, des Rechtsanwaltsoder Steuerberaters, um nur einige

wenige Vertrauenspersonen zu nen-nen.

Die zentralen Mehrwertdienste kön-nen auch Dienstleistungen für die Nut-zer der RVM umfassen, etwa die Land-ratsämter und kreisfreien Städte. Dieheutigen Internetauftritte dieser Kom-munen sind personal- und kosten-intensiv. Dabei stehen wir erst amAnfang, denn die Angebote werdensukzessive erweitert werden (müssen),und vor allem sind sie akribisch ak-tuell zu halten: Dies gilt für die Be-hördenanwendungen aus rechtlichenGründen, für die sonstigen Inhalte aus Marketingüberlegungen. UniformeDienstleistungen können vom Betrei-ber des VMB unter Umständen preis-werter angeboten werden als voneinem dezentralen Betreiber. Dies kannso weit gehen, dass die regionalen Ent-scheider sich entschließen, Errichtungund Betrieb des RVM dem Betreiberdes VMB zu übertragen, wenn diesersich dazu in der Lage sieht. Zu denDienstleistungen kann etwa ein zen-trales Call-Center, insbesondere mitHotline-Funktion gehören, ferner dieSicherstellung des Ausschlusses rechts-widriger oder sittenwidriger Inhalte.Denn nicht nur der Betreiber des VMB,sondern auch jeder Betreiber einesRVM hat alle zumutbaren Maßnah-men zu ergreifen, um rechts- und sit-tenwidrige Inhalte zu vermeiden.

Unterstützung kann je nach den Mög-lichkeiten des VMB-Betreibers auch be-züglich der Inhalte der RVM angebo-ten werden, etwa in den BereichenTourismus und Verkehr, Nachrichtenund Rundfunkinformationen.

Was die Inhalte des VMB betrifft, so istdas Angebot schier unerschöpflich,

Der Virtuelle Marktplatz Bayern – Ein All-Winners-Game? 43

vorausgesetzt es gelingt dem Betreiber,entsprechende Anbieter auf seinemMarktplatz zu versammeln. Ergänzendkann ein Linkverzeichnis zu nicht in-tegrierten Inhalten hinzutreten. Not-,Hilfsdienste, Gesundheit, Verkehrsin-fo, Fahrpläne, Messen, Ausstellungen,Verbraucherinfo, Wirtschaftsinfo, Sta-tistik, Branchenverzeichnis, Nachrich-ten, Hörfunk- und Fernsehprogramme,Wetter, Veranstaltungen, Sport undFitness, Theater und Oper, Konzerte,Museen, Kircheninfo, Diskotheken,Touristeninfo, Übernachten, Essen undTrinken, Sehenswürdigkeiten, Kartenund Stadtpläne, Lotsendienst, Anlauf-stellen, Wissensvermittlung, all dassind nur Beispiele.

Von besonderer Bedeutung ist für dieStaatsregierung der integrierte Behör-denwegweiser. Er soll nicht nur kom-fortabel zur sachlich und örtlich rich-tigen Behörde führen, sondern darüberhinaus ermöglichen, Verwaltungsver-fahren mit der Behörde und im An-schluss daran innerhalb der Behördeonline abzuwickeln. Der Behörden-wegweiser ist hierzu vor allem mit ei-ner offenen Schnittstelle zu Online-Angeboten und Workflowsystemen derBehörden auszustatten, weil insoferneine große Vielfalt unterschiedlichsterSysteme zu bewältigen ist. Analog zumeCommerce sollte die Erhebung vonVerwaltungsgebühren möglich sein.Wie für die Shops bedarf es auch hiereiner Unterstützung derjenigen, die fürdie dezentralen Angebote sorgen sol-len, insbesondere für die Aktualität derInhalte. Ein Styleguide zur Wahrungder Corporate Identity des VMB, einRedaktionssystem, ein Formularserver,ein Verlinkungskonzept und ein zen-traler Informationspool gehören hier-zu. Weil man nicht davon ausgehen

kann, dass bereits alle Behördenvertre-ter ohne weiteres in der Lage sind, mitdiesen Instrumenten zu arbeiten, soll-ten Produkte gewählt werden, die einePflege ohne technische Qualifikationermöglichen. Außerdem sollte dieSchulung dieser Personen angebotenwerden.

Im Rahmen der Community-Dienste istanAuskunftsysteme, Benachrichtigungs-dienste oder Chatrooms zu denken.

Die kommerziellen Angebote und Funk-tionen können Kleinanzeigen, Dienst-leistungen, Branchenmarktplätze, Bör-senfunktion, Auktionsfunktion, Kata-logfunktion, schwarze Bretter oder ei-ne Beteiligungsbörse umfassen.

Logistikkonzept

Das Logistikkonzept soll dazu dienen,Leer- und Mehrfachfahrten zu reduzie-ren und hierdurch die Logistikkostenzu senken und gleichzeitig den Ver-kehr und die Umwelt zu entlasten.Außerdem kann hierdurch der Kom-fort für die Konsumenten erhöht wer-den, indem Güter gebündelt zu ge-wünschten Zeiten angeliefert werden.Dass dies wirtschaftlich betrieben wer-den kann, wurde in einem Bayern-Online-Pilotprojekt in Nürnberg vor-geführt.

Zahlungssysteme

Zu den Finanzfunktionen gehören diein Deutschland üblichen, wie Rech-nung, Lastschrift, Nachnahme, Bank-einzug, Kreditkartenzahlung. Hinzukommen Geldkartenzahlung und elek-tronische Geldbörse.

Hans-Joachim Heusler44

Instrumente zur Unterstützung der Marktteilnehmer

Besonderen Wert legt die Staatsregie-rung auf Instrumente zur Unterstüt-zung der Nachfrageseite, weil von derNachfrage die Dynamik der Märkteausgeht. Viel zu viele Anbieter schrei-ben immer noch rote Zahlen, weil dieNachfrage im Internet zu gering ist.Hierdurch wird die konservative Mehr-heit der Anbieter abgeschreckt. Wennes gelingt, große Nachfrager auf denVMB zu platzieren, so entsteht ein Sogfür Anbieter, was wiederum neue Kun-den nach sich zieht. Der Freistaat willhier als Vorbild voranmarschieren.

Wünschenswert für den Kunden sindFreitextsuche für Angebote, Produkt-kategoriesuche, Navigationssuche in-nerhalb Produktkategorien, spontanerWarenkorb und individueller Stan-dardwarenkorb. Dabei ist es wichtig,dass der Warenkorb für den gesamtenVMB und seine RVM gilt. Nützlichsind weiterhin eine Einkaufsstatistikfür den Konsumenten, Internetverstei-gerungen, elektronische Einkaufsver-fahren oder Reverse-Auctions.

Da der VMB nicht nur Internet-Profis,sondern die ganze Bevölkerung an-sprechen und zur Zufriedenheit be-dienen soll, dürfte sich ein „virtuellerMarktbegleiter“ als besonders hilfreicherweisen. Er könnte folgende Aufgabenerfüllen:

� Reduzierung der vorbereitenden Be-schaffungskosten des Kunden (su-chen, vergleichen, auswählen),

� Herausfinden der geeignetsten An-gebote,

� Herausfinden des niedrigsten Prei-ses,

� Abwehr von belästigender Produkt-werbung und Information überneue Dienstleistungen und Produk-te im Interesse des Kunden,

� Schutz der Daten des Konsumenten,� Vermarktung der Konsumenten-

daten für den Kunden gegen Ent-gelt und/oder andere geldwerte Vor-teile wie Rabatte und/oder bessereProdukte und Dienstleistungen, fallsund soweit der Kunde dies wünscht,

� Vermarktung anonymisierter Kun-dendaten.

Damit der VMB ein Erfolg wird, mussvor allem in den Haushalten etwas ge-schehen. Der PC zu Hause ist nichtStandard und wird es auf absehbareZeit nicht werden. Auch hängt es da-von ab, was der Kunde auf dem Markt-platz sucht, wo im Haus oder außer-halb er sich hierzu am liebsten aufhält.Daher sollten alle Kommunikations-endgeräte wie PC, Telefon, TV-Gerätund sonstige Spezialgeräte ins Spiel ge-bracht werden. Alle diese Geräte sindheute internettauglich, und sei es überein Zusatzgerät wie die Set-Top-Box.Neben der Werbung für den VMB unddie RVM wird es daher jetzt darauf an-kommen, durch entsprechende kom-binierte Angebote dem Kunden denEinstieg so einfach und komfortabelwie möglich zu gestalten.

Nicht die Staatsregierung wird denVMB errichten und betreiben, sondernein kompetentes Privatunternehmen,das im Wege einer Ausschreibung derDomain „baynet.de“ als Internetadres-se für den VMB ermittelt wird. Rund130 mal wurden die Ausschreibungs-unterlagen nachgefragt, und die hoheZahl der bis Abgabeschluss am 31.1.2000 eingegangenen Gebote zeigt, dassdie von der Bayerischen Staatsregie-

Der Virtuelle Marktplatz Bayern – Ein All-Winners-Game? 45

rung mit dem VMB verfolgten Zieleund seine Konzeption den Marktbe-dürfnissen entsprechen.

Nach Abschluss der Ausschreibungwird der VMB in nur wenigen Mona-ten entstehen. Er entsteht nicht aufder grünen Wiese, denn die Bemühun-gen der Bayerischen Staatsregierung inden letzten Jahren haben bereits eineBasis geschaffen: So wurden über dieBürgernetz-Vereine flächendeckend inallen Landesteilen Promotoren derneuen Welt mobilisiert, erzeugt undzusammengeführt. Dass die Kommu-nalpolitik im Interesse der Bürger mitder Staatsregierung insoweit an einemStrang zieht, zeigte sich bereits beimparteiübergreifenden Engagement zurErrichtung von Telezentren, bei derVernetzung der Schulen und ihrer Aus-stattung mit modernster Internettech-nologie sowie bei der Nutzung derneuen IuK-Technik für die Verwaltung.Alle Landkreise und kreisfreien StädteBayerns haben inzwischen ihren Inter-netauftritt. Außerdem gibt es dort

überall bereits private Anbieter vonInformationen, Gütern und Dienst-leistungen im „offenen Internetgelän-de“ sowie mehr oder weniger weit ge-diehene private virtuelle Marktplätze,wenn auch nicht in der jetzt ange-strebten Form. Viele Inhalte und An-wendungen sind also bereits vorhan-den und warten sozusagen darauf, ineinem integrierten Marktplatz vondessen Mehrwert zu profitieren.

Die Bayerische Staatsregierung geht da-von aus, dass der VMB innerhalb vonfünf Jahren die genannten Anforde-rungen erfüllt und zur Zufriedenheitaller Beteiligten läuft.

Da die Betreiber des VMB und derRVM möglichst schnell in die Gewinn-zone kommen wollen, werden diemarktwirtschaftlichen Mechanismendafür sorgen, dass die Gesamtheit derbayerischen Unternehmen, Behördenund Bürger die nötigen Anreize erhält,Bayern sehr zügig in die Telekommu-nikationsgesellschaft zu führen.

1. Einführung

Das Thema „Bezahlen im Internet“ be-kommt mit den heutigen Kommuni-kationsstrukturen eine zunehmendgrößere Bedeutung. Immer mehr Men-schen werden schon in naher Zukunftbereit sein, ein immer größeres Ange-bot von Dienstleistungen und Produk-ten im Internet zu nutzen bzw. zubestellen und über das Internet zu be-zahlen.

eCommerce ist längst zum unver-meidlichen Thema für Hersteller undHandel geworden. Beinahe jeden Tagwerden neue Prognosen über die Ent-wicklung des virtuellen Marktes ver-öffentlicht. Derzeit haben wir inDeutschland rund 18 Millionen Inter-net-Nutzer. Mindestens ein Mal habenim vergangenen Jahr 9 Millionen In-ternet-Nutzer ein Produkt online ge-kauft bzw. eine Dienstleistung über dasWWW in Anspruch genommen. Diefavorisierten Produktkategorien sindBücher, CDs, Software, Tickets undReisedienstleistungen. Insgesamt wur-de im letzten Jahr über eine MilliardeDM online ausgegeben.1 Allerdings wäre es übertrieben, von einer weitverbreiteten Euphorie zu sprechen.Trotz der Chancen und Vorteile, diesich aufzeigen, darf man die Realitätnicht aus dem Auge verlieren.

2. Situation aus der Sicht derVerbraucher

Vor allem die Aspekte „Bezahlen im In-ternet“ und „Datenschutz im Internet“erachtet die Mehrheit der Internet-User als problematisch. Die Ver-braucher sind durch Berichte, dieBetrugsfälle im Internet belegen undvor einiger Zeit in der Fachpresse, aberauch in Tageszeitungen und Maga-zinen kursierten, stark verunsichert.2

Diese Aussagen machen deutlich, dasssich mit entsprechender Sicherheits-technologie durchaus neue Nutzerkrei-se erschließen lassen.

Untersuchungen zufolge liegt die Ak-zeptanz der Verbraucher für die Be-zahlung mit Rechnung bei über 80Prozent. Die Akzeptanz für Nachnah-me, Lastschrift und die telefonischeÜbermittlung der Kreditkartenangabenbeträgt zwischen 20 und 50 Prozent.3

Die Bezahlung mit diesen Methodenhat mit der eigentlichen eCommerce-Idee nichts mehr zu tun, da wieder vielAufwand für die Zahlungsabwicklungin der realen Welt entsteht (sog. Me-dienbruch).

Bei Abwicklungen per Rechnung mussder Kunde die erhaltene Rechnung inder realen Welt bezahlen, der bei rei-

Bezahlen im Internet

Christian Löfflmann

Politische Studien, Heft 373, 51. Jahrgang, September/Oktober 2000

Christian Löfflmann48

nem eCommerce nicht nötig wäre. Der Vorteil des „one-click-check-out“4

liegt auf der Hand. Der Kunde kanndie ganze Zahlungsabwicklung einfachin wenigen Schritten von zu Hause auserledigen. Zahlungsmethoden wie SET-Kreditkarte und Geldkarte bringen soden Vorteil der schnellen und sicherenZahlungsabwicklung.

3. Situation aus der Sicht der Anbieter

Die Ausgangslage für die Anbieter siehtetwas anders aus. Die Hauptsorge derHändler ist das große Charge-Back-Ri-siko, das sie bei der herkömmlichenÜbertragung tragen: D.h. das Ausblei-ben der Zahlung durch das Kredit-karten-Unternehmen und die Rückfor-derung der eventuell schon ausge-lieferten Ware ist für die Händler nichtzuletzt ein finanzielles Risiko in Bezug

auf die Liquidität. Bei der derzeit oft-mals verwendeten Bezahlung mit derKreditkarte wird die Verschlüsselungs-technik SSL (Secure Socket Layer) ein-gesetzt. Hierbei werden die Daten zwarsicher übertragen, jedoch bleibt demHändler das Zahlungsrisiko (Miss-brauch von Kreditkartennummern).Nachfolgend wird daher das SET-Ver-fahren näher beschrieben und emp-fohlen.

Des Weiteren spüren die Anbieterauch, dass der Online-Handel nochnicht den vorschnell prognostiziertenErfolg bringt. Es liegt sicher auch imInteresse der Anbieter, dass der Ver-braucher vermehrt über das Interneteinkauft und die Händler somit ihreInvestitionskosten wieder erarbeitenkönnen.

Zur Lösung der oben genanntenHauptprobleme liefern die Systeme

Bezahlen im Internet 49

SET-Kreditkarte und Geldkarte brauch-bare Lösungen. Durch SET-Kreditkarteund Geldkarte hat der Anbieter eineZahlungsgarantie und verkleinert dasCharge-Back-Risiko gegen Null. Durchdie große Sicherheit und Vertrauens-würdigkeit dieser beiden Systeme wirdeCommerce in Deutschland starkenAuftrieb erhalten.

4. Übersicht der Bezahl-verfahren

In der Analyse wurden Systeme be-rücksichtigt, die entweder schon län-ger auf dem Markt sind oder durchstarke Allianzen (Banken, Kreditkarten-Unternehmen, Software-Häuser) dieChance haben, sich längerfristig zu be-haupten. Zusammenfassend werdendie Vor- und Nachteile der einzelnenVerfahren beschrieben.

4.1 SET-Kreditkarte

SET oder Secure Electronic Transactionist ein Verfahren für das sichere Be-zahlen mit der Kreditkarte im Internet,das von den Kreditkartengesellschaf-ten MasterCard und VISA entwickeltwurde und an dem auch namhafteUnternehmen der IT-Branche wie IBM,Microsoft oder Netscape mitwirkten.

SET ist sicher, weil es

� alle sensiblen Daten vor der Über-tragung über das Internet verschlüs-selt und damit den Zugriff auf dieseDaten durch Unberechtigte verhin-dert,

� alle sensiblen Daten zusätzlich sig-niert, sodass der Nachrichtenemp-fänger zum einen zweifelsfrei erken-nen kann, vom wem diese stam-men, und zum anderen sicher seinkann, dass diese auf dem Weg durch

Christian Löfflmann50

das Internet nicht verändert wurden, � die Ausgabe von Zertifikaten streng

überwacht und damit verhindert,dass sich Unberechtigte fälschli-cherweise oder in betrügerischer Absicht als legitime Teilnehmer desSET-Verfahrens ausweisen,

� die Zahlungsabwicklung einem kreditinstitutsnahen so genanntenPayment-Gateway überträgt, das bei jeder Zahlung prüft, ob die Kre-ditkarte vielleicht gestohlen wurde,

� die Erstellung von Nutzerprofilenverhindert, da der Händler keineZahlungsinformationen und dasPayment-Gateway keine auswert-baren Bestelldaten erfährt, undschließlich

� mit der dualen Signatur verhindert,dass Zahlungsdaten anderen belie-bigen Bestelldaten zugeordnet wer-den können.

� SET-Zahlungen spielen sich zwi-schen dem Kunden, Händler, Pay-

ment-Gateway und Kreditinstitutab.

Der Kunde stellt sich beim Händler sei-ner Wahl einen Warenkorb zusam-men. Er schließt den Bestellprozess ab,indem er die virtuelle Händlerkasseaufsucht und dort SET als Zahlungs-mittel auswählt. Die Sparkassen-Wallet(Software) startet anschließend auto-matisch und erfragt vom Kundenzunächst ein Passwort. Erst seine Ein-gabe öffnet die Wallet vollständig. Die Sparkassen-Wallet zeigt die Rech-nungsdaten und die registrierten Kre-ditkarten an.

Nach Auswahl der Kreditkarte zeigt dieSparkassen-Wallet weitere Händler-daten an, die den Händler erstmaligverlässlich identifizieren.

Willigt der Kunde in den Zahlungsvor-gang ein, übermittelt die Sparkassen-

Bezahlen im Internet 51

Wallet die Kartendaten über denHändler zum Payment-Gateway, dasdiese an den Kartenherausgeber – diesist häufig die Sparkasse oder Landes-bank – zur Prüfung weiterreicht unddem Händler das Ergebnis der Prüfungzurückmeldet. Der Händler veranlasstdie Warenauslieferung, falls ihm dieKorrektheit und Gültigkeit der Karten-daten bestätigt wurde.

4.2 Geldkarte

In Deutschland sind derzeit bereits 45Millionen Geldkarten im Umlauf, dieoffline als „Bargeldersatz“ an mehr als55.000 Händlerterminals bundesweitgenutzt werden können.

Durch die standardmäßige Ausrüs-tung aller neu ausgegebenen Euroche-que- oder Bankkarten mit einem Chip sind über 40 Millionen Bankkunden in

Deutschland im Besitz dieses internet-tauglichen Zahlungsmittels.

Die Vorteile der Geldkarte für denKunden bestehen in erster Linie darin,dass er für Geldtransaktionen im In-ternet auf ein bekanntes Zahlungs-mittel zurückgreifen kann. Die Geld-karte kann mit einem beliebigen Betrag bis zur Höhe von 400,– DM auf-geladen werden. Für den Karteninha-ber sind die Abläufe herkömmli-cher Zahlungen und solcher im Inter-net nahezu identisch.

Der Karteninhaber stellt im vertrau-ten Internet-Browser seine Bestellungzusammen. Nach deren Abschlusszeigt der Internet-Browser die wesent-lichen Zahlungsinformationen (Betrag,Währung, Waren) an und fordertgleichzeitig zum Einlegen der Geld-karte auf. Ein Hilfsprogramm (Java-Applet), das sich nahtlos in die vom

Christian Löfflmann52

Internet-Browser verwaltete Benutzer-oberfläche integriert, stellt die Funk-tionalität für den Karteninhaber be-reit. Nach einem weiteren Mausklickzur Einverständniserklärung wickeltdas Hilfsprogramm die Zahlung ab,liest nach Zahlungsabschluss die für ei-ne spätere Reklamation wesentlichenTransaktionsdaten direkt aus der Geld-karte aus und empfiehlt dem Karten-inhaber den Ausdruck dieser Daten.Bei der Verwendung von Klasse-3-Lese-geräten werden sensible Zahlungsin-formationen im eigens integriertenDisplay angezeigt.

Der Händler ist ausschließlich für diePräsentation der Waren und Dienstleis-tungen verantwortlich. Die eigentlicheZahlung wickelt der Betreiber einesGeldkarte-Akzeptanzsystems im Händ-lerauftrag ab. Bei Letzterem handelt essich um eine besonders vertrauens-würdige Organisation, z.B. einen zuge-

lassenen Netzbetreiber oder ein Re-chenzentrum der Sparkassenorgani-sation. Dabei greift der Händler überein Kassensystem, das die Abwicklungvon verschiedenen Zahlungsmittelnhändlerseitig bündeln soll, auf dasGeldkarte-Akzeptanzsystem zu, wobeidas Kassensystem für die Verwaltungder Transaktionsdaten des Händlersverantwortlich ist.

4.3 eCash von DigiCash

Der Kunde eröffnet ein Konto bei einerVertragsbank von DigiCash, z.B. beider Deutschen Bank (derzeit Pilotver-such). Dorthin überweist der Anwen-der von seiner Bank einen bestimmtenBetrag. Das auf dem Guthaben-Kontovorhandene Geld kann sich der Kundeper Download in Form von ecash (Da-teien) auf seine eigene Festplatte ko-pieren. Von dem Konto auf der Fest-

Bezahlen im Internet 53

platte überweist der Konsumentschließlich die virtuellen Münzen anden Anbieter des gewünschten Pro-dukts. Umgekehrt richtet ein Anbieterebenfalls ein Konto ein, auf das derKunde sein ecash überweist. Jetzt mussder Anbieter nur noch auf seinemServer den Hinweis, dass ecash akzep-tiert wird, einrichten.

Per ecash bleibt der Käufer anonym:Sobald vom Konto der Vertragsbankecash auf die eigene Festplatte geladenist, wird das ecash per Seriennummerauthentifiziert, nicht aber dessen Be-sitzer.

Der einzige Partner des ursprünglichholländischen Unternehmens in denUSA, die Mark Twain Bank, hat AnfangSeptember 1998 das eCash-Angebotbeendet. Ebenfalls im September wur-de der Betrieb von Digicash in denNiederlanden eingestellt. In Europa, Ja-pan und Australien gibt es allerdingsweiterhin Partnerbanken. Weltweit ak-zeptieren etwa 100 Anbieter dieseselektronische Geld, in Deutschlandsind es derzeit rund zwei Dutzend.

4.4 CyberCash

Kernkomponenten des Verfahrens sinddie elektronische Ladenkasse (Cash-Register), die elektronische Geldbörse(Wallet) und das CyberCash-Gateway(CyberCash-Payment-Gateway-Server).

Die Komponenten des CyberCash-Systems sind multizahlungsfähig, d.h.sie sind auf alle bekannten Zahlungs-systeme – elektronische Münzen, Ab-buchung und Kreditkarte – ausgerich-tet. Abbuchung und Kreditkarte sindbereits bewährte Zahlungsmöglichkei-

ten an der Ladenkasse. Die nur für dieBenutzung im Internet geschaffenenCyberCoins – elektronische Münzen –sind wie Buchgeld, und es findet imGegensatz zum ecash-System keineGeldschöpfung statt.

4.5 Paybox und Click/Pay Net 900

Beide Verfahren sind in jüngster Zeitentstanden. Paybox autorisiert Zah-lungen nicht über das Internet, son-dern per PIN und Mobilfunknetz. Pay-Net 900 ist ein Angebot der Telekomund bedient sich im Wesentlichen ei-ner Abrechnung über die Telefonrech-nung. Der Vorteil davon ist: BeideVerfahren wickeln die Zahlungenaußerhalb des Internets ab.

Bei Paybox ist aber sowohl ein Inter-netzugang als auch ein Handy erfor-derlich. Akzeptanzhändler gibt es nochwenige, und diese sind auf Deutsch-land beschränkt.

4.6 S-iTT

S-iTT steht für Sparkassen InternetTreuhand Transaktion.

Beim Handel zwischen Privatpersonenim Internet (z.B. bei Auktionen wie Ri-cardo) besteht ein Bedarf der sicherenAbwicklung von Leistung und Gegen-leistung. Hierfür bietet sich ein neutra-ler Treuhänder an, der für die faire Ab-wicklung von Geschäften im Internetsorgt. S-iTT ist eine neu geschaffeneTreuhandeinrichtung der Sparkassen-organisation (s. auch www.s-itt.de).

Nachdem ein Kaufvertrag im Internetentstanden ist, ist die Frage der Ab-

Christian Löfflmann54

wicklung oft das größte Problem. DasSchaubild erläutert den Ablauf.

Das Verfahren ist relativ unkomplizierteinsetzbar. Trotz der erst seit kurzemangebotenen Dienstleistung wird S-iTTschon sehr rege verwendet.

5. Zusammenfassung

Die beiden Bezahlverfahren Kreditkarte(insbesondere SET-Verschlüsselung) undGeldkarte zeigen bei den emotionalenFaktoren (Bekanntheit, Vertrautheitund Akzeptanz) ihre Stärken, ebensosind sie bei der Diversibilität (Mehr-fachanwendungen) und den Transakti-onskosten klar vorn anzusiedeln.

Hinderlich bei der Geldkarte sind dieBeschaffung des Lesegerätes und das(noch) fehlende Online-Angebot aufHändlerseite.

Die SET-Kreditkarte sticht durch ihreSicherheitsmerkmale hervor und profi-tiert von der Bekanntheit. Verbraucherund Anbieter kennen diese schon ausder realen Welt. Die heute erforderli-che Installation und Distribution wirdin naher Zukunft verbessert.

Im Bereich der Kleinbetragszahlun-gen ist neben den Verfahren, bei de-nen mit „elektronischem Geld“ gear-beitet wird (eCash, Cybercoin), auchein Einsatz der Geldkarte denkbar. Imdiesem Marktsegment konnte sich bis-her noch kein Standard etablieren.

6. Blick in die Zukunft

Neue, einfache Verfahren werden innächster Zukunft versuchen, eCom-merce für den Verbraucher noch ein-facher zu gestalten. Das sollte an derStrategie, SET-Kreditkarte und Geld-

Bezahlen im Internet 55

karte weiterhin zu verfolgen, nichtsändern. Einige dieser Technologien sei-en an dieser Stelle erwähnt.

6.1 Server-basierte Wallets und Java-Wallets

Ein Ansatz, um die Problemfelder Dis-tribution und Installation (Wallet, Zer-tifikat) zu umgehen, sind die so ge-nannten Server-basierten Wallets. DieWallets werden nicht mehr beim Ver-braucher auf dem PC installiert, son-dern werden zentral verwaltet. BeimKauf sorgen kleine Java-Applikationenfür die Informationsübermittlung. DasVerfahren bleibt 100 Prozent SET-konform, das Zertifikat ist aber nichtmehr lokal auf dem Verbraucher-PCgespeichert. Die Vorteile einer solchenLösung liegen auf der Hand: keinekomplizierten Installationen für den

Verbraucher, keine Updates nötig, we-niger Belastung der Call-Center, weni-ger Probleme bei der Distribution undvor allem ein „bewegliches Wallet“,das von jedem beliebigen Ort aus auf-gerufen werden kann (Handy, andererComputer, Set-top-Box).

Das in der Entwicklungsphase befind-liche Java-Wallet bietet ähnlichenKomfort: Nach Auswahl des Waren-korbes wird das Wallet per Knopfdruckonline in den Browser des Konsumen-ten geladen, und anschließend wirddie Zahlung durchgeführt, ohne dasseine zusätzliche Software installiertwerden muss.

So kann der Kunde auf der ganzenWelt von jedem Internet-Zugangster-minal sicher bezahlen. Beim Java-Wal-let spielt es keine Rolle, welche Bezahl-verfahren der Anbieter voraussetzt.

Bezahlformen im Internet

Verfahren

Beispiele

Vorteile

Nachteile

Größere Beträge,z.B. Elektronik,Möbel

SSL SET Geldkarte S-iTT

Identisch mit SLL

kleine Beträge, z.B. CD’s, Wein,Spiele

Auktionen, vonPrivat an Privat, z.B. Gemälde

– Große Verbreitung

– Unterstützt von gängigenBrowsern

– Einfach und bequem für Kunde und Händler

– Sicher bei Verschlüsselung

– Sehr sicher– Zahlungs-

garantie fürHändler

– Anonym– Kleinbeträge

möglich– Geldkarte

vielseitigverwendbar

– Kurze Zahlungszeit

– Sicherheit für Geschäftezwischen Privatkunden

– Vertraunens-würdig

Keine Zahlungsgarantie

– Noch wenig verbreitet

– Zertifizierungnötig

– Zertifizierungs-instanzen nochim Ausbau

– Chipkartenlesernötig

– Hauptsächlichdeutsche Lösung

Noch kaum verbreitet

Christian Löfflmann56

6.2 Electronic Commerce ModellingLanguage – ECML

Umfragen haben gezeigt, dass fast einDrittel der Verbraucher den Warenkorbeines Online-Shops wieder verlässt, be-vor er seine persönlichen Daten preis-gibt und damit die Bestellung aufgibt.Was sind die Gründe dafür? Zum einenkommunizieren Online-Shops zu we-nig klar, was mit den Daten geschieht.Andererseits wird der Verbraucherauch abgeschreckt, wenn er wiederund wieder dieselben Daten eintippenmuss. Der neue ECML-Standard sorgt

nun dafür, dass alle Felder in einemOnline-Shop nach einem bestimmtenMuster erstellt sind und sich das For-mular quasi von selbst ausfüllt. Diestarke Partnerschaft, die hinter ECMLsteckt (American Express, AOL, Brodia,Compaq, CyberCash, IBM, Master-Card, Microsoft, SETCo, Sun Microsy-stems, Trintech, und Visa) lässt erwar-ten, dass sich dieser Standard balddurchsetzen wird.

Weitere Informationen zum Themafinden Sie auch im Internet z.B. unterwww.sparkasse.de oder www.s-itt.de.

Anmerkungen1 GfK, August 2000.2 Forrester Research, August 1999.3 Fittkau & Maass, W3B, Hamburg 1999.

4 Bestell- und Zahlungsabwicklung, die fürden Kunden mit möglichst einer Aktionabgeschlossen werden kann.

1. Einführung

Wenn heute von den modernen In-formations- und Kommunikations-technologien und ihren Zukunftsper-spektiven die Rede ist, werden gernSuperlative gebraucht. Tatsächlich prä-gen die technologischen Entwicklun-gen rund um das Internet inzwischenfast die gesamte Arbeitswelt und auchimmer mehr Bereiche des Privatlebens.E-Commerce ist einer der dynamisch-sten Wirtschaftsbereiche.

Zwar weichen die Prognosen und Sta-tistiken von Verbänden und Institu-tionen im Detail voneinander ab. Ineinem Punkt sind sich aber alle ei-nig: Die E-Commerce-Umsätze werdenauch in den kommenden Jahren über-durchschnittlich schnell wachsen.Nach einer Schätzung der Boston Con-sulting Group beispielsweise wird derUmsatz im Online-Shopping in diesemJahr um 85 Prozent auf rund 61 Milli-arden Dollar steigen. Europa hat hierim Vergleich zu den USA aufgeholt: So

Chancen des E-Commerce aus der Sicht

der Stadt Nürnberg

Roland Fleck

Politische Studien, Heft 373, 51. Jahrgang, September/Oktober 2000

Roland Fleck58

stiegen allein 1999 die Online-Umsät-ze europäischer Handelsunternehmenum mehr als 200 Prozent und wuch-sen damit schneller als in den USA.

Nach Einschätzung der Marktforschervon Forrester wird Deutschland spä-testens im Jahr 2004 mit Abstand dergrößte E-Commerce-Markt in West-europa sein. 406 Milliarden Euro wer-den zu diesem Zeitpunkt alleine inDeutschland über das Internet um-gesetzt. Dies entspricht einem Anteilvon über 25 Prozent der gesamten fürEuropa prognostizierten E-Commerce-Umsätze in 2004 und macht immer-hin 6,7 Prozent des Gesamthandels-aufkommens der Bundesrepublik aus.Welche Gründe sprechen für eine sopositive Prognose? Peter Würtenberger,Deutschland-Chef des weltweit be-kannten Internetportals Yahoo, siehtvor allem drei Entwicklungen, die dieZukunft des E-Commerce stark beein-flussen:

� Die großen Konzerne der Old Eco-nomy schlagen zurück.

� Die Internationalisierung des Ge-schäftes wird zwingend notwendig.

� Die Vernetzung mit Partnern undneuen technologischen Plattformenist ein absolutes Muss.

Wer sich behaupten will, muss dieseTrends beachten. Und eines wird klar:Die Nutzung der elektronischen Netzewird zum entscheidenden Wettbe-werbsfaktor. Für das einzelne Unter-nehmen – ob Großkonzern oder mit-telständischer Betrieb – gilt das ebensowie für unsere Volkswirtschaft insge-samt.

Wachstum und Beschäftigung werdenin Zukunft ganz maßgeblich davon ab-

hängen, wie gerade kleine und mittlereUnternehmen die Potenziale des E-Commerce ausschöpfen. Es geht nichtnur darum, Produkte und Dienstleis-tungen über das Internet anzubieten.Der gesamte Workflow innerhalb desUnternehmens muss der neuen Ver-triebsform angepasst werden. Effizi-enssteigerungs- und Rationalisierungs-potenziale liegen auch im Beschaf-fungswesen. E-Procurement ist zwareiner aktuellen Befragung von CapGemini Deutschland zufolge heutenoch nicht von primärer Bedeutungfür die Unternehmen. Ich gehe jedochdavon aus, dass in ein bis zwei Jahrendies eines der Hauptthemen im E-Commerce sein wird.

2. Rechtssicherheit und Transparenz im Netz

Eine wesentliche Voraussetzung für diestärkere Nutzung des E-Commerce istTransparenz und Rechtssicherheit imNetz. Transaktionen im Netz müssengenauso sicher funktionieren wie imherkömmlichen Geschäftsverkehr. Ge-setze und Richtlinien, insbesondereauf Bundes- und EU-Ebene, sollen ei-nen verlässlichen Rechtsrahmen fürGeschäfte im Netz schaffen. So zumBeispiel das neue Fernabsatzgesetz. Eswurde am 13. April 2000 vom Bundes-tag verabschiedet. Allerdings wurde esvom Bundesrat abgelehnt und befin-det sich derzeit im Vermittlungsaus-schuss. Mit diesem Gesetz über Fern-absatzverträge wird neben klassischenFernabsatzgeschäften auch der elektro-nische Geschäftsverkehr erfasst. Kern-punkt des Gesetzes ist, Informations-rechte des Verbrauchers zu sichern undihm eine Möglichkeit zum Widerrufder Verträge ohne Angabe von Grün-

Chancen des E-Commerce aus der Sicht der Stadt Nürnberg 59

den innerhalb von zwei Wochen zu ge-ben.

Auf europäischer Ebene regelt der EU-Richtlinienvorschlag vom 18.11.1998bestimmte rechtliche Aspekte des elek-tronischen Geschäftsverkehrs im Bin-nenmarkt. Ziel ist, die rechtlichen Hin-dernisse beim grenzüberschreiten-den Handel und der Erbringung vonDienstleistungen innerhalb der EU ab-zubauen. Folgende fünf Bereiche sollenvon den Mitgliedstaaten zukünftig ein-heitlich geregelt werden:

� Niederlassungsregelung,� kommerzielle Kommunikation

(Werbung und Direktmarketing), � elektronische Verträge,� Verantwortlichkeit der Vermittler

und� Rechtsdurchsetzung.

Mehr Rechtssicherheit im elektro-nischen Handel bringt auch die Um-setzung der EU-Signaturrichtlinie. Sieist am 19.1.2000 in Kraft getreten. Der deutsche Gesetzgeber hat an-schließend 18 Monate Zeit, dieseRichtlinie in deutsches Recht umzuset-zen. Zwar ist bereits 1997 auf bundes-deutscher Ebene im Rahmen der so ge-nannten Multimediagesetze (IuKDG)das Signaturgesetz (SigG) verabschiedetworden. Die rechtliche Qualität undBeweisfunktion elektronisch übermit-telter Erklärungen regelt das deutscheSignaturgesetz allerdings nicht. Es istim Grunde nur der administrative Rah-men für digitale Signaturen. Eine An-passung an die weiter gehenden Rege-lungen der Richtlinie muss daher aufbundesdeutscher Ebene noch erfolgen.

Wie wird nun das deutsche Privatrechtdem modernen Geschäftsverkehr an-

gepasst werden? Erwartet wird dieSchaffung eines § 126a BGB, wonachdie elektronische Form unter bestimm-ten Voraussetzungen der gesetzlichvorgeschriebenen Schriftform gleich-gesetzt werden kann. Es bleibt zu hof-fen, dass die Gesetzesänderungen zuden angekündigten Verbesserungender Rahmenbedingungen für den elek-tronischen Geschäftsverkehr führenwerden.

3. Kommunale Wirtschaftspolitik

Die o.g. Themen, die für die stärkereNutzung des E-Commerce sehr bedeu-tend sind, liegen allerdings im Verant-wortungsbereich der Bundesregierungund können demzufolge seitens derKommunalpolitik nicht beeinflusstwerden.

Die Wirtschaftspolitik in Stadt undRegion hat vielmehr die Aufgabe, Rah-menbedingungen zu schaffen, die esUnternehmen z.B. in Stadt und RegionNürnberg erleichtern, E-Commerce-Lösungen zu entwickeln und einzu-setzen.

Für die kommunale Wirtschaftspoli-tik sehe ich u.a. folgende Ansatz-punkte:

� Wir müssen die Medienakzeptanzund -kompetenz in der Region er-höhen.

� Wir müssen für ausreichende Quali-fizierungsmöglichkeiten sorgen.

� Wir müssen als Beispiel vorangehenund selbst Pilotprojekte im Rathausinitiieren.

� Und wir müssen für Start-ups einoptimales Umfeld schaffen.

Roland Fleck60

3.1 Medienkompetenz

Medienkompetenz heißt, den Umgangmit den neuen Medien als selbstver-ständlich zu betrachten, Medien be-wusst einzusetzen und zu gestalten.Medienkompetenz trägt also dazu bei, neuen Technologien, insbesonde-re neuen Informations- und Kom-munikationstechnologien, offener ge-genüber zu stehen. Bürger wie Un-ternehmen müssen mit den neuen Me-dien vertraut gemacht werden, damitElectronic-Commerce in der Regionumfassend Einzug halten kann.

Mit der Nürnberger Initiative für dieKommunikationswirtschaft – kurz NIK –, mit regelmäßigen Veranstal-tungen oder zahlreichen Projekten, diewir zusammen mit der NIK initiiert ha-ben, konnten wir die Medienkompe-tenz in Stadt und Region Nürnbergdeutlich stärken. Wir haben damit einUmfeld geschaffen, in dem neuetechnologische Entwicklungen nichtnur entstehen, sondern auch getestetund angewendet werden können.

3.2 Ausreichende Qualifizierungsmöglichkeiten

Neue Technologien erfordern entspre-chende Qualifizierung und damit neueAus- und Weiterbildungsmöglichkei-ten. Vor allem kommt es darauf an,schnell zu reagieren. Ich möchte dreiBeispiele nennen:

� Vor drei Jahren haben wir die „Mul-timedia-Akademie Nürnberg“ ge-gründet. Sie ist in ihrer Art einzigar-tig in Bayern. Die rasanten Ent-wicklungen des Internets und derelektronischen Medien allgemein

haben den Bedarf an Multimedia-Fachkräften enorm gesteigert. Mitder Multimedia-Akademie habenwir die Qualifizierung von Inter-net- und Multimedia-Spezialisten inNürnberg wesentlich verbessert. Si-cherlich ein wichtiges Kriterium,um am E-Commerce-Wachstum zupartizipieren.

� Das Wachstum von Call-Centernwird in den nächsten Jahren vor al-lem von der Gewinnung qualifizier-ter neuer Mitarbeiter abhängen. Jediffiziler die Aufgaben für Call-Cen-ter werden, desto mehr werden siezur Visitenkarte der Unternehmenund desto wichtiger wird der Call-Center-Mitarbeiter. Am Engpassfak-tor „Personal“ setzt das „Communi-cation Center Nürnberg“ an. Es istein Schulungs- und Innovations-zentrum für Call-Center. Die StadtNürnberg hat diese Idee zusammenmit regionalen Partnern umgesetzt,unterstützt durch das BayerischeStaatsministerium für Wirtschaft,Verkehr und Technologie. Seit 1999ist es in Betrieb. Der Schwerpunktder Qualifizierung liegt in der Aus-bildung aus der Praxis heraus. Hierunterscheidet sich das Communica-tion Center von den meisten öf-fentlich getragenen Call-Center-Schulungszentren in anderen Städ-ten. Auf Grund der unterschiedli-chen Qualifikationsanforderungender Call-Center-Betreiber wird fürjedes Unternehmen ein eigenerLehrplan entwickelt, der die spezifi-schen Bedürfnisse der Unterneh-men berücksichtigt.

� Vor zwei Jahren haben wir als Stadtdie Einrichtung eines Kompetenz-zentrums für den ElektronischenGeschäftsverkehr in der Region mitunterstützt. Heute haben wir eines

Chancen des E-Commerce aus der Sicht der Stadt Nürnberg 61

von 24 bundesweiten Kompetenz-zentren, die hiesigen Unternehmendas notwendige Know-How zum E-Commerce vermitteln sollen. DasKompetenzzentrum, das von derNIK betreut wird, unterstützt Unter-nehmen bei der Einführung von E-Commerce und hilft bei der An-bahnung entsprechender Unterneh-menskooperationen. Es vermitteltKnow-How im Bereich Shopping-und Zahlungssysteme, Sicherheit inNetzen sowie zu gesetzlichen undsteuerrechtlichen Grundlagen. Hier-zu werden vielfältige Informations-veranstaltungen und Qualifizie-rungsmaßnahmen angeboten.

3.3 Initiierung von Pilot-Projekten

Wenn eine Region eine Vorreiter-Rollein einem Wachstumsmarkt einneh-men will, muss auch die Kommuneselbst Initiative ergreifen. Die StadtNürnberg hat sich deshalb zusammenmit den Nachbarstädten mit einem zu-kunftsweisenden Projekt an dem bun-desweiten Städtewettbewerb MEDIA@Komm der Bundesregierung beteiligt.Und unser Konzept hat überzeugt. Zu-sammen mit zwei weiteren Städten hatunser Beitrag unter 136 eingereichtenKonzepten gewonnen. Dotiert ist dieseAuszeichnung mit Fördermitteln bis zu20 Millionen DM.

Stadt und Region Nürnberg habendamit einen gewaltigen Vorsprung,sich als führende E-Community inDeutschland zu positionieren. So betitelte die Wirtschaftswoche vom25.5.2000 ihren Beitrag über dasNürnberger Projekt mit „Nürnbergklickt sich an die Spitze“. Denn unserZiel ist, dass in nicht allzu ferner Zu-

kunft in Nürnberger Haushalten mitInternetanschluss die mit einem Mul-tifunktionschip ausgerüstete „Logi-card“ zu finden ist.

Das Rathaus soll zu einem virtuellenDienstleistungszentrum werden. MehrBürgernähe und eine leistungsfähigere,effizientere Verwaltung erhoffe ich mir von diesem Projekt. Grundlage fürdie rechtsverbindliche Kommunika-tion zwischen Verwaltung, Bürger undUnternehmen ist die digitale Signatur.Die Teilprojekte reichen von der digi-talen Bearbeitung einfacher Geschäfts-prozesse wie der Regelung der An-wohnerparkausweise oder der Müll-tonnenbestellung über städtebaulicheAuskünfte bis hin zur elektronischenBauverwaltung – sicher ein ebensowichtiges wie komplexes Anliegen.

3.4 Optimales Umfeld für Start-ups

Als wichtige weitere wirtschaftspoliti-sche Maßnahme gilt es aus meinerSicht, ein optimales Umfeld für Start-ups zu schaffen. Trotz einiger Konkur-se einst hochgelobter Internet-Start-ups wie beispielsweise Boo.com reißtder Gründungsboom neuer Internet-firmen nicht ab. Der Grund ist einfach:Viele der Jungunternehmer träumenvom schnellen Geld. Mit dem Börsen-gang soll es spätestens zwei Jahre nachUnternehmensgründung Realität wer-den. Erfolgreiche Start-ups wie ebayoder Yahoo haben es vorgemacht. Um-fragen bei Hochschulabsolventen bele-gen dies: Ein wesentlich größerer Teilwill sich gleich nach dem Studienab-schluss selbstständig machen. Früherwurde der Start in einem Großunter-nehmen bevorzugt. Diesen Trend müs-sen wir aufgreifen. Es gilt, für diese

Roland Fleck62

Start-ups ein optimales Umfeld zuschaffen.

Aus den USA stammt die Idee derInkubatoren, die derzeit nach Europaüberschwappt. Inkubator bedeutetBrutkasten und bezeichnet ein Kon-zept, mit dem Gründer insbesondereder Internet-Szene rundum betreutwerden. In Amerika existieren rund600 Inkubatoren, in denen bereits19.000 Unternehmen gegründet wor-den sind. In diesen Unternehmen wurden bisher 245.000 Arbeitsplätzegeschaffen. Die Gründer und Jung-unternehmer können sich ganz auf dieEntwicklung ihrer Geschäftsidee kon-zentrieren und sind damit überdurch-schnittlich erfolgreich. Beeindruckendist die Aussage, dass von 100 Firmen,die in einem Inkubator gegründet wurden, 87 überleben. Das heißt, die Erfolgsquote ist dreimal so hochwie sonst üblich. Ausschlaggebenddafür ist, dass mit dem Inkubator dieideale Umgebung für Start-ups ge-schaffen wird. Die neuen Unterneh-men werden nicht nur mit Risikokapital ausgestattet, sondern in allen we-sentlichen Unternehmensfragen un-terstützt.

Die Erfolgsstorys aus den USA habennatürlich auch hiesige Venture CapitalFirmen aufgeweckt. Auch in Nürnbergentstehen derzeit einige Inkubatoren,getragen von erfolgreichen Unterneh-men, die sich durch die Beteiligung aninnovativen, jungen UnternehmenKnow-How sichern.

Im High-Tech-Center Nord beispiels-weise wurde vor kurzem der Grund-stein für den ersten Private Incubatorin Nürnberg gelegt. Weitere Projektestehen in den Startlöchern.

Hier in Nürnberg etabliert sich mehrund mehr eine aktive Venture Capital-und Berater-Szene:

� Der Businessplan-Wettbewerb Nord-bayern steht für eine professionelleBetreuung potenzieller Unterneh-mensgründer durch ein Netzwerkaus Ideenträger, Unternehmern,Venture Capitalists und Dienstlei-stern wie Patentanwälte, Steuer-berater oder Marktforscher. Neben der Durchführung von Business-plan-Wettbewerben organisiert BPWNordbayern Venture-Capitalists-Sprechtage, in denen Interessiertedirekt mit Vertretern von Risiko-kapitalgesellschaften ins Gesprächkommen können.

� Als Starthelfer für Unternehmen inFrühphasen fungiert das Netzwerkder Nordbayerischen Business An-gels.

� Eine Reihe von Venture Capital Ge-sellschaften sind heute schon Part-ner des Businessplan-WettbewerbsNordbayern.

Mit all diesen Partnern planen Unter-nehmen und Stadt nun die Errichtungeines E-Commerce-Campus, auf demneben dem Inkubator auch wissen-schaftliche Einrichtungen angesiedeltwerden. Wir sind mit der hiesigen Uni-versität und Fachhochschule im Ge-spräch, um deren Aktivitäten in unserKonzept einzubinden.Unsere Idee ist,all das Know-How im Bereich E-Busin-ess, von den Start-ups, den Studentenund Wissenschaftlern bis hin zu denBeratern und etablierten E-Business-Unternehmen zu bündeln. Hier in derRegion ist umfangreiches Know-Howvorhanden. Wir müssen nur dafürsorgen, dass es sich richtig entfaltenkann.

Chancen des E-Commerce aus der Sicht der Stadt Nürnberg 63

Ein weiterer Baustein zur ProfilierungNürnbergs als E-Business-Standort istdie Ausrichtung des Messeplatzes Nürn-berg. Die NürnbergMesse als eine derTop-Messegesellschaften in Deutsch-land und Europa setzt hier mit der neu-en Messe „e-procure“ auch am Standortein klares Signal im B2B-Marktsegment.Die gezeigten Beispiele zeigen ganz

deutlich, dass E-Commerce in Nürnbergkeine Vision mehr ist. Die Wirtschafts-politik kann eine Reihe dazu beitragen,und wir bemühen uns sehr, unsereMöglichkeiten hierzu auszuschöpfen.

Den E-Commerce in Stadt und RegionNürnberg zu stärken, hat für uns einensehr hohen Stellenwert.

Alle Meinungsforschungsinstitute undWirtschaftsanalysten sprechen von ei-nem stetigen Wachstum des Waren-verkehrs im Internet, dem sog. E-commerce. Eine goldene Zukunft wirdvorausgesagt. Glaubt man diesen Pro-gnosen, sind damit ungeahnte Chan-cen verbunden. Die fast unbegrenztenMöglichkeiten sind zwar auch für re-gional begrenzte Märkte, jedoch insbe-sondere für die globalen Märkte geeig-net.

Der Handel im Internet lässt sich indrei Stufen einteilen:

1. Homepage

Auf einer Homepage ist es jedem Un-ternehmen möglich, sich zu präsen-tieren. Es handelt sich dabei um eineeinseitige Form der Wissensübermitt-lung. Dem Benutzer wird somit dieMöglichkeit eingeräumt, über das In-ternet in der Firmenbroschüre zu blät-tern.

Es werden auf diese Art Firmendaten,Standorte, Betätigungsfelder, Produkte,Kontaktadressen etc. übermittelt.

2. Interaktion

In der zweiten Stufe geht es über dieeinseitige Informationsübermittlunghinaus. Dem User der Internetseite istes möglich, Anfragen an das Unterneh-men zu schicken oder Produkte onlinezu bestellen. Er bekommt sofort über E-Mail eine Antwort oder Bestätigung sei-ner Bestellung. Online-Shops gehörenzum Beispiel in diese Kategorie.

Call-me-buttons auf der Internetseiteveranlassen einen sofortigen Rückrufbei anfallenden Fragen.

3. Integration in vorhandeneBusiness-Prozesse

In der letzten Stufe werden die Mög-lichkeiten des Internets in die vorhan-denen Business-Prozesse integriert. BeiBestellungen können beispielsweiseOnline-Bonitätsabfragen gestartet, au-tomatisch ein Produktionsvorgang in-itiiert, die Kommissionierung veran-lasst und die Auslieferung begonnenwerden. Das Internet kann somitdurchgängig in alle Geschäftsprozesseeingebunden werden.

Die Neue Ökonomie – Handel im Internet

Ein Statement

Steffen Städtler

Politische Studien, Heft 373, 51. Jahrgang, September/Oktober 2000

Steffen Städtler66

Beispielsweise ist der einfache Zugriffauf Produkt- und Bestelldaten via In-ternet für die schnelle und umfassendeInformation des Kunden oder auch für die Unterstützung des Außen-dienstes heute bereits unverzichtbargeworden. Weitere Anwendungsgebie-te sind z.B. Online-Systeme zur Be-antragung von Kreditkarten, Leasing-verträgen oder Telekommunikations-einrichtungen sowie vertriebsunter-stützende Applikationen im Intranet/Extranet mit Funktionen zur Kunden-verfolgung, Frachtkostenkalkulationoder Sendungsverfolgung.

Skeptiker stellen die Sicherheit derTransaktionen immer in den Vorder-grund. Ängste, dass jedermann aufpersönliche Daten zurückgreifen kannoder gar vom eigenen Konto Abbu-chungen veranlasst, stehen dabei stetsim Vordergrund.

Grundsätzlich gibt es daher eine Reihevon Anforderungen an den E-commer-ce. Dazu gehören die Rechtssicherheit,eine bestimmte Robustheit der Kom-munikationsinfrastruktur sowie die Be-grenztheit und gerechte Verteilung derverbleibenden Risiken. Zu den im en-geren Sinne sicherheitsrelevanten An-forderungen, die durch kryptographi-sche Verfahren gelöst werden können,zählen das Erkennen und Verhindernvon Manipulationen und von Maske-raden, das Ausspähen von Geheimnis-sen, das Abstreiten von Handlungen,das Abfangen und Unterdrücken vonNachrichten sowie das Wiedereinspie-len von Nachrichten.

Für alle Transaktionen ist dabei abzu-wägen, wie jeweils die Sicherheitsan-

forderungen dem bestehenden Risikoangepasst werden sollen. Bei Zahlun-gen von nur sehr kleinen Beträgen istes wichtig, dass eine große Anzahl vonTransaktionen fälschungssicher vorge-nommen werden kann und die Trans-aktionskosten dabei gering bleiben. Beigrößeren Beträgen spielt zusätzlich die Fälschungssicherheit einer einzel-nen Transaktion eine große Rolle, dieTransaktionskosten sind dabei eherNebensache.

Bei jeder Anwendung müssen der Si-cherheitsaspekt demzufolge von neu-em überprüft und eingeschätzt und dieKosten zum Thema Sicherheit für dieAnwendung eingestuft werden. Es istjedoch klar, dass es nie einen völligsicheren elektronischen Marktplatzgeben wird. Dies ist jedoch eine Tat-sache, die alle herkömmlichen Formenvon konventionellem Wirtschaftsver-kehr betrifft. Ziel muss es sein, die je-weils angebrachte Sicherheit unter derAbwägung von Anonymität und Be-trugsschaden kostengünstig in Formvon einfach handhabbaren und ininternationaler Form einsetzbarenBreitenlösungen zur Verfügung zustellen.

Die effiziente Nutzung des E-commer-ce wird zum entscheidenden Wettbe-werbsfaktor in der Zukunft. Die Mög-lichkeiten sind so vielseitig, dass derKreativität der Internetdesigner und -entwickler keinerlei Grenzen gesetztsind. Ob ein einfacher Online-Katalogfür Kleidung oder die Auswahl neuerGrabsteine über das Internet, jeder Un-ternehmer kann eine Möglichkeit fin-den, durch das Internet seinen Erfolgzu optimieren.

SPD-Schatzmeisterin Inge Wettig-Da-nielmeier MdB muss es wissen: „DieSPD hat einen interessanten Anteil amPressemarkt“1. Doch ihre vorsichtigeFormulierung zielt weniger auf In-formation als darauf, die Tatsachen zu verschleiern. Denn die SPD ist ver-mutlich „die reichste Partei Deutsch-lands“2. Den Tatsachen entsprichtwohl eher die Analyse des SaarbrückerProfessors Küting, eines anerkanntenExperten für Wirtschaftsprüfung: „Diegesamte SPD ist wie ein lupenreinerKonzern aufgebaut“3.

Über diesen „Konzern SPD“ wüsste dieÖffentlichkeit gerne mehr. Doch dieSozialdemokraten, von der Gentech-nologie in Lebensmitteln bis zu denUnternehmensbilanzen kompromiss-lose Verfechter breiterer Informationenfür die Öffentlichkeit, werden ganz zu-geknöpft, wenn es um ihre Partei-Un-ternehmungen geht. Diese Erfahrungmussten selbst Politikwissenschaftlermachen, die in ihre Forschungen auchdie der SPD zugeordneten Unter-nehmen einbeziehen wollten. Sie be-richten nicht nur über „verweigerteEinsichtnahme in geschäftliche Unter-lagen“4, sondern sogar über die Sper-rung von Privatkorrespondenzen imArchiv der Friedrich-Ebert-Stiftung

durch das SPD-Parteipräsidium5. Be-zeichnend ist die Begründung, dieSPD-Schatzmeisterin Wettig-Daniel-meier dafür gibt: Die bei der Friedrich-Ebert-Stiftung lagernden Akten ent-hielten Informationen, deren Be-kanntwerden dem Ansehen „verstor-bener und noch lebender Genossen“und der SPD „schweren Schaden“ zu-fügen würde6. Ein Schelm, wer Bösesdabei denkt!

1. Die SPD als Unternehmer:Vorreiter für „Shareholder Value“?

Die SPD stützt sich in ihrer Finanzie-rung seit „dem ersten Jahrzehnt des20. Jahrhunderts auf finanzielle Bei-träge ihrer Wirtschaftsunternehmen(Druckereien und Zeitungen)“7. Nachdem ersten Weltkrieg gehörten derSPD, so wurde 1971 in der „ZEIT“ be-richtet, 94 Zeitungen mit einer Ge-samtauflage von 1,5 Millionen Exem-plaren. 1926, vor der Wirtschaftskrise,waren es nach diesem Bericht 196 Zei-tungen, die allerdings zumeist nur einegeringe Auflage hatten. Bei HitlersMachtergreifung im Jahr 1933 musstendann 135 Tageszeitungen und 100Druckereien der SPD ihren Betrieb ein-

Mehr Transparenz für die SPD-Finanzen

Andreas Feser

Politische Studien, Heft 373, 51. Jahrgang, September/Oktober 2000

Andreas Feser68

stellen.8 An ihre Tradition knüpfte dieSPD nach 1945 an. „26 Zeitungen und140 Firmen, die ihnen von den Alliier-ten als Entschädigungen für NS-Ent-eignungen zugesprochen worden wa-ren“9, sicherten den Sozialdemokraten„in den 50er-Jahren ihre Konkurrenz-fähigkeit“10. Mit Schwerpunkt in derbritischen Besatzungszone waren be-reits im Jahr 1947 SPD-nahe Zeitungenmit einer Gesamtauflage von 2,5 Mil-lionen Exemplaren lizenziert.11 Partei-zeitungen waren von den Besatzungs-mächten dabei gar nicht vorgesehen.Die Lizenzen wurden an Personen undnicht an Parteien vergeben. Doch dieMilitärregierungen hatten die Parteienum Vorschläge für geeignete Persön-lichkeiten gebeten. Der SPD gelang es,mit vielen der von ihr vorgeschla-genen Lizenzträger „Treuhandverträ-ge“ abzuschließen und so indirekt inden Besitz der Unternehmen zu gelan-gen.12 Gegen die damit verbundeneständige Einflussnahme der SPD-Par-teizentrale auf Berichterstattung undKommentare verteidigten allerdingsauch Sozialdemokraten wie Karl Ge-rold, der Verleger der „FrankfurterRundschau“13, und Edmund Gold-schagg, der Lizenzträger der „Süddeut-schen Zeitung“14, immerhin die juri-stische Unabhängigkeit ihrer Verlage.

Zusammengefasst waren die SPD-na-hen Zeitungen und Unternehmenzunächst in der 1946 gegründeten„Konzentration GmbH“. Ihre Aufgabewar, die „Zusammenarbeit der Eigen-betriebe“ zu fördern und „Gewinne fürdie Partei zu erwirtschaften“15. 1956gehörten ihr, so wurde 1971 in der„ZEIT“ berichtet, 26 Zeitungsverlage,30 Druckereien, fünf Buch- und Zeit-schriftenverlage, acht Buchhandlun-gen und acht weitere kleine publizis-

tische Unternehmen an.16 Und auchder Gesellschafterkreis der „Konzentra-tion GmbH“17 im Jahr 1960 zeigt vorder großen Krise Mitte und Ende der60er-Jahre noch ein flächendeckendesNetz des SPD-Unternehmensbereichsin Deutschland, in Bayern beispiels-weise orientiert an den traditionellenSPD-Parteibezirken:

� „Fränkische Verlagsanstalt undBuchdruckerei GmbH“, Nürnberg;

� „Oberpfälzisch-NiederbayerischeVerlagsdruckerei GmbH“,Regensburg;

� „Bavaria-Druck GmbH“ (früher Buchdruckerei E.W.Schumm), München;

� „Druckhaus Schwaben“ (früher BZ-Druck Schwäbische Tagwacht GmbH), Stuttgart;

� „Druckhaus Mannheim GmbH“,Mannheim;

� „Graphische GesellschaftGrunewald GmbH“ (früher: Telegraf-Verlags-GmbH), Berlin;

� „Bremer Buchdruckerei undVerlagsanstalt J.H. Schmalfeldt &Co“, Bremen;

� „Hamburger Buchdruckerei undVerlagsanstalt Auerdruck GmbH“,Hamburg. Diese Gesellschaft wurde mit Ver-trag vom 25.11.1996 verschmolzenmit der „Deutschen Druck- und Ver-lagsgesellschaft mit beschränkterHaftung“18 in Hamburg.

� „Union Druckerei und Verlags-anstalt GmbH“, Frankfurt;

� „Hannoversche Druck- und Verlagsanstalt mbH“, Hannover. Diese Gesellschaft wurde 1989 mitder „Druckhaus Deutz“ verschmol-zen.19

� „Braunschweig-Druck GmbH“(früher Volksfreund Druckerei-

Mehr Transparenz für die SPD-Finanzen 69

und Verlagsanstalt GmbH), Braunschweig;

� „Nordwestdeutsche RundschauGmbH“, Wilhelmshaven;

� „Hildesheimer Druck- und Verlags-GmbH“, Hildesheim;

� „DFI Druckfarben-ImportGesellschaft mbH“, Hannover;

� „Fackelträger-Verlag Schmidt-Küster GmbH“, Hannover;

� „Göttinger Druckerei- und Verlags-GmbH“, Göttingen;

� „Olivia Druck und Verlags-gesellschaft mbH“, Cuxhaven;

� „Presse-Druck-GmbH“ (früher: Verlag Phönix), Bielefeld;

� „Westfälische VerlagsgesellschaftmbH“, Dortmund;

� „Druckhaus Deutz GmbH“ (früher: Westdeutsche Verlags-anstalt GmbH), Düsseldorf;

� „Druckhaus Deutz GmbH“ (früher:Mittelrheinische Druckerei undVerlagsanstalt GmbH), Köln-Deutz.Die „Druckhaus Deutz GmbH“ (Sitzzuletzt Bonn) ist durch Verschmel-zungen in die „Deutsche Druck-und Verlagsgesellschaft mit be-schränkter Haftung“ in Hamburgübergegangen.20

� „NRZ-Rheinisch-Westfälische Verlagsgesellschaft mbH“, Essen;

� „Union-Druck und ZeitungsverlagGmbH“, Saarbrücken;

� „Kieler Druckerei“ (früher: Haase-Druck-GmbH), Kiel;

� „Wullenwever-Druck, Heine KG“(früher: Lübecker Freie PresseGmbH), Lübeck;

� „Kunst- und Werbedruck EmilHackhe OHG“, Kiel-Wik;

Die damalige Gesellschafterliste derKonzentration-GmbH zeigt auch denganz persönlichen Einfluss des SPD-Schatzmeisters Alfred Nau im SPD-Un-

ternehmensbereich. Er war persönlichGesellschafter und hielt den mit Ab-stand größten Einzelanteil (47.000 DMdes Stammkapitals von 150.000 DM).21

Schwierigkeiten hatten die meisten derSPD-nahen Zeitungen schon seit derWährungsreform mit Publikumsge-schmack und Leserbindung. Das Infor-mations- und Unterhaltungsangebotder vom Publikum als unabhängig ein-geschätzten Zeitungen fand mehrAbonnenten und Käufer. Die SPD-na-hen Zeitungen dagegen verloren – mitAusnahme der Morgenpost in Ham-burg und der NRZ aus Essen – schonzwischen 1948 und 1953 im Durch-schnitt über die Hälfte ihrer verkauftenAuflage.22 Die SPD zog daraus die Kon-sequenz, sich verdeckt um Beteiligun-gen an kleineren regionalen Zeitungenzu bemühen. In den Registerakten derVerlagsgesellschaft der Frankenpost inHof beispielsweise wurde 1969 dasAusscheiden der bisherigen Geschäfts-führer aus der Region Hof und derRechtsanwalt Dr. Herbert Allerdt ausHamburg als neuer Geschäftsführereingetragen.23 Bereits 1954 war Allerdtals Treuhänder der SPD einer der Ge-sellschafter und 1962 alleiniger Besit-zer der Coburger „Neuen Presse“ ge-worden.24

Die Krise des SPD-Unternehmensbe-reichs in den 60er-Jahren beschreibtSchatzmeisterin Wettig-Danielmeierso: „Die finanzielle Unterstützung ausden Parteibetrieben nimmt in den60er-Jahren ab und verschwindet dannvöllig. Der Unternehmensbereich derSPD gerät in eine schwere Krise und ist für zwanzig Jahre ein Sanierungs-fall, der mehr Mittel verschlingt als ererwirtschaftet. Noch heute müssen dieaufgenommenen Kredite finanziert

Andreas Feser70

werden und die Lasten aus Sozialplä-nen reduzieren sich nur langsam“.25

Auf 265 Millionen DM soll sich der ge-waltige Schuldenberg belaufen ha-ben.26 In den Augen der Öffentlichkeithatten die Sozialdemokraten „durchMissmanagement und permanentesReinregieren in die Redaktionen eingewaltiges Presseimperium systema-tisch heruntergewirtschaftet“27. Dochdas ist bestenfalls ein Teil der Wahr-heit. Näher an der Wirklichkeit dürftedie Insider-Einschätzung aus der „Kon-zentration“ sein: „Die wirtschaftlichenInteressen der sozialdemokratischenBetriebe wurden den finanziellen Ge-samtinteressen der Partei strikt unter-geordnet“28, die SPD-nahen Zeitungenkonnten nicht investieren, denn sie„führten einen erheblichen Teil ihrerGewinne an die Partei und an die Frie-drich-Ebert-Stiftung ab“29.

SPD-Schatzmeister Nau reagierte aufdie zunehmende Notlage vieler derSPD zuzuordnender Firmen schon zuBeginn der 70er-Jahre mit den erstenSchritten zu einem Umbau des SPD-Unternehmensbereichs. Gesellschaftenwurden neu gegründet oder erhieltenneue Aufgaben. Die „KonzentrationGmbH“, zu deren Aufgaben früherauch die „Beschaffung von Roh- undHilfsstoffen, Betriebsmitteln und Mit-teln zum Ausbau der Betriebe“30 gehör-te, befasst sich heute im Wesentlichenmit der „Entwicklung und Verwaltungvon Grundstücken und Grundstücks-rechten“.31 Mit Gesellschaftsvertragvom 22. Dezember 1971 neu gegrün-det wurde die „Deutsche Druck- undVerlagsgesellschaft mit beschränkterHaftung“ (DDVG) in Hamburg. IhreAufgabe war ursprünglich die „Heraus-gabe, der Verlag, der Vertrieb und derDruck von Zeitungen, Zeitschriften

und Druckerzeugnissen aller Art sowiedie Verwaltung, der Erwerb und Ver-äußerung von Beteiligungen“.32 Heutebefasst sich die Gesellschaft zusätzlichauch mit Beteiligungen an Touristik-unternehmen, der betriebswirtschaftli-chen Beratung von Unternehmen allerArt und dem An- und Verkauf von an-tiquarischen Büchern.33 1980 wurdedie Firma „Ring Druck und Verlag Ge-sellschaft mit beschränkter Haftung“von Mannheim nach Bonn verlegtund in „Solidarität Verwaltungs- undTreuhandgesellschaft mbH“ umbe-nannt. Geschäftsführer war (bis 1982)der frühere SPD-Schatzmeister Profes-sor Dr. Friedrich Halstenberg.34 Diegleiche Funktion nahm er auch bei der1971 gegründeten und 1981 von Ham-burg nach Bonn verlegten „Verwal-tungsgesellschaft für Printmedien-Be-teiligungen mbH“ wahr.35 Ein Ver-sprechen, das Schatzmeister Nau schon1971 vor der Gründung der „DDVG“gegeben haben soll, wurde im Wirbelder ganzen Umstrukturierungen aberoffenbar bis heute vergessen: „eineVeröffentlichung der dann zusammen-gefassten Bilanzen“36, damit die kom-merziellen Interessen der SPD transpa-renter würden.

2. Saniert seit der Deutschen Einheit?

Den großen Sprung nach vorn brach-ten für die Umstrukturierung des SPD-Unternehmensbereichs der Zusam-menbruch des SED-Regimes und dieEinheit Deutschlands. Als Ausgleichfür im Jahr 1933 von den Nazis enteig-netes Vermögen in den neuen Ländernbekam die SPD Grundstücke und Be-teiligungen teilweise zurück, teilweisewurde sie entschädigt. Nach einem

Mehr Transparenz für die SPD-Finanzen 71

Bericht von SPD-Schatzmeisterin Wet-tig-Danielmeier sind „insgesamt 54Rückübertragungsverfahren durch Na-turalrestitution oder Kaufpreisauskehrzugunsten der SPD abgeschlossen wor-den. In 13 weiteren Fällen ist der Parteieine Entschädigungszahlung zuge-billigt, aber durch die Oberfinanzdi-rektion Berlin noch nicht über derenHöhe entschieden worden“37. Laut oh-ne Widerspruch gebliebener Angabenvon Altbundeskanzler Dr. Helmut KohlMdB haben die Sozialdemokraten „fürden durch die Nazis zugefügten Scha-den eine Wiedergutmachungsleistungvon 70 Millionen DM erhalten“38. DieSPD hatte nun anscheinend die Mittel,die seit den 60er-Jahren entwickelteStrategie der lukrativen Minderheitsbe-teiligung an Zeitungen, die nicht alsSPD-nah in Erscheinung treten, zumErfolg zu führen. „Heute gefällt sichdie Partei in der Rolle des Juniorpart-ners und sitzt bei den Großen der Zei-tungsbranche mit am Tisch“.39 Diewieder erstarke Position der SPD imVerlagswesen fiel zusammen mit ei-nem Aufschwung der Branche. SPD-Schatzmeisterin Wettig-Danielmeierfreut sich: „Die Beteiligungen an regio-nalen Presseverlagen haben sich posi-tiv entwickelt, insbesondere die in denvergangenen Jahren getätigten Inves-titionen in den Neuen Bundesländernhaben sich als erfolgreich erwiesenund werden zukünftig zum wirtschaft-lichen Gesamtergebnis beitragen“40.Die Beteiligungen der SPD im Medien-bereich, für die angeblich bereits 1993von Wirtschaftsprüfern ein Gesamt-wert von 515 Millionen DM ermit-telt wurde41, sind nach dem Urteil vonSachkennern wie dem HamburgerWirtschaftsprüfungs-Experten Profes-sor Strobel heute rund 1 Milliarde DMwert42.

„Schaltstation des SPD-Unterneh-mensbereichs“43 ist die „DDVG“. Siehat die Funktion einer Holding-Gesell-schaft. Der Schwerpunkt ihrer Betei-ligungen liegt laut dem mehrfach inder Presse veröffentlichten44 Beteili-gungsspiegel vom 31.12.1997 im Be-reich der Presse.

Die in der Zeit des früheren SPD-Bun-desgeschäftsführers Peter Glotz erwor-benen Radiobeteiligungen hat die SPDbis auf „Rheinland-Pfälzischer Rund-funk“, „Antenne Niedersachsen“ und„Radio FFH“ wieder abgestoßen.45 ImPressewesen hält die „DDVG“ laut Be-teiligungsspiegel folgende Anteile:

� 100% an der „Westfälischen Verlags-gesellschaft mbH“, DortmundDie „Westfälische Verlagsgesellschaft“hält 13,1% an der „ZeitungsverlagWestfalen GmbH & Co KG“46, derVerlagsgesellschaft der „Westfäli-schen Rundschau“ aus Dortmund.Laut Gesellschaftsvertrag der „Zei-tungsverlag Westfalen GmbH“ istdie publizistische Grundhaltung der„Westfälischen Rundschau“ der „so-zialen Demokratie verpflichtet“ –was nur mit Zustimmung der „West-fälischen Verlagsgesellschaft mbH“geändert werden kann.47

� 99,1% an der „Oliva Druck- undVerlagsgesellschaft mbH“, CuxhavenDie „Oliva Druck- und Verlagsge-sellschaft“ hält 50% an der „Verlags-gesellschaft Cuxhaven mbH & CoCuxhavener Nachrichten KG“48. Die„Cuxhavener Nachrichten“ sind Teilder „Redaktionsgemeinschaft Nord-see“, zu der auch die „Nordsee-Zei-tung Bremerhaven“, das „Buxtehu-der Tagblatt“, die „KreiszeitungWesermarsch“ und das „Stader Ta-geblatt“ gehören49.

Andreas Feser72

� 87,5% an der „Presse-Druck GmbH“,BielefeldDie „Presse-Druck-GmbH“ hält 57,5% an der „Zeitungsverlag NeueWestfälische GmbH & Co KG“50.

� 50% an der „Druckhaus BayreuthVerlagsgesellschaft mbH“, BayreuthDie „Druckhaus Bayreuth Verlags-gesellschaft mbH“ hält 63% an der „Nordbayerischer Kurier GmbH& Co Zeitungsverlag KG“51. Der„Nordbayerische Kurier“ gehörtzum „Ring nordbayerischer Ta-geszeitungen“, in dem auch die„Bayerische Rundschau“ aus Kulm-bach, das „Coburger Tageblatt“ unddas „Obermain-Tageblatt“ aus Lich-tenfels und Staffelstein mitarbeiten.

� 40% an der „Dresdner Druck- undVerlagshaus GmbH & Co KG“, Dres-den. Hier erscheint unter anderem die„Sächsische Zeitung“.

� 30% an der „Suhler Verlagsgesell-schaft mbH“, Suhl

� 30% an der „Suhler Verlag Verwal-tungsgesellschaft mbH“, Suhl

� 30% an der „Südthüringer Drucke-rei und Verlagshaus GmbH & CoDruckzentrum KG“, SuhlDie “Suhler VerlagsgesellschaftmbH“ verlegt die Zeitung „FreiesWort“. Die „Südthüringer VerlagGmbH“52 der „Südthüringer Zei-tung“ aus Bad Salzungen ist eine100%ige Tochter der „Suhler Ver-lagsgesellschaft mbH“.

� 30% an der „Druck- und Verlagsan-stalt Neue Presse GmbH“, Coburg

� 30% an der „Frankenpost VerlagGmbH“, Hof

� 30% an der „KOSOS BeteiligungsGmbH & Co Vermietungs-oHG“,Hof

� 26% an der „Dr. Erich MadsackGmbH“, Hannover

� 20,389% an der „VerlagsgesellschaftMadsack GmbH & Co“, Hannover.Die „DDVG“ hält damit den größ-ten der derzeit 31 Kommandit-An-teile an der Verlagsgesellschaft der„Hannoverschen Allgemeinen“ undder „Hannoverschen Neuen Presse“.Kommanditisten sind neben der„DDVG“ Angehörige der Verleger-Familie Madsack und die „GebrüderGerstenberg GmbH & Co“53, dieVerlagsgesellschaft der „Hildeshei-mer Allgemeinen Zeitung“54. Mit 99% ist die „VerlagsgesellschaftMadsack GmbH & Co“ an der „Göt-tinger Tageblatt GmbH & Co“55 be-teiligt.

Ein zweites Standbein der DDVG istdie traditionell für den SPD-Unterneh-mensbereich wichtige Branche derDruckereien, die „derzeit alle in derGewinnzone arbeiten“56. Hier ist die„DDVG“ laut des in der Presse veröf-fentlichten Beteiligungsspiegels vom31.12.199757 mit folgenden Beteili-gungen vertreten:

� 100% an der „Wullenwever print +media Lübeck GmbH“, Lübeck

� 99,8% an der „Druckhaus Schwa-ben GmbH“, Heilbronn

� 99,75% an der „Druckhaus Karls-ruhe GmbH“, KarlsruheDie Gesellschaft ist mittlerweile um-benannt und heißt nun „Druck-und Verlagsgesellschaft SüdwestmbH“58.

� 99,1% an der „Hildesheimer Druck-und Verlagsgesellschaft mbH“, Hil-desheim

� 69,4% an der „Braunschweig DruckGmbH“, Braunschweig

Daneben verzeichnet der in der Pres-se veröffentlichte Beteiligungsspiegel

Mehr Transparenz für die SPD-Finanzen 73

vom 31.12.199759 für die „DDVG“aber von der Beratung über den Tou-rismus bis zum Buchhandel auch Be-teiligungen in ganz unterschiedlichenBranchen:

� 100% an der „Berliner Vorwärts Ver-lagsgesellschaft mbH“, Berlin

� 100% an der „Vorwärts VerlagGmbH“, HamburgDiese Gesellschaft ist mittlerweile in „HSI-Hamburger Stadtillustrier-ten Verlagsgesellschaft mbH“ um-benannt60 – vermutlich wegen desvon SPD-Schatzmeisterin Wettig-Danielmeier stolz berichteten Er-werbs der „Szene Hamburg“61.

� 100% an der „Printmedien Beteili-gungsgesellschaft mbH & Co KG“

� 100% an der „Verwaltungsgesell-schaft für PrintmedienbeteiligungenmbH“, Bonn

� 100% an der „Hamburger Presse-papier Vertriebsgesellschaft mbH“,Hamburg

� 100% an der „Reisebüro im Willy-Brandt-Haus“ GmbH, Berlin

� 100% an der „SPD-ReiseserviceGmbH“, BonnDer veröffentlichte Beteiligungs-spiegel62 weist für 1996 einen Ver-lust von 951.938 DM aus. SPD-Schatzmeisterin Wettig-Danielmeierbeklagt zwar die unbefriedigende„Renditeentwicklung in diesem Be-reich“, tröstet sich aber mit demHinweis: „Die Serviceangebote des‘SPD-Reiseservice’ erfreuen sich wei-terhin regen Zuspruchs vieler Par-teimitglieder“63.

� 100% an der „Office Consult Be-triebswirtschaftliche Büroorganisa-tion Beratungs-GmbH“, BerlinMit der „OCG“ will die SPD Bera-tungsdienstleistungen nicht nur fürParteigliederungen anbieten. Die

Firma hat seit 1.10.1999 „die Buch-haltung für den Parteivorstandübernommen. Die Akquisition neu-er, externer Kunden im Umfeld derPartei sowie im Bereich der Non-Profit-Organisationen wird for-ciert“64.

� 100 % an der „Antiquariatsgesell-schaft im Willy-Brandt-Haus GmbH“,Berlin

� 25,2 % an der „Georgsbuchhand-lung GmbH“, Hannover

Die Geschäftsführung des SPD-Unter-nehmensbereichs besorgt – kontrolliertvon den Treuhändern, darunter vorallem der SPD-Schatzmeisterin Wet-tig-Danielmeier und dem Treuhand-aufsichtsrat65 der Partei – seit 199466

Kaufmann Jens Berendsen. Mit einergroßformatigen Anzeige wandte er sichim Mai an die Leser der „Welt“: „DieDDVG ist ein wirtschaftlich erfolgrei-ches Unternehmen. (...) Durch unsereerfolgreiche Arbeit verdienen wir nichtnur Geld, sondern wir schaffen auchneue Arbeitsplätze. Gerade in den neu-en Bundesländern hat sich die DDVGbeispielsweise mit einem dreistelligenMillionenbetrag engagiert und dabeihunderte von Arbeitsplätzen erhaltenund geschaffen“67. Für eine einheitli-che Führung des SPD-Unternehmens-bereichs rund um die „DDVG“ ist ge-sorgt: Jens Berendsen betreut inPersonalunion die Geschäfte weitererGesellschaften, darunter der „Verwal-tungsgesellschaft für Printmedien-Beteiligungen mbh“68, der „HSI Ham-burger Stadtillustrierten Verlagsge-sellschaft mbH“69, der „Berliner Vor-wärts Verlagsgesellschaft mbH“70, der„SPD-Reiseservice GmbH“71, der „Pres-se-Druck GmbH“ in Bielefeld72, der„Westfälischen VerlagsgesellschaftmbH“ in Dortmund73 und der „Solida-

Andreas Feser74

rität Verwaltungs- und Treuhandgesell-schaft mbH“74 – die ihrerseits auchMitgesellschafterin der „DDVG“ ist75.

Innerhalb der heute von der DDVG ge-haltenen Beteiligungen gibt es ein en-ges Netz personeller Verflechtungen.Günter Ritter lautet der Name des Ge-schäftsführers sowohl bei der „Druck-haus Schwaben“76 wie bei der „Druck-u. Verlagsgesellschaft Südwest mbH“77.Franz Stoß und Heinrich Giegold wa-ren in den Jahren vor 1990 ebenso beider „Druck- und Verlagsanstalt NeuePresse GmbH“ in Coburg78 wie bei der„Frankenpost GmbH“ in Hof79 Ge-schäftsführer. Werner Griego, seit 1991Geschäftsführer der „Druck- und Ver-lagsanstalt Neue Presse GmbH“ in Co-burg80, hat die gleiche Funktion jetztauch bei der „Suhler Verlag Verwal-tungsgesellschaft mbH“81. Seit diesemJahr amtiert bei allen drei Gesellschaf-ten in Coburg82, Hof83 und Suhl84 zu-dem Hans Homrighausen als Ge-schäftsführer.

Nicht alle als SPD-nah eingestuften85

Zeitungen zählen die „DDVG“ zuihrem Gesellschafterkreis. An der„Neuen Ruhr-Zeitung“, deren VerlegerDietrich Oppenberg ihr bei aller poli-tischen Nähe zur SPD die juristischeUnabhängigkeit stets bewahrte86, istneben dem heutigen Hauptgesellschaf-ter, der WAZ-Verlagsgruppe87, auch die„Rheinisch-Westfälische Verlagsgesell-schaft mbH“88 mit 10,6% beteiligt.Dieser Anteil an der „NRZ“-Verlagsge-sellschaft entspricht dem in veröffent-lichten Übersichten89 angegebenenAnteil der laut Presse „parteinahen Stif-tung Pressehaus NRZ“90. Auch hier gibtes Hinweise auf personelle Verflech-tungen mit dem SPD-Unternehmens-bereich: Prokurist in der Essener Ge-

sellschaft war von 1968 bis 1972 Dr.Kurt Nevermann. Bei der Hamburger„Auerdruck“ wiederum, einer der zen-tralen Firmen des SPD-Unternehmens-bereichs, ist von 1972 bis 1976 Dr.Kurt Nevermann als Geschäftsführereingetragen.91

Das Interesse der SPD an der „Saar-brücker Zeitung“ wurde vor kurzemdurch eine Kandidatur eindrucksvollunterstrichen: Ex-SPD-Chef OskarLafontaine wollte Mitglied des Auf-sichtsrats der Zeitung werden. Als Ge-sellschafter der „Saarbrücker ZeitungVerlag und Druckerei GmbH“ werdendie Familie von Holtzbrinck mit 52,3%, die „Gemeinnützige Förderge-sellschaft Saarbrücker Zeitung“ mit 26%, die Belegschaft mit 15% sowieBanken und die Saarbrücker Zeitungselbst mit 6,7 % genannt.92 An der „Ge-meinnützigen Fördergesellschaft Saar-brücker Zeitung“ wiederum ist, so die„Friedrich-Ebert-Stiftung“93, die „Stif-tung Demokratie Saar“ beteiligt, diefrüher „Friedrich-Ebert-Stiftung Saare.V.“ hieß. Mit der „Saarbrücker Zei-tung“ hat die „LR Medienverlag GmbH“,die Verlagsgesellschaft der „LausitzerRundschau“ aus Cottbus, seit 1991 ei-nen Beherrschungs- und Gewinnab-führungsvertrag geschlossen.94 Allein-gesellschafter ist die „SaarbrückerZeitung“ bei der „Zweibrücker Drucke-rei- und Verlagsgesellschaft mbH“, dieden „Pfälzischen Merkur“ herausgibt.95

3. Wirtschaftliche Betätigungist keine Aufgabe der Parteien

Politik und Geld, Politik und Presse-macht – das sind in Deutschland mehrnoch als in anderen Ländern sensibleThemen. Vor dem Hintergrund der

Mehr Transparenz für die SPD-Finanzen 75

deutschen Geschichte des 20. Jahr-hunderts wird politischer Einfluss vonwirtschaftlicher oder publizistischerMacht sehr kritisch gesehen. Das ist ei-ne wichtige Lehre aus der Niederlageder Weimarer Republik gegen ihre to-talitären Gegner. Tief sitzt der Schocküber den vom Geld der „Ruhrbarone“und dem Einfluss der „ostelbischenJunker“ geförderten Aufstieg Hitlersund die Auflösung der Abwehrfrontder bürgerlichen Parteien unter demEindruck der von Hugenbergs Presse-Imperium verbreiteten Propaganda.Die Lehre aus der Geschichte war undbleibt eine doppelte: Vielfalt und Wett-bewerb der Medien schützen die De-mokratie vor einseitiger Beeinflussungder politischen Entscheidungen durchdie veröffentlichte Meinung. DiePflicht der Parteien, größere Spendenzu veröffentlichen, verhindert ver-deckte Einflussnahmen. So wird un-sachgemäßen Einflüssen vorgebeugt,denn Einflussversuche, über die öf-fentlich und kontrovers diskutiert wer-den kann, sind zum Scheitern verur-teilt – letztlich, weil die Wählerinnenund Wähler bei der nächsten Wahl dieKonsequenz ziehen können.

Im Bewusstsein der Öffentlichkeit tiefverankert ist die Verurteilung sachwid-riger Einflussnahmen auf politischeEntscheidungen durch finanzielle Zu-wendungen. Zu wenig beachtet wirdaber, dass auch die Rücksichtnahmeauf eigene wirtschaftliche Interesseneiner Partei politische Entscheidungensachwidrig beeinflussen kann. Wer hatdie besondere Beachtung, die bei denBeratungen des verunglückten „630-DM-Gesetzes“ die SPD-geführte Bun-desregierung und Kanzler Schröderpersönlich den Belangen der Pressever-lage widmeten, mit den Presse-Beteili-

gungen der SPD in Verbindung ge-bracht? Wer nahm zur Kenntnis, dassder Wegfall der Körperschaftsteuer fürBeteiligungsveräußerungen zwar nichtzur traditionellen SPD-Politik passt,aber der SPD-Presseholding „DDVG“durchaus einmal von Nutzen seinkann?

Die in den vergangenen Jahren ange-wachsene Vermögensmacht der SPDund ihre Medienbeteiligungen stellendie alten kritischen Fragen an das Ver-hältnis von Geld und Politik unter ver-änderten Vorzeichen neu. WelchesInteresse leitet die SPD, ihr Geld in Me-dienbeteiligungen zu stecken undnicht auf andere, finanziell gegebe-nenfalls viel einträglichere Art anzu-legen? Wie beeinflusst die SPD mitihren Zeitungsbeteiligungen Presse-markt und Meinungsvielfalt? Verträgtsich massiver wirtschaftlicher Einflussauf Unternehmen, in welcher Brancheauch immer, mit den Aufgaben einerPartei?

SPD-Schatzmeisterin Wettig-Daniel-meier will den Einfluss der SPD in denVerlagen, an denen ihre Presseholding„DDVG“ beteiligt ist, möglichst geringerscheinen lassen: „Wir haben keinenbestimmenden Einfluss. Wir haltenfast nur Minderheitsbeteiligungen.Selbst bei der ‘Neuen Westfälischen’,wo wir faktisch die Mehrheit besitzen,haben wir einen Geschäftsführungs-vertrag, nach dem eine Entscheidungnur dann zustande kommt, wenn sichbeide Partner einigen“96. Die SPD be-halte sich in den Gesellschaften, an de-nen sie beteiligt ist, „nur Einfluss aufden Wirtschaftsplan und die Besetzungder Geschäftsführung vor“97. MehrEinfluss deutlich werden zu lassen, wä-re für die SPD allerdings schon steuer-

Andreas Feser76

rechtlich sehr riskant: Die SPD ist alsPartei nicht steuerpflichtig – allerdingsnur solange, als ihre Beteiligungen als„Vermögensverwaltung“ eingeordnetwerden können, weil kein entschei-dender Einfluss auf die laufende Ge-schäftsführung ausgeübt wird.98 Umsowichtiger ist damit natürlich für dieSPD das Mitspracherecht bei der Aus-wahl der Geschäftsführer.

Die „Steuerungsfirmen“ des SPD-Un-ternehmensbereichs sind offenbar soetwas wie eine „Kaderschmiede“ desdeutschen Zeitungsverlagswesens. Un-ter den Vorgängern des heutigen„DDVG“-Geschäftsführers Jens Be-rendsen in seinen vielfältigen Funk-tionen finden sich unter anderen Dr. Friedhelm Haak (Geschäftsführerder „DDVG“99, der „Solidarität“100, der„Verwaltungsgesellschaft für Print-medien-Beteiligungen“101 und der„Westfälischen Verlagsgesellschaft“102),Rainer Hlubek (ebenfalls Geschäfts-führer der „DDVG“103, der „Solida-rität“104, der „Verwaltungsgesellschaftfür Printmedienbeteiligungen“105 undder „Westfälischen Verlagsgesell-schaft“106) und Bernd Nacke (Proku-rist der „Westfälischen Verlagsgesell-schaft“107). Heute findet man die glei-chen Namen an prominenter Stelle beigroßen deutschen Zeitungsverlagen:

� Hannoversche Allgemeine Zeitung:Geschäftsführer Dr. FriedhelmHaak108;

� Braunschweiger Zeitung: Geschäfts-führer Rainer Hlubek109;

� WAZ-Verlagsgruppe: Bernd Nacke,Geschäftsführer der „WestfälischenRundschau“110 und der „NRZ“111.

Über die „DDVG“ ist die SPD mit vie-len großen Zeitungsverlagen geschäft-

lich verbunden. Der „Süddeutsche Ver-lag“ hält die Mehrheitsanteile an der„Frankenpost“ aus Hof, an der Cobur-ger „Neuen Presse“ und dem „FreienWort“112 aus Suhl. Dem „Axel-Sprin-ger-Verlag“ gehört die Hälfte der „Leip-ziger Volkszeitung“ – die andere Hälf-te der „Madsack-Verlagsgruppe“113, ander die „DDVG“ beteiligt ist. Das zur„Bertelsmann AG“ gehörende „Druck-und Verlagshaus Gruner + Jahr“ hältdie Mehrheit an der „Dresdner Druck-und Verlagshaus GmbH & Co KG“,dem Verlag der „Sächsischen Zei-tung“114. Diese „Publizistischen Koali-tionen“115 der SPD sind für die Lesernicht erkennbar und reichen wegender Konzernstrukturen der Geschäfts-partner weit über die Zeitungen hin-aus, an denen die „DDVG“ beteiligt ist.So erscheinen in der „WAZ-Verlags-gruppe“, die mit der SPD über die„Westfälische Rundschau“ verflochtenist, auch die „Westdeutsche Allgemei-ne“ aus Essen, die „Westfalenpost“ ausHagen, die „Ostthüringer Zeitung“ ausGera und die „Thüringer Allgemeine“aus Erfurt.116 Nach dem fachkundigenUrteil des Mainzer Publizistik-Profes-sors Kepplinger wird bei Zeitungen mitmittelbarer SPD-Beteiligung „bereitsbei der Einstellung von Redakteurenauf eine gewisse Linientreue“ geachtet,die zu einer „deutlich geringeren Mei-nungsvielfalt in der Redaktion füh-re“117. Das dürfte sich dann innerhalbder großen Zeitungsverlage auch aufdie Blätter auswirken, an denen die„DDVG“ gar keine Beteiligung hält.Staatsminister Huber, Chef der Bayeri-schen Staatskanzlei, stellt dazu fest:„Die SPD schafft eine Situation, die fürdie Redakteure objektiv schwierig ist.In manchen Regionen gibt es eine er-hebliche Konzentration von SPD-Be-teiligungen in der Tagespresse“118.

Mehr Transparenz für die SPD-Finanzen 77

Für SPD-Schatzmeisterin Wettig-Dani-elmeier sind die Beteiligungen der„DDVG“ in der deutschen Verlags-branche vor allem ein Beitrag zu mehrVielfalt, „müssten wir verkaufen, wür-den nur einige Große noch größer“119.Doch die mittelbaren Beteiligungen ei-ner Partei können auch für die Wett-bewerbsbedingungen zwischen denPresseverlagen ein ernstliches Problemdarstellen. Gibt es auf dem Anzeigen-markt Vorteile bei den immer nochzahlreichen Firmen im Besitz der öf-fentlichen Hand, wenn die Regie-rungspartei ein wirtschaftiches Interes-se an einer Zeitung hat? Im „Vorwärts“haben zwischen Mai 1998 und Februar2000 beispielsweise in der Landesaus-gabe Nordrhein-Westfalen folgendeFirmen Inserate geschaltet: Westdeut-sche Landesbank (sechs mal je eine Sei-te), Westdeutsche Lotterie-GmbH (fünfmal je eine halbe Seite), Deutsche Post(sechs mal, insgesamt 18 Seiten), BahnAG (drei mal je eine Seite), VolkswagenAG (drei mal je eine Seite), Audi-AG(fünf mal je eine Seite). Bei allen habenPolitiker der SPD als politisch Verant-wortliche im Bund und in den Län-dern Nordrhein-Westfalen und Nieder-sachsen Einfluss auf die Firmen alsVertreter wichtiger Eigner.120

Die wirtschaftliche Macht einer Par-tei im Pressewesen ist problematisch,denn eine unabhängige Presse hat inunserem demokratischen Staat eineaußerordentlich wichtige Kontroll-funktion. „Parteien haben generell inder unabhängigen Presse nichts zu su-chen“, betont Staatsminister Huber.Seine Forderung ist konsequent: „DieSPD soll sich von ihrem Medienimpe-rium trennen“121. Doch wirtschaftlicheMacht im Pressewesen ist nur einAspekt eines grundlegenderen Pro-

blems: des Verhältnisses von politi-scher Verantwortung und Wirt-schaftstätigkeit. Wer das Vertrauen inPolitik und Staat wieder stärken will,muss für klare Verhältnisse sorgen.Und das heißt: „Alle Parteien dürfenihr Geld nur in der Form öffentlichhandelbarer Papiere in breiter Streuunganlegen“122, um politische Einfluss-nahme auf eine Unternehmensfüh-rung – in welcher Branche auch immer– so weit als möglich auszuschließen.

Für eine klare Abgrenzung der jeweili-gen Verantwortlichkeiten von Politikund Wirtschaft ist darüberhinaus vorallem eine konsequente Privatisie-rungspolitik erforderlich. Die Rolle vonPolitikern als Vertreter der öffentlichenHand in Aufsichtsräten und ihre Bezü-ge aus solchen Tätigkeiten sowie dieSpenden staatseigener Unternehmenan politische Parteien wecken in derÖffentlichkeit zunehmend kritischeFragen. Auf diese Fragen gibt es nur ei-ne klare Antwort: Staat und Politikmüssen sich aus wirtschaftlichen Tätig-keiten zurückziehen.

4. SPD-Vermögen – ein Vorsprungim politischen Wettbewerb

Die demokratische Wahlentscheidungüber Regierung und Opposition liegtnur bei einem fairen Wettbewerb derParteien ungeschmälert in der Handder Wähler. Die Chancengleichheit derParteien hat deshalb Verfassungsrang.Mit der Auswahl unter mehreren Par-teien und ihren unterschiedlichen Pro-grammen und Kandidaten treffen dieBürgerinnen und Bürger die Entschei-dung über die Richtung der Politik.Weil die Entscheidung, welche Parteiin die Opposition geschickt wird und

Andreas Feser78

welche den Regierungsauftrag erhält,sich von Wahl zu Wahl ändern kann,bleibt die Macht an den Wählerwillengebunden und ihre demokratischeKontrolle wirksam. Das Parteivermö-gen der SPD und ihre Medienbetei-ligungen drohen der SPD einen un-einholbaren Vorsprung vor ihrendemokratischen Wettbewerbern zuverschaffen und die parlamentarischeKontrolle von Macht im Wechselspielvon Opposition und Regierung außerKraft zu setzen. Die SPD sei nach demUrteil von Bankern „jederzeit für 250Millionen DM gut“123 und könnte,wenn sie sich in einem Wahlkampfunter Druck fühlte, „mehrere HundertMillionen DM mobilisieren“, stellt dieWirtschaftswoche124 dazu fest.

Einen aktuellen Zusammenhang zwi-schen den Erträgen ihres Unterneh-mensbereichs und konkreter Wahl-kampfhilfe will die SPD nicht sehen –obwohl es viele Hinweise darauf gibt,dass dieser Zusammenhang eben dochbesteht. In den 50er-Jahren fordertedie SPD-Parteizentrale ganz offen vonden SPD-nahen Zeitungen, sich mitganzer Kraft für den jeweiligen SPD-Kanzlerkandidaten einzusetzen.125 DieSPD profitierte von massiven Sachleis-tungen der parteinahen Presse: „DieEigenbetriebe stellten der SPD kosten-frei Mitarbeiter zur Verfügung, sie ver-öffentlichten Wahlkampfinserate derSPD, ohne diese Inserate in Rechnungzu stellen und überließen der ParteiFahrzeuge aus ihren Fuhrparks, für de-ren Nutzung nicht bezahlt werdenmusste“126. Und schon damals hieltenInsider wie der frühere „Konzentra-tion“-Geschäftsführer Günter Falk dieVermutung nicht für unbegründet,dass auch die Spenden der Parteibe-triebe für die Friedrich-Ebert-Stiftung

letztlich in die Kasse der SPD flossen.127

Wohl nicht zufällig kurz vor den Bun-destagswahlen 1987 erfolgte Ende1986 die Veräußerung eines 9-Millio-nen-Anteils an der „Auerdruck“ durchden Eigner SPD an die ebenfalls zumSPD-Unternehmensbereich zählende„Druckhaus Deutz GmbH“. Diese zahl-te 63 Millionen DM für eine Gesell-schaft128, die lange Jahre wirtschaft-licher Schwierigkeiten hinter sichhatte129. Die „Druckhaus Deutz“ dage-gen verdankte ihren bis dahin größe-ren wirtschaftlichen Erfolg einemlangjährigen Druckauftrag des „Axel-Springer-Verlags“, der hier eine Teil-auflage der „Bild“ drucken ließ130.Mittlerweile besteht auch die „Druck-haus Deutz“ nicht mehr.

Der Feststellung, die SPD habe für dieJahre 1995 bis 1997 Ausschüttungen ih-rer Presseholding von rund 19,4 Millio-nen DM nach Berücksichtigung der an-fallenden Steuern kassiert, wird von derSPD nicht widersprochen. Der Schwer-punkt dieser Zahlungen erfolgte im Jahr1998, da die Gewinnausschüttung der„DDVG“ laut namens der SPD-Schatz-meisterin abgegebener Erläuterungenjeweils erst im Folgejahr bei der Parteikassenwirksam wird und die Ausschüt-tung für 1997 besonders hoch ausfiel(16 Millionen DM). Aus einer von SPD-Schatzmeisterin Wettig-Danielmeier am23.5.2000 an Pressevertreter verteiltenÜbersicht geht damit weiter hervor,dass bei den Ausschüttungen für dieJahre 1992 bis 1994 von insgesamt297.000 DM alle Zahlungen im Wahl-jahr 1994 erfolgten, während 1993 und1995 bei der SPD kein Geld von der„DDVG“ einging.

Die Möglichkeit, die Wahlkampfkasseaufzubessern, erfordert unter dem Ge-

Mehr Transparenz für die SPD-Finanzen 79

sichtspunkt der Chancengleichheit derParteien künftig mehr Aufmerksamkeitauch für das Parteivermögen und dieErträge daraus. Die Rechtsprechung,die das Bundesverfassungsgericht zuden Spenden an die Parteien ent-wickelt hat, trifft jedenfalls dem Sinnnach auch hier zu:

� „Eine Verflechtung von politischenund wirtschaftlichen Interessen solloffen gelegt werden.“131 Das mussauch gelten, wenn eine Partei selbstwirtschaftliche Interessen hat.

� „Der Wähler soll die Möglichkeithaben, die Übereinstimmung zwi-schen den politischen Programmenund dem Verhalten derer zu prüfen,die mit Hilfe finanzieller Mittel aufdie Parteien Einfluss zu nehmen su-chen“132. Der Wähler muss auchwissen können, an welchen Unter-nehmen eine Partei beteiligt ist undob die Geschäftspolitik dort denvon der Partei vertretenen politi-schen Grundsätzen entspricht.

� „Die innere Ordnung der Parteiensollte durch die Pflicht zur öffent-lichen Rechenschaftslegung gegenundemokratische Einflüsse gesichert(...) und es sollte Vorsorge getroffenwerden, dass die ÖffentlichkeitKenntnis über die Herkunft derMittel der Parteien erhält, damit er-sichtlich ist, wer hinter einer politi-schen Gruppe steht“133. Undemo-kratische Einflussnahme ist inner-halb einer Partei auch denen mög-lich, die über die Finanzmittel ausden Parteiunternehmen oder diemit dem Eigner-Einfluss dort ver-bundenen Möglichkeiten verfügen,Karrieren zu fördern.

� „Die Veröffentlichungspflicht solltezugleich zur Chancengleichheit impolitischen Wettbewerb der Parteien

beitragen“134. Bei einer Überarbei-tung des Parteiengesetzes muss des-halb für alle Einnahmen der Partei-en die gleiche strenge Transparenzdurchgesetzt werden, wie sie fürSpenden jetzt schon gilt.

Im Interesse fairer Bedingungen im de-mokratischen Wettbewerb für alle Par-teien muss der krasse Vermögensvor-sprung der SPD ausgeglichen werden.„Ein Weg dazu wäre der in anderenRechtsgebieten verankerte Grundsatz,dass vor der Inanspruchnahme staatli-cher Unterstützung eigenes Vermögeneinzusetzen ist“135.

5. Das Transparenzgebot des Grundgesetzes fordert mehr Offenheit

Das Transparenzgebot des Grundgeset-zes für die Finanzen der Parteien hatnach der Rechtsprechung des Bundes-verfassungsgerichts „eine zentrale Be-deutung“ für das Funktionieren derDemokratie.136 „Das Publizitätsgebotdes Art. 21 Abs. I Satz 4 Grundgesetzdient der innerparteilichen Demokra-tie und empfängt seinen Sinngehaltauch vom Art. 21 Abs. I Satz 3 Grund-gesetz her. Dies gilt insbesondere fürdie Verwendung der Mittel. Die Offen-legung von Finanzströmen macht die-se kontrollierbar und entschärft sie alsMittel innerparteilicher Machtsiche-rung.“137

Umstritten ist, ob Vermögensgegen-stände in den Rechenschaftsberichtender Parteien mit den „Nominalwerten“oder mit den „Verkehrswerten“ anzu-geben sind. Die Angabe aktueller „Ver-kehrswerte“ würde mehr über dietatsächliche Finanzkraft der Parteien

Andreas Feser80

aussagen und daher besser dem Trans-parenzgebot des Grundgesetzes ent-sprechen.138 Ein Gutachten der vonder SPD beauftragten Wirtschaftsprü-fungsgesellschaft „Counsel TreuhandGmbH“ dagegen tritt für die Angabevon „Nominalwerten“ ein. Ausdrück-lich hält das Gutachten fest: „Die SPDhat in ihren Rechenschaftsberichtenihre Beteiligungen zum Nominalwert,das heißt mit den Beträgen des ge-zeichneten und eingezahlten Stamm-kapitals ausgewiesen“139. Damit darfaber nicht buchhalterischer WillkürTür und Tor geöffnet werden. Wollteeine Partei beispielsweise ihre millio-nenschweren Beteiligungen auf eineGesellschaft mit einem Stammkapitalvon nur 50.000 DM überschreiben, umdann nur noch dieses Stammkapitalals Vermögenswert anzugeben, wäredas eine Umgehung der Rechen-schaftspflicht. Es darf daher auch beider Wertangabe für das SPD-Vermögennicht nur auf das Stammkapital der„DDVG“ von 12 Millionen DM140 an-kommen, wenn die von dieser Gesell-schaft ihrerseits gehaltenen Beteiligun-gen diesen Betrag weit übersteigen. Inder Welt wurde SPD-SchatzmeisterinWettig-Danielmeier mit der Angabe zi-tiert, der Buchwert der SPD-Gesell-schaften betrage 17,8 Millionen DM141,mit diesem Betrag seien sie bei denVermögensbeteiligungen im Rechen-schaftsbericht berücksichtigt142. Dochauch dieser Wert ist wohl zu niedrigangesetzt: Allein die von der „DDVG“gehaltenen Kommanditanteile an der„Dresdner Druck- und VerlagshausGmbH & Co KG“ (72.020.000 DM)143,der „Verlagsgesellschaft MadsackGmbH & Co KG“ (15.291.750 DM)144,der „Südthüringer Druckerei- und Verlagshaus GmbH & Co Druckzen-trum KG“ (9.000.000 DM)145 und der

„Suhler Verlagsgesellschaft mbH & CoKG“ (2.460.000 DM)146 überschreitenmit einer Gesamtsumme von 98,7 Mil-lionen DM das im Rechenschaftsbe-richt 1998 insgesamt angegebene Ver-mögen des SPD-Parteivorstands von56,7 Millionen DM147.

Gut begründbaren Zweifeln begegnetauch die Verbuchung der Erträge ausdem Vermögen in den Rechenschafts-berichten der SPD. Den bereits er-wähnten Zuflüssen an die SPD durchGewinnausschüttungen der „DDVG“in den Jahren 1996 bis 1998 von ins-gesamt 19,4 Millionen DM stehen inden offiziellen Rechenschaftsberichtenveröffentlichte „Erträge aus Vermö-gen“ von 3,9 Millionen DM148 gegen-über. Die SPD beruft sich dabei aufeine Sondervorschrift des Parteien-gesetzes, die eine Saldierung der Er-träge mit Aufwendungen für das Par-teivermögen zulasse. So wurde dieAusschüttung der DDVG von 18,4 Mil-lionen DM im Jahr 1998 (ohne Berück-sichtigung von Kapitalertragssteuerund Solidaritätszuschlag) „mit Auf-wendungen aus der Vermögensverwal-tung verrechnet, insbesondere mitAufwendungen, die durch die Investi-tionen in das Willy-Brandt-Haus ent-standen“149. Solche Kosten aber wärennicht saldierbar: Investitionen für dasVermögen gehören in die Vermögens-,nicht in die Einnahmen-/Ausgaben-Rechnung des Rechenschaftsberichts,Aufwendungen für eine Parteizentralesind Aufwendungen für ein zur über-wiegenden Eigennutzung vorgesehe-nes Gebäude und nicht für ein Ertrags-objekt. Solange die SPD nicht alleZahlen für ihre Saldierungen klar of-fenlegt, bleiben Zweifel am Rechen-schaftsbericht – zumal „die Parteienselbst und unmittelbar Adressaten der

Mehr Transparenz für die SPD-Finanzen 81

öffentlichen Rechenschaftspflicht“150

sind, die ihnen das Grundgesetz auf-gibt.

„Ich habe das Präsidium regelmäßigüber die Parteifinanzen informiert“151,betont Schatzmeisterin Wettig-Daniel-meier. Für Bundestagspräsident Wolf-gang Thierse, seit 1990 stellvertreten-der Vorsitzender der SPD, bedeutetgerade dies keine einfache Lage: Erkönnte demnach zu allen Fragen auseigener Kenntnis Stellung nehmen, diezum Parteivermögen der SPD in denvergangenen Wochen auch an die ihmunterstehende Bundestagsverwaltung

als mittelverwaltende Behörde gestelltwurden. Dieser Ansatz zu einem Inter-essenkonflikt zeigt: Es war und istfalsch, bei der Verwaltung der staatli-chen Mittel für die Parteien dem Bun-destagspräsidenten Zuständigkeiten –Festsetzung und Auszahlung der Mit-tel, Entgegennahme und Prüfung derRechenschaftsberichte und Festlegungvon Sanktionen – zuzuweisen. Die Fra-ge, „ob ein Parteipolitiker für die indieser Sache aufgrund von Rechtsvor-schriften zu treffenden Entscheidun-gen der richtige Kompetenzträgerist“152, kann nur mit einem klarenNein beantwortet werden.

Anmerkungen1 Interview in Focus, Nr.28/1996 vom 8.7.

1996.2 Wirtschaftswoche, Nr.18/2000 vom 27.4.

2000, S.19.3 Die Welt, 28.4.2000.4 Göttrik Wewer, Sozialdemokratische Wirt-

schaftsbetriebe, Eine politikwissenschaft-liche Untersuchung von parteieigenenUnternehmen in der BundesrepublikDeutschland, Opladen 1987 (zit: Wewer),S.141.

5 Stefan Appelius, Heine – die SPD und der lange Weg zur Macht, Essen 1999 (zit:Appelius), S.10.

6 Appelius, S.11.7 Inge Wettig-Danielmeier, Information im

SPD-Internet-Angebot, http://www.spd.de/partei/finanzen/, Stand: 2.8.2000, S.2von 7.

8 Wolfgang Hoffmann, Das Geld und dieGenossen, Die SPD lässt sich nicht in ih-re Bücher sehen, ZEIT, Nr.41/1971 vom8.10.1971, S.30.

9 Der Spiegel, Nr.44/1993 vom 1.11.1993,S.65.

10 Inge Wettig-Danielmeier, Information imSPD-Internet-Angebot, http://www.spd.de/partei/finanzen/, Stand: 2.8.2000, S.2von 7.

11 Stephan Pieroth, Parteien und Presse inRheinland-Pfalz 1945-1971, Ein Beitragzur Mediengeschichte unter besondererBerücksichtigung der Mainzer SPD-Zei-tung „Die Freiheit“, Mainz 1994, S.397.

12 Appelius, S.333.

13 Appelius, S.358.14 Appelius, S.360.15 Appelius, S.388.16 Wolfgang Hoffmann, Das Geld und die

Genossen, Die SPD lässt sich nicht in ih-re Bücher sehen, ZEIT, Nr.41/1971 vom8.10.1971, S.30.

17 Wolfgang Ressmann, Strukturproblemesozialdemokratischer Medienunterneh-men, eine organisationspolitische Analy-se der SPD-Presseunternehmen von denAnfängen bis zur Gegenwart, Wiesbaden1991 (zit.: Ressmann) S.173f.

18 Amtsgericht Hamburg, HRB 14599, Rück-seite von Blatt 3.

19 Eingetragen bei der „Braunschweig-DruckGmbH“, Amtsgericht Braunschweig, HRB135, Blatt 2.

20 Eingetragen bei der „Druckhaus Schwa-ben GmbH“, Amtsgericht Heilbronn,HRB 2485, Rücks. von Blatt 1, und bei der„Hildesheimer Druck- und Verlagsgesell-schaft mbH“, Amtsgericht Hildesheim,HRB 121, Blatt 2.

21 Ressmann, S.174.22 Errechnet nach einer Tabelle bei Appelius,

S.355/356.23 „Frankenpost Verlag GmbH“, Amtsgericht

Hof, HRB 217, Rückseite von Blatt 1.24 Appelius, S.396.25 Inge Wettig-Danielmeier, Information im

SPD-Internet-Angebot, http://www.spd.de/partei/finanzen/, Stand: 2.8.2000, S.2von 7.

26 Focus, Nr.13/2000 vom 27.3.2000, S.279.

Andreas Feser82

27 Der Spiegel, Nr.44/1993 vom 1.11.1993,S.68.

28 Appelius, S.406.29 Appelius, S.418.30 Amtsgericht Charlottenburg, HRB 69366,

Blatt 1.31 Amtsgericht Charlottenburg, HRB 69366,

Rückseite von Blatt 1.32 Amtsgericht Hamburg, HRB 14599,

Blatt 1.33 Amtsgericht Hamburg, HRB 14599, Rück-

seite von Blatt 3.34 Amtsgericht Bonn, HRB 2821, Blatt 1 –

vorher Amtsgericht Mannheim, HRB1068.

35 Amtsgericht Bonn, HRB 3070, Blatt 1 –vorher Amtsgericht Hamburg, HRB14070.

36 Wolfgang Hoffmann, Das Geld und die Genossen, Die SPD lässt sich nicht inihre Bücher sehen, ZEIT, Nr.41/1971 vom8.10.1971, S.30.

37 Inge Wettig-Danielmeier, Information imSPD-Internet-Angebot, http://www.spd.de/partei/finanzen/finanzbericht.html,Stand: 2.8.2000, S.10 von 13.

38 Schriftliche Fassung der Erklärung vordem ersten Parlamentarischen Unter-suchungsausschuss der 14. Wahlperiodedes Deutschen Bundestages am 29.6.2000, Teil 2, Seite 2.

39 Focus, Nr.13/2000 vom 27.3.2000, S.279f.40 Inge Wettig-Danielmeier, Information im

SPD-Internet-Angebot, http://www.spd.de/partei/finanzen/finanzbericht.html,Stand: 2.8.2000, S.11 von 13.

41 Spiegel, Nr.44/1993 vom 1.11.1993, S.65.42 Prof. Dr. Wilhelm Strobel, Parteiüber-

greifend befolgte Verfälschungsrezepte,FAZ, 4.7.2000, S.15.

43 Der Spiegel, Nr.44/1993 vom 1.11.1993,S.68.

44 Unter anderem: Welt, 22.4.2000, S.3;Wirtschaftswoche, 27.4.2000, S.21; FAZ,4.7.2000, S.15.

45 SPD-Schatzmeisterin Wettig-Danielmeier,Interview in Welt, 15.3.2000.

46 Amtsgericht Dortmund, HRA 10943, Blatt 1.

47 Amtsgericht Dortmund, HRB 4105, Blatt 1.

48 Amtsgericht Cuxhaven, HRA 588, Blatt 1.49 Zimpel 1, Abschnitt Redaktionsgemein-

schaften, R30 S.3, Stand 1/2000.50 Amtsgericht Bielefed, HRA 10753, Blatt 2.51 Amtsgericht Bayreuth, HRA 734, Blatt 1.52 Amtsgericht Meiningen, HRB 2179.53 Amtsgericht Hannover, HRA 23210,

Blatt 8.54 Amtsgericht Hildesheim, HRA 966.55 Amtsgericht Göttingen, HRA 1575,

Blatt 4.56 Inge Wettig-Danielmeier, Information im

SPD-Internet-Angebot, http://www.spd.de/partei/finanzen/finanzbericht.html,Stand: 2.8.2000, S.11 von 13.

57 Unter anderem: Welt, 22.4.2000, S.3;Wirtschaftswoche, 27.4.2000, S.21; FAZ,4.7.2000, S.15.

58 Amtsgericht Karlsruhe, HRB 231, Blatt 2.59 Unter anderem: Welt, 22.4.2000, S.3;

Wirtschaftswoche, 27.4.2000, S.21; FAZ,4.7.2000, S.15.

60 Amtsgericht Hamburg, HRB 65184, Blatt 1.

61 Inge Wettig-Danielmeier, Information imSPD-Internet-Angebot, http://www.spd.de/partei/finanzen/finanzbericht.html,Stand: 2.8.2000, S.11 von 13.

62 Unter anderem: Welt, 22.4.2000, S.3;Wirtschaftswoche, 27.4.2000, S.21; FAZ,4.7.2000, S.15.

63 Inge Wettig-Danielmeier, Information imSPD-Internet-Angebot, http://www.spd.de/partei/finanzen/finanzbericht.html,Stand: 2.8.2000, S.12 von 13.

64 Ebd.65 Vorsitz: Staatsrat a.D. Dr. Hans Fahning –

Inge Wettig-Danielmeier, Information imSPD-Internet-Angebot, http://www.spd.de/partei/finanzen/finanzbericht.html,Stand: 2.8.2000, S.10 von 13.

66 Amtsgericht Hamburg, HRB 14599, Blatt 3.

67 Anzeige in der Welt, 17.5.2000.68 Amtsgericht Bonn, HRB 3070, Rückseite

von Blatt 1.69 Amtsgericht Hamburg, HRB 65184,

Blatt 1.70 Amtsgericht Charlottenburg, HRB 62522,

Blatt 1.71 Amtsgericht Charlottenburg, HRB 70305,

Blatt 1 (eingetragen bei der Verlegungnach Berlin 1999) – vorher AmtsgerichtBonn, HRB 3826.

72 Amtsgericht Bielefeld, HRB 7126, Blatt 2.73 Amtsgericht Dortmund, HRB 2299,

Blatt 3.74 Amtsgericht Bonn, HRB 2821, Blatt 2.75 Laut Gesellschafterliste Amtsgericht Ham-

burg, HRB 14599, hält Frau Inge Wet-tig-Danielmeier 11.910.000 DM und die„Solidarität Verwaltungs- und Treuhand-gesellschaft“ 90.000 DM vom Stammka-pital der „DDVG“ von 12.000.000 DM.

76 Amtsgericht Heilbronn, HRB 2485, Rück-seite von Blatt 1.

77 Amtsgericht Karlsruhe, HRB 231, Blatt 2.78 Amtsgericht Coburg, HRB 82, Blatt 2 und

Rückseite.79 Amtsgericht Hof, HRB 217, Rückseite von

Blatt 1.

Mehr Transparenz für die SPD-Finanzen 83

80 Amtsgericht Coburg, HRB 82, Rückseitevon Blatt 2.

81 Amtsgericht Meiningen, HRB 4546, Blatt 1.

82 Amtsgericht Coburg, HRB 82, Rückseitevon Blatt 3.

83 Amtsgericht Hof, HRB 217, Blatt 3.84 Amtsgericht Meinigen, HRB 4546,

Blatt 1.85 Vergleiche die Aufstellungen im Spiegel,

Nr.44/1993, S.65 und in der Welt vom13.3.2000.

86 Appelius, S.364.87 Kommanditgesellschaft in Firma West-

deutsche Zeitungs- und Zeitschriften-vertriebsgesellschaft E. Brost & J. Funke,Essen – so eingetragen bei der „Zei-tungsverlag Niederrhein GmbH & Co Es-sen KG“, Amtsgericht Essen, HRA 4848,Blatt 1.

88 Amtsgericht Essen, HRB 338.89 Welt, 13.3.2000.90 Focus, Nr.13/2000 vom 27.3.2000,

S.280.91 Amtsgericht Hamburg, HRB 4180,

Blatt 2.92 Zimpel 1, Abschnitt Tageszeitungen,

S20, S.2, Stand 12/1999.93 Stellungnahme von Peter Donalski, Lei-

ter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeitder Friedrich-Ebert-Stiftung e.V., 10785Berlin, in der Welt vom 11.3.2000.

94 Amtsgericht Cottbus, HRB 1639, Blatt 1.95 Zimpel 1, Abschnitt Tageszeitungen,

P20, S.2, Stand 05/2000.96 Interview, Welt, 15.3.2000.97 Ebd.98 Heinz Kießling/Horst Pelikan, Körper-

schaftsteuer, Achim 1992, S.255.99 Von 1981 bis 1983, Amtsgericht Ham-

burg, HRB 14599, Rückseite von Blatt 1.100 Von 1982 bis 1983, Amtsgericht Bonn,

HRB 2821, Blatt 1.101 Von 1981 bis 1983, Amtsgericht Bonn,

HRB 3070, Blatt 1.102 Von 1981 bis 1983, Amtsgericht Dort-

mund, HRB 2299, Blatt 2.103 Von 1983 bis 1994, Amtsgericht Ham-

burg, HRB 14599, Rückseite von Blatt 1.104 Von 1983 bis 1993, Amtsgericht Bonn,

HRB 2821, Rückseite von Blatt 1.105 Von 1985 bis 1988, Amtsgericht Bonn,

HRB 3070, Rückseite von Blatt 1.106 Von 1983 bis 1993, Amtsgericht Dort-

mund, HRB 2299, Blatt 2.107 Von 1972 bis 1983, Amtsgericht

Dortmund, HRB 2299, Rückseite von Blatt. 1

108 Seit 1984 „Dr. Erich Madsack GmbH“,Amtsgericht Hannover, HRB 5510, Blatt3 – Vorsitzender der Geschäftsführung

laut Zimpel 1, Abschnitt Tageszeitungen,H30 – S.2, Stand 03/2000.

109 Seit 1994, „Verwaltungsgesellschaft.Braunschweiger Zeitungsverlag GmbH“,Amtsgericht Braunschweig, HRB 408,Blatt 3.

110 „Zeitungsverlag Westfalen GmbH“,Amtsgericht Dortmund, HRB 4105,Rückseite von Blatt 2.

111 „Zeitungsverlag Niederrhein GmbH“,Amtsgericht Essen, HRB 3086, Rückseitevon Blatt 2.

112 „Suhler Verlagsgesellschaft mbH & CoKG“, Amtsgericht Meiningen, HRA 361,Blatt 1.

113 Amtsgericht Leipzig, HRA 293, Blatt 1.114 Amtsgericht Dresden, HRA 673, Blatt 1.115 Prof. Dr. Hans Mathias Kepplinger, Fo-

cus, Nr.13/2000 vom 27.3.2000, S.281.116 Horst Dichanz, Handbuch Medien: Me-

dienforschung, Konzepte, Themen, Er-gebnisse, Bundeszentrale für politischeBildung, Bonn 1998, Beilage.

117 Focus, Nr. 13/2000 vom 27.3.2000, S.281

118 Interview, Welt, 13.3.2000.119 Interview, Welt, 15.3.2000.120 Aufstellung von CSU-Generalsekretär

Staatsminister a.D. Dr. Thomas GoppelMdL, Februar 2000.

121 Interview, Welt 13.3.2000.122 Dr. Peter Ramsauer, parlamentarischer

Geschäftsführer der CSU-Landesgruppeim Bundestag, Deutschland-Magazin 7– 8/2000, S.16.

123 Daniel Delhaes, Dieter Schnaas, Quasiein Tripel-A, Wirtschaftswoche, Nr.19/2000 vom 4.5.2000, S.22.

124 Dieter Schnaas, Friedrich Thelen, Grüßeaus der Grauzone, Wirtschaftswoche, Nr.18/2000 vom 27.4.2000, S.22.

125 Appelius, S.372.126 Appelius, S.408.127 Appelius, S.407.128 Professor Dr. Wilhem Strobel, Partei-

übergreifend befolgte Verfälschungs-rezepte, FAZ 4.7.2000, S.15.

129 Appelius, S.415f.130 Appelius, S.425.131 BverfGE 85, 264/319.132 BverfGE 85, 264/319.133 BverfGE 85, 264/320.134 BverfGE 85, 264/320.135 Dr. Peter Ramsauer MdB, Der Vermö-

gensvorsprung der SPD und die Chan-cengleichheit, FAZ vom 3.6.2000, S.16.

136 BverfGE 52, 63/87.137 Prof. Dr. Martin Morlok, Spenden – Re-

chenschaft – Sanktionen, AktuelleRechtsfragen der Parteienfinanzierung,in; Neue Juristische Wochenschrift, Nr.

Andreas Feser84

11/2000 vom 13.3.2000 (zit.: Morlok) S.762.

138 So unter anderem Prof. Dr. WilhelmStrobel, Parteiübergreifend befolgte Verfälschungsrezepte, FAZ vom 4.7.2000, S.15.

139 Gutachten vom 16.5.2000 der „CounselTreuhand“ für SPD-Schatzmeisterin Wettig-Danielmeier, S.6.

140 Amtsgericht Hamburg, HRB 14599, Blatt 4.

141 Welt, 13.3.2000.142 Interview, Welt, 15.3.2000.143 Amtsgericht Dresden, HRA 673, Blatt 1.144 Amtsgericht Hannover, HRA 23210,

Blatt 8.

145 Amtsgericht Meiningen,HRA 227,Blatt1.146 Amtsgericht Meiningen, HRA 361,

Blatt 1.147 Bundestagsdrucksache 14/2508 (Bericht

1998).148 Bundestags-Drucksachen 13/8923 (Be-

richt 1996), 14/246 (Bericht 1997) und14/2508 (Bericht 1998).

149 SPD-Pressemitteilung vom 28.4.2000.150 Morlok, S.762.151 Interview in Focus, Nr.28/1996 vom

8.7.1996. 152 Professor Dr. Klaus Stern, Warum prüft

ein Parteipolitiker die Rechenschafts-berichte der Parteien?, FAZ vom 16.2.2000, S.15.

1. Einführung

Vor über zwei Jahren – am 20. Juni1998 – wurde die Währungsreformund damit die Soziale Marktwirtschaft,das Wirtschaftordnungskonzept inDeutschland, 50 Jahre alt. In den Fest-ansprachen, Artikeln und Aufsätzenwar dies Ereignis meist mit einem Na-men verbunden: Ludwig Erhard, nichtzu Unrecht, denn Erhard war derje-nige, der in politische Gestaltung um-setzte, was vorher von Theoretikernder Wirtschaftswissenschaft in langerAuseinandersetzung entwickelt wor-den war. Nur in wenigen Festredenwurde erwähnt, dass es vor allem einspiritus rector war, der den theoreti-schen Unterbau für Ludwig Erhardlieferte, Alfred Müller-Armack, ein Fuß-notenkind in der wirtschaftswissen-schaftlichen Literatur. Dabei hat Mül-ler-Armack großen Anteil an dieserWirtschaftsordnung.

Wer war Alfred Müller-Armack? Dieszu beantworten, ist nicht einfach, dadas biografische Material über AlfredMüller-Armack bescheiden ist.1 Zwarhat Müller-Armack 1971 eine Autobio-grafie veröffentlicht2, diese legt aber

ihren Schwerpunkt auf die Zeit nachdem Zweiten Weltkrieg und hier vorallem auf die politische Arbeit für dieeuropäische Einigung.

Ziel dieses Aufsatzes ist es, einenÜberblick über Leben und Werk desReligionssoziologen, Wirtschaftstheo-retikers und Europapolitikers zu ge-ben.

Die biografische Entwicklung AlfredMüller-Armacks lässt sich in fünf Pha-sen teilen, die durch äußere Einflüssebedingt sind:

� Erste Phase: die ersten Lebensjahre� Zweite Phase: der Beginn des Natio-

nalsozialismus� Dritte Phase: die Zeit des Zweiten

Weltkrieges� Vierte Phase: der Wiederaufbau

Deutschlands und Konsolidierung� Fünfte Phase: auf dem Weg nach

Europa

Diese Phasen schlagen sich relativtrennscharf in Müller-Armacks im-mensen publizistischen Werk nieder,das parallel zur Biografie in seinenKernthesen vorgestellt wird.

Von der Religionssoziologie zur Sozialen Marktwirtschaft:

Leben und Werk Alfred Müller-Armacks

Daniel Dietzfelbinger

Politische Studien, Heft 373, 51. Jahrgang, September/Oktober 2000

Daniel Dietzfelbinger86

2. Die ersten Lebensjahre (1901 – 1932)

2.1 Von Müller zu Müller-Armack

Alfred Müller-Armack wird am 28. Ju-ni 1901 als Alfred Müller in Essen ge-boren. Sein Vater Hermann Müller istLeiter eines Gaswerkes bei Krupp.3

Müller-Armack wächst in Essen aufund besucht dort das Goethe-Gymna-sium. Den Namen Armack übernimmtAlfred Müller ab ca. 1930 von seinerMutter Elise; über eine Begründungdafür kann nur spekuliert werden. Esist anzunehmen, dass Müller-Armackbei Veröffentlichungen nicht mit dem Staats- und Gesellschaftstheoreti-ker Adam Müller verwechselt werdenwollte.

Das Studium der Nationalökonomieabsolviert Müller-Armack in Gießen,Freiburg, München und Köln. An derUniversität Köln, an der zeitgleich MaxScheler und Helmuth Plessner lehren,wird Müller-Armack 1923 – er ist gera-de 22 Jahre alt – zum Dr. rer. pol. beidem Soziologen Leopold von Wiesepromoviert. Er habilitiert sich – als ei-ner der jüngsten Privatdozenten inDeutschland – 1926 in Köln für Wirt-schaftliche Staatswissenschaften miteiner Arbeit zur „Ökonomischen Theo-rie der Konjunkturpolitik“4, der erstensystematischen konjunkturpolitischenStudie in Deutschland.

2.2 Die konjunkturpolitischenSchriften

Müller-Armack kommt das Verdienstzu, den Begriff Konjunkturpolitik ge-prägt zu haben. Seine Kernthese ist:Wirtschaftliche Schwankungen verlau-

fen nicht nach einem festen, ge-schichtlich sich immer wiederholen-den Schema, sondern sie sind dasErgebnis spontaner Prozesse. Müller-Armack fordert bereits in den zwanzi-ger Jahren vom Staat, bei einer libe-ralen Wirtschaft solide Konjunktur-politik zu betreiben, um Fehlentwick-lungen, d.h. allzu starke Ausschlägenach oben oder unten, zu vermeiden.5

In verschiedenen Publikationen6 wen-det sich Müller-Armack gegen eine reinlogisch vollzogene deduktive Ökono-mie, die in seinen Augen willkürlichPrämissen setzt und daraus Gesetz-mäßigkeiten ableitet, ohne sich denempirischen Gegebenheiten zu stellen. Die Weltwirtschaftskrise in den Jahrenab 1929 bedeutet einen Bruch für dieNationalökonomie. Die Krise führte zuerheblicher Verunsicherung darüber,inwieweit eine liberale Wirtschaftsord-nung noch aufrechtzuerhalten sei.Denn zunächst glaubte man in dervolkswirtschaftlichen Debatte, dassdem in Russland bereits etablierten real-existierenden Sozialismus alleinmit einer konsequent liberalen Wirt-schaftspolitik entgegenzutreten sei.Nun war auch diese durch die Krise ausdem Jahr 1929 und folgende in die Kri-tik geraten. Auch bei Müller-Armack istdiese Verunsicherung in den Schriftenspürbar. Er wendet sich makroökono-mischen Studien zu und veröffentlicht1932 das Buch „Entwicklungsgesetzedes Kapitalismus“7, nach der Phasen-einteilung ein Übergangswerk, das be-reits in die Geschichtsanthropologieübergreift und somit in die stiltheore-tische Phase des Werkes Müller-Ar-macks gehört. Zunächst aber tretenäußere Ereignisse ein, die für die Bio-grafie Müller-Armacks nicht unerheb-lich waren: die Machtübernahme derNationalsozialisten im Jahr 1933.

Von der Religionssoziologie zur Sozialen Marktwirtschaft 87

3. Der Beginn des National-sozialismus (1933 – 1936)

3.1 Nationalsozialismus alsGeschichtsaktivismus

Die Zeit Müller-Armacks während desNationalsozialismus ist immer nochein Feld vieler Spekulationen und Ver-mutungen.8 Geschürt werden dieseSpekulationen dadurch, dass sichMüller-Armack – trotz vieler auto-biografischer Aufzeichnungen – zu sei-nem Verhalten während des DrittenReiches nie äußert. In den ArchivenMüller-Armacks ist trotz aller sonstigenAusführlichkeit das Material zu dieserEpoche spärlich – auch dies ein Anlassfür Spekulationen.

Bereits mit seinen konjunkturpoli-tischen Studien ab dem Jahre 1923gehört Müller-Armack mit FriedrichAugust von Hayek, Walter Euckensowie Wilhelm Röpke zum rechtenFlügel der jüngeren Ökonomen.9

Zunächst ist Müller-Armack über diepolitischen Veränderungen 1933 be-geistert; das zeigt eine aufschlussreicheAnmerkung seines 1933 erschienenenBuches „Staatsidee und Wirtschafts-ordnung im neuen Reich“: „In mei-nem Buche: Entwicklungsgesetze desKapitalismus, ... habe ich den Versuchunternommen, die marxistische wiedie liberale Staats- und Wirtschafts-theorie von ihren Grundanschauun-gen aus zu überwinden und durch eineneue positive Form der Staats- und Ge-schichtstheorie zu ersetzen. Diese er-gab sich aus einer Weiterführung derdeutschen geistesgeschichtlichen Be-sinnung über das Wesen der Geschich-te bis zur Herausbildung eines neuenGeschichtsaktivismus. Dass dieserberufen sein dürfte, dem neuen staat-

lichen Wollen als geistiger Rückhalt zu dienen, wurde mir bei der ersten Begegnung mit dem Faschismus 1924in Rom klar.

In allen Dokumenten und Handlun-gen kündigte sich eine neue Art des le-bendigen Geschichtsgefühls und einneues Zutrauen zur geschichtlichenAktion an.“10 Müller-Armack glaubt,mit dem Faschismus „werde das Ge-geneinander von Staat und Wirtschaftüberwunden“11 – die Überwindungvon Gegenüberstellungen, ein Le-bensthema für Müller-Armack, der sichimmer gegen Ideologisierungen ge-wendet hat.

Die Begeisterung für die neue Politikist im Zusammenhang mit der 1929ausbrechenden Weltwirtschaftskrise12

zu sehen, die Müller-Armack zunächstin den Dunstkreis der Nationalsozia-listen führt. Einen Ausweg aus der öko-nomischen Krise sieht Müller-Armackin einer stärkeren Steuerung der Wirt-schaft bei gleichzeitiger Wahrung derindividuellen Freiheit durch den Staat,wie es die Nationalsozialisten verspra-chen.

Müller-Armacks positive Bewertungdes Faschismus bezieht sich auf diestaatliche Ordnung und Wirtschafts-politik13 sowie die von ihm erhoffteEinheit von Staat und Wirtschaft14, diegeschichtstheoretisch herzuleiten erbemüht war. Vorbehalte15 äußert Mül-ler-Armack gegen jegliche Form desRassismus, was ihm Kritik einbringt.16

Müller-Armack tritt am 1. Mai 1933 indie NSDAP ein und ist von 1937 bis et-wa 1941 im NS-Rechtswahrerbund.Dem NS-Dozentenbund tritt Müller-Armack nicht bei.17

Daniel Dietzfelbinger88

3.2 Staatsidee und Wirtschafts-ordnung im neuen Reich

Im Jahre 1933 erscheint Müller-Ar-macks Schrift „Staatsidee und Wirt-schaftsordnung im neuen Reich“; ver-mutlich ist sie nicht allzu spät nachder Machtübergabe an Hitler entstan-den, da sie noch im Jahre 1933 ausge-liefert wird. Ihr Neudruck wird 1935verboten.18 Pikanterweise indizieren1945 wiederum die alliierten Militär-behörden das Buch.19 Der explosiveCharakter der Müller-Armack'schenSchrift „Staatsidee und Wirtschaftsord-nung im neuen Reich“ aus dem Jahre1933 war lange Zeit in der Wissen-schaft verschwiegen worden. EinigeThesen daraus seien hier vorgestellt.Dazu aber ist eine Vorbemerkung not-wendig: Wie noch zu zeigen sein wird,konstruiert Müller-Armack historischeinen Zusammenhang zwischen geisti-ger Haltung und sozioökonomischerVerfasstheit einer Zeit. Wirtschaft,Staat und geistiger Zustand eines Lan-des stünden – so Müller-Armack – inengen wechselseitigen Zusammenhän-gen. Aus dieser Perspektive betrachtetMüller-Armack Geschichte. Dass diesein schwieriges Unterfangen ist, insbe-sondere wenn dieses Schema auf dieGegenwart übertragen wird, liegt aufder Hand. Jahre später, in seinem Buch„Diagnose der Gegenwart“ von 1949,deutet Müller-Armack die Probleme ei-ner solchen Vorgehensweise an20 –vielleicht seine Form des Schuldbe-kenntnisses: Es sei schwierig über eineZeit, zu der man keinen Abstand hatund in die man mental wie historischinvolviert ist, verbindliche Urteile ab-zugeben.

Doch genau dies tut Müller-Armack1933. Er bekennt sich in pathetischer

Sprache unzweideutig als Anhängerder faschistischen Wirtschaftspolitik:Man könne sich des Gefühles nichterwehren, „im Beginn einer neuengeschichtlichen Epoche zu stehen“21,denn das „äußere Geschehen, der Re-gierungswechsel, die veränderte Artder politischen Führung und der Wirt-schaftspolitik, die Aktivierung des po-litischen Bewusstseins überhaupt be-deutet, so tief greifend es auch ist, nureine Vorbereitung, einen Hinweis aufeine sich vollziehende, grundlegen-de Wandlung des staatlichen Lebens, ja darüber hinaus der kulturellenForm“22. Die Zeit spiegele eine neueSituation, „Vorstellungen wie: Volk,Nation, Sozialismus, Freiheit, Persön-lichkeit füllen sich mit frischem Inhaltund weisen in ihrem Bedeutungs-wandel auf das Werden einer anderenGesamtanschauung der Geschichtehin“23.

Es ist das Versprechen der Regierung,eine neue Wirtschaftspolitik zu gestal-ten, die Müller-Armack und viele sei-ner Kollegen zunächst in die Anhän-gerschaft des Faschismus treibt. Es istnicht die spätestens ab 1934 öffentlichwerdende Rassepolitik, es ist nicht derJudenhass, es ist nicht die Diktatur, dieMüller-Armack befürwortet. Viel zusehr waren er und die anderen Ökono-men damit beschäftigt, einen Auswegaus dem Antagonismus zwischen Libe-ralismus und Kommunismus und ausdem Methodenstreit der Volkswirt-schaftslehre zu finden.

1934 wird Müller-Armack außeror-dentlicher Professor in Köln. 1936 er-hält er einen Ruf an die Universitätnach Frankfurt, der Berufungsprozesswird aber staatlicherseits unterbun-den. Müller-Armack schreibt: „Der Bil-

Von der Religionssoziologie zur Sozialen Marktwirtschaft 89

dungsminister stoppte den Prozess we-gen meiner liberalen Gedanken ...“24.In den Jahren darauf ist eine deutlicheDistanzierung Müller-Armacks von je-ner anfänglichen Begeisterung für denFaschismus nachzuvollziehen.

3.3 Loyalität und Distanz

Wie lässt sich Müller-Armacks Rolle inden ersten Jahren des Nationalsozia-lismus beurteilen? Müller-Armack wäreohne Loyalität bzw. Linientreue ge-genüber dem Staat nicht vorangekom-men25, seine Parteimitgliedschaft hilftihm. Trotz dieser Loyalität gegenüberdem Staat ist Müller-Armack ab 1936zeitweise Unterstützter der Bekennen-den Kirche. Müller-Armack ist zu-nächst begeistert, dann distanziert,aber ohne offene Kritik, ab 1941 ziehter klare Trennlinien – zu spät, wiemanche Kritiker meinen.

Müller-Armack äußert sich kaum zuseiner Einstellung während des DrittenReiches. Zeitaktuelle Äußerungen fin-den sich nur im Entnazifizierungsbo-gen: „Zwischen 1932 und 1933 habeich verschiedentlich die Gefahr vonfaschistischen und diktatorischen Be-wegungen analysiert. Weil ich ohneParteimitgliedschaft zum Schweigenverurteilt gewesen wäre, schloss ichmich der Partei an, um sie von innenzu beeinflussen. Ich versuchte vor al-lem, meine Kritik an der Rassetheoriezu äußern und den christlichen Glau-ben zu verteidigen.“26 In späteren Jah-ren hat sich Müller-Armack schriftlichnur einmal konkret zu seiner anfängli-chen Begeisterung für den Faschismusgeäußert. Es handelt sich um einenKommentar zu einer von Rolf Seeligerherausgegebenen Zusammenstellung

der Schriften von Universitätsleh-rern27, die diese während des Na-tionalsozialismus publizierten. Hierschreibt Müller-Armack – adressiert anden Herausgeber des Buches: „Ich be-glückwünsche Sie dazu, dass Sie daseinzige Zitat, das den Namen Hitlernennt, in meinem ca. 3000 Seiten um-fassenden Schrifttum gefunden haben.Es steht in einem Relativsatz und be-sagt, dass das Volk, heute würde mansagen, die Gesellschaft, gegenüber der staatlichen Organisation das Vor-rangige ist.“28 Müller-Armack betont:„Wenn Sie für mein damaliges Schrift-tum eine einzige Schrift aus dem Jah-re 1933 zitieren, wäre es wohl fair,auch festzustellen, dass ich unter demDruck des Nationalsozialismus von1933 bis 1945 keine nationalökonomi-sche Arbeit mehr veröffentlichte. Wasich in dieser Zeit entwickelte, war inFortsetzung des Werkes von Max We-ber eine Religionssoziologie ...“29.

4. Die Zeit des Zweiten Weltkrieges (1938 – 1945)

4.1 Professor für Religionssoziologie

1938 geht Müller-Armack – ebenfallszunächst als außerordentlicher Pro-fessor – ab 1940 als Professor für Na-tionalökonomie und Kultursoziolo-gie, insbesondere Religionssoziologie30

nach Münster. Damit verbunden istdie Stelle des Geschäftsführenden Di-rektors des Instituts für Wirtschafts-und Sozialwissenschaften.31 Hier zeigtsich, dass Müller-Armack der Regie-rung zumindest verdächtig war und erdem ungefährlichen Gebiet Religions-soziologie zugeschoben wurde, damalsseit Max Weber ein Randgebiet derWirtschaftswissenschaften. Im Jahr

Daniel Dietzfelbinger90

1940 gründet er in Münster die For-schungsstelle für Textile und Allgemei-ne Marktwirtschaft als Institut derWestfälischen Wilhelms-Universität. Indiesen Jahren entstehen lockere Kon-takte zu den Freiburger National-ökonomen, den sogenannten Frei-burger Kreisen. Müller-Armack warzusammen mit Walter Eucken, Erwinvon Beckerath, Adolf Lampe sowieweiteren Nationalökonomen in der„Arbeitsgemeinschaft für Volkswirt-schaftslehre“ der Klasse IV der Aka-demie für deutsches Recht. In dieserArbeitsgemeinschaft wurden grund-sätzliche wirtschaftspolitische Fragendiskutiert.

4.2 Religionssoziologie als Kulturtheorie

Sieben Jahre publiziert Müller-Armacknicht, um 1940 seine erste umfassendereligionssoziologische Studie zu ver-öffentlichen: „Die Genealogie derWirtschaftsstile“32. Darin widmet sichMüller-Armack der Herleitung derWirtschaftsstile zwischen dem 16. und18. Jahrhundert.

Müller-Armack will den religionssozio-logischen Ansatz des Ökonomen MaxWeber ausbauen. Weber hatte in seinerSchrift „Die Protestantische Ethik undder 'Geist' des Kapitalismus“33 aus demJahre 1905 einen unmittelbaren Kon-nex zwischen der puritanischen Le-benshaltung und der ökonomischenGestaltung der Gesellschaft im 16.Jahrhundert beschrieben. Durch dieEthik des Protestantismus sei ein neu-er Geist in die kapitalistische Wirt-schaftsform getreten, allerdings bleibtWeber in der Ausgestaltung seiner The-se eher zurückhaltend. Müller-Armack

versucht nun, diese These auszuweitenund materialreich zu belegen.

Die Wirtschaftsgeschichte solle wiederin die allgemeine Geisteshistorie ein-geordnet werden, nicht mehr als eineSpezialdisziplin getrennt werden. Umdies zu erreichen, bedient sich Müller-Armack des Begriffs Wirtschaftsstil. DieFormel Wirtschaftsstil rekonstruiertwie in der Kunstgeschichte eine vorge-stellte Einheit einer geschichtlichenEpoche. So wie man etwa vom Kunst-stil des Barocks spricht, so könne man auch von einem bestimmtenWirtschaftsstil einer Epoche sprechen:Wirtschaftsstil des Merkantilismus, desLiberalismus usw.

Dabei entwickelt Müller-Armack einespezifische Lehre vom Menschen imAnschluss an seinen Zeitgenossen undKölner Kollegen Helmuth Plessner.Kerngedanke der Müller-Armack’schenAnthropologie ist die Einheit vonNatur – Paradigma der ökonomischenSeite – und Geist – Paradigma der geis-tesgeschichtlichen Prägung. Beide Ele-mente gehören zum Menschen, unddies begründe den Stilgedanken: DerMensch sei für geistige, religiöse Ge-danken auf der einen Seite und natur-hafte, real greifbare Fakten auf deranderen Seite offen. Der Ansatz Mül-ler-Armacks ist ebenso einfach wie ge-nial: Der Stil einer Zeit setzt sich ausbeiden Erfahrungen zusammen. Unddas führt nach Müller-Armack zu demErgebnis, dass Wirtschaftsgeschichtenicht nur anhand ökonomischerFaktoren einer Zeit betrieben werdenkann, sondern dass sie gleichzeitigauch die geistige Lage der Zeit erfassenmuss. Aufbauend darauf entwickeltMüller-Armack in den 40er-Jahren seinreligionssoziologisches Konzept: Reli-

Von der Religionssoziologie zur Sozialen Marktwirtschaft 91

gionssoziologie = Kultursoziologie. Ge-genstand der Religionssoziologie ist dermetaphysisch-kulturelle Rahmen, indem sich eine Gesellschaft und ihre je-weilige Wirtschaftsordnung befindet.Religionssoziologie muss mithin versu-chen, eine Gesamtschau der jeweiligenEpoche zu geben, Verbindungslinienzwischen der geistigen Strömung undden sozioökonomischen Gegebenhei-ten einer Zeit zu entwickeln, sie mussderen Wechselwirkungen erfassen, diewie oszillierende Wellen ineinandergreifen. Mittels dieser stiltheoretischenReligionssoziologie entwickelt Müller-Armack eine breit angelegte, material-reiche Untersuchung der vor ihmliegenden Geistesgeschichte und ver-sucht nachzuweisen, dass sich Wirt-schaft und Religion, Sozioökonomieund Metaphysik immer im gegenseiti-gen Wechselverhältnis beeinflussen.

Müller-Armack dehnt in späteren Jah-ren seine soziologischen Studien inden Büchern „Das Jahrhundert ohneGott“ von 1948 und „Diagnose unse-rer Gegenwart“ von 1949 bis in seineZeit aus. Für das ausgehende 19. undbeginnende 20. Jahrhundert konsta-tiert Müller-Armack mehr und mehrdie Entwicklung der Gesellschaft zumSäkularismus – auch dies sei im Zu-sammenhang der Wechselwirkungzwischen Religion und Sozioökonomiezu deuten, da der Hang zur Transzen-denz durch innerweltliche Idolbildungkompensiert wird. Dieser Strömung,deren Gipfel nach Müller-Armack mitdem Nationalsozialismus erreicht war,will Müller-Armack nach dem Kriegmit einer Rechristianisierung der Ge-sellschaft begegnen. Dies soll durch ei-nen Sozialhumanismus geschehen, derim Konzept der Sozialen Marktwirt-schaft konkretisiert wird.

5. Wiederaufbau undKonsolidierung (1946-1958)

5.1 Vom Berater zur rechten HandLudwig Erhards

Nach dem Zweiten Weltkrieg beginntMüller-Armacks politische Laufbahn.34

Zunächst nimmt er zahlreiche Berater-tätigkeiten wahr. Müller-Armacks In-teresse war es, die schon während desKrieges35 entstandene Konzeption derSozialen Marktwirtschaft als neues Mo-dell für eine Wirtschaftsordnung vor-zustellen. Deshalb setzt er sich schonfrüh – spätestens ab 1946 – für eineWährungsreform36 als Grundvoraus-setzung für eine Umkehr in der Wirt-schaftspolitik ein, wie sie erst 1948Ludwig Erhard durchführen wird.37

Von 1947 bis 1966 ist Müller-ArmackMitglied des Wissenschaftlichen Bei-rats für Wohnungsbau beim Bundes-wirtschaftsministerium sowie Mitgliedder Gesellschaft für Wirtschafts- undSozialwissenschaften. 1950 kehrt Mül-ler-Armack von Münster nach Köln alsOrdinarius für wirtschaftliche Staats-wissenschaften zurück und gründetdort das Institut für Wirtschaftspolitik.1952 wird Müller-Armack von LudwigErhard38 – sie hatten sich 1941 bei ei-nem Treffen bei Wilhelm Vershofen inNürnberg kennen gelernt39 – ins Wirt-schaftsministerium berufen, dessen en-ger Mitarbeiter er von 1952 bis 1963ist. In dieser Zeit vollzieht sich ökono-misch das, was als deutsches Wirt-schaftswunder in die Geschichte ein-ging. Das reale Bruttosozialproduktwächst von – 2,2% in den Jahren 1939bis 1949 auf durchschnittlich + 8,4%in den Jahren 1949 bis 1954, wenn-gleich Müller-Armack den BegriffWunder stets ablehnte.

Daniel Dietzfelbinger92

5.2 Komplementarität von Freiheitund Gerechtigkeit

Bereits 1944 finden sich Vorstu-dien zu dem bahnbrechenden Buch „Wirtschaftslenkung und Marktwirt-schaft“40, die ganz vom Charakter der Sozialen Marktwirtschaft getragensind.41 Die ersten wirtschaftspoliti-schen Aufsätze in den Jahren nachdem Krieg beinhalten wie ein ceterumcenseo die Forderung nach einemmarktwirtschaftlichen Umbau der Ge-sellschaft. 1947 publiziert Müller-Armack das Buch „Wirtschaftslenkungund Marktwirtschaft“42.

Was ist das Ziel dieses ursprünglich alsAd-hoc-Analyse gedachten Buches?Müller-Armack will einen Sozialhuma-nismus unter der Bedingung der Frei-heit, der nicht allein ökonomischenKriterien folgt, sondern in dem sichder Mensch in seiner anthropologischeGrundkonstitution – der Offenheit fürGeist wie Natur – verwirklichen kann.Dies sei nur dann möglich, wenn ineiner Wirtschaftsordnung die Grund-elemente der beiden konträr gegen-überstehenden Wirtschaftskonzepteintegriert werden: der Freiheitsgedankedes Liberalismus und der soziale Ge-danke des Sozialismus. Beide Elementehaben nach Müller-Armack ihren Ur-sprung im christlichen Weltbild. Umoptimale Rahmenbedingungen für ra-tionales und ethisch legitimiertes Wirt-schaften zu schaffen, bedürfe es nebeneiner ökonomischen Sicherung einergesellschaftspolitischen Ausgestaltungder Ordnung der Wirtschaft. Die Markt-ordnung dürfe ausschließlich instru-mental verstanden werden: „Sie ist nurein überaus zweckmäßiges Organisati-onsmittel, aber auch nicht mehr, undes wäre ein verhängnisvoller Irrtum,

der Automatik des Marktes die Aufga-be zuzumuten, eine letztgültige sozialeOrdnung zu schaffen und die Notwen-digkeiten des staatlichen und kultu-rellen Lebens von sich aus zu be-rücksichtigen.“ An dieser Stelle führtMüller-Armack den Begriff SozialeMarktwirtschaft explizit ein – er ist Er-finder diese Begriffs.43

Was ist das Besondere an der Konzep-tion? Soziale Marktwirtschaft nachMüller-Armack ist nicht einfach Ver-bindung von Markt und Lenkung, sieist ein komplementärer Ausgleich zwi-schen beiden. Zwei Extrempositionenwerden vermieden: schonungsloserWettbewerb und daraus resultierendeökonomisch-soziale Irrationalitäten,zum anderen die Überbetonung dessozialen Gedankens, die in eine ge-lenkte Form der Wirtschaft führen unddas Funktionssystem Marktwirtschaftausschalten würde. Entscheidend istdie gegenseitige Ergänzung und dieFlexibilität der beiden Prinzipien. DemStaat wird das Recht eingeräumt, mitmarktkonformen Maßnahmen sozial-gestalterisch in das ökonomische Han-deln einzugreifen. Als marktkonformgelten nach Müller-Armack alle Maß-nahmen, die das innere Funktions-system der Marktwirtschaft nicht ge-fährden, bestenfalls sich dieses sogarzunutze machen. Zugleich ist es Auf-gabe des Staates, ein Sozialsystem zuerrichten und dieses zu wahren.

Was heißt das nun konkret? Grundsy-stem der Sozialen Markwirtschaft istder Wettbewerb. Er ist der Motor derWirtschaftsordnung. Wie ein MotorBenzin braucht, damit er läuft, so sollder Staat Anreize für den Wettbewerbschaffen, weil dieser sonst irgendwannlahmt. Andererseits ist staatlicherseits

Von der Religionssoziologie zur Sozialen Marktwirtschaft 93

darauf zu achten, dass das Auto, indem der Motor eingebettet ist, nichtunkontrolliert schnell oder in einefalsche Richtung fährt. Deswegen müs-se der Staat steuernd eingreifen, einwenig abbremsen oder wieder be-schleunigen.

Es sei also Aufgabe des Staates, eineliberale Wettbewerbspolitik zu be-treiben, aber zum einen bei drohendenVerzerrungen des Wettbewerbs steu-ernd einzugreifen, zum anderen müsseder Staat dafür sorgen, dass die Güterund Funktionsbereiche einer Gesell-schaft, die nicht über den Wettbewerbabgedeckt werden, sozial gerecht ver-teilt werden. Der Pragmatiker Müller-Armack erkennt im Gegensatz zu vie-len anderen Theoretikern trennscharffolgendes Problem: Der Wettbewerb istzwar im Großen und Ganzen gerecht,aber nur für die, die an ihm teilneh-men können. Wettbewerb hat exklusi-ven Charakter. Deswegen müsse derStaat dafür sorgen, dass diejenigen, dienicht am Wettbewerb teilnehmenkönnen, also etwa die junge Genera-tion, die alte Generation, die Arbeits-losen oder auch zukünftige Generatio-nen, gleichermaßen versorgt sind. Indiesem Zusammenspiel aus Wettbe-werbs- und Sozialpolitik besteht dasganze Geheimnis der Sozialen Markt-wirtschaft.

Als die ökonomischen Pfeiler des Sy-stems Soziale Marktwirtschaft errichtetsind, bemüht sich Müller-Armack inden 50er-Jahren, ihr ein gesellschaft-liches Fundament zu verleihen. Diezweite Phase der Sozialen Marktwirt-schaft beginnt: Sie soll zum „Gesell-schaftspolitischen Leitbild“, zum Wirt-schaftsstil der Moderne werden. So-ziale Marktwirtschaft wird nun zu-

gleich eine moderne Gesellschafts-theorie, indem sie den Stilbegriff ineiner modernen Form rezipiert, freilichmit einer geänderten Funktion: DerStilbegriff nimmt diese Einheit aus derZukunft vorweg, gleichsam als Forde-rung einer idealen Zukunft. Der Stil-begriff erhält nun antizipatorischeFunktion.

Vorweggenommen wird ein Gesell-schaftsmodell, in dem verschiedeneRationalitäten und Ideologien einge-bunden werden. Die Soziale Markt-wirtschaft als Wirtschaftsstil avanciertzum sozioökonomischen Imperativ füralle in ihr lebenden Individuen, fun-diert auf den Werten Freiheit und Ge-rechtigkeit, die von Müller-Armack ex-plizit aus dem Christentum hergeleitetwerden.

Das heißt für Müller-Armack zugleich,dass Soziale Marktwirtschaft als Wirt-schaftsstil nie als statisches System zuverstehen ist, an dem nichts mehr zuändern wäre. Vielmehr müsse sie alsoffenes System betrachtet werden, dasje nach Lage der Gesellschaft flexibelreagieren muss und vor allem reagie-ren kann.

Müller-Armack schreibt im Jahre 1950,also zwei Jahre nach der Währungs-reform, fast prophetisch: Die SozialeMarktwirtschaft sei „gemäß ihrer Kon-zeption kein fertiges System, kein Re-zept, das, einmal gegeben, für alle Zei-ten im gleichen Sinne angewendetwerden kann, ... (sondern eine) evolu-tive Ordnung, in der es neben den fest-en Grundprinzipien, dass sich alles imRahmen einer freien Ordnung zu voll-ziehen hat, immer wieder nötig ist, Ak-zente zu setzen gemäß den Anforde-rungen einer sich wandelnden Zeit“44.

Daniel Dietzfelbinger94

6. Auf dem Weg nach Europa(1958 – 1978)

6.1 Europapolitiker, Berater undWissenschaftler

1958 wird Müller-Armack Staatsse-kretär in der Europaabteilung. An derAusarbeitung und am Abschluss derRömischen Verträge 1957 hat Müller-Armack entscheidenden Anteil undführt häufig in Vertretung Erhards dieVerhandlungen. Von 1960 bis 1963setzt sich Müller-Armack als erster Prä-sident des Konjunkturausschusses derEuropäischen Gemeinschaft für einegesamteuropäische Konjunkturpolitikein. Er übernimmt das Amt eines Ver-waltungsratsmitglieds der Europäi-schen Investitionsbank, das er trotzseines späteren Rückzugs aus der Poli-tik bis 1977 inne behält. Als es um dieJahreswende 1962/1963 zum Scheiternder Verhandlungen über einen BeitrittEnglands zur EWG kommt, will AlfredMüller-Armack, der Anhänger einerumfassenden und gesamteuropäischenUnion ist, aus Protest gegen die Hal-tung Frankreichs zurücktreten, lässtsich aber zunächst zu einer Fortsetzungseiner Arbeit vom Mai 1963 an überre-den. Nach dem Regierungswechsel imHerbst 1963 scheidet Müller-Armackaus der aktiven Politik aus und widmetsich wieder der wissenschaftlichen Ar-beit, bleibt aber der Politik durch seineBeratertätigkeit bis zu seinem Todeverbunden. Ab 1964 ist Müller-ArmackMitglied des Rates der Stadt Köln undvon 1965 bis 1967 Aufsichtsratsvorsit-zender der Essener Rheinstahl AG. Ab1964 gehört er dem Bundesvorstandder CDU an. 1977 wird er Präsidentder Ludwig-Erhard-Stiftung. Am 16.März 1978 stirbt Müller-Armack inKöln – Ironie der Geschichte: Weil an

diesen Tagen gerade die Drucker strei-ken und keine Zeitungen erscheinen,bleibt sein Tod von der Öffentlichkeitfast unbemerkt.

Alfred Müller-Armack war seit 1934 inzweiter Ehe verheiratet mit IrmgardFortmann, die sich noch stärker als ermit theologischen Themen auseinan-der setzt und in späten Jahren vor al-lem unter dem Einfluss des katholi-schen Dogmatikers Michael Schmaus –ein Freund der Familie – zum Katho-lizismus übertritt.45 Alfred Müller-Armack bleibt – trotz anderslautenderGerüchte – sein Leben lang Prote-stant.46

6.2 Vollendung und Ausblick

Die letzte große Schaffensperiode Mül-ler-Armacks setzt ein mit dem pro-grammatischen Aufsatz „Die zweitePhase der Sozialen Marktwirtschaft.Ihre Ergänzung durch das Leitbildeiner neuen Gesellschaftspolitik“47 von1960. Ziel der Veröffentlichungen Mül-ler-Armacks ist es nun – neben tages-politischen Fragen und historischenRückblicken auf die Durchsetzung derSozialen Marktwirtschaft – über dierein wirtschaftspolitische Ordnunghinaus eine breite gesellschaftliche Ba-sis für die Soziale Marktwirtschaft zuschaffen. Zugleich will er die SozialeMarktwirtschaft als ein festes Funda-ment für die Gesellschaft ausgestaltenund ihre Verwurzelung in einer durchdas Wechselverhältnis von Metaphysikund Sozioökonomie geprägten Stil-theorie im Bewusstsein halten. Weiterkonzentrieren sich die Veröffentli-chungen Müller-Armacks auf das The-ma Europäische Einigung. Zu erwäh-nen ist der Vortrag und Aufsatz „Der

Von der Religionssoziologie zur Sozialen Marktwirtschaft 95

Moralist und der Ökonom“48, in demMüller-Armack eine Standortbestim-mung zum Verhältnis Ethik und Wirt-schaft unternimmt. 1971 erscheinenseine Lebenserinnerungen, die den fürMüller-Armack bezeichnenden Titel„Auf dem Weg nach Europa“49 tragen.Programmatisch fasst Müller-Armackseine wirtschaftspolitische Konzeptionnoch einmal 1972 im „Manifest ’72“50

zusammen, das er gemeinsam mit Lud-wig Erhard herausgibt. 1973, die Sozia-le Marktwirtschaft wird 25 Jahre alt,äußert sich Müller-Armack in zahl-reichen Aufsätzen über Wurzeln, Ge-schichte und Inhalt der SozialenMarktwirtschaft und deutet gleich-zeitig Pläne an, wie das Konzept aufkünftige Herausforderungen reagierenkönne. Verbunden mit seiner nunmehr europäisch ausgerichteten Ar-beit, denkt Müller-Armack nun da-rüber nach, wie eine Soziale Markt-wirtschaft auch für andere Länder zurGrundlage der Wirtschafts- und Ge-sellschaftsordnung werden kann, eineweitreichende Union der europäischenStaaten vorausgesetzt.

7. Soziale Marktwirtschaft alsVerpflichtung

Was bleibt von Müller-Armack? In deraktuellen Diskussion um Neoliberalis-mus, Globalisierung und ShareholderValue sollte bewusst bleiben, dass Mül-ler-Armack beide Elemente – Freiheitund soziale Gerechtigkeit, das heißt:Wettbewerbs- und Sozialpolitik – in ei-nem dynamischen Verhältnis gesehenhat. Man sollte sich der Offenheit undFlexibilität des Stilgedankens bewusst

sein. Offenheit heißt nicht Belie-bigkeit. Es ist durchaus sinnvoll, überverkrustete Strukturen des Konzeptesnachzudenken. Viele Gesetze undVorschriften wurden in den fünfzigerJahren als Reaktion auf ganz spezi-fische Anforderungen der damaligenZeit verfasst, die heute so nicht mehrgegeben sind. Dafür sind andereHerausforderungen dazugekommen.Natürlich darf man über Tarifstruktu-ren, über Arbeitszeitmodelle, über zuhohe Lohnnebenkosten, über das Ge-sundheitssystem etc. diskutieren, manmuss es sogar, denn die Welt ist seit1948 nicht stehen geblieben. Wichtigist dabei, im Auge zu behalten, dasssich Wettbewerbs- und Sozialpolitikdie Waage halten, dass nicht das Einezu Gunsten des Anderen Überhand ge-winnt. Dies widerspräche der SozialenMarktwirtschaft als sozioökonomi-schem Imperativ, dies widersprächedem Stilgedanken schlechthin.

Der Name Soziale Marktwirtschaft istProgramm und Verpflichtung. Müller-Armack schreibt Soziale Marktwirt-schaft immer groß: Das Soziale giltnicht nur als ausschmückende Beiord-nung, sondern als ein der Marktwirt-schaft gleichwertiges Prinzip. 1978,wenige Tage vor seinem Tod, sagt Mül-ler-Armack zu der Frage, ob der BegriffSoziale Marktwirtschaft auch interna-tional verwendet werden könne, qua-si als Vermächtnis: „Weshalb soll esnicht möglich sein, dass man ... die'Soziale Marktwirtschaft' als terminustechnicus schluckt. Das muss möglichsein. Dann aber die ’Soziale Marktwirt-schaft’ groß geschrieben, das ist einBitte, mit der ich schließen möchte.“

Daniel Dietzfelbinger96

Literatur51

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Von der Religionssoziologie zur Sozialen Marktwirtschaft 97

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Daniel Dietzfelbinger98

burtstag von Ludwig Erhard, Düsseldorf1996, S.131 – 169.von Zwiedineck-Südenhorst, O.: Weltan-

schauung und Wirtschaft. Kritisches und Po-sitives zu Müller-Armacks Genealogie derWirtschaftsstile, München 1942.

Anmerkungen1 Zu biografischen Skizzen: Dietzfelbin-

ger, D.: Soziale Marktwirtschaft, S.30ff.;Hoffmann, H./Watrin, C.: Wirtschaft, Ge-sellschaft und Kultur, S.635 – 646; Hoff-mann, H.: Zu Arbeit und Werk; Hoff-mann, H.: Art. Müller-Armack; Hoff-mann, H.: Alfred Müller-Armack und dieDiagnose; Watrin, C.: Alfred Müller-Ar-mack; Starbatty, J.: Art. Müller-Armack;Haselbach, D.: Autoritärer Liberalismus,S.118ff.

2 Müller-Armack, A.: Auf dem Weg [1971].3 Gespräch des Verf. mit Andreas Müller-

Armack am 17.1.1996, München, Ton-bandaufnahme.

4 Leipzig 1926.5 So dann später auch John Maynard Key-

nes. Vgl.: Keynes, J.M.: General Theoryof Employment, Interest and Money,1935.

6 Müller-Armack, A.: Kreditpolitik [1926];Müller-Armack, A.: Konjunkturforschung[1929].

7 Müller-Armack, A.: Entwicklungsgesetzedes Kapitalismus. Ökonomische, ge-schichtstheoretische und soziologischeStudien zur modernen Wirtschaftsverfas-sung [1932].

8 Das verwundert umso mehr, als gerade inden letzten Jahren die Fakten dieses Le-bensabschnittes Müller-Armacks mehr-fach in der Literatur genau dargestelltwurden. Vgl. dazu: Dietzfelbinger, D.: So-ziale Marktwirtschaft, S.44ff.; vgl. Wün-sche, H.F.: Erhards Soziale Marktwirt-schaft; vgl. Kottwitz, R.: 1999.

9 Vgl.: Krohn, C.-D.: Wirtschaftstheorie, S.123.

10 Müller-Armack, A.: Staatsidee [1933], S.11f., Anmerkung 1. Vgl.: Müller-Armack,A.: Entwicklungsgesetze [1932], S.126f.

11 Wünsche, H.F.: Erhards Soziale Markt-wirtschaft, S.163.

12 Vgl. dazu: Nicholls, A.J.: Freedom, S.13f.13 Zum Einfluss des Nationalsozialismus auf

die Volkswirtschaftslehre: Kruse, C.: DieVolkswirtschaftslehre.

14 Vgl.: Wünsche, H.F.: Erhards SozialeMarktwirtschaft, S.163.

15 Zu den Vorbehalten Müller-Armacks vgl. etwa: Müller-Armack, A.: Staatsidee[1933], S.8.

16 Zur Kritik vgl.: von Zwiedineck-Süden-

horst, O.: Weltanschauung und Wirt-schaft, S.118 – 119.

17 ACDP, Nachlass Müller-Armack.18 ACDP, ebd. Vgl. auch: Haselbach, D.: Au-

toritärer Liberalismus, S.123. Hier findetsich ein sinnentstellender Fehler: „Es magdas Verwenden korporativ-ständischerTerminologie gewesen sein, die – vor al-lem, nachdem der Nationalsozialismussich mit dem Ständetheoretiker OthmarSpann überworfen hatte – unzeitgemäßgeworden war, es mag auch seine Unzu-verlässigkeit in ’völkischer’ Hinsicht eineRolle gespielt haben: die ’Staatsidee’ er-lebte nicht nur die erste Auflage.“ Ge-meint ist wohl, dass sie deswegen nureine Auflage lebte.

19 Vgl.: Cobet, C.: Zur Soziologie nach 1945,S.31.

20 Müller-Armack, A.: Diagnose [1948], S.15ff.

21 Müller-Armack, A.: Staatsidee [1933], S.7.22 Müller-Armack, A.: ebd., S.7.23 Müller-Armack, A.: ebd., S.9.24 Im Original heißt es: „The Minister of

Education stopped the process because ofmy ’liberal ideas’.“, in: ACDP, ebd., Über-setzung vom Verf.

25 Wünsche, H.F.: Erhards Soziale Markt-wirtschaft, S.156.

26 Im Original heißt es: „During 1932 and1933 I have several times analysed the’danger’ of the fashist and dictatorial mo-vements. As I would be silenced notbeing a party member I joined the partyto influence it from within. I tried at once to give my criticism specially of theracetheories and my defence of the Christian Religion.“, in: ACDP, NachlassMüller-Armack, Übersetzung vom Verf.

27 Seeliger, R. (Hrsg.): Braune Universität,Band 6.

28 Müller-Armack, A.: Stellungnahme [1968], S. 60.

29 Müller-Armack, A.: ebd., S.61.30 Munzinger-Archiv: Art. Alfred Müller-Ar-

mack.31 Haselbach, D.: Autoritärer Liberalismus,

S.123.32 Müller-Armack, A.: Genealogie der Wirt-

schaftsstile [1940].33 Weber, M.: Die Protestantische Ethik.34 Vgl. dazu: Blum, R.: Soziale Marktwirt-

Von der Religionssoziologie zur Sozialen Marktwirtschaft 99

schaft, S.90ff. Zur historischen Situation:Ambrosius, G.: Die Durchsetzung.

35 Müller-Armack, A.: Auf dem Weg [1971],S.50.

36 Zu unterschiedlichen Annahmen, wie er-tragreich die Währungsreform für denAufbau Deutschlands gewesen ist: Klump,R.: Die Währungsreform von 1948; Am-brosius, G.: Die Durchsetzung, S.163ff.

37 Das entscheidende Verdienst Ludwig Er-hards liegt in der Aufhebung der Zwangs-bewirtschaftung zwei Tage vor der Durch-führung der Währungsreform in derNacht vom 20. auf den 21. Juni 1948 (Ge-setz über Leitsätze für die Bewirtschaftungund Preispolitik nach der Geldreformvom 18. Juni 1948). Die Preise fast allergewerblich erzeugten Produkte werdenfreigegeben, die Marktwirtschaft mit so-zialer Gestaltung war geboren.

38 Zu Ludwig Erhard vgl.: Müller-Armack,A.: Ein exemplarisches Leben. Zum acht-zigsten Geburtstag von Ludwig Erhard[1977]. Vgl. zum Verhältnis von Adenau-er und Erhard: Müller-Armack, A.: Politi-sche Führung und Wirtschaftspolitik.Adenauer, die Wirtschaftspolitik und dieWirtschaftspolitiker [1975]. Zur externenBeurteilung des Verhältnisses von Müller-Armack und Erhard vgl.: Kloten, N.: Ma-kroökonomische Stabilisierungspolitik,insbes. S.116ff. Kritisch: Wünsche, H.F.:Erhards Soziale Marktwirtschaft.

39 Seuß, W.: Von ihm stammt das Wort 'So-ziale Marktwirtschaft'; vgl. auch: Watrin,C.: Alfred Müller-Armack, S.20; vgl. auch:Müller-Armack, A.: Auf dem Weg [1971],S.21.

40 Müller-Armack, A.: Wirtschaftslenkung[1946].

41 ACDP, Nachlass Müller-Armack, I-236-002/2.

42 Das Erscheinungsjahr des Buches exakt

zu datieren, ist schwierig: Das Copyrightist von 1947 (Verlag für Wirtschafts- undSozialpolitik, Hamburg), Müller-Armackdatiert es bei Wiederabdruck im Sam-melband „Wirtschaftsordnung und Wirt-schaftspolitik“ (Freiburg i.Br. 11966, Bern/Stuttgart 21976) auf das Jahr 1946, ver-mutlich das Jahr der Entstehung. Diezweite Auflage erscheint 1948 (Hamburg,gleicher Verlag). Eine Sonderausgabe ist1990 im Kastell-Verlag München er-schienen. Im Folgenden wird das Copy-right-Datum als Erscheinungsjahr ange-geben; vgl. dazu: Dietzfelbinger, D.: Art.„Wirtschaftslenkung“.

43 Immer wieder wird von anderen Ökono-men die Erfindung des Begriffs „SozialeMarktwirtschaft“ beansprucht; eine nähe-re Untersuchung zeigt aber, dass dieseThesen jeglicher Grundlage entbehren.Vgl. dazu: Dietzfelbinger, D.: SozialeMarktwirtschaft, S.199ff.

44 Müller-Armack, A.: Zur Einführung [1974],S.10.

45 Gespräch des Verf. mit Andreas Müller-Armack am 17.1.1996, München, Ton-bandaufnahme.

46 Gespräch des Verf. mit Andreas Müller-Armack am 17.1.1996, München, Ton-bandaufnahme.

47 Müller-Armack, A.: Die zweite Phase derSozialen Marktwirtschaft. Ihre Ergänzungdurch das Leitbild einer neuen Gesell-schaftspolitik [1960].

48 Müller-Armack, A.: Der Moralist und derÖkonom. Zur Frage der Humanisierungder Gesellschaft [1970].

49 Müller-Armack, A.: Auf dem Weg [1971].50 Müller-Armack, A./Erhard, L. (Hrsg.): So-

ziale Marktwirtschaft [1972].51 Eine ausführliche Bibliographie Müller-

Armacks findet sich in: Dietzfelbinger, D.:Soziale Marktwirtschaft, S.288ff.

Das Parteiensystem Großbritannienskonnte aus der Perspektive ausländi-scher Beobachter stets Modellcharakterbeanspruchen. Der Einfluss des briti-schen Modells erstreckte sich dabei vorallem auf die normativ-funktionaleEbene des Parteienwettbewerbs undwurde schon früh zum Inbegriff desPrinzips der verantwortlichen Partei-regierung in der parlamentarischenDemokratie. In empirischer Hinsichtwar Großbritannien stets nicht nurModell, sondern zugleich auch einSonderfall in der Gruppe der west-europäischen Parteiensysteme. Spätes-tens seit den frühen neunziger Jahrenbestand dieser Sonderstatus nichtmehr nur in der geringen Anzahl vonparlamentarisch repräsentierten Partei-en mit Regierungsbildungspotenzialund der daraus resultierenden Neigungzu permanenter Einparteienregierung.Vielmehr machte die Stabilität der Ak-teurskonstellation seit dem Ende dersiebziger Jahre – konkret die weitge-hend unangefochtene Vormachtstel-lung der Conservative Party – Groß-britannien zu einem Sonderfall in der Gruppe der westlichen Länder.Während die neunziger Jahre insge-samt als ein „Jahrzehnt des Parteien-systemwandels“ in den konsolidiertenwestlichen Demokratien beschriebenwurden2, diskutierte man im bri-tischen Kontext die Gefahren eines

konservativ geprägten „dominant par-ty system“.3

Der Machtwechsel von 1997 brachtedas jähe Ende dieser Debatte undmachte Großbritannien geradezu zumparadigmatischen Fall des in praktischallen größeren Demokratien Westeuro-pas (mit Ausnahme Spaniens) in denneunziger Jahren zu beobachtendenSiegeszugs sozialistisch/sozialdemokra-tischer Parteien. In keinem anderenwesteuropäischen Land wurde die Er-folgsstory des „New Labour“-Projektsso sehr zum Vorbild sozialdemokra-tischen Politikmarketings genommenwie in Deutschland. Das im Sommer1999 veröffentlichte Schröder-Blair-Pa-pier ist nur der greifbarste Ausdruckder umstrittenen Bereitschaft der deutschen Sozialdemokraten, sichauch in inhaltlichen Fragen von derbritischen Labour Party inspirieren zulassen.

Die in diesem Beitrag formulierte Be-standsaufnahme der britischen Partei-endemokratie seit dem Machtwechselvon 1997 verbindet einen knappenRückblick auf die jüngere Entwick-lungsgeschichte des Parteiensystemsmit einer Diskussion möglicher Zu-kunftsszenarien. Dabei wird eine vermittelnde Position formuliert: Ei-nerseits wird argumentiert, dass das

Das britische Parteiensystem in der Ära Blair1

Ludger Helms

Politische Studien, Heft 373, 51. Jahrgang, September/Oktober 2000

Ludger Helms102

Parteiensystem Großbritanniens nie sostabil war wie zuweilen behauptet wur-de. So gab es stets nicht nur bemer-kenswerte Herausforderungen des fak-tischen Parteienduopols der LabourParty und der Conservative Party, son-dern zugleich weitreichende Verände-rungen in der Wettbewerbstruktur desParteiensystems, die sich zwar jenseitsder elektoralen Ebene des Parteien-wettbewerbs vollzogen, aber gleich-wohl den Gesamtcharakter des Partei-ensystems nachhaltig veränderten.Andererseits ist es wichtig zu sehen,dass das britische Parteiensystem auchnach dem Erdrutsch-Wahlsieg der La-bour Party in seiner Kernstruktur imWesentlichen unverändert gebliebenist. Anders als etwa in Italien 1994 kames weder zu einem grundlegenden Aus-tausch der parlamentarisch repräsen-tierten Parteien noch zu einer wirklichdramatischen Veränderung der Stim-menstärke der einzelnen Akteure, wel-che einen Einfluss auf die funktionaleEbene des Parteienwettbewerbs (d.h.die grundlegenden Parameter der Re-gierungsbildung) gehabt hätten. Denmit Abstand wichtigsten Grund für dieauffallende Beharrlichkeit des Kernfor-mats des britischen Parteiensystemsbildet das relative Mehrheitswahl-system, dem zwar drastische Verzer-rungswirkungen im Verhältnis von er-zielten Stimmen und Mandaten einerPartei eigen sind, welches jedoch zu-gleich kurzfristige Veränderungen des„Strukturkerns“ des Parteiensystemswirksam verhindert.4 Man hat dies-bezüglich treffend von einem „suppres-sed two-and-a-half party system“ ge-sprochen.5 Die ungewisse Zukunft desWahlsystems in Großbritannien bildetden wichtigsten Grund für die außeror-dentliche Schwierigkeit, einigermaßenbodenständige Entwicklungsszenarien

des britischen Parteiensystems der kom-menden Jahre zu formulieren.

Im Weiteren wird zunächst eine kurzeBestandsaufnahme des Zeitraumes1979 bis 1997 gegeben (1.). Im An-schluss daran werden in knapper Form die wichtigsten Kennzeichen desMachtwechsels von 1997 rekapituliert(2.). Schließlich ist auf die jüngstenEntwicklungen einzugehen, die sichseit dem Machtwechsel ereignet ha-ben. In bewusster Abgrenzung zu einerrein chronologischen Berichterstattungwerden die jüngsten Vorkommnisseim Rahmen einer Diskussion unter-schiedlicher Entwicklungsszenariendes Parteiensystems beleuchtet (3.).Der Schlussabschnitt wirft einen Blickauf den Stand der britischen Wahlsy-stemreformdiskussion und diskutiertdie möglichen Auswirkungen künftigerReformen auf das Parteiensystem (4.).

1. Das Parteiensystem imZeitraum 1979 – 1997

In der Phase von 1979 bis 1997 wardas britische Parteiensystem vor allembezüglich der parteipolitischen Zusam-mensetzung der Regierung außerge-wöhnlich stabil. Der vierte Wahlsiegder Tories in Folge bei den Wahlen1992 führte dazu, dass Großbritannienim synchronen Vergleich mit den klas-sischen Ausprägungen demokratischerEinparteiendominanz in Japan undItalien um so bemerkenswerter wurde,als es während der ersten Hälfte derneunziger Jahre dort zum Machtverlustder jeweiligen Hegemonialpartei (DCbzw. LDP) kam.

Selbst wenn man den Blick zunächstauf die elektorale Ebene des Parteien-

Das britische Parteiensystem in der Ära Blair 103

wettbewerbs beschränkt, lässt sich je-doch argumentieren, dass die Phase1979 – 97 nicht ausnahmslos von Sta-bilität geprägt war. Während bereitsseit den siebziger Jahren vor allem diebeträchtlichen Stimmenzuwächse fürdie nationalistischen Regionalparteienin Schottland und Wales ein dynami-sches Element markierten, waren diefrühen achtziger Jahre insbesonderedurch den Kampf um die Position dergrößten Oppositionspartei bestimmt –eine Position, die wegen der staats-rechtlich privilegierten Stellung derstärksten Oppositionspartei im Unter-haus von (noch) größerer Bedeutungist als in den meisten übrigen parla-mentarischen Demokratien Westeuro-pas. Bei den Wahlen von 1983 erreich-te die SDP mit mehr als 25% derStimmen das beste Ergebnis einer drit-ten Partei seit 1945 und blieb damitnur um rund 2 Prozentpunkte hinterder Labour Party zurück. Die Unter-hauswahl 1983 markierte zugleich dieeinzige Gelegenheit in der britischenNachkriegsgeschichte, bei der eine derbeiden Großparteien unter die 30 Pro-zent-Marke fiel. Der Stimmenanteil fürdritte Parteien fiel jedoch auch nachdem Höhenflug der SDP nicht auf dasNiveau der ersten drei Nachkriegsjahr-zehnte zurück, sodass man am Endeder Ära Thatcher zu Recht von einem„Drei-Parteien-System im Lande“ ge-sprochen hat, welches freilich keinenadäquaten Niederschlag in der parla-mentarischen Arena fand.

Die interessanteste Entwicklung dieserPhase bildete indes die grundlegendeorganisatorische und programmatischeTransformation der Labour Party vonden frühen achtziger Jahren bis zumVorabend der Unterhauswahl 1997(und darüber hinaus). In ihren Auswir-

kungen auf die Struktur des Parteien-wettbewerbs waren die programma-tischen Reformen der Labour Party oh-ne Zweifel von weit reichenderBedeutung als die Organisationsre-form, obwohl es wichtig ist zu sehen,dass sich die programmatischen Refor-men ohne die in wichtigen Teilen vor-ausgehenden organisatorischen Refor-men schwerlich hätten durchsetzenlassen. Die Organisationsreform stärk-te die Parteiführung und schwächtenicht nur die „mittlere“ Ebene der Par-teiorganisation, sondern – zumindestin der Praxis – auch die Mitglieder, ob-wohl jüngere empirische Studien diepopuläre These von der Bevormun-dung und Instrumentalisierung derMitglieder durch die Parteispitze einStück weit relativiert haben.6 Die Ver-änderungen im programmatischenProfil der Labour Party seit den frühenneunziger Jahren sind zu Recht als einMix beschrieben worden, der sowohleine Rückkehr zu den zwischenzeitlichin den Hintergrund geratenen sozial-demokratischen Traditionen der La-bour Party, aber zugleich auch eine ra-dikale Hinwendung zu einer von denGewerkschaften emanzipierten, stärkermarktfreundlichen politischen Grund-philosophie bedeutete.7 Seit dem in-nerparteilichen Machtantritt TonyBlairs im Sommer 1994 hat zweifels-ohne der zuletzt genannte Aspekt eindrastisch größeres Gewicht gewonnen,welches durch die viel beachtete Re-form der berüchtigten Clause VI imStatut der Labour Party 1994 auchsymbolisch unterstrichen wurde.8

Unter britischen Parteienforschern be-steht Übereinstimmung darüber, dassdie Labour Party im hier interessieren-den Zeitraum die mit Abstand weitrei-chendste programmatische Repositio-

Ludger Helms104

nierung der drei wichtigsten Parteiendes Systems vorgenommen hat. Diegravierendsten Veränderungen fandendabei zwischen zwei Unterhauswah-len, in der Phase von 1992 bis 1997statt. Hierdurch wurde nicht nur dieprogrammatisch-ideologische Spann-weite des britischen Parteiensystemsinsgesamt minimiert, sondern auchdie Anordnung der Parteien auf der ge-dachten Links-Rechts-Skala deutlichverändert. Nach Einschätzung des bri-tischen Politologen Ian Budge rücktedie Labour Party in den neunziger Jah-ren vollends in die „Mitte“ des Partei-ensystems und liegt damit links vonder Conservative Party, aber rechts vonden kleineren Liberal Democrats.9 Inder historischen Gesamtperspektivestellt sich die grundlegende Neuposi-tionierung der Labour Party als diewichtigste Veränderung des Parteien-systems in der Phase 1979 – 97 dar –auch deshalb, da die mühsame Wie-dererlangung der „Wählbarkeit“ La-bours einen wesentlichen Teil der Vor-aussetzungen für den Machtwechselvon 1997 schuf. Darüber hinaus lassensich in Abgrenzung zu älteren Katego-rien der politikwissenschaftlichen Er-forschung von Parteiensystemwandelentsprechende Veränderungen im pro-grammatischen Profil und der Wettbe-werbsstrategie von Akteuren sehr wohlals eine spezifische Form von Parteien-systemwandel begreifen, welche sichauch unabhängig von gravierendenVeränderungen in der Stimmenstär-ke von Akteuren zwischen zwei odermehreren Wahlen ereignen kann.10

Mit Blick auf die Qualität der Auswir-kungen, die der Wechsel an der Spitzeder Labour Party von John Smith zuTony Blair im Sommer 1994 auf denGesamtcharakter des Parteiensystemshatte, ließe sich gar argumentieren,

dass die Ära Blair schon einige Jahrevor dem Machtwechsel 1997 begannoder doch zumindest ihre Schattenvoraus warf.

2. Der Machtwechsel von 1997

Die Unterhauswahlen 1997 führten zu drastischen Veränderungen bezüg-lich der parlamentarischen Repräsen-tation der wichtigsten Parteien.11

Während die Labour Party mit 419Mandaten ihr bei weitem bestes Ergeb-nis der Parteigeschichte verbuchenkonnte, erzielte die Conservative Partymit nur 165 Sitzen ihren gerings-ten Mandatsanteil seit 1906. Niemals seit dem Zweiten Weltkrieg war dieMandatsdifferenz zwischen der Re-gierungsmehrheit und der Oppositiongrößer als nach den Wahlen von 1997.

Weniger revolutionär mutet das Ergeb-nis der Unterhauswahl von 1997 an,wenn man auf die Stimmenvertei-lung blickt. Dies gilt zumindest für dieaktuellen Stimmenanteile der beidenGroßparteien im historischen Ver-gleich. So lag der Stimmenanteil derConservative Party mit 30,7% nochimmer deutlich höher als jener der La-bour Party im Jahre 1983. Andererseitskann auch das Ergebnis von 43,3% fürdie siegreiche Labour Party keineswegsals „historische“ Marke gewertet wer-den. Bemerkenswert war allerdings der1997 zu beobachtende „swing“, d.h.das Ausmaß der Stimmenumverteilungzwischen den beiden größten Parteiendes Systems. Der 1997 gemessene Wertvon 10,5% war der höchste seit derUnterhauswahl 1945.12

Trotz dieses zuletzt genannten Aspektskann man mit Blick auf den Macht-

Das britische Parteiensystem in der Ära Blair 105

wechsel von 1997 schwerlich von ei-ner ernsthaften „Strukturkrise“ des bri-tischen Parteiensystems sprechen. Dergemeinsame Stimmenanteil der La-bour Party und der Conservative Partylag mit 74% nur einen Prozentpunktunter dem Durchschnittswert des Zeit-raums 1974 – 92. Ebenso wenig kam eszu einem Austausch der relevanten Ak-teure oder zu einer Veränderung deseingespielten Regierungsbildungsme-chanismus. Die mittel- und längerfri-stige Bedeutung des Machtwechselsvon 1997 für die Struktur des briti-schen Parteiensystems wird vor allemdavon abhängen, ob sich aus demWahlsieg der Labour Party eine dauer-haftere Vormachtstellung der Parteientwickelt oder nicht. Dieses Szenarioeiner völlig neuartigen Hegemonialpo-sition der Labour Party – welche nochniemals seit ihrem Bestehen zwei volleLegislaturperioden lang an der Regie-rung war – bildet eines neben anderendenkbaren Entwicklungsszenarien desParteiensystems in den kommendenJahren, auf die nun zu sprechen zukommen ist.

3. Entwicklungsszenarien desbritischen Parteiensystems

Wie für andere westeuropäische Län-der gilt auch für Großbritannien, dassdas Spekulieren über mögliche Verän-derungen in der Parteienlandschaft imVergleich zu früheren Jahrzehnten indem Maße schwieriger geworden ist,als kurzfristige Determinanten derWahlentscheidung drastisch an Bedeu-tung gewonnen haben.13 Ungeachtetdessen lassen sich insgesamt minde-stens vier mittelfristig mögliche Ent-wicklungsszenarien des britischen Par-teiensystems formulieren, denen

gemeinsam ist, dass sie die Annahmeeiner Fortgeltung des relativen Mehr-heitswahlrechts zur Grundlage haben.

3.1 Hegemonie der Labour Party

Für eine auch mittelfristig beherr-schende Position der Labour Partyscheinen vor allem die nach wie vorganz ungewöhnlich hohen Zustim-mungswerte in Bevölkerungsumfra-gen zu sprechen. Rund drei Jahre nachder Regierungsübernahme liegt der inUmfragen ermittelte Stimmenanteilder Labour Party noch immer deutlichüber dem Wahlergebnis von 1997 und um annähernd 20 Prozentpunktehöher als jener der Regierungen Majoroder Thatcher zur Halbzeit der Legisla-turperiode. Bis April 2000 wurde fürdie Labour Party in MORI-Umfragenstets ein Stimmenanteil von über 50%ermittelt; erst im Mai 2000 fiel derWert erstmals knapp unter die 50 Pro-zent-Marke. Wie keine andere Parteiprofitierte die Labour Party in den ver-gangenen Jahren von der außerge-wöhnlichen Popularität ihres Vorsit-zenden, Tony Blair. Blair genießt nichtnur ein exorbitant hohes Ansehen alsParteipolitiker und Regierungschef,sondern wurde in einer Umfrage nochvor der Queen und dem Erzbischofvon Canterbury kürzlich gar zumwichtigsten „spirituellen Führer“ desLandes gewählt.14

Allerdings gibt es auch Untersuchun-gen, die belegen, dass zumindest unterParteiaktivisten die hohen Unterstüt-zungswerte für die Führungsqualitätender Parteispitze in drastischem Gegen-satz zu der sehr mäßigen Zufriedenheitmit den Politikinhalten der LabourParty stehen15 – ein Trend, der sich seit

Ludger Helms106

Mitte 1999 auch in Umfragen unterbritischen Wählern vorsichtig abzu-zeichnen begonnen hat. Dies scheintdie in jüngeren Studien zum britischenRegierungssystem formulierte These,nach der „leadership“ zu einem eigen-ständigen, von der Ebene konkreterPolitikinhalte weitgehend losgelöstenBewertungskriterium für Parteien undRegierungen geworden sei16, zu be-stätigen. Gleichwohl könnte sich ausder abnehmenden Zustimmung zumateriellen Ergebnissen der Politik derRegierung Blair für die Labour Partyzumindest mittelfristig ein ernsthaftesProblem ergeben. Andererseits zeigenneuere Analysen der Unterhauswahlvon 1997, dass Labour bei den nächs-ten Wahlen möglicherweise sogarnoch gewisse Reserven mobilisierenkönnte. So wurde auf der Grundlageneuer empirischer Befunde argumen-tiert, dass viele Wähler, die 1997 nocheinmal für die Conservative Party vo-tierten, dies vor allem deshalb getanhätten, weil sie nicht davon überzeugtwaren, dass Labour im Falle einesMachtwechsels tatsächlich eine „ge-mäßigte“ Politik betreiben würde.17

3.2 Restabilisierung bzw. Rebalancie-rung des Zweiparteiensystems

Für das zweite Szenario einer mittel-fristigen Restabilisierung eines mehroder minder symmetrischen Zweipar-teiensystems lassen sich zunächst dienäheren Umstände des Machtwechselsvon 1997 anführen. Es gibt zahlreicheAnalysen, die auf das Phänomen des„taktischen Wahlverhaltens“ hinwei-sen, wonach 1997 viele Wähler vorallem das Ziel verfolgt hätten, der 18Jahre lang ungebrochenen Vorherr-schaft der Konservativen ein Ende zu

setzen.18 Mit dem Hinweis auf ver-breitetes „taktisches Wahlverhalten“ist bei vielen Beobachtern die The-se verbunden, dass das erreichbareWählerpotenzial der Conservative Par-ty eigentlich größer ist als das jüngsteWahlergebnis suggeriert und nicht allediejenigen, die 1997 nicht Conserva-tive gewählt haben, der Partei auch aufabsehbare Zukunft die Unterstützungversagen müssten.

Ob mit einer möglichen Restabili-sierung bzw. einer Rebalancierung desfaktischen Zweiparteiensystems zu-gleich eine Wiederanknüpfung an dieMitte der siebziger Jahre zu Ende ge-gangene „consensus politics“-Phasedes britischen Parteiensystems einher-gehen würde, erscheint hingegen frag-lich. Die Labour Party hat mit ihrerprogrammatischen Neupositionierunggewissermaßen ihren Teil hierzu schongeleistet. Allerdings lassen sich auf-seiten der Conservative Party bislangeher Radikalisierungstendenzen aus-machen, so zumindest auf dem Feldder Europapolitik19, aber auch bezüg-lich neuer „law and order“-Konzepteund in der Gesundheitspolitik, wo diePartei zuletzt mit Vorschlägen für um-fangreiche Privatisierungen von Kran-kenhäusern Aufsehen erregte. Die pro-grammatischen Verlautbarungen derConservative Party im Umfeld des Par-teitags vom Oktober 1999 wurdenweithin als eine Revitalisierung undRadikalisierung thatcheristischen Ge-dankenguts bewertet.20 Selbst für denFall jedoch, dass sich das programma-tische Profil der Tories in den kom-menden Jahren nicht weiter radikali-sieren sollte – wofür es in den jüngstenÄußerungen einzelner Spitzenreprä-sentanten der Partei, wie etwa MichaelPortillo, immerhin bescheidene Anzei-

Das britische Parteiensystem in der Ära Blair 107

chen zu geben scheint21 – und derenelektorale Unterstützungsbasis derjeni-gen Labours ähnlicher würde, ließesich kaum von einer getreuen Wieder-herstellung des alten „consensus“-Mo-dells sprechen. Da die Labour Party aufabsehbare Zeit kaum ein Interesse da-ran haben dürfte, den mühsam errun-genen komfortablen Platz in der Mittedes Parteienspektrums erneut nachlinks hin zu verlassen, hätte sich die„programmatische Achse“ des Partei-ensystems im Vergleich zu früherenJahrzehnten in jedem Fall deutlichnach rechts verschoben.

3.3 Hegemonie der Conservative Party

Für das dritte, immerhin theoretischmögliche Entwicklungsszenario einerneuerlichen Hegemonialposition derConservative Party scheint außer derbeeindruckenden Bilanz des vergange-nen „konservativen Jahrhunderts“ mo-mentan so gut wie nichts zu sprechen.Der überraschende Erfolg der Tories bei den Europawahlen 1999 mit einerWahlbeteiligung von nur 29% scheintkaum zu großen Hoffnungen zu be-rechtigen. Erwähnenswerter erschei-nen die Erfolge der Konservativen beiden Regionalwahlen Anfang Mai 2000.Anders als in den meisten westeu-ropäischen Ländern hat die Opposi-tion bislang aber kaum auch nursymbolische Achtungserfolge in lan-desweiten Bevölkerungsumfragen er-zielt. Ihr bei diesen Gelegenheiten er-mittelter Stimmenanteil lag seit derletzten Unterhauswahl bis zum Früh-jahr 2000 stets noch unter dem Wahl-ergebnis von 1997; ein Wert von nichtweit über 30% wurde erstmals im Mai2000 erreicht. Wie im Fall der Labour

Party muss auch die Gesamtbewertungder konservativen Opposition zu ei-nem großen Teil als Urteil über derenParteivorsitzenden, William Hague, an-gesehen werden.22

Der in der Opposition durchgeführten,auffallend stark am „New Labour“-Pro-jekt orientierten Organisationsreformfolgte lange Zeit keine kohärente Neu-formulierung der programmatischenGrundlagen konservativer Politiknach. Auf dem Parteitag im Oktober1999 wurde ein „mid-term manifesto“(„The Common Sense Revolution“),vorgestellt, welches jedoch selbst nachMeinung wohl wollender Beobachtermehr Fragen aufwirft als beantwortet.23

Auch die innerparteiliche Zerissenheit,speziell in europapolitischen Fragen,die der Partei während der AmtszeitMajors schwere Ansehensverluste zu-fügte, scheint sich trotz gegenteiligerBeteuerungen kaum verringert zu ha-ben. Kurz vor den Europawahlen 1999ging aus den innerparteilichen Flü-gelkämpfen sogar eine Pro-Euro Con-servative Party hervor. Während Par-teiführer Hague zu einer Gallionsfigurdes britischen Euroskeptizismus ge-worden ist, engagieren sich namhafteParteivertreter wie Kenneth Clarke undMichael Heseltine gemeinsam mitTony Blair und Charles Kennedy, demVorsitzenden der Liberal Democrats, inder überparteilichen pro-europäischenKampagne „Britain in Europe“, welcheMitte Oktober 1999 ins Leben gerufenwurde.24

Ludger Helms108

3.4 Verdrängung der ConservativeParty als wichtigste Opposi-tionspartei

Immerhin scheint, viertens, auch eineVerdrängung der Conservative Partyals wichtigste Oppositionspartei mo-mentan eher unwahrscheinlich zusein. Den zentralen Grund hierfür bil-det allerdings weniger die insgesamteher mäßige Performanz der Konserva-tiven in der Opposition. Vielmehr wirddie Selbstbehauptung der ConservativeParty als wichtigste „echte“ Opposi-tionspartei maßgeblich durch die fürdas Westminster-Modell ungewöhn-liche kooperative Oppositionsstrate-gie der Liberal Democrats begünstigt.Die Liberal Democrats haben ihre ur-sprünglich neutrale Position der „equi-distance“ bereits vor den letzten Wahl-en zugunsten einer größeren Nähe zurLabour Party aufgegeben, wobei auchdieser Schritt zu den Sekundärwirkun-gen des „Blair-Effekts“ auf das briti-sche Parteiensystem gerechnet werdenkann. Seit Ende 1997 arbeiten rangho-he Vertreter beider Parteien auch imRahmen eines speziellen Kabinettsaus-schusses zusammen, in dem wesentli-che Komponenten der weitreichendenVerfassungsreform der Blair-Admini-stration gemeinsam beraten und kon-zipiert wurden. Der Kompetenzbereichdieses Ausschusses wurde Ende 1998sogar auf weitere Politikbereiche wiedie Gesundheits-, Bildungs- und Euro-papolitik ausgedehnt.

Die Auswirkungen des im Spätsommer1999 erfolgten Wechsels an der Par-teispitze der Liberal Democrats vonPaddy Ashdown zu Charles Kennedybleiben bislang weitgehend ungewiss.Über vergleichbar enge persönliche Be-ziehungen zu Blair wie sein Vorgänger

Ashdown verfügt Kennedy zweifelsoh-ne nicht, obwohl die strukturellen Vor-aussetzungen einer engen Zusammen-arbeit – Kennedy war in den siebzigerJahren selbst Mitglied der Labour Partyund zog 1983 zuerst als Abgeordneterder SDP in das Unterhaus ein – günstigzu sein scheinen. Auf seiner ersten Par-teitagsrede Ende September 1999 rück-te der neue Parteivorsitzende eine Rei-he sozialpolitischer Aspekte in denVordergrund, welche die Liberal De-mocrats als deutlich links von der La-bour Party auswiesen.25 Dies markier-te einen auffallenden Widerspruch zudem wiederholt geäußerten Bekennt-nis der Parteiführung, an einer dauer-haften Position links von der LabourParty nicht interessiert zu sein. SeitFrühjahr 2000 sind zudem Bemühun-gen der Liberal Democrats erkennbar,durch die Besetzung bislang weitge-hend vernachlässigter Politikbereichewie Umwelt und Verkehr ihr eigenesProfil zu stärken. Die künftigen Ent-wicklungschancen des „Lib-Lab Pacts“,der von einigen Autoren als der wich-tigste Aspekt des Parteiensystemwan-dels der letzten Jahre bewertet wird26,dürfte maßgeblich vom Ausgang derWahlsystemreformdebatte abhängen.

4. Die Wahlsystemreform-debatte und die Zukunft desbritischen Parteiensystems

Zu den augenblicklich in der Diskus-sion befindlichen Wahlsystemen ge-hören zahlreiche unterschiedlicheModelle, darunter der Ende 1998 ver-öffentlichte Vorschlag der unabhängi-gen Wahlsystemreform-Kommission.27

Wie ein Team britischer Politikwis-senschaftler auf der Grundlage derStimmenverteilung von 1997 errech-

Das britische Parteiensystem in der Ära Blair 109

net hat, sind die Liberal Democrats dieeinzige der drei größten Parteien, dievon jeder theoretisch für möglich ge-haltenen Wahlsystemvariante deut-liche Mandatsgewinne zu erwartenhätte.28 Demgegenüber sind die poten-ziellen Auswirkungen für die LabourParty und die Conservative Party we-niger eindeutig. Die Einführung einesreinen Verhältniswahlsystems würdedie Reihe der Entwicklungsszenariendes britischen Parteiensystems ver-mutlich um die Variante eines „hungparliament“ – einer parteipolitischenMachtverteilung im britischen Unter-haus ohne absolute Mehrheit für einePartei – erweitern. Damit könntenzugleich Regierungskoalitionen (oderaber, wenngleich deutlich wenigerwahrscheinlich, Minderheitsregierun-gen) zu einem zentralen Bestandteildes modifizierten Westminster-Modellswerden. In den Kategorien der jünge-ren Parteiensystemforschung ausge-drückt, würde jede mehr als nur kos-metische Wahlsystemreform erstmalsseit Beginn des 20. Jahrhunderts auchdie Persistenz des „Strukturkerns“ desbritischen Parteiensystems ernsthaft inFrage stellen.

Trotz der Fülle unterschiedlicher Vor-schläge zur Reform des Wahlsystemsist es nunmehr gewiss, dass zumindestdie nächste Unterhauswahl noch unterdem alten Wahlsystem ausgefoch-ten werden wird. Mitte Januar 2000schloss Blair eine Änderung des Wahl-systems vor der nächsten Unterhaus-wahl definitiv aus.29 Den Hintergrunddieser Entscheidung bildete nicht zu-letzt die starke innerparteiliche Oppo-sition gegen ein entsprechendes Vor-haben. Eine parteiinterne Umfrage

förderte zu Tage, dass mehr als dreiviertel der Mitglieder der Labour Partygegen die Einführung eines Verhältnis-wahlsystems sind.30

Wie seit dem Herbst 1999 wiederholteMale zu vernehmen war, neigt die Re-gierung nun offenbar noch am ehestender Einführung eines Alternative VoteSystems australischer Prägung zu31, fürdas sich in systematischer Hinsicht vorallem die auch dem geltenden relati-ven Mehrheitswahlrecht eigene, starkeWahlkreisbindung der Kandidaten insFeld führen lässt. Es kann kaum über-raschen, dass gerade die Anwendungdieses Wahlsystems bei einer Stim-menverteilung wie 1997 der LabourParty noch größere Mandatsgewinnegebracht hätte als dies ohnehin schonder Fall war.32 Dies scheint die klassi-sche These zu bestätigen, nach derWahlsystemreformen wie kaum einanderes Politikfeld durch machtpoliti-sche Erwägungen geprägt werden. Aus-gerechnet von Akteuren, die unter deninstitutionellen und politisch-kulturel-len Bedingungen des durch Macht-konzentration und „adversary politics“gekennzeichneten Westminster-Mo-dells agieren, etwas anderes zu erwar-ten, wäre vermutlich zu viel verlangt.33

Auch ohne eine weitreichende Reformder institutionellen Grundlagen desParteienwettbewerbs scheint mittelfri-stig alles auf eine führende Positionder Labour Party als allein regierendePartei hinzudeuten. Ob damit zugleichdie Hinwendung zu einem neuerlichen„dominant party system“ mit, gemes-sen an der Vergangenheit, umgekehr-ten parteipolitischen Vorzeichen ver-bunden wäre, wird sich erweisenmüssen.

Ludger Helms110

Anmerkungen1 Überarbeitete und aktualisierte Fassung

eines Vortrages, gehalten auf der Jahres-tagung 1999 des Arbeitskreises Parteien-forschung der Deutschen Vereinigung fürPolitische Wissenschaft, „Entwicklung derwesteuropäischen Parteiensysteme“, am8./9. Oktober 1999 in Berlin. Manuskriptgeschlossen am 1. Juni 2000.

2 Vgl. etwa Alan Ware, The Party Systemsof the Established Liberal Democracies inthe 1990s: Is this a Decade of Transfor-mation?, in: Government and Opposi-tion, Vol.30 (1995), S.312-326.

3 Vgl. etwa Anthony King, The Implica-tions of One-Party Government in: ders.(Hrsg.) Britain at the Polls 1992, Chatham1992, S.223 – 248; Andrew Heywood, Bri-tain’s Dominant Party System, in: LyntonRobins/Hilary Blackmore/Robert Pyper(Hrsg.), Britain’s Changing Party System,London 1994, S.10 – 25.

4 Vgl. Gordon Smith, A System Perspectiveon Party System Change, in: Journal ofTheoretical Politics, Vol.1 (1989), S.349 –363, 359f.; Moshe Maor, Political Partiesand Party Systems. Comparative Appro-aches and the British Experience, London1997, S.64f.

5 So Paul Webb/Justin Fisher, The Chan-ging British Party System: Two-Party Equi-librium or the Emergence of ModeratePluralism?, in: David Broughton/MarkDonovan (Hrsg.), Changing Party Systemsin Western Europe, London/New York1998, S.9 – 29, 27.

6 Vgl. Patrick Seyd, New Parties/New Poli-tics? A Case Study of the British LabourParty, in: Party Politics, Vol. 5 (1999), S.383 – 405.

7 Vgl. Patrick Seyd, The Great Transforma-tion, in: A. King (Hrsg.), a.a.O., S.70 –100, 85.

8 Vgl. zusammenfassend Ludger Helms, In-novation in the Shade of Power: The Re-form of the Labour Party 1979 – 97, in:Hans Kastendiek/Richard Stinshoff/Ro-land Sturm (Hrsg.), The Return of Labour– A Turning Point in British Politics?, Ber-lin 1999, S.109 – 127.

9 Ian Budge, Great Britain: A Stable, ButFragile Party System?, in: Paul Pen-nings/Jan-Erik Lane (Hrsg.), ComparingParty System Change, London/New York1998, S.125 – 136, 128.

10 Vgl. in diesem Sinne ebenfalls Peter Mair,Party System Change. Approaches and In-terpretations, Oxford 1997, S.214f.; Her-bert Kitschelt, European Party Systems:Continuity and Change, in: Martin Rho-

des/Paul Heywood/Vincent Wright (Hrsg.),Developments in West European Politics,London 1997, S.131 – 150, 135.

11 Vgl. für eine ausführliche Analyse der Un-terhauswahl 1997 David Butler/DennisKavanagh, The British General Electionof 1997; Andrew Geddes/Jonathan Tonge(Hrsg.), Labour’s Landslide, Manchester/New York 1997; aus der deutschsprachi-gen Literatur Ludger Helms, Das Partei-ensystem Großbritanniens nach dem En-de der konservativen Hegemonie, in:Zeitschrift für Politikwissenschaft, 7. Jg.(1997), S.1337 – 1360, 1343ff.

12 Vgl. Pippa Norris, Anatomy of a LabourLandslide, in: Parliamentary Affairs, Vol.50 (1997), S.509 – 532, 515.

13 Vgl. für den britischen Fall statt vieler Da-vid Denver, The British Electorate in the1990s, in: West European Politics, Vol.19(1998), S.187 – 217.

14 Vgl. Sunday Times, 7.02.1999, S.10.15 Vgl. Paul Whiteley/Patrick Seyd, A que-

stion of priorities, in: The Guardian,27.09.1999, S.7.

16 Vgl. Michael Foley, The Rise of the BritishPresidency, Manchester/New York 1993,S. 76.

17 Vgl. The Times, 13.10.1998, S.21.18 Vgl. etwa Martin Harrop, The Pendulum

Swings: The British General Election of1997, in: Government and Opposition,Vol.32 (1997), S.305 – 319, 307; AndrewGeddes/Jonathan Tonge, Labour’s Lands-lide? The British General Election 1997,in: ECPR-News, Vol. 8 (1997), Heft 3, S.31 – 32.

19 Hierzu ist jedoch anzumerken, dass diekritische Haltung der Conservative Partybezüglich der Position Großbritanniensin der Europäischen Union seitens derbritischen Bevölkerung eine größere Un-terstützung genießt als im Ausland häu-fig angenommen wird. So zählt ausge-rechnet die Europapolitik zu den ganzwenigen „key issues“, bezüglich derer dieConservative Party in den Augen derbritischen Wähler eine (geringfügig)höhere Kompetenz besitzt als die LabourParty. Allerdings halten nur knapp einViertel der Briten die Europapolitik fürdas wichtigste Politikfeld, während dieGesundheits- und Bildungspolitik, in derdie Labour Party deutlich dominiert, seitJahren an der Spitze der als besonderswichtig angesehenen Politikfelder liegt.Vgl. The Times, 28.01.2000, S. 9.

20 Vgl. Peter Riddell, Hague leads party awayfrom power, in: The Times, 8.10.1999,

Das britische Parteiensystem in der Ära Blair 111

S.17; Michael Prescott/Eben Black, WeeWillie’s Right Turn, in: The Sunday Times,10.10.1999, S.23; Andrew Rawnsley, Themonster raving Tory Party, in: The Ob-server, 10.10.1999, S.29.

21 Vgl. The Times, 4.02.2000, S.1.22 Die Schwäche des konservativen Opposi-

tionsführers scheint nach Einschätzungzahlreicher Beobachter auch im histo-rischen Vergleich kaum zu übertreffen.Vgl. exemplarisch und pointiert AndrewRawnsley, Has there ever been a Leader ofthe Opposition to compare with WilliamHague?, in: The Observer, 7.2.1999, S.25.

23 Vgl. The Times, 5.10.1999, S.14.24 Vgl. The Guardian, 14.10.1999, S.1.25 Vgl. The Guardian, 24.09.1999, S.2.26 Vgl. Wolfgang Rüdig, New Britain – New

‘Lib-Lab Pact’? The Future of the Centre-Left, in: H. Kastendiek/R. Stinshoff/R.Sturm (Hrsg.), a.a.O., S.81 – 108.

27 Vgl. Karlheinz Niclauß, Die britischeWahlreform: Der Report der unabhän-gigen Kommission, in: Zeitschrift fürParlamentsfragen, 30. Jg. (1999), S.467 –471.

28 Vgl. Patrick Dunleavy/Helen Margetts/Brendan O’Duffy/Susan Weir, Remodel-ling the 1997 General Election: How Bri-

tain Would Have Voted under AlternativeElectoral Systems, in: British Elections andParties Review, Vol. 8 (1998), S.208 – 231,S.227 (Tab.5).

29 The Times, 17.01.2000, S.8.30 The Times, 5.01.2000, S.1.31 Hierbei würde jeder Wähler die Möglich-

keit besitzen, die unterschiedlichen zurWahl stehenden Kandidaten mit einerRangnummer zu versehen, anstatt nur füreinen einzigen Kandidaten zu stimmen.Die Zweit- und Drittpräferenz würdedann Berücksichtigung finden, wenn kei-ner der Kandidaten auf Anhieb minde-stens 50% der Stimmen erzielt.

32 P. Dunleavy et al., a.a.O., S.227, nennenfolgende Zahlen (in Klammern die An-zahl tatsächlich erreichter Mandate beider Unterhauswahl 1997): Labour Party:436 (419), Conservative Party: 110 (165),Liberal Democrats: 84 (46), Scottish Na-tional Party/Plaid Cymru: 10 (10), Ande-re: 1 (1).

33 Unabhängig davon gilt auch für das bri-tische System, dass „maßgeschneiderteWahlsystemreformen“, die im Ergebnisden elektoralen Erfolg der machthaben-den Partei garantieren sollen, eine uner-reichbare Illusion bleiben müssen.

1. Einführung

Am 3. Oktober 1990 löste sich die DDR endgültig auf. Seitdem bildet diefreiheitlich demokratische Grundord-nung auf Basis des Grundgesetzes dasFundament der vereinigten Bundes-republik Deutschland. In einem Au-genblick, in einer juristischen Sekundelöste der freiheitlich demokratischeRechtsstaat ein diktatorisches Regimeab, das Recht nur als ein Mittel zurMachterhaltung ansah. Der Staat, dieRechtsordnung, selbst die Verfassungdienten der SED lediglich als Instru-mente zum Aufbau des Sozialismus.

Mit diesem radikalen Systemwechseländerte sich das Leben für 16 Millio-nen ehemalige Bürger der DDR. Siehatten nun eine unter allen Umstän-den geltende Verfassung, eine Rechts-ordnung, auf die sie sich berufen unddie sie einfordern konnten und durf-ten. Anders als die SED-Führung in derDDR besteht seitdem die Regierung ausdemokratisch legitimierten Repräsen-

tanten des Volkes, die an die Verfas-sung gebunden sind. Der Rechtsstaatgewährleistet und ermöglicht einekonkrete Rechenschaftspflicht allerPersonen, die im Namen des Staatestätig werden. Es ist gerade ein wichti-ges Charakteristikum des Rechtsstaats,dass er stets die Möglichkeit in Er-wägung zieht, sich unrechtmäßig zuverhalten. Allein vor diesem Hinter-grund lassen sich ganze Rechtsgebietewie das Verwaltungsprozessrecht oderdas Staatshaftungsrecht und letztlichauch Institutionen wie das Bundesver-fassungsgericht überhaupt verstehen.

Die Bundesrepublik Deutschland wirktals Staat durch ihre Repräsentanten,die wiederum, insbesondere diejeni-gen, die in einem öffentlich rechtli-chen Dienstverhältnis stehen, sind derfreiheitlich demokratischen Grundord-nung verpflichtet und müssen jede ih-rer dienstlichen Handlungen an diesenMaßstäben messen lassen. Staatsdienerdarf und kann nur werden, wer auf-grund seiner Befähigung, Eignung und

Ausgrenzung oder Integration –Auf- bzw. Übernahme des

Personals des Staatsapparates der DDR in den

öffentlichen Dienst der Bundesrepublik Deutschland

Jutta Engbers

Politische Studien, Heft 373, 51. Jahrgang, September/Oktober 2000

Jutta Engbers114

fachlichen Leistung kompetent dieWerte der Rechtsordnung vertritt. Ermuss sich zur freiheitlich demokrati-schen Grundordnung und zu seinerpolitischen Treuepflicht bei gleichzei-tiger parteipolitischer Neutralität be-kennen.

Dem stand das Verständnis der SED beider Auswahl der Angehörigen derstaatlichen Administration der ehema-ligen DDR diametral entgegen. Dortzählte lediglich die treue Ergebenheitgegenüber der SED, nicht jedoch dasEintreten für verfassungsrechtlicheWerte. Der Wertewandel nach demSystemwechsel wurde also besondersdeutlich bei den Anforderungen an dieAngehörigen des öffentlichen Dienstesder staatlichen Verwaltung der nunvereinigten Bundesrepublik Deutsch-land.

Wer – wenn überhaupt – der über2,125054 Millionen Angehörigen derstaatlichen Verwaltung der DDR, sollte – durfte – in den öffentlichenDienst der vereinigten BundesrepublikDeutschland?

2. Die Entscheidung für eine Aufarbeitung derVergangenheit

Die Montagsdemonstranten und Mit-glieder des runden Tisches forderten ei-ne Überprüfung der Justizjuristen, alsoder Richter und Staatsanwälte bereitsin der DDR. Insoweit herrschte schonunter der Modrow-Regierung Einigkeit,es sollte eine Justizreform im eigenenLand mit den eigenen Menschen ge-ben, eine Reform aus sich heraus undnur im Inneren. Nach den freienVolkskammerwahlen waren die wich-

tigsten Punkte der Überprüfungsdis-kussion eher der Grad der Beteiligungder Abgeordneten und der Übergangs-status der Betroffenen als die Krite-rien. Die übliche Anwendung des gel-tenden Systems sollte nicht bewertetwerden. Nur die Richter und Staatsan-wälte, die mit vorauseilendem Gehor-sam tätig waren und insbesondere de-ren Anleiter sollten aus der Justizausscheiden. Großzügige Ruhestands-regelungen, Versetzungen und die freieÜberlassung der Kaderunterlagen wur-den als gleitende Übergangsregelungenauch im Hinblick auf besonders inten-siv in das alte Regime verstrickte Justiz-juristen geschaffen – mehr als ein Drit-tel der Betroffenen machte davonGebrauch. Die Überprüfung sollte injedem Fall mit rechtsstaatlichen Mit-teln, sozusagen als erster Schritt aufdem Weg zu einem Rechtsstaat DDR,durchgeführt werden. Die entspre-chenden Regelungen für die Justiz-juristen wurden lediglich mit quasiwissenschaftlicher Hilfestellung derBundesrepublik Deutschland bereits inder DDR von der frei gewählten Volks-kammer erlassen. Nach allgemeinerAnsicht war eine Überprüfung der Jus-tizjuristen Voraussetzung für derenAufnahme in die zukünftige Rechts-pflege, weil das Vertrauen der Bevöl-kerung in die Justiz nur dadurch zuerlangen sei und solche Persönlichkei-ten, die aus formalen und anderenGründen nicht wegen Rechtsbeugungverfolgt werden können, zumindestnicht weiter in ihrem Beruf tätig seinsollten.

Die Notwendigkeit einer Überprüfungwurde also damit begründet, dass Rich-ter und Staatsanwälte nicht nur Sub-sumtionstechniker oder positivistischeGesetzesanwender sind, die sich naht-

Ausgrenzung oder Integration 115

los an jedes gesetzliche Unrecht anpas-sen, sondern ihre gesamte Persönlich-keit in die Judikatur einbringen müs-sen. Die Justiz braucht den politischbewussten Richter. Andererseits solltejedoch jeder Justizjurist grundsätzlichgeeignet sein, auch den Anforderun-gen an sein Amt innerhalb einesRechtsstaates gerecht zu werden. EineEntscheidung für eine Aufarbeitungder Vergangenheit, im Hinblick auf dasPersonal im Bereich der Justiz, wurdealso bereits sehr früh getroffen. Gleich-zeitig billigte man allen Justizjuristenzu, dass sie trotz fehlender Ausbildunggrundsätzlich geeignet seien, als Teilder Judikative eine der tragenden Säu-len des Rechtsstaats wirkungsvoll zubilden.

Auch im Hinblick auf die übrigen An-gehörigen der staatlichen Verwaltungder DDR wurde bereits unter der Re-gierung Modrow zu Beginn des Jahres1990 die Forderung nach einer Wie-dereinführung des Berufsbeamten-tums laut. Da jedoch überwiegend dieführenden Angehörigen der staatli-chen Administration und Funktionärediese Bewegung anführten, spieltenRegelungen zur Überprüfung der Be-werber zunächst keine bzw. kaum eineRolle. Den Hintergrund für die nach-haltige Forderung zur sofortigen Ein-führung eines Berufsbeamtentums bildete im Wesentlichen die damit ver-bundene Hoffnung, nicht in die Ar-beitslosigkeit entlassen zu werden. So-fortige Verbeamtung – möglichst aufLebenszeit – sollte insbesondere dieje-nigen, die im Sinne der SED politischaktiv und daher belastet waren, beruf-lich absichern. Daneben gab es jedochauch sachliche Gründe, die die Wie-dereinführung des Berufsbeamtentumsrechtfertigten, etwa als actus contrarius

zu seiner Abschaffung durch die Kom-munisten. Nur ohne die Stabilität, po-litische Neutralität und Kontinuität,die eine Verwaltung aus Berufsbeam-ten gewährleistet, war das Regime derDDR überhaupt möglich. Das Berufs-beamtentum hat wesentlich zur Sta-bilität und Funktionsfähigkeit desRechtsstaates Bundesrepublik Deutsch-land beigetragen und galt nun alsInvestitionsvoraussetzung für das Kri-senmanagement in der DDR.

Eine Entscheidung für eine Aufarbei-tung der Vergangenheit der staatlichenAdministration der DDR fiel erst nachden freien Volkskammerwahlen unterder Regierung de Maizière. Sie selbst er-ließ keine Regelung zur „Säuberung“,jedoch beruhte diese Zurückhaltunggerade auf der Entscheidung für eineÜberprüfung des Personals.

Der Entschluss für eine Vereinigungmit der Bundesrepublik Deutschlandunter Beibehaltung der wesentlichenBestandteile des Grundgesetzes, insbe-sondere auch des Artikel 33, der dieAnforderungen an den öffentlichenDienst enthält, gewährleistet eine anverfassungsrechtlichen Grundsätzenorientierte, einzelfallbezogene Über-prüfung.

Anders als in Bezug auf die Justizjuris-ten, für die die Demonstranten bereitseine genaue Überprüfung jeder einzel-nen Person forderten und entspre-chende Regelungen auch von der freigewählten Volkskammer verabschiedetwurden, war die Entscheidung für eineÜberprüfung im übrigen Bereich derstaatlichen Administration eher eine,wenn auch bewusste, Nebenfolge desWiedervereinigungswillens mit derBundesrepublik.

Jutta Engbers116

Letztlich saßen alle Bürger der späterenBundesrepublik Deutschland im Som-mer 1990 durch ihre demokratischlegitimierten Vertreter an einem Ver-handlungstisch und bestimmten erst-mals in ihrer Geschichte neu und freiüber ihr gemeinsames neues Staats-system und über die Art der Vergan-genheitsbewältigung.

Auch wenn die DDR-Bürger die Wei-chen im Hinblick auf das Personal derstaatlichen Administration der DDRschon viel früher gestellt hatten unddiese Entscheidung auf Seiten derBundesrepublik Deutschland „einfachnur“ akzeptiert wurde, da man es alsrein ostdeutsches Problem ansah, ver-einbarten im Ergebnis also alle Deut-schen, dass jeder ehemalige DDR-Bür-ger und jeder Bürger der alten Bun-desrepublik Zugang zum öffentlichenDienst haben sollte, sofern er geeignetund im Hinblick auf die ehemaligeDDR nicht vorbelastet war.

Man entschied sich damit für eine de-taillierte Überprüfung jedes einzelnenAngehörigen des öffentlichen Dien-stes.

Es sollte Gerechtigkeit durch dieGleichheit, d.h. durch den Erlass unddie Anwendung allgemeiner Gesetzeim Rahmen eines fairen rechtsstaatli-chen Verfahrens erreicht werden.

Alle Bürger stimmten einem bis dahinvorbildlosen System von Bestimmun-gen zu, das eine umfassende Aufarbei-tung der DDR-Vergangenheit vorsahund insbesondere verhindern sollte,dass ehemalige DDR-Systemträger bzw.Systemförderer dauerhaft im öffentli-chen Dienst des gesamtdeutschen Staa-tes verbleiben konnten.

3. Die Bestimmungen desEinigungsvertrages

Der Vertrag zwischen der Bundesrepu-blik Deutschland und der DeutschenDemokratischen Republik über dieHerstellung der Einheit Deutschlands(EV) vom 31. August 1990 regelt in Ar-tikel 3, dass mit dem Wirksamwerdendes Beitritts am 3. Oktober 1990 dasGrundgesetz in der dann gültigen Fas-sung auch in dem beitretenden Gebietder gleichzeitig entstehenden fünfBundesländer Mecklenburg-Vorpom-mern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt,Sachsen und Thüringen und dem neuentstehenden Land Berlin in Kraft tritt.

Nach Artikel 8 EV wird generell dasBundesrecht auf das Gebiet der ehe-maligen DDR übergeleitet. Allerdingsstanden einer sofortigen und vollstän-digen Übernahme des bundesrepubli-kanischen Dienstrechts für den öffent-lichen Dienst 40 Jahre sozialistischeEntwicklung mit gravierenden gesell-schaftlichen und wirtschaftlichen Un-terschieden entgegen. Insbesonderedie Verwaltung und die Rechtspflegedienten dem Regime der DDR alsMacht- und Leitungsinstrumente undwaren in ihrem Aufbau und ihrerStruktur mit der auf Gewaltenteilungberuhenden, an Recht und Gesetz ge-bundenen rechtsstaatlichen Verwal-tung der Bundesrepublik unvereinbar.Dieser diametrale Gegensatz und dieAus- und Fortbildung der dort Tätigenund ihre Verbindung zum bzw. ihreVerstrickung in das Regime der SEDließen keinen nahtlosen Übergang zu. Von der generellen Übernahme des bundesrepublikanischen Rechtsmussten daher Ausnahme- und An-passungsregelungen festgelegt wer-den.

Ausgrenzung oder Integration 117

Nach Artikel 9 EV kann zum Zeitpunktder Wiedervereinigung geltendes Rechtder ehemaligen DDR als Landesrechtin den dann neu entstehenden Bun-desländern weiter gelten, wenn es mitdem Grundgesetz und dem unmittel-bar geltenden europäischen Gemein-schaftsrecht vereinbar ist und nach derKompetenzverteilung des Grundgeset-zes auch in die Gesetzgebungskompe-tenz der Länder fällt. Dies gilt auch fürerst nach Vertragsschluss, am 31. Au-gust 1990, geschaffenes DDR Recht,wenn es in einer zusätzlichen Verein-barung zwischen den Vertragsparteienaufgenommen wurde. Hierunter fälltdie Ordnung über die Bildung und Ar-beitsweise der Richterwahlausschüsse,die wesentlicher Bestandteil des bereitsin der DDR festgelegten Überprüfungs-verfahren für Richter und Staatsanwäl-te ist.

Für den öffentlichen Dienst sind dieRegelungen des Artikels 20 am bedeut-samsten. Demnach werden die Rechts-verhältnisse der Angehörigen des öf-fentlichen Dienstes in der bisherigenDDR derart gestaltet, dass sie nun unmittelbar in den öffentlichen Dienstdes Gesamtstaates übernommen wer-den und für sie zunächst ein Über-gangsrecht gelten soll, das im We-sentlichen aus dem bisherigen bun-desrepublikanischen Dienstrecht be-steht und einigen Anpassungsvor-schriften, die in der Anlage 1 EV for-muliert wurden. Im Grundsatz ist dergesamte öffentliche Dienst der DDRalso in den Gesamtstaat übernommenworden.

Artikel 20 Absatz 2 stellt ausdrücklichklar, dass hoheitliche Befugnisse sobaldwie möglich auf Beamte übertragenwerden müssen, d.h. sowohl der Bund

wie auch die neu entstandenen Länderfür derartige Aufgaben Beamte ernen-nen müssen. Durch die Wortwahl „so-bald wie möglich“ wurde zwar ein Au-tomatismus vermieden, jedoch schonauf eine zügige Umsetzung und Verbe-amtung gedrungen. Die Übernahme inden öffentlichen Dienst des Gesamt-staates sollte keine Massenverbeam-tung nach sich ziehen, sondern eineinzelfallorientierter Rechtsakt bleiben.

Artikel 20 Absatz 2 EV enthält also dasgesamte Problem der Aufarbeitung derDDR-Vergangenheit im öffentlichenDienst, das grundsätzlich durch die Re-gelung „sobald wie möglich“ die Ent-scheidung für eine Verbeamtung trifftund andererseits das Problem der mög-licherweise mangelnden Eignung auf-grund einer Vorbelastung aus einerstaatstreuen Tätigkeit in der DDRberücksichtigt. Beide Probleme solltenim Sinne einer praktischen Konkor-danz zum Ausgleich gebracht werden.

Die eigentliche Überleitung und An-passung, die Vorschriften über die wei-tere Verwendung der bereits in derDDR in der staatlichen Administrationtätigen Personen, welche Berufsgrup-pen und Personen unter welchen Vor-aussetzungen übernommen bzw. vonvorne herein aus dem gesamtdeut-schen öffentlichen Dienst ausgeschlos-sen werden sollten, finden sich in denAnlagen des EV.

4. Die Regelungen in der Anlage 1des Einigungsvertrages

Aufgrund der bereits zuvor dargestell-ten, historisch etwas unterschiedlichenEntwicklung im Hinblick auf die Über-prüfung der Justizjuristen und der

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übrigen Angehörigen der staatlichenAdministration der ehemaligen DDRunterscheiden die Regelungen in derAnlage 1 des EV zwischen zwei grund-sätzlich unterschiedlich zu behandeln-den Berufs- bzw. Personengruppen.Einerseits wurde dort die bereits in derDDR von der frei gewählten Volks-kammer bestimmten Überprüfungs-regelungen und das Verfahren für dieJustizjuristen übernommen und ande-rerseits neue, bisher vorbildlose Be-stimmungen im Hinblick auf die Über-prüfung der übrigen Personen desöffentlichen Dienstes getroffen. ImFolgenden wird daher zunächst dasVerfahren und seine Umsetzung imHinblick auf die Richter und Staatsan-wälte dargestellt und im Anschlussdaran für die übrigen Angehörigen desöffentlichen Dienstes am Beispiel derBeamten.

4.1 Die Überprüfung der Richterund Staatsanwälte

Die Herstellung der Rechts- und Justiz-einheit stellte eine der herausragendenAufgaben dar, da es nicht nur um ei-nen Wechsel von Organisationsformenund Rechtsnormen ging, sondern ebenum einen Wandel der Weltanschau-ung, Lebensgewohnheit, individuellenErwartung, aber auch der jahrzehnte-langen Praxis und der staatlichen Er-ziehung. Zudem muss dabei berück-sichtigt werden, dass das Vertrauen derBevölkerung in den Rechtsstaat sehrstark von der Justiz abhängt und sienicht nur eine verfassungsrechtlicheInstitution ist, sondern eben von denfür sie tätigen Menschen lebt und auchvon ihnen verkörpert wird. Nur einearbeitsfähige, aber auch glaubwürdigerechtsstaatliche Justiz kann den nor-

mativen Geltungsanspruch des Rechtsdurchsetzen. In unserem Rechtssystemsind Richter eben nicht nur Gesetzes-anwender oder „Gesetzesauslegungs-maschinen“, sondern persönlich un-abhängige, politisch bewusste, derfreiheitlich demokratischen Verfassungverpflichtete, ergänzend denkendeRichter. Eine der schwierigsten Fragender Vereinigung ist daher, welche Rich-ter und Staatsanwälte der ehemaligenDDR weiter verwendet werden sollten?Die Vertragsparteien haben sich fürzwei Lösungen entschieden. Zum ei-nen sollte das bereits in der DDR imJahre 1990 durch die frei gewählteVolkskammer bestimmte Überprü-fungsverfahren umgesetzt werden undandererseits sollten alle Richter undStaatsanwälte grundsätzlich die Mög-lichkeit haben, auch weiterhin ihreÄmter auszuüben, da sie mit den Ver-hältnissen der DDR und dem weitergeltenden Recht der DDR besondersvertraut waren. Eine generelle Ableh-nung erschien den Vertragsparteien alsnicht gerechtfertigte Zurücksetzung ei-ner Berufsgruppe. Zudem befürchteteman bei einer alleinigen Verwendungvon Westjuristen erhebliche praktischeProbleme, die für eine längere Zeit zueinem Rechtsstillstand führen würdenund bei der Bevölkerung den Eindruckvon Vereinnahmung verstärken wür-den.

Aufgrund der besonderen örtlichenGegebenheiten entschied man sich imLand Berlin für eine globale Lösung.Dort übernahmen Juristen aus demWestteil zunächst die gesamten Recht-sprechungsaufgaben, doch hattenauch hier die Justizjuristen der ehema-ligen DDR die Möglichkeit, sich füreine Ernennung zum Richter auf Probebzw. als Staatsanwalt zu bewerben. Im

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Übrigen verblieben die bisher tätigenJustizjuristen zunächst für eine Über-gangszeit in ihren Ämtern, musstensich jedoch, wenn sie dort auf Dauerverbleiben wollten, einem zweistufigenÜberprüfungssystem stellen.

4.2 Das Überprüfungsverfahren

Alle Justizjuristen mussten sich neu alsRichter bzw. die Staatsanwälte als Be-amte auf Probe bewerben. Über die Be-werbung und insbesondere über dieEignung der Richter sollte ein Richter-wahlausschuss bzw. ein Staatsanwalts-berufungsausschuss entscheiden. Die-ses Gremium war jeder Ernennungdurch die zuständigen Landesministervorzuschalten und seine Entscheidungsollte die Dienstherren zumindest imFalle der Ablehnung binden. Der Rich-terwahlausschuss bzw. der Staatsan-waltsberufungsausschuss setzte sichaus Richtern bzw. Staatsanwälten so-wie aus Abgeordneten der jeweiligenLandesparlamente zusammen. DieseGremien entschieden anhand der Kri-terien aus dem fortgeltenden DDR-Recht, dem Grundgesetz und demdeutschen Richtergesetz. Anders alsvon der DDR-Volkskammer beabsich-tigt, konnten sich die Wahlausschüssenicht allein auf die Kriterien des DDR-Rechts stützen, da das GrundgesetzGeltung beanspruchte. Im Grundge-setz ist das Richterbild eindeutig defi-niert, so dass die Anforderungen vor-rangig berücksichtigt werden mussten.Die letztlich zuständigen Landesminis-ter waren ausschließlich an das Grund-gesetz und die existierenden dienst-rechtlichen Bestimmungen der Bun-desrepublik Deutschland gebunden.Die Richterwahlausschüsse musstendie DDR-Bestimmungen im Lichte des

Grundgesetzes betrachten und ent-sprechend anwenden.

Die Vorgaben aus dem fortgeltendenDDR-Recht deckten sich fast vollstän-dig mit den Voraussetzungen für Be-werber nach dem deutschen Richter-gesetz und dem Grundgesetz. Alleindie Prüfung der moralischen und poli-tischen Integrität ergänzt die Kriterienum einen Vergangenheitsbezug in derDDR, wenn auch beschränkt, auf dieSuche nach Anhaltspunkten für eineEignungsprognose. Da die Vertragspar-teien sich im EV jedoch grundsätzlichfür eine Weiterverwendung von DDR-Justizjuristen ausgesprochen haben,darf die Überprüfungsentscheidungnicht auf solche Kriterien gestützt wer-den, die für alle oder zumindest dieweit überwiegende Mehrheit zutreffen,also insbesondere nicht auf die prak-tisch zu 100% existierende Mitglied-schaft in der SED oder einer Block-partei. Trotz der umfangreichen Kri-terienkataloge, die teilweise verfas-sungswidrig sind, verblieb als Ableh-nungskriterium allein eine besondere,eine intensivere Eingebundenheit indas System, die auf eine negative Zu-kunftsprognose für die Eignung des Be-werbers schließen ließ.

Nach den Regelungen der Anlage 1 desEVs konnten auf diese Art erstmals er-nannte Richter und Staatsanwälte aufProbe wieder entlassen werden, wennnachträglich Tatsachen bekannt ge-worden sind, die eine Berufung nichtgerechtfertigt hätten oder sie für ihr je-weiliges Amt nicht geeignet waren. Da-bei musste dasselbe Gremium nachdenselben Kriterien seine erste Ent-scheidung aufgrund neu bekannt ge-wordener Tatsachen über das Vorlebendes Betroffenen in der ehemaligen

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DDR oder nun wegen eines Verhaltensüberprüfen, das sich auf die dienstlicheEignung nach der Ernennung bezieht.Eine Entlassung ohne die Zustim-mung des Richterwahlausschusses bzw.Staatsanwaltsberufungsausschussesdurch den zuständigen Landesministerwegen dieser beiden Sonderentlas-sungsgründe war nicht möglich. Daszweite Überprüfungsverfahren war da-her als Kontrolle für die erste Entschei-dung vorgesehen, die unter großemZeitdruck und möglicherweise aus die-sem Grunde auf einer zu schmalen Ba-sis getroffen werden musste. Durchdasselbe Gremium in derselben Zu-sammensetzung und unter Beachtungderselben Kriterien sollte ein Wechselder Bewertungsmaßstäbe möglichstvermieden werden.

4.3 Die Umsetzung undAnwendung des Verfahrens

Bis zum 31.12.1992 mussten die neuentstandenen Bundesländer eigeneLandesrichtergesetze erlassen, worinauch Regelungen über die Überprü-fung der Justizjuristen entsprechendden Vorgaben im EV enthalten seinmussten.

Im Freistaat Sachsen wurde als ein-zigem neuen Bundesland zwar dasGremium Richterwahlausschuss bzw.Staatsanwaltsberufungsausschuss bei-behalten, jedoch änderte sich die Zu-sammensetzung. Das Gremium be-steht dort nur noch aus Richtern, sodass die Staatsanwälte sich nicht ihrenBerufskollegen, sondern ebenfalls denRichtern zu stellen haben und Abge-ordnete nicht mehr beteiligt sind. InThüringen wurden die Gremien voll-ständig abgeschafft, dort entscheidet

allein der Landesjustizminister nachBeteiligung der Richtervertreter, die dieAufgaben eines Personalrats wahrneh-men. Gleiches gilt auch für das LandSachsen-Anhalt. In Brandenburg trafzunächst der zuständige Landesminis-ter die Entscheidung allein, nach Kon-stitution eines Präsidialrates wurdedieser beteiligt. In Mecklenburg-Vor-pommern wurde bis zum 15. April1991 der Rechtsausschuss des Land-tags, der nur aus Abgeordneten be-steht, angehört, seitdem trifft der Jus-tizminister die Entscheidungen allein.

Keines der betroffenen neuen Bundes-länder hat daher die differenzierte In-tegrationsentscheidung über ein zwei-stufiges Überprüfungsverfahren, die imEV vereinbart worden ist, übernom-men. Alle sind rechtswidrig.

Auch bei der tatsächlichen Anwen-dung, d.h. bei der ersten Überprüfungdurch die Richterwahl- bzw. Staatsan-waltsberufungsausschüsse ist in man-cher Hinsicht rechtswidrigerweise vondem festgelegten Verfahren abgewi-chen worden. Zum einen waren zu-mindest die Vorsitzenden der Gremienstets Westdeutsche (Juristen), häufigauch eine Vielzahl der übrigen Mitglie-der, wenn nicht gar alle. Neben dengesetzlichen Kriterien, die im Lichtedes geltenden Grundgesetzes zu be-trachten und zu werten waren, wurdein der Praxis ein weiteres Kriterium alsÜberprüfungsmaßstab entwickelt: dieso genannte objektive Untragbarkeit.Es berücksichtigte nicht die subjekti-ven Merkmale des Bewerbers, sondernstellte allein auf seine Stellung als Re-präsentant des Rechtsstaates, also aufobjektive Elemente ab. Wer in den Au-gen der Bevölkerung als zu stark belas-tet angesehen werden muss und damit

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dem Aufbau des Rechtsstaates im We-ge stehen könnte, der ist in der Justiznicht tragbar. Hierzu werden die hypo-thetische Sichtweise der Bevölkerungder ehemaligen DDR und die frühereStellung des Bewerbers ungeachtet sei-nes konkreten Verhaltens in der Funk-tion als Merkmal herangezogen. DiesesKriterium diente in erster Linie dazu,der Justiz in den neu entstandenenLändern Glaubwürdigkeit zu verschaf-fen und entspricht insoweit einer derZielsetzungen des EVs. Dennoch ist esnicht in den gesetzlichen Vorgaben desEVs enthalten, da es nicht mit demGrundgesetz vereinbar ist. Es ist verfas-sungswidrig.

Allgemein wurden folgende Merkma-le als Überprüfungsmaßstab benutzt:

� MfS-Verstrickung, � Urteile,� Amtsführung,� dienstliche Funktion und� politische Ämter,

wobei die beiden letzteren nur im ge-ringen Umfang rechtmäßig sind, näm-lich soweit sich aus der subjektivenEinstellung des Bewerbers zu seinendienstlichen Funktionen und politi-schen Ämtern Rückschlüsse auf dieEignung für die Zukunft ziehen lassen.Je nach konkretem Sachverhalt wur-den zudem folgende Elemente berück-sichtigt:

� Auszeichnungen und Prämien,� Verhalten in der Wendezeit und� Auslandstätigkeit.

Auszeichnungen und Prämien sowieBelobigungen liefern aus sich herausbereits Anhaltspunkte für eine be-sondere Staatsverbundenheit. Dies gilt

auch für eine Auslandstätigkeit, da siegenerell nur bei einer positiven Ein-stellung zum SED-Regime, die auch ak-tiv zur Schau gestellt werden musste,gewährt wurden. Das Verhalten in derWendezeit zeigt besonders deutlich,wie der Bewerber zum Regime der DDRstand, ob er es noch bis zuletzt stützteoder schon die ersten Anzeichen be-wusst zur Reform nutzte.

4.4 Kritische Würdigung

Immerhin gut 53% der Bewerber sindin die Justiz Gesamtdeutschlands über-nommen worden. Eine Überprüfungund ggf. Korrektur der ersten Ernen-nung hat es nicht gegeben und kannnun wegen der inzwischen erfolgtenErnennung auf Lebenszeit auch nichtmehr erfolgen. Die verfassungswidrigeGesetzgebung und Umsetzung derneuen Länder hat, unterstützt vondem Desinteresse der Bevölkerung undder Politik, eine Anwendung der zwei-ten Stufe der Überprüfung verhindert.Alle Fehler, die aufgrund mangelnderKenntnisse und großen Zeitdrucks beider Übernahme der Bewerber gescha-hen, bleiben erhalten. Die Zufrieden-heit der westdeutschen Prüfer wie derBetroffenen, die nur allzu gerne dieKonfrontation mit Unbequemem mei-den, vermischt mit dem Desinteresseder Bevölkerung, die mit der Umstel-lung des Alltagslebens beschäftigt warund einer weit verbreiteten politischenStrömung, einen Schlussstrich unterdas SED-Regime zu setzen, verhinderteeffektiv eine wirkliche Überprüfung.Weder achtete der Gesamtstaat, derBund, immerhin Rechtsnachfolger derDDR, auf eine rechtmäßige Umsetzungdes Verfahrens in den neu entstan-denen Ländern, wie im EV vereinbart,

Jutta Engbers122

noch haben die alten Länder sich überdiesen Punkt Gedanken gemacht. DieDDR-Justizjuristen können daher imWesten ungeprüft tätig werden.

Der Gesamtstaat, die Politik, aber auchdie Juristen prüften das alleine für eineinterne Reform der Justiz in der DDRgedachte Verfahren nicht, sondernübernahmen es unbesehen. So blieb esbei einer groben Negativauslese, die ineinem nicht unwesentlichen Teilbe-reich auf verfassungswidrigen Kriterienberuhte.

Gesamtdeutschland wird an der mora-lischen und die neuen Länder an derpraktischen Last der trotz eines Erfolgversprechenden Ansatzes nicht wirk-lich durchgeführten Aufarbeitung derpersonellen Vergangenheit der Justiz-juristen noch viele Jahre zu tragen ha-ben. Statt einer differenzierten Integra-tion kam es lediglich zu einer grobenNegativauslese.

4.5 Das Verfahren für Beamte

Anders als im Bereich der Justizjuristenkonnten die neu entstandenen Länderund der Bund von Null mit ihrem je-weiligen öffentlichen Dienst beginnen,da es ja gerade keine Beamte in derDDR gegeben hatte. Die neu entstan-denen Länder verfügten naturgemäßam 3. Oktober um Mitternacht je-doch noch nicht über eine Verwal-tung, die Regelungen erlassen konnte,unter welchen Voraussetzungen fürwelche Funktion konkret Beamte er-nannt werden sollten. In dieses Rege-lungsvakuum griffen die Bestimmun-gen der Anlage 1 des EVs. Da jedoch inder DDR keinerlei Überprüfungsrege-lungen für Beamte festgelegt wurden,

fehlten entsprechende Vorgaben auchim EV. Es wurden lediglich besondereEntlassungstatbestände für Beamte aufProbe aufgenommen. Die unmittelbareGeltung des Grundgesetzes und derbundesrechtlichen Beamtengesetzeverlangten jedoch vor jeder Ernen-nung, dass der Bewerber den persönli-chen Voraussetzungen, also insbe-sondere der politischen Treuepflichtentspreche. Der EV sah jedoch keineRegelungen vor, anhand derer die per-sönliche Eignung überprüft werdenkonnte. Die Angehörigen der staatli-chen Administration der ehemaligenDDR verblieben zunächst als Ange-stellte auf ihren jeweiligen Dienstpos-ten. Der EV billigte ihnen trotz ihrereindeutigen und vollkommenen Par-teigebundenheit zu, dass sie ihre Per-sönlichkeit ändern konnten undgrundsätzlich lernfähig seien, die neueStaatsform kennen zu lernen und sichaktiv zu ihr zu bekennen. Da dasGrundgesetz von jeder Persönlichkeitdie persönliche Eignung im Momentder Amtsausübung fordert, wurde ge-rade nicht auf eine Funktion oder einAmt zu einer früheren Zeit abgestellt,zu der das Grundgesetz noch nichtgalt. Es kam auf die jeweilige aktuelleHaltung der Persönlichkeit an. DieseHaltung muss allerdings objektiviertwerden können.

Die Kriterien, anhand derer man einegünstige Eignungsprognose für die Zu-kunft für jeden einzelnen Bewerber er-stellen konnte, ergeben sich aus derAnlage 1 des EVs nur insofern, als dieSonderentlassungstatbestände Maßstä-be enthalten, bei deren Vorliegen einbereits ernannter Beamter auf Probewieder entlassen werden muss. Werspäter entlassen werden muss, darf beider Erfüllung der Kriterien bereits zum

Ausgrenzung oder Integration 123

Zeitpunkt der Ernennung naturgemäßnicht erst berufen werden. Neben demsich bereits aus dem unmittelbar gel-tenden Beamtengesetz ergebenden Kri-terien galten bis zum 31.12.1996 diefolgenden besonderen Entlassungstat-bestände:

� Verstoß gegen Grundsätze derMenschlichkeit und Rechtsstaat-lichkeit; hierbei geht es um die Ver-letzung der wesentlichen Grundfrei-heiten, die im internationalen Paktüber bürgerliche und politischeRechte oder der allgemeinen Er-klärung der Menschenrechte ent-halten sind, also insbesondere umeinen Verstoß gegen das Verbot derDiskriminierung, der Folter, der Ver-letzung des Rechts auf Leben, aufGleichheit vor dem Gesetz, Mei-nungs- und Informationsfreiheit,dem Anspruch auf wirksamenRechtsschutz, rechtliches Gehörund eine private Freiheitssphäre.

� Eine Tätigkeit für das frühere Mini-sterium für Staatssicherheit; dabeimuss der Betroffene bewusst undzielgerichtet durch eigenes Verhal-ten für das MfS tätig geworden seinund dadurch muss das Festhal-ten am Dienstverhältnis für denDienstherren unzumutbar erschei-nen.

� Andere gleichwertige Verhaltens-weisen, etwa eine besonders inten-sive Verbindung zu dem Regime,die zu einer negativen Fortentwick-lung seiner Strukturen führte, kön-nen eine gleich schwer wiegendeVorbelastung darstellen.

Die Beamten bilden den Grundpfei-ler der modernen rechtsstaatlichenund unabhängigen Verwaltung unse-res Staatssystems, so dass für die Ver-

tragsparteien von entscheidender Be-deutung war, auch in personeller Hin-sicht einen klaren Trennungsstrichzum ehemaligen Staatsapparat derDDR zu ziehen. Andererseits sollte abernicht vollständig auf das bisherige Per-sonal verzichtet werden, weil sonst einjahrelanger Stillstand in der entschei-denden Aufbauphase befürchtet wur-de. Von dem Gelingen der einzelfall-bezogenen, ausgewogenen aber auchkonsequenten Überprüfung der bisherin der staatlichen Verwaltung der DDRBeschäftigten und der individuellenVerbeamtung hing auch die Akzeptanzder neuen demokratischen rechtsstaat-lichen Verwaltung in der Bevölkerungdes Gesamtstaates ab. Das Grundgesetzund die bis dahin vorbildlosen Sonder-entlassungstatbestände für Beamte aufProbe bildeten die gesetzliche Grund-lage für die Dienstherren der Bundes-länder und des Bundes. Die Aufarbei-tung sollte sich hinsichtlich der denStaat repräsentierenden Beamten gera-de von der nach 1945 durchgeführtenEntnazifizierung sowohl in der DDRwie auch in der alten Bundesrepublikabheben.

4.6 Die Umsetzung

Im Bereich des Bundes fanden auf-grund der Ressorteinteilung zwei un-terschiedliche Verfahren statt. ImKompetenzbereich des Innenministerswurde allen Bewerbern, die zuvor inder DDR-Administration tätig warenund mit der Vereinigung unmittelbarin den öffentlichen Dienst auf demGebiet der ehemaligen DDR übernom-men wurden, ein Fragebogen vorge-legt, der nach einer Mitarbeit für dasMinisterium für Staatssicherheit haupt-amtlich oder nebenamtlich oder nach

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einer Funktion in der SED in einerMassenorganisation, gesellschaftlichenOrganisation oder einer sonst heraus-gehobenen Funktion im System derDDR vor dem 9. November 1989 frag-te. Daneben musste ein kompletterLebenslauf, aus dem sich jeglicheTätigkeit in der DDR ergab, vorgelegtwerden. Wurde eine Tätigkeit für dasMfS bejaht, so verhinderte sie eine Er-nennung. Eine Einzelfallüberprüfungwurde daher gerade nicht durchge-führt. Bewerber, die sich auf dem Ge-biet der alten Bundesrepublik bewar-ben oder aus bereits untergegangenenoder abgewickelten Bereichen der ehe-maligen DDR oder aus solchen Berei-chen, die nach den Regelungen desGrundgesetzes nicht zur bundesstaat-lichen Verwaltung gehören, wurdennicht gesondert überprüft oder befragt.Sollte sich nachträglich herausstellen,dass ein Bewerber unzutreffende Anga-ben gemacht bzw. Punkte verschwie-gen hat, so ist er wegen arglistiger Täu-schung zu entlassen. In der Kompetenzdes Bundesministeriums der Verteidi-gung wurde allen Bewerbern im zivilenBereich ein Personalfragebogen vorge-legt, der in etwa dieselben Fragen wiebeim Innenministerium enthielt.Tatsächlich wurden nur solche Bewer-ber nicht berücksichtigt bzw. späterwegen arglistiger Täuschung entlassen,die hauptamtlich Offiziere beim MfSwaren bzw. sich bei einer Tätigkeit alsIM für mindestens den mittlerenDienst beworben haben und auch nurdann, wenn die Tätigkeit für das MfSnoch nach 1970 angedauert hat. An-dere Vorbelastungen wurden im Be-reich des Bundes weder überprüft nochberücksichtigt.

Die neu entstandenen Länder und Ber-lin mussten bis zum 31. Dezember

1991 eigene Landesbeamtengesetze er-lassen, in denen die Sonderentlassungs-tatbestände mit aufgenommen werdenkonnten. Die Bundesländer der altenBundesrepublik unterlagen keinerleiVorgaben.

In Brandenburg sind keine besonderenRegelungen erlassen worden, da derLandesgesetzgeber eine Regelung die-ses Sachverhalts für nicht erforderlichhielt. Es gibt auch keine Grundsätzeoder Richtlinien, nach denen eine Vor-belastung erfragt wird bzw. die Anga-ben zu bewerten sind, die sich aus denLebensläufen und den ehemaligen Ka-derakten ergeben. Zwar gab es Perso-nalfragebögen, in denen nach einerTätigkeit für das MfS gefragt wurde,diese wurden jedoch nicht generellverteilt. Stellte sich nachträglich her-aus, dass in diesen Fragebögen unzu-treffende Antworten gegeben wurden,so wurde die Ernennung nicht auto-matisch wegen arglistiger Täuschungzurückgenommen, sondern stets auchdas Maß der Verstrickung geprüft.

Sachsen und Thüringen erließen um-fangreiche Regelungen, die eine kon-krete Einzelfallüberprüfung gewährleis-ten. Es wird auch Wert darauf gelegt,dass herausgehobene Funktionen imSystem der DDR grundsätzlich als Vor-belastung angesehen werden müssen.Auch aus dem Westen stammende, z.B. „ausgeliehene“ Beamte musstensich einer detaillierten Überprüfunganhand von Fragebögen stellen.

Allerdings erweiterten die Landesbe-amtengesetze die Überprüfungsmög-lichkeiten zeitlich gegenüber den Vor-gaben des EVs, so dass sie seit dem 31.Dezember 1996 nicht mehr angewen-det werden dürfen.

Ausgrenzung oder Integration 125

Sachsen Anhalt hat die Regelung desEVs unmittelbar in das eigene Landes-beamtengesetz überführt, sie allerdingsdahingehend beschränkt, dass nurunmittelbar aus der staatlichen Ad-ministration der DDR übernommeneBewerber zu überprüfen sind. EineHandreichung für alle personalführen-den Stellen des Landesbeauftragten fürdie Unterlagen der Staatssicherheit ge-währleistet einheitliche Grundsätze beider Bewertung einer Tätigkeit für dasMfS. Tatsächlich findet eine Überprü-fung nur im Hinblick auf eine Tätigkeitfür das MfS statt und werden die Mög-lichkeiten in Sachsen Anhalt wohlnicht ausgeschöpft, da lediglich 34%aller belasteten Beamten tatsächlichentlassen werden. Aufgrund des häu-figen Wechsels im Verfahren der Be-wertung einer Tätigkeit für das MfSzunächst durch eine zentrale Personal-kommission, später durch Personal-ausschüsse und seit dem 16. Mai 1995nun wieder durch einen zentralen Ver-trauensrat, findet eine verdeckte Inte-gration der Betroffenen statt. Auch ei-ne Falschangabe im Personalbogenführt, abweichend von der sonstigenVerwaltungs- und Gerichtspraxis,nicht automatisch zu einer Rücknah-me der Ernennung wegen arglistigerTäuschung. Es wird stets erst das Maßder Verstrickung geprüft.

In Mecklenburg-Vorpommern wurdendie Regelungen des EVs zwar in dasLandesbeamtengesetz übernommenund allen Bewerbern vor der Ernen-nung ein Fragebogen mit entsprechen-den Fragen ausgehändigt. Eine Beendi-gung des Dienstverhältnisses kommtallerdings nur in Betracht, wenn dieBehörde bei Kenntnis des wahrenSachverhaltes den Betroffenen nichternannt hätte. Es ist also eindeutig die

Behördenpraxis maßgeblich. System-nähere oder andere mögliche Vorbela-stungen spielen keine Rolle. Es findetauch keine Regelanfrage bei der Gauck-Behörde statt. Bei der Bewertung desMaßes der Verstrickung lässt sich eineeindeutige Tendenz dahingehend fest-stellen, dass mit zunehmendem Ab-stand zur Vereinigung die Behördenwie die Gerichte wesentlich großzügi-ger werden. Seit September 1998 sindpraktisch alle Verfahren abgebrochenworden.

In Berlin hat man sich frühzeitig umeine intensive Forschung und Auf-klärung hinsichtlich der Strukturen desSED-Regimes bemüht. Dennoch rich-tete sich auch hier das Hauptaugen-merk auf eine Tätigkeit für das MfS,sonstige Vorbelastungen bleiben unge-prüft und unbewertet. Allen Bewer-bern aus dem Ostteil der Stadt wird einPersonalfragebogen vorgelegt, der beieiner Falschangabe zu einer Entlassungwegen arglistiger Täuschung führenkann. Daneben bestanden die Sonder-entlassungsmöglichkeiten bis zum31.12.1996 als Landesrecht fort. Aller-dings führte die sehr uneinheitlicheVerwaltungspraxis bei den unter-schiedlichen Behörden zu extrem ver-schiedenen Ergebnissen. In manchenBereichen wurde eine Regelanfrage beider Gauck-Behörde veranlasst, beimanchen Stellen überhaupt nicht.Teilweise wurden die Fragebögen kon-trolliert, teilweise nicht, mögliche Vor-belastungen wurden extrem unter-schiedlich bewertet. Dennoch liegt dieBeendigungsquote in Berlin bei weitüber 50% und damit erheblich höherals in den anderen neu entstandenenBundesländern, so dass wenigstens imBereich der hauptamtlichen Mitarbei-ter des MfSs festgestellt werden kann,

Jutta Engbers126

dass das Ziel der differenzierten Inte-gration bei Ausgrenzung der Vorbelas-teten zumindest im Blick behaltenwurde.

In Bayern erhält jeder neue Bewerbereinen umfassenden Fragebogen, derauch nur bei der Bejahung einer einzigen Frage im Hinblick auf eineVorbelastung automatisch zu einemAusschluss aus dem weiteren Bewer-bungsverfahren führt. Die Regelung inBayern ist damit erheblich schärfer alsim EV vorgesehen und deshalb mög-licherweise sogar verfassungswidrig, daeine konkrete Abwägung des Einzel-falls trotz der detaillierten Fragestel-lung nicht vorgesehen ist. Ob der ein-zelne Dienstherr das konkrete Maß derVerstrickung bewertet, scheint so je-denfalls nicht gesichert.

Nordrhein-Westfalen überprüft zu-mindest die Bewerber, die nach dem1.1.1989 das Beitrittsgebiet verlassenhaben, entsprechend den Vorgabendes EVs, wobei der Schwerpunkt auchhier auf einer Tätigkeit für das MfSliegt.

In Rheinland-Pfalz müssen sich alle Be-werber, die vor dem 3.10.1990 in derehemaligen DDR beschäftigt waren, ei-nem Gespräch stellen, in dem nachihrem Verhältnis zum Regime der DDRgefragt wird. Darin wird auch auf dieim EV genannten Sonderentlassungs-tatbestände hingewiesen und nach ei-ner entsprechenden Vorbelastung ge-fragt sowie auf die dienstrechtlichenKonsequenzen einer falschen Antworthingewiesen. Zumindest für den klei-nen Kreis der Bewerber aus der DDR istsomit ein zulässiges und tauglichesÜberprüfungsverfahren verabschiedetworden.

In Hessen müssen sich nur Bewerberaus dem Gebiet der ehemaligen DDRfür beamtete Lehrerplanstellen einemgenauen Fragenkatalog im Hinblickauf eine Vorbelastung stellen, derdurch Anfragen bei der Gauck-Behördeund anderen Archiven überprüft wird.Eine genaue Abwägung des Einzelfallswird allerdings nicht vorgenommen,da bei einer Bejahung einer Frage eineErnennung nicht erfolgt.

4.7 Kritische Würdigung

Weder der Bund noch die Länder ha-ben sich an die im Wesentlichen ver-fassungskonformen Bestimmungen ge-halten. Es fanden keine generellenoder umfassenden Überprüfungen dermöglichen Vorbelastung statt, weil dieBestimmungen nur sporadisch oderzumindest nicht allgemein berücksich-tigt wurden. Aus einer Anfrage bei demBundesbeauftragten für die Unterlagender Staatssicherheit, Gauck-Behörde,die keineswegs eine Regel war, gab eskeine Kontrolle der eigenen Angabender Betroffenen. Die daraus oder anderweitig erlangten Kenntnisse wur-den trotz der Vereinheitlichungs-bemühungen z.B. der LStU sehr unter-schiedlich bewertet. Mit zuneh-mendem Abstand zur Vereinigungkann eine völlige Veränderung der Be-wertung einer möglichen Vorbelastungfestgestellt werden. Die Haltung derPolitik wie das allgemeine Desinteresseder Bevölkerung erleichtert diese sichstetig vergrößernde Toleranz. Die altenBundesländer sahen sich nicht veran-lasst, ihr bereits vor der Vereinigungim Dienst befindliches Personal zuüberprüfen. Im Allgemeinen bestehteine derart unterschiedliche Gesetzes-lage, die durch die sehr unterschiedli-

Ausgrenzung oder Integration 127

che Anwendungspraxis der verschiede-nen Dienstherren zu großen Unter-schieden bzw. Gerechtigkeitslückenführt. Von einer Überprüfung oderauch nur einer stringenten Anwen-dung kann nicht einmal im Ansatz dieRede sein.

Über die Rücknahmemöglichkeit beiarglistiger Täuschung wegen einer un-zutreffenden Angabe in den zumeistauszufüllenden Fragebögen findet eingewisser Ausgleich statt. Allerdingskommt es dabei auch zu Ungleichbe-handlungen, da die Fragebögen von-einander abweichen und zumeist le-diglich im Hinblick auf eine Tätigkeitfür das MfS kontrolliert werden. ZumTeil wird nicht nur auf die unzutref-fende Angabe, also die Täuschung,sondern auch auf die Qualität oderQuantität der Belastung abgestellt.

5. Zusammenfassung

Sollte die Akzeptanz der neuen demo-kratischen rechtsstaatlichen Verwal-tung wirklich an einer konsequentenÜberprüfung hängen, so muss sie wohl

als gescheitert angesehen werden. Derdemokratische Rechtsstaat wurde voneiner Vorbelastung durch belastete An-gehörige des öffentlichen Dienstes kei-nesfalls bewahrt. Die Ziele der Ver-tragsparteien sind weder erreicht nochauch nur wirksam angestrebt worden.Wegen der sehr uneinheitlichenrechtswidrigen Praxis wie der teilwei-se rechtswidrigen Rechtsprechung undGesetzeslage erzeugt der Aufarbei-tungsansatz im Bereich des öffentli-chen Dienstes eher selbst verfassungs-widrige Ungleichheit, Ungerechtigkeit.Aus der Einzelfallbetrachtung jederPerson, einer differenzierten Integra-tion unter Ausgrenzung der Vorbelas-teten ist nichts geworden. Die demon-strativ geäußerten Bekenntnisse undWerte können nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die Bestimmun-gen dieser Rechtsordnung nur so gutsind, wie die Menschen, die sie verkör-pern und mit Leben füllen, also akzep-tieren und für schutzwürdig erachten.Die Rechtsordnung auf der Grundlagedes Grundgesetzes bedarf einer gesell-schaftlich allgemein akzeptierten Wert-ordnung als Fundament eines Grund-konsenses.

Politische Studien, Heft 373, 51. Jahrgang, September/Oktober 2000

Alois Glück/Holger Magel (Hrsg.): Neue We-ge in der Kommunalpolitik – Durch eineneue Bürger- und Sozialkultur zur AktivenBürgergesellschaft, Verlagsgruppe JehleRehm, München 2000, 369 Seiten, 39,80 DM.

In der Diskussion über Auswege aus der Kri-se, in die unsere moderne Gesellschaft ange-sichts negativer Begleitumstände des moder-nen Wandels zu schlittern droht, hat die„Bürgergesellschaft“ einen festen Platz ein-genommen. Politiker verschiedener Couleurs,Bildungsinstitutionen, Wissenschaftler und Pu-blizisten haben dieses Schlagwort aufgegrif-fen. Das Spektrum der inhaltlichen Auseinan-dersetzung reicht von der Sonntagsrede mitwohlmeinenden Appellen für mehr Bürgeren-gagement bis zu philosophisch-theoretischen Diskussionen inexklusiven Akademikerzirkeln.Um auf dem Weg zu diesem Zieltatsächlich voranzuschreiten,taugt für sich alleine betrachtetweder das eine noch das ande-re. Wichtig erscheint vielmehr,die Bürgerinnen und Bürger alsentscheidende Protagonistenund Hoffnungsträger einer „Akti-ven Bürgergesellschaft“ direktanzusprechen, sie zu motivierenund sie bei ihrem Engagementnach besten Kräften zu unter-stützen.

Hierfür haben sich die Herausgeber diesesSammelbandes entschieden. Der Titel desumfangreichen Handbuches, das für Praktikergeschrieben wurde, zeigt, wohin uns die bei-den bayerischen Reformer führen wollen: auf„Neue Wege in der Kommunalpolitik – Durcheine neue Bürger- und Sozialkultur zur AktivenBürgergesellschaft“.

Die Frage, wie durch eine neue Bürger- undSozialkultur ein Gleichgewicht zwischen derFreiheit für die persönliche Lebensgestaltungund der Bereitschaft zur Verantwortung fürsich selbst und für die Mitmenschen, kurzumeine leistungsfähigere und menschlichere Ge-sellschaft, hergestellt werden kann, beschäf-tigt Alois Glück schon lange. Der Vorsitzendeder CSU-Fraktion im Bayerischen Landtag hatim Juli vergangenen Jahres den Vorsitz derCSU-Grundsatzkommission übernommen undin dieser Funktion die Aktive Bürgergesell-schaft zur Chefsache gemacht. Mitheraus-geber Holger Magel, Ordinarius für Boden-ordnung und Landentwicklung an der Tech-

nischen Universität München, ist seit vielenJahren Präsident der Bayerischen AkademieLändlicher Raum und im Rahmen seines En-gagements für die bayerische Dorferneuerungintensiv mit Bürgerbeteiligung und Bürgeren-gagement befasst.

Hier haben zwei Herausgeber zusammenge-funden, die bei aller Detailkenntnis über Theo-rien und Hintergründe der Bürgergesellschaftdie Bodenhaftung nicht verloren haben. Kriti-kern, die die Vision einer Aktiven Bürger-gesellschaft als schönes theoretisches Kon-strukt abqualifizieren wollen, erteilt diesesBuch eine klare Absage, indem es Aktionenvorstellt und von Projekten berichtet, bei de-nen die Bürgergesellschaft schon längst fes-

ter Bestandteil des Alltags in Dör-fern, Gemeinden, Stadtteilen undStädten geworden ist: „Die vieleneindrucksvollen Beispiele gelun-gener Zusammenarbeit zwischenBürgern und Kommunalpolitikdurch neue bürgerschaftliche In-itiativen in den verschiedenstenLebensbereichen belegen, dassder Weg einer neuen Bürger- undSozialkultur mit dem Ziel der Ak-tiven Bürgergesellschaft keine Illu-sion ist.“ (S.367)

Weil Beispiele mehr überzeugenals alle ideellen Konzepte, wen-det sich dieses Buch nach einer

kurzen, informativen theoretischen Einführung,in der neben den Herausgebern prominenteFürsprecher einer Aktiven Bürgergesellschaftwie Roman Herzog und Hermann Hill zu Wortkommen, der kommunalpolitischen Praxis zu.Einführenden Charakter hat auch das Kapitel 2,in dem sich Experten aus unterschiedlicherPerspektive des Themas „Neue Wege in derKommunalpolitik und Kommunalpraxis“ an-nehmen. Spitzenvertreter der kommunalenSpitzenverbände wie Heribert Thallmair, JosefDeimer oder Siegfried Naser nähern sich demThema aus der Sicht der bayerischen Städte,Gemeinden oder Landkreise. MitherausgeberMagel schreibt über Dorfentwicklung in klei-nen ländlichen Kommunen. Der BayerischeStaatsminister für Landesentwicklung undUmweltfragen, Dr. Werner Schnappauf, stelltdie Agenda 21 als einen Weg in die Bürger-kommune des 21. Jahrhunderts vor. WilhelmFrankenberger, Präsident des Genossen-schaftsverbands Bayern, widmet sich einemwichtigen Aspekt, der bislang bei der Diskus-sion über die Realisierung der Bürgergesell-

Das aktuelle Buch

Das aktuelle Buch 129

schaft nahezu vernachlässigt wurde: dem Zu-sammenspiel von bürgerschaftlichem Enga-gement und örtlichem Unternehmertum zurStärkung lokaler Wirtschaftsräume. Sozialpo-litische Aspekte des Themas decken der So-zialreferent der Stadt Würzburg, Peter Motsch,und der Leiter des Münchner Instituts für So-zialforschung, Gerd Mutz, ab, während sichder Leiter der Arbeitsgruppe „Neue Sozial-und Bürgerkultur“ der CSU-Landtagsfraktion,Eberhard Sinner, den Chancen widmet, die einer Aktiven Bürgergesellschaft durch die mo-derne Kommunikation via Internet gebotenwerden.

Lesen sich schon diese ersten beiden Kapitelwie ein „Who’s Who“ der Bürgergesellschaft,so wird dies in den folgenden Kapiteln des Bu-ches noch übertroffen. Die in Kapitel 3 vorge-stellten „ermutigenden Beispiele und Ideen“über „Wege der Partnerschaft zwischen Kom-munalpolitik und Bürgern“ könnten, was Ziel-gruppen, Intentionen und Vorgehensweisenbetrifft, unterschiedlicher nicht sein. Die Viel-fältigkeit der meist von den Bürgermeisternder betreffenden Kommune knapp und über-sichtlich vorgestellten Projekte macht vor al-lem eines deutlich: Es gibt bei der Realisierungder Bürgerkommune keine Mindeststandards.Egal, ob es sich um eine winzige ländlich zer-siedelte Gemeinde oder eine bayerische Stadtmit allen damit verbundenen sozialen Brenn-punkten handelt, die Aktive Bürgergesellschaftist überall möglich, wo engagementbereiteMenschen auf Kommunalpolitiker treffen, diedieses Engagement nicht nur in Sonntags-reden propagieren, sondern durch entspre-chende Ansätze und Rahmenbedingungenfördern. Als Beispiele, jedoch nicht als Re-zepte, will Glück die von ihm und Magel zu-sammengetragenen Projekte verstanden wis-sen: „Es muss immer wieder in der örtlichenSituation und durch die Prägung der konkrethandelnden Menschen jeweils der eigene Weggesucht werden, aber viele Erfahrungen undMethoden sind allgemein gültig.“ (S.367)

Während in Kapitel 3 herausragende Kom-munen, in denen Bürgergesellschaft bereitspraktiziert wird, vorgestellt werden, richtet sichin Kapitel 4 das Interesse auf Institutionen undGruppierungen, die neue Formen bürger-schaftlichen Engagements vorleben. Hier wer-

den zum Beispiel Freiwilligenzentren, Kinder-betreuungsmöglichkeiten, Spiel- und Frei-zeitgruppen, moderne Nachbarschaftshilfenund vieles mehr präsentiert. Dabei geht es denHerausgebern nicht darum, in der Euphorieüber neue Formen bürgerschaftlichen Enga-gements traditionelle Formen von Ehrenamtund Verein abzuqualifizieren: „So wichtig esist, dass gerade die Politik auf sich verän-dernde Verhältnisse reagiert und auch solchenBürgerinnen und Bürgern die Chance zur ge-sellschaftlichen Mitarbeit bietet, die sich vontraditionellen Formen nicht angesprochenfühlen, so wichtig ist es andererseits, diesetraditionellen Vereinigungen nicht zu vernach-lässigen.“ (S.233)

Anregungen für eine breitere Öffentlichkeit zugeben und Ideen weiterzuverbreiten, das ge-ben die beiden Herausgeber als Intention die-ses umfangreichen Handbuches an. Dies ge-lingt ihnen auf überzeugende Weise. Wer sichfür ein verstärktes Engagement in der Bürger-gesellschaft interessiert, sei er nun Bürger oderKommunalpolitiker, findet nicht nur einen bun-ten Strauß von Ideen, sondern auch die da-zugehörigen Ansprechpartner samt Adressen,Telefonnummern und E-Mail-Adressen. Auchden Beratungs- und Fortbildungsstätten, diesich in Bayern dieser Thematik annehmen (u.a.Schulen der Dorf- und Landentwicklung,Bayerische Akademie Ländlicher Raum, diekommunalen Spitzenverbände, BayerischesSozialministerium und auch die Hanns-Seidel-Stiftung), ist ein eigenes Kapitel gewidmet.

So wird das vorliegende Buch zu einem ech-ten Arbeitsbuch, das seinem Titel gerecht wird,indem es „Neue Wege in der Kommunalpo-litik“ erschließt und dazu beiträgt, dass derAustausch über Initiativen und Ideen gedeiht.Glück und Magel ist es gelungen, ein interes-santes bayerisches Netzwerk zu knüpfen.

Dass diesem umfangreichen Nachschlage-werk, in dem für einen erschwinglichen Preisviel Information geboten wird, ein detailliertesOrts-, Sach- und Personenregister, vielleichtauch eine Übersichtskarte fehlt, ist der einzi-ge Kritikpunkt dieses ansonsten rundum ge-lungenen Buches.

Gerhard Hirscher

Politische Studien, Heft 373, 51. Jahrgang, September/Oktober 2000

Deutscher Bundestag (Hrsg.): Materialiender Enquete-Kommission „Überwindungder Folgen der SED-Diktatur im Prozessder deutschen Einheit“, Nomos-Verlagsge-sellschaft, Baden-Baden 1999, 13.569 Seiten,8 Bände in 14 Teilbänden, 980,00 DM.

Die DDR war kaum aus der Weltgeschichteverschwunden, als der Bundestag des wiedervereinigten Deutschlands eine Enquete-Kom-mission einsetzte, die auf breiter wissen-schaftlicher Basis versuchen sollte, die Herr-schaftsstrukturen dieser zweiten deutschenDiktatur zu durchleuchten. Die Arbeit dieser1992 eingerichteten Kommission setzte nichtnur Maßstäbe in der Arbeit parlamentarischerKommissionen, sondern wurde geradezu einMuster politischer und wissenschaftlicher Auf-arbeitung von Diktaturerfahrung. Die Mischungaus Politikern, Wissenschaftlern und Zeitzeu-gen führte zu einer enormen Menge an Mate-rial und Analyse. Allerdings zeigte sich bald,dass diese Kommission allein (ihre Ergebnis-se wurden in einer neunbändigen Edition 1995im Nomos-Verlag herausgebracht) zu einervollständigen Aufarbeitung der DDR-Ge-schichte nicht in der Lage sein würde. Daherwar es nur folgerichtig, dass auch im darauffolgenden Bundestag eine Enquete-Kommis-sion eingerichtet wurde – auch dies im politi-schen Konsens der wichtigsten Parteien. Die-se zweite Kommission sollte sich mehr derÜberwindung der Folgen der SED-Diktaturwidmen. Deren Materialien, die nun den Ab-schluss der sechsjährigen Kommissionsarbeitmarkieren, liegen jetzt in einer eigenen Editionin acht Bänden (oder 14 Teilbänden) vor.

Es ist wohl nicht übertrieben zu behaupten,dass auch diese Edition – wie ihre Vorgänge-rin – einen wichtigen Meilenstein in der Auf-arbeitung und Analyse deutscher Nach-kriegsgeschichte darstellt. Sie wird noch aufJahre eine unverzichtbare Grundlage für diewissenschaftliche Arbeit wie für die politischeBildung sein.

Aus den Bänden kann sich fast jeder ent-sprechend informieren und diese als Grund-lage für weitere Forschungen verwenden. Essind zwar, wie der Vorsitzende der Kommissi-on Rainer Eppelmann in seinem Vorwort be-tont, Lücken übrig geblieben, die nicht mehrbehandelt werden konnten. Dies tut dem Nut-zen des Projekts aber keinen Abbruch – für ei-ne Fortführung einer solchen Kommission hät-te nach 1998 ohnehin der politische Konsensgefehlt.

Besonders empfohlen sei der erste Band, indem sich unter anderem verschiedene Frak-tionsanträge, der Zwischen- und der Schluss-bericht finden. Hier wird der hohe Konsens-bereich der Kommissionsarbeit deutlich, aberauch die divergierenden Ansichten der PDS(siehe deren Gruppenanträge S.15ff. und117ff.). Dort werden nicht nur die Untersu-chungsgegenstände enger gesehen, auch ei-ne Benennung der DDR als Diktatur suchtman dort vergebens. Insofern wird deutlich,dass die PDS sich in dieser Arbeit aus demantitotalitären Konsens ausschließt, der bei al-len anderen Parteien insgesamt in dieser Kom-mission doch deutlich erkennbar ist. Nicht zu-letzt unter diesem Gesichtspunkt ist dieEdition auch ein wichtiges Zeitdokument fürden Demokratiediskurs in Deutschland Endeder 90er-Jahre.

Die folgenden Bände enthalten jeweils Proto-kolle von Sitzungen oder Beiträgen der Kom-missionsmitglieder sowie Vorträge, Berichteund Expertisen geladener Sachverständiger.Dabei stehen im Band II die Opfer der SED-Diktatur im Mittelpunkt sowie die Problematikdes Elitenwechsels und die Grenzen derrechtsstaatlichen Aufarbeitung. Der dritte Bandbehandelt Fragen der Wirtschafts-, Sozial undUmweltpolitik, während sich Band IV der Bil-dung, Wissenschaft und Kultur widmet(einschließlich rückblickender Bewertungender DDR-Forschung). Erfreulicherweise be-handelt ein eigener Band das Alltagsleben inder DDR. Ein weiterer umfangreicher Band istden Archiven und Gedenkstätten gewidmetund ein anderer den möglichen Formen künf-tiger Aufarbeitung. Ausführlich widmet sich derletzte Band der Rolle des geteilten Deutsch-lands im geteilten Europa.

Mit dieser Edition liegt erneut eine Fundgrubefür Wissenschaftler und Forscher verschiede-ner Richtungen vor. Gewiss hätten von derKommission manche Fragen (vielleicht sogarzu Lasten einiger sehr breit behandelterAspekte) stärker berücksichtigt werden kön-nen wie etwa außenpolitische Konzeptionenund Strategien der Westmächte – vor allemder USA – sowie andere Fragen der Militär-und Sicherheitspolitik in Europa. Dabei mögeninnenpolitische Opportunitätserwägungenebenso eine Rolle gespielt haben wie die Pro-blematik des vorhandenen Materials. Nichts-destoweniger ist die Arbeit der Kommissionund deren Umsetzung in diese beiden Editio-nen eine Leistung, die sich sehen lassen kann– gerade im internationalen Vergleich. Ein

Buchbesprechungen

Buchbesprechungen 131

Großteil der realen Verhältnisse in der DDR ist damit sicher aufgearbeitet worden – dieHerrschaftsdimensionen der SED-Diktaturkönnen spätestens jetzt als bekannt voraus-gesetzt werden. Eine andere Frage ist dieSpätwirkung der staatssozialistischen Dikta-tur in der DDR – deren Aufarbeitung wird an-dauern. Aus dieser Edition wird man hierfürviel hilfreiches Material erhalten.

Gerhard Hirscher

Paul Krugman: Schmalspurökonomie. Die27 populärsten Irrtümer über Wirtschaft,Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York2000, 245 Seiten, 49,80 DM.

Es gibt wenige herausragende Ökonomen, diein der Lage sind, komplexe volkswirtschaftli-che Zusammenhänge ausschließlich verbal,d.h. ohne den in der Wissenschaft kaum mehrwegzudenkenden mathematischen Apparat,und damit auch für den interessierten Laienverständlich darzustellen. Gerade in Deutsch-land scheint für die Mehrheit der akademi-schen Volkswirte noch immer die Anekdotezuzutreffen, die von einem der hoffnungsvoll-sten jungen Nachwuchsprofessoren der hie-sigen Disziplin kolportiert wird: Nachdem er inseinem Bestreben, die Öffentlichkeit an denFrüchten seiner theoretischen Arbeiten teilha-ben zu lassen, einen Aufsatz für eine große Ta-geszeitung verfasst hatte, meldete sich der zu-ständige Redakteur bei ihm und bat ihn, denArtikel doch so umzuarbeiten, dass er auchfür den Nichtfachmann lesbar und von deutli-cherer wirtschaftspolitischer Relevanz sei. An-statt dies jedoch auch nur zu versuchen, kas-sierte er beleidigt den Aufsatz mit den Worten:„Wenn Sie das so nicht wollen, dann ziehe ichmich eben wieder in meinen Elfenbeinturmzurück!“ Sprach’s und vermied seitdem alleweiteren Kontakte mit der profanen Weltaußerhalb der Universität.

Zu den wenigen Vertretern der Ausnahmeer-scheinung, im Gegensatz dazu auch ein brei-teres Publikum für ökonomische Zusammen-hänge interessieren zu können (und zu wollen),zählt ohne Zweifel Paul Krugman, Volkswirt-schaftsprofessor am Massachusetts Instituteof Technology und heißer Anwärter auf einender Wirtschaftsnobelpreise der nächsten Jah-re. Dies beweist er nach der Abrechnung mitden vulgärökonomischen Ansichten der „Pop-Ökonomen“ zur Globalisierung (in: „Der My-thos vom globalen Wirtschaftskrieg“, deutsch1999) auch mit seinem neuesten Buch, das –1998 in den USA erschienen – endlich auch in

deutscher Sprache vorliegt. Es handelt sichdabei um eine Sammlung von populärwis-senschaftlichen Aufsätzen aus den Jahren1993 bis 1997, die auch für den deutschen Le-ser interessant sind. Dies gilt insbesondere imHinblick auf die im Untertitel bereits ange-sprochene Auseinandersetzung mit Allge-meinplätzen, die in der wirtschaftspolitischenDiskussion immer wieder aufscheinen unddurchaus auf den ersten Blick einleuchtenderscheinen, davon jedoch aus wissenschaft-licher Sicht nicht richtiger werden.

Paul Krugman ist sicherlich kein konservativerÖkonom. Nachdem er in den achtziger Jah-ren noch Ronald Reagans Council of Econo-mic Advisers angehört hatte, beriet er 1992bereits Bill Clinton im Präsidentschaftswahl-kampf und hat sich seitdem immer wiedersehr kritisch gerade gegenüber allzu simplenökonomischen Glaubenssätzen von Seiten derRepublikaner geäußert. Er nimmt jedoch auchdie bestehende Regierung nicht aus seiner teil-weise ziemlich harschen Kritik aus. Am ehes-ten charakterisiert man Krugmans populäresWerk vielleicht als Produkt eines unabhängi-gen, gegenüber ideologischen Verbrämungenwie akademischen Modeerscheinungen derWirtschaftstheorie und -politik sehr aufmerk-samen, brillanten Wissenschaftlers, der esauch als seine Aufgabe ansieht, die Resulta-te seiner Forschung in den allgemeinen poli-tischen Prozess einzubringen.

Ausgangspunkt seines Ansatzes ist dabei diedurchaus selbstbewusste Annahme, dass „derungeschulte Leser oder Hörer selbst ökono-misches Geschwätz der haltlosesten Sortenicht als solches erkennt. Und da ich michnicht darauf verlassen kann, dass sonst je-mand die Aufklärungsarbeit übernimmt (...),bleibt mir schlicht nichts anderes übrig, alsselbst zur Feder zu greifen“ (S.10). Das Re-sultat dieser Bemühungen sind zumeist rechtflott geschriebene, aber fest im Fundus derernsthaften Wirtschaftsforschung verwurzel-te Aufsätze, in denen er meisterhaft aktuel-le Glaubenssätze und Aktivitäten der Wirt-schaftspolitik und Wirtschaftspresse kritisiert.Dass er dabei oft ganz grundsätzlich und bis-weilen sehr provokativ gegen den Zeitgeistschreibt, dem auch die Volkswirtschaftslehrenicht abhold ist, macht die Sache nicht nur ori-ginell und lehrreich, sondern auch in höchstemMaße unterhaltsam.

Diese Meisterschaft beweist er auch im vor-liegenden Buch wieder. Ob er sich mit denAuswirkungen von technologischem Fort-schritt und Globalisierung auf den Arbeits-markt, den politischen Wurzeln der französi-

Buchbesprechungen132

schen Volkswirtschaft, dem europäischen(deutschen) Fetischismus absoluter Geld-wertstabilität, dem „Virus“ und „Blödsinn“ derUS-amerikanischen Angebotstheoretiker, denWährungskrisen in Mexiko und Asien, demangeblichen Ende von Konjunkturzyklen in der„new economy“, der Finanzierung des Ge-sundheitswesens oder der ökonomischenPosition zur Umweltpolitik beschäftigt: Immergelingt es Krugman, wirtschaftspolitisch undpublizistisch populären (oder populistischen)Auffassungen Ergebnisse der ökonomischenStandardtheorie entgegenzusetzen (die er imÜbrigen zum Teil maßgeblich mitgestaltet hat)und ihre Schwächen bloßzulegen.

So ist es in der Politik mittlerweile en vogue,bei allen sich bietenden Gelegenheiten dietechnologischen Fortschritte in den Bereichender Informations- und Kommunikationstech-nologie zu beschwören und den Eindruck zuvermitteln, der darin zum Ausdruck kommen-de technische Fortschritt verändere die Grund-strukturen und Gesetzmäßigkeiten der mo-dernen Wirtschaft völlig. Paul Krugman holtdiese Auffassung, die sich nicht zuletzt auchim „Paradigma“ der „new economy“ nieder-schlägt, auf den Boden der Tatsachen zurück,indem er auf die tatsächlichen Veränderungender Lebensumstände im Vergleich zur Zwi-schen- und Nachkriegszeit verweist. Seinlapidares Fazit lautet: „Die Vorstellung, wir leb-ten in einer Epoche des dramatischen techni-schen Fortschritts, beruht auf kollektiver Auf-geregtheit, mehr nicht. In Wahrheit nämlichpassiert nicht allzu viel. Jedenfalls nicht in fun-damentaler Hinsicht.“ (S.124)

Bezüglich der Auswirkungen des technischenFortschritts auf die Strukturen der Wirtschaftdes 21. Jahrhunderts ist Krugman sehr skep-tisch gegenüber der Betonung der Informa-tionswirtschaft mit ihrer „immateriellen Pro-duktion“. Denn einerseits „muss eine Volks-wirtschaft (...) die Bedürfnisse der Verbraucherbefriedigen. Diese aber fordern außer Infor-mationen vor allem auch handfeste Waren“(S.235). Dies gelte im globalen Maßstab ins-besondere für den erheblichen Nachholbedarfder sich gerade industrialisierenden Länder.Darüber hinaus „scheinen die Propheten einer’Informationswirtschaft’ das ökonomische Ein-maleins nicht ganz beherrscht zu haben. Dennwenn etwas in großen Mengen vorhanden ist,verbilligt es sich zwangsläufig. In einer von In-formationen überfluteten Welt ist der Markt-wert der Information als solcher ausgespro-chen gering. Außerdem gilt ganz allgemeinfolgendes Gesetz: Je effizienter etwas herge-stellt werden kann, desto stärker sinkt die Be-deutung der betreffenden Tätigkeit“ (S.235f.).

Nach Krugman ist der gegenwärtige Boom inder IT-Industrie damit lediglich ein temporäresPhänomen. Im Laufe der nächsten hundertJahre werde der technologisch bedingte Wert-verfall kreativer IT-Produkte vielmehr zu einerSymbiose dieses Bereiches mit den alteinge-sessenen Produzenten konventioneller Güterund Dienstleistungen, etwa über intensivesSponsoring, führen. Es werde also langfristigunmöglich, „aus Wissen direkt Kapital zuschlagen“ (S.242).

Seinen Hang zur polemischen Klarheit seinerHaltung demonstriert Krugman auch, wenn erWirtschaftspublizisten und -politikern vorwirft,sich nur ungenügend mit der ökonomischenDenkungsart und Disziplin zu befassen undsich stattdessen lieber mit Schlagworten zuschmücken und populären Modeerscheinun-gen hinterherzulaufen: „Sie betreiben Ökono-mie in Juristenmanier: Erst bilden sie sich ei-ne Meinung zu dem Fall, dann suchen sienach möglichst vielen Argumenten, die dieseMeinung stützen können. Gleichzeitig sind sieder Auffassung, dass die Grunderkenntnisseder Ökonomie (...) in genau der gleichen Wei-se gewonnen wurden. Doch damit liegen sievöllig falsch. (...) Ein richtiger Ökonom fängtniemals mit der Wirtschaftspolitik an, sondernmit der Wirtschaftsanalyse, er fragt sich also:’Wie funktioniert die Welt?’“. (S.134f.)

Gerade auch den Praktikern von Wirtschaftund Politik weist er ein bedeutendes Maß anVerantwortung dafür zu, dass sich wirt-schaftspolitische Strategien oftmals eher anideologischen Zielen und irrationalen Vorstel-lungen orientieren als an wissenschaftlichenFakten: „Was man Geschäftsleuten, Politikernund so weiter einfach vorhalten muss, ist, dasssie sich gerne lang und breit über Wirt-schaftsfragen auslassen, jedoch alles ableh-nen, was nur im Geringsten mit Lernen zu tunhat. (...) Und schon gar nicht mögen sie sichmit ihrer Ansicht nach läppischen Parabelnauseinander setzen (der Tuch/Wein-Ge-schichte [hier spielt er auf das klassische Bei-spiel an, mit dem David Ricardo das Prinzipdes komparativen Kostenvorteils im interna-tionalen Freihandel erläutert, Anm.d.Verf.] (...)usw.). Dogmatisierendes Geschwätz über Globalisierung und die so genannte ’neueÖkonomie’ fällt ja auch viel leichter – undmacht sich immer gut.“ (S.137)

Gewiss schießt Krugman bisweilen auch rhe-torisch und inhaltlich über das Ziel hinaus.Doch die daraus resultierenden Übertreibun-gen sind verzeihlich, dienen sie doch der An-regung zur kritischen Hinterfragung von Auf-fassungen, die in der wirtschaftspolitischen

Buchbesprechungen 133

Diskussion allzu oft dogmatischen Charaktergewonnen haben. Originell und bedenkens-wert sind Krugmans Folgerungen allemal. Ins-gesamt zeigt Paul Krugman auch hier wiederin sehr versierter Weise, dass „wir uns hütenmüssen, die Leute allein schon wegen ihresNamens oder ihrer einflussreichen Positionernst zu nehmen, vor der Vorstellung, allge-mein vertretene Ansichten könnten doch wohlso falsch nicht sein“ (S.109).

Ralph Rotte

Frank Golczewski/Gertrud Pickhan: Russi-scher Nationalismus: die russische Idee im19. und 20. Jahrhundert, Darstellung undTexte, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen1998, ISBN 3-525-01371-X, 308 Seiten, 39,00DM.

Das aus der Feder zweier bekannter Russ-land-Experten kommende Buch hat geradeangesichts des Verhaltens Moskaus zum Ko-sovo-Konflikt und gerade seiner Worte ge-genüber Belgrad „Wir sind alle slawische Völ-ker“ an Aktualität gewonnen. Diese Wortekönnten nämlich erster Ausdruck eines viel-leicht neuen aufkommenden Nationalismussein.

Derartige Gedankengänge gehen in Russlandbis ins 16. Jahrhundert zurück, die später zueinem politischen Pragmatismus in der Be-drohungssituation durch die Invasion Napo-leons wurden, bald sollte ein „volksverbunde-ner Patriotismus“ das Gegengewicht zumodernen westlichen Ideen sein. Verstärktwurde dies durch die Slawophilen, die be-sonders die durch Peter den Großen propa-gierte „Europäisierung“ Russlands ablehnten.Der sich entwickelnde Panslawismus – einProgramm eines politischen Staatenbundesunter Russlands Führung – wollte die Machtdes germanisch-romanischen Kulturtypus bre-chen und durch einen slawischen ablösen. Miteinem sehr großen Detailwissen weiß dasBuch all diese Strömungen kurz vorzustellen,was angesichts der Fülle an Fakten indes dasLesen nicht sehr einfach macht und ohnehinziemliche Kenntnisse der Geschichte Russ-lands voraussetzt.

Nach der kommunistischen Machtergreifungwarnte Lenin zwar wiederholt vor dem Natio-nalismus der Großrussen gerade seitens desNeo-Slawismus, doch bereits der Umschwungzur Politik „Sozialismus (nur) in einem Land“ließ Argumentationsstrukturen wiederaufleben,die denjenigen der russischen Nationalisten

zwischen Slawophilie und Panslawismus ent-sprachen – auch wenn ihre Bezüge zunächstganz bewusst internationalistisch blieben. Baldkam die Wortschöpfung vom „Sowjetpatrio-tismus“ auf. Im Zweiten Weltkrieg sprach manvom „Großen Vaterländischen Krieg“ undknüpfte damit absichtlich an die damalige Re-aktion auf den Einmarsch Napoleons an – dieeigentliche Geburtsstunde des Nationalismusim Lande. Nach 1948 beherrschten nationaleKategorien in ihrer stalinistischen Hochformdas politische Denken im Kreml, eine umfas-sende Russifizierungspolitik setzte ein. Unterdem Deckmantel eines neuartigen „Sowjet-volkes“ entstand großrussischer Chauvinis-mus.

In der folgenden Zeit von Chruschtschow undBreschnew traten dann nationalistische „Dis-sidenten“ auf den Plan. Die wichtigsten vonihnen wurden einmal die konservativ-nationa-listischen „Abweichler“, die einen Rückbezugauf das frühere Russland anstrebten. Als ihre„Leitfigur“ wird man zweifellos Alexander Sol-schenizyn ansehen müssen, der mit der Ab-lehnung des Sowjetstaates ebenfalls eine sol-che des „weichen“ Westens verband, wasandererseits mit der Annahme einer spezifi-schen russischen Geisteshaltung einherging.Die Neo-Stalinisten wiederum fordern eben-falls den Fortbestand des Sowjetimperiums,glauben aber, dass dieses nur durch ein Fest-halten an den „reinen“ kommunistischen Prin-zipien zusammengehalten werden könne. Die„Neue Rechte“, bei der einige Gruppierungensogar ein faschistisches Russland wünschen,beurteilt die kommunistisch-stalinistische Ver-gangenheit bis heute immer noch positiver alsdie ersten liberalen Schritte im heutigen Russ-land. So konnten bei den Parlamentswahlen1993 im Lande Kommunisten und Radikal-Na-tionalisten zusammen dann auch mehr Stim-men für sich gewinnen als die Reform-Grup-pierungen. Sowjetimperiales Denken erwiessich als ein mit Nationalismus kompatibles,wenn nicht gar symbiotisches Phänomen.

Zur Gegenwart und für die nächste Zukunftwird man wohl feststellen müssen: Je stärkerdas Selbstwertgefühl der Russen beschädigtist, desto attraktiver sind integrierende Ge-dankengebäude, die mittels eines Rückgriffsauf angeblich ideale Zustände der Vergan-genheit einen Ausweg, wenn schon nicht ausder materiellen, so doch wenigstens aus derideellen Misere versprechen. Die Verfasserwerden wahrscheinlich leider Recht behalten,wenn sie insoweit „keine guten Aussichten“für Russland sehen.

Friedrich-Wilhelm Schlomann

Buchbesprechungen134

Tanja Wagensohn: Von Gorbatschow zuJelzin. Moskaus Deutschlandpolitik (1985– 1995) im Wandel, Nomos-Verlagsgesell-schaft, Baden-Baden 2000, ISBN 3-7890-6640-0, 366 Seiten, 98,00 DM.

Die Frage ist keinesfalls nur von historischemInteresse: Ist das Jahrzehnt von Beginn der„Perestrojka“ bis in die Mitte der 90er-Jahre,als innenpolitische Themen, vor allem die so-ziale Frage, außenpolitischen Themen zum Teilden Rang abzulaufen begannen, eher mit demBegriff „Kontinuität“ oder „Bruch“ zu charak-terisieren? Vor allem für eine Beurteilung derrussischen Deutschlandpolitik ist es von größ-ter Bedeutung zu wissen, ob es gute Gründezur Annahme gibt, dass die unter Gorbat-schow deutlich werdende Entideologisierungbzw. Verpragmatisierung unter Jelzin weitervertieft wurde, weil man dann nämlich davonausgehen kann, dass eine dergestalt bereitsTradition gewordene Deutschlandpolitik auchunter Jelzins Nachfolger nicht beendet wer-den dürfte. Echte Kontinuitätsbrüche warenund sind kein Merkmal russischer Außenpoli-tik. Das gilt übrigens auch sowohl für die vor-als auch für die nachsowjetische Zeit.

Tanja Wagensohn, Verfasserin der vorliegen-den Arbeit (gleichzeitig auch die Dissertation)kommt auf der letzten Seite zu einem ähnli-chen Resümee: „Moskaus Deutschlandpolitikwar zwischen 1985 und 1995 einem gravie-renden Wandel der politischen Strukturen und Prozesse unterworfen. Aus einem tota-litären System entstand eine Demokratie; diepolitischen Akteure wechselten; die TeilungEuropas und Deutschlands endete. Doch dieInhalte, Aufgaben und Gegenstände der rus-sischen Deutschlandpolitik in der Ära Gorbat-schow waren denen der Jelzin-Regierung bis1995 zum Verwechseln ähnlich.“

Die Qualität der Arbeit von Wagensohn er-schöpft sich allerdings nicht in der Formulie-rung und Belegung jener Kontinuitätsthese, sohilfreich diese auch für eine Konstituierung deshistorischen Kontextes russischer Deutsch-landpolitik sein mag. Ein mindestens ebensogroßer Verdienst liegt in der akribischen, quellengesättigten Darstellung des Zeitrau-mes 1985 – 1995, die das Thema – MoskausDeutschlandpolitik – in einen größeren Zu-sammenhang stellt, was schon für sich ge-nommen angesichts des erstaunlich magerenForschungsstandes (den die Autorin nichts-destoweniger fair und korrekt referiert) größ-ten Wert besitzt. Hier liegt m.E. auch derHauptgewinn, den man aus der Lektüre derArbeit ziehen kann: Man hat es mit einer sehrsorgfältigen, breit angelegten Darstellung des

thematisierten Zeitraumes zu tun, auf die manmit großem Gewinn zurückgreifen kann, wennman in der einen oder anderen Hinsicht wis-sen möchte, „wie das damals eigentlich ge-nau war“.

Es soll natürlich auch nicht verschwiegen wer-den, dass angesichts des Charakters eines„Nachschlagewerkes“ im besten Sinn dannund wann der hypothetische „rote Faden“ ver-loren zu gehen droht und die Autorin – was beieiner Dissertation aber mehr als verständlichist – sich dem Risiko von Theoriebildung we-nig ausgesetzt hat.

Trotzdem soll nicht der Eindruck entstehen,als ob das stark narrative Moment der Dar-stellung eine Affinität zum „gehobenen Jour-nalismus“ suggerieren müsste. Das ist in kei-ner Weise der Fall. Zu klar ist die Systematik,zu souverän die Auswahl der (in vielen Fällenrussischen) Quellen und zu solide die Darstel-lung.

Bei der Arbeit von Tanja Wagensohn handeltes sich um ein Werk, das die Bezeichnung„wissenschaftlich“ voll verdient und Lückenschließt, deren Fortbestehen eine Auseinan-dersetzung und Bewertung auch der aktuel-len russischen Außenpolitik wesentlich er-schweren würde.

Klaus Lange

George Stephanopoulos: All Too Human: APolitical Education, Little Brown and Com-pany, Boston/New York/London 1999, ISBN0316929190, 456 Seiten, 27,95 $.

George Stephanopoulos traf Bill Clinton erst-mals im September 1991. Er arbeitete zu die-ser Zeit für den Kongressabgeordneten DickGephardt, der sich entschieden hatte, 1992doch nicht für das Amt des Präsidenten zukandidieren. Stephanopoulos wollte – obwohler bei Abgeordneten und Mitarbeitern im Kon-gress angesehen war und für Gephardt hinterden Kulissen eine von vielen beachtete politi-sche Arbeit leistete – seine Stellung aufgebenund für einen Präsidentschaftskandidaten ar-beiten, dessen Wahl gewinnen helfen und soin das Zentrum der Macht gelangen.

Präsidentschaftswahlen sind eines der großenThemen der amerikanischen politischen Li-teratur. Seit Kennedys Wahlkampf habenpolitische Weggefährten der Kandidaten, Jour-nalisten und Wissenschaftler über die Ausein-andersetzungen im Vorfeld der parteiinternen

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Auswahl des Kandidaten und schließlich überden Wahlkampf selbst geschrieben. Zuletzterschien – anonym von einem Journalistenverfasst – Primary Colors, ein formidablerSchlüsselroman über Clintons Kampf um dieNominierung durch seine Partei. Jeder Leserdieses Romans weiß von der Verführung derMacht, den Möglichkeiten, seine Karriere zufördern, die einem Berater offen stehen. Vie-les davon mag romantische Legende sein undim Alltag von Pressekonferenzen, mittelmäßi-gen Hotels und bürokratischer Routine un-tergehen. Der Zauber aber, mittels einer er-folgreichen Campaign ganz nach oben zukommen, bleibt ungebrochen. Stephanopou-los lässt seinen Leser daran teilhaben – dererste Teil des Buches liest sich wie eine do-kumentarische Ergänzung zu Primary Colors.Ausführlich und detailgetreu, um Geschichtenaus seiner eigenen Biographie ergänzt, be-schreibt Stephanopoulos Clintons Kampf umdie Kandidatur und schließlich um das Amt.Dabei gelingen ihm eine spannende Schilde-rung der Vorwahlkämpfe und präzise PortraitsClintons, der Gegenkandidaten und ihrer Mit-arbeiter. Stephanopoulos gibt alles für den Er-folg seines Kandidaten. Er schildert sich alseinen „Gläubigen“, erfüllt von seiner Aufgabe.Das Wort ist mit Bedacht gewählt: Stephano-poulos entstammt einer griechisch-orthodo-xen Priesterfamilie – in seiner Jugend wollteer Geistlicher werden. Wiederholt verweist erauf diese frühe Berufswahl, die er in Bezugsetzt zum Ehrgeiz eines Kindes von Einwan-derern. Die griechischstämmigen Amerikanerbezeichnet er als seine „erweiterte Familie“.Ihnen möchte er beweisen, was er kann. DieSpannung zwischen der für den Erfolg not-wendigen Pragmatik des politischen Alltagsund den Erwartungen des „Gläubigen“ durch-ziehen das ganze Buch. Denn von Anfang ansind da auch Zweifel: Clinton, so schreibt Ste-phanopoulos, ist recht eigentlich nicht ein Po-litiker, den man in den USA als liberal be-zeichnen würde (im politischen KontextDeutschlands würde man liberal mit linkslibe-ral oder sozialdemokratisch übersetzen). Den„Neuen Demokraten“ des Südens begegnetStephanopoulos mit Misstrauen. Der Held desAutors ist daher Mario Cuomo, der Gouver-neur von New York, von dem sich der linkeFlügel der Demokraten die Bereitschaft zurKandidatur erwartete. Hamlethaft jedoch zö-gerte der Gouverneur und kandidierte schließ-lich nicht. Die Passagen zu Cuomos Zögernund Koketterie und seiner Ablehnung von Clin-tons Angebot, als Richter an den OberstenGerichtshof zu gehen, gehören zu den bes-ten des Buches. Erzählerisch vermittelt derAutor einen Einblick in die komplizierten Me-chanismen amerikanischer Politik. Das Por-

trait des Präsidenten selbst bleibt jedoch selt-sam blass. Clintons komplexe Persönlichkeitüberfordert die literarische Begabung desAutors.

In einer Hinsicht aber geht Stephanopoulosüber frühere Beschreibungen von innerpartei-lichen und nationalen Wahlkämpfen hinaus:Stephanopoulos war einer der Ersten jenerausschließlich auf die öffentliche Wirkung ih-res Kandidaten bedachten Berufspolitiker, diesich nicht selbst für ein Amt zur Verfügungstellen wollten, sondern in zweiter Reihe diestrategischen und taktischen Planungen über-nahmen. Spin Doctors war der später hierfürgeprägte Begriff. Stephanopoulos vertrat einKonzept, das bald in Großbritannien, Deutsch-land und zuletzt in Israel mit Erfolg kopiertwurde. Sein biografisches Selbstportrait in „Alltoo Human“ illustriert dieses Erfolgskonzeptauf das Anschaulichste: Stephanopoulos istüberzeugt von der Notwendigkeit der von Clin-ton im Wahlkampf angekündigten Reformpo-litik. Er glaubt, Clinton noch weiter in die vonihm gewünschte Rolle drängen zu können. Erist aber auch bereit, notwendige Kompromis-se einzugehen. Er ist nicht naiv, sondern, woes nötig ist, pragmatisch und machtpolitischversiert. Der Erfolg ist (fast) so wichtig wie derInhalt. Stephanopoulos erkennt zu spät, dasseine solche Politik in einem notwendigen Wi-derspruch zu grundlegenden, nur langfristigzu verwirklichenden Wertüberzeugungen steht.Das Weiße Haus wird für Berater wie Stepha-nopoulos zu einem Bazar, auf dem feilgebo-ten wird, was nach außen wirkt. Für alle ebenetwas.

So weit liest sich das Buch mit Vergnügen,über die Selbstgefälligkeit des Autors – leidervon nur wenig Selbstironie in Schrankengehalten – sieht man hinweg. Dann ändert sich der Ton: Die zweite Hälfte des Buchesbeschreibt den Abstieg des George Stepha-nopoulos. Da ist zuerst die zögerliche, an po-litischen Machtkonstellationen und parlamen-tarischem Widerstand scheiternde Politik derersten beiden Amtsjahre Clintons. Stephano-poulos beschreibt diese Politik, die oft dilet-tantisch geplant und ohne kohärente Strukturist. Clintons Popularität sinkt. Fiasko reiht sichan Fiasko. Die mäßigen Erfolge der Adminis-tration hebt Stephanopoulos zwar hervor, oh-ne jedoch den Gesamteindruck verändern zukönnen. Er beschönigt auch nicht. Der Politikder Clinton-Administration fehlt es an Struk-tur – stattdessen findet eher ein täglichesKrisenmanagement statt. Abhilfe ist vonnöten,und so tritt der Schurke auf: Dick Morris. Morris ist ebenfalls Berater, nur – so Stepha-nopoulos – einer ohne Überzeugungen. Das

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Portrait ist gelungen – Morris hatte allenGrund, sich mit einer bösen Besprechung vonStephanopoulos Buch zu revanchieren. Zwi-schen den beiden kommt es zum Macht-kampf. Stephanopoulos verliert im WeißenHaus mehr und mehr an Einfluss. Obwohl erbekannt ist und die Medien über ihn berich-ten, wird er zunehmend an den Rand ge-drängt. Der Erfolg, der über so manches hinwegtröstet, bleibt aus. Stephanopoulosschildert seinen Abstieg, seine Depressionen,die Angst, völlig von der Macht verbannt zuwerden. Er sucht Hilfe bei Psychologen undÄrzten. Er wirft Clinton Verrat vor. Das Ganzeliest sich interessant, als Einblick in die Psy-che eines in Macht und die Perzeption vonEinfluss verliebten Menschen – die Analyseder politischen Veränderungen aber bleibtdürftig. Zunehmend überwiegt auch dasSelbstmitleid des Autors – so sehr interessie-ren die Probleme des Helden nun auch wie-der nicht.

Letztlich versäumt es Stephanopoulos, dieVeränderungen der Politik Clintons nach denKongresswahlen 1994 eingehend zu analy-sieren. Seine Erzählung ist als Hintergrundin-formation über die Intrigen und Machtkämpfeam Hofe Clintons interessant, aber die Kon-turen der Zeit von 1994 bis zum Wahlkampfim Sommer und Herbst 1996 sind nicht in derAuseinandersetzung zwischen Gut und Böse,zwischen Stephanopoulos und Morris zu su-chen. Die interessanten Einblicke in Macht-mechanismen, das kluge Selbstportrait desersten Teils – solche Passagen fehlen nun. Nurvom verzweifelten Kampf des Helden und sei-nen Enttäuschungen ist zu lesen.

Nach vier Jahren – Clintons Wiederaufstiegund Wahlsieg gilt als gesichert – verlässt Ste-phanopoulos das Weiße Haus. Wegen einerlächerlichen Affäre musste auch Morris gehen– ein schwacher Trost. Der Abschied fällt Ste-phanopoulos schwer – in einem Epilog schil-dert er seine persönliche Enttäuschung überden Menschen Clinton angesichts der Ereig-nisse des Jahres 1998. Was hätte nicht alleserreicht werden können, wenn dieser gute Prä-sident ein guter Mensch gewesen wäre – soStephanopoulos am Ende seines Buches. Da-mit wird er Clinton nicht gerecht.

Dietmar Herz

Alison Jamieson: The Antimafia. Italy's fightagainst Organized Crime. Foreword by Lu-ciano Violante, Macmillan Press Ltd., London2000, 257 Seiten, 15.99 £.

Im Mai und Juni 1992 wurden die Richter Gio-vanni Falcone und Paolo Borsellino von dersizilianischen Mafia ermordet; mit den Rich-tern starben Falcones Frau und acht Beamteder Eskorte. Nach den beiden Attentaten schien der Staat erstmals entschlossen, dieMafia umfassend und anhaltend zu bekämp-fen. Längst überfällige Gesetze wurden ver-abschiedet, die Zusammenarbeit der Ermitt-lungsbehörden und deren Effizienz wurdenverbessert. Gleichzeitig formierten sich zahl-reiche Bürgerbewegungen, die gegen die Ma-fia demonstrierten und deren Wurzeln in derZivilgesellschaft zu bekämpfen suchten.

Alison Jamieson beschreibt und bewertet dieEntwicklung dieses Kampfes (Antimafia) in denvergangenen acht Jahren. Die ersten beidenKapitel sind geeignet, Leser, die sich bisherkaum mit der sizilianischen Mafia (Cosa Nos-tra) beschäftigt haben, in das Thema einzu-führen. Die Entwicklung von Mafia und Anti-mafia und die Ereignisse des Jahres 1992, ihreVorgeschichten und Folgen werden kurz, aberverständlich skizziert.

Im dritten und vierten Kapitel wird die politi-sche Reaktion auf die Attentate – parlamen-tarische Untersuchungen, Gesetze und Re-formen – in ihrer Wirkung dargestellt. Jamiesonberichtet auch über das Nachlassen der Auf-merksamkeit in der Öffentlichkeit, über Kon-kurrenz- und Kompetenzgerangel bei denSicherheitsorganen und Justizbehörden undüber die Schwächung des Kampfes aufpolitischer Ebene durch die persönlicheSchwäche von Beamten und Politikern unddurch die innenpolitischen Krisen und Debat-ten, die Italien seit 1992 erlebte.

Dem Leser scheint es, als sei Italien, nur we-nige Jahre nach dem Tod der beiden Richter,um Jahrzehnte zurückgeworfen. Dann aber,im fünften Kapitel, kommt Jamieson zumzweiten Aspekt ihres Themas: der Entwicklungeiner Antimafiabewegung in verschiedenenBereichen der Gesellschaft: Bis 1995 wurdenüber 600 Gruppen gegründet, viele geführtvon Angehörigen von Mafiaopfern und daherweniger politisch als moralisch inspiriert. Ge-werkschaften, Unternehmerverband und auchdie katholische Kirche, die nicht immer ein-deutig Stellung gegen die Mafia bezogen hat-te, engagierten sich. Partnerschaften zwischennord- und süditalienischen Schulen entstan-den. Die kritische Auseinandersetzung mit derMafia wurde – nicht nur in Süditalien – Teil desUnterrichts. Vielerorts wurde die Mauer desSchweigens durchbrochen, aber – und auchdas übersieht Jamieson nicht – im Süden bliebdas Schulwesen marode, die Arbeitslosigkeit

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hoch und die Verwaltung zumeist ineffizientund häufig bestechlich.

Die Ermordung der Richter führte nicht nur zueiner Massenbewegung und offener Solida-rität in Italien, sondern – so die InterpretationJamiesons – war auch ein Katalysator für die internationale Zusammenarbeit in derBekämpfung der Mafia. In Kapitel sechs wirdüber die bilateralen Verträge Italiens (bis 1994schloss Italien 30 Abkommen mit 25 Ländern)und über das Engagement internationaler Or-ganisationen (UN, EU) und ihrer Institutionenberichtet.

Im Schlusskapitel betrachtet Jamieson dieMorde an den Richtern aus der Sicht der Ma-fia. Für diese waren die Attentate des Jahres1992 – ebenso wie die Zündung von Auto-bomben in Rom, Florenz und Mailand imSommer 1993 und die Ermordung des mafia-nahen Politikers Salvo Lima im Frühjahr 1992– Teil einer „Strategie der Gewalt“. Als die po-litischen Verbündeten der Mafia, vor allem diesizilianischen Christdemokraten, durch die in-nenpolitische Entwicklung Italiens ihre Machtverloren hatten, sah sich die Mafia ohne poli-tische Helfer und von der neuen Ordnung be-droht. Die Strategie der Gewalt zielte darauf,ein neues „Gleichgewicht zwischen Mafia undStaat“ herzustellen. Jamiesons Überlegungendarüber, ob und zu welchem Preis dies gelang,sind lesenswert.

Auch wenn im Dickicht der (sich manchmalwidersprechenden) Quellen die Autorin einigeWidersprüche in ihrer Argumentation über-sieht, überzeugt das Buch aus zwei Gründen:Zum einen dokumentiert die Autorin wichtigeFakten und Zahlen zur Entwicklung von Mafiaund Antimafia, zum anderen lässt Jamiesonauch die Menschen zu Wort kommen, die sichdurch Zivilcourage oder Professionalität aus-zeichnen und für Freiheit und Gerechtigkeitund gegen die Mafia kämpfen.

Nicht zuletzt ist das Buch ein lauter Ruf nachmehr Taten. Weil die Mafia die Demokratie be-droht und die freie Wirtschaft schädigt, darfder Kampf gegen sie nicht erlahmen. WeitereTaten müssen folgen. Jamieson begründetund illustriert die Notwendigkeit dieser Tatenund gibt Beispiele dafür, was durch Mut, Ent-schlossenheit und Bereitschaft zur Koopera-tion im Kampf gegen die Mafia erreicht wer-den kann. Sie erläutert erfolgreiche Strategienund erklärt, welche Hindernisse noch immerim Weg stehen. Dieser Ruf von Alison Jamie-son sollte Gehör finden.

Enrico Palumbo

Detlef J. Blesgen: Erich Preiser: Wirken und wirtschaftspolitische Wirkungen einesdeutschen Nationalökonomen (1900 –1967), Springer Verlag, Berlin/Heidelberg u.a.2000, 866 Seiten, 198,00 DM.

Deutsche wirtschaftswissenschaftliche Tradi-tionen und Denkschulen spielen in der ge-genwärtigen Mainstream-Volkswirtschaftsleh-re kaum mehr eine Rolle. Betrachtet man denAusbildungskanon der heutigen wirtschafts-wissenschaftlichen Fakultäten und die Masseder ökonomischen Literatur, stellt man unwei-gerlich eine übermächtige Dominanz theore-tischer und wirtschaftspolitischer Vorstellun-gen fest, die aus dem angelsächsischen Raumstammen. Während dieser Primat US-ameri-kanischer und britischer Wirtschaftstheorie ei-nerseits auf eine nicht per se negative Domi-nanz von im weitesten Sinne liberal geprägtenDenkmustern verweist, hat sie andererseits fürdie Praxis der Wirtschaftspolitik den gravie-renden Nachteil, dass die daraus resultieren-den Implikationen oftmals nicht auf die ge-sellschaftlichen, kulturellen und rechtlichenBedingungen Kontinentaleuropas übertragbarsind. Nicht umsonst mischen sich gerade her-ausragende Wirtschaftstheoretiker in Deutsch-land im Unterschied zu den USA selten in dietagespolitische Diskussion ein und verbleibenlieber in ihrem akademischen Elfenbeinturm,der sich immer weiter von der politischen Pra-xis entfernt.

Umso erfrischender ist es vor diesem Hinter-grund, mit dem vorliegenden Werk von DetlefBlesgen ein Buch vorzufinden, das die Volks-wirtschaftslehre wieder mit konkretem Lebenund Politikbezug erfüllt, indem es sich der Per-son und dem Schaffen eines der herausra-gendsten und originellsten, jedoch leider anden Universitäten weitgehend vergessenendeutschen Ökonomen der Nachkriegszeitannähert. Der umfangreiche Band, der auseiner Dissertation an der Rheinisch-Westfä-lischen Technischen Hochschule Aachen her-vorgegangen ist, zeichnet sich dabei insbe-sondere durch seine Materialfülle – allein derwissenschaftliche Apparat des Werkes machtfast die Hälfte seines Umfangs aus – und dieDetailtreue der lesenswerten Darstellung aus.

Erich Preiser ist in der Volkswirtschaftslehreinsbesondere für seine Beiträge zur Konjunk-tur- und Wachstums- sowie zur Verteilungs-theorie bekannt. Im ersten Teil seines Buchesbehandelt Blesgen die Entwicklung der Prei-serschen Theorie vor dem Hintergrund seinerbiografischen und akademischen Entwicklung.Dieser Teil ist auch dahingehend besondersinteressant, da er Preisers Stellung zum Na-

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tionalsozialismus beleuchtet. Immerhin erhieltPreiser im April 1937 seine erste Berufung zumaußerordentlichen Professor an der UniversitätRostock, ein Umstand, der nur mit der for-mellen Billigung der Nationalsozialisten mög-lich war. Nach 1945 wurde Preiser dieser Um-stand in der SBZ vorgeworfen und führte zuseiner wiederholten Suspendierung an derUniversität Jena, an der er 1940 bis 1946 tätigwar

Tatsächlich gelingt es Blesgen jedoch, über-zeugend zu zeigen, dass Preiser trotz seinerformalen Mitgliedschaft in SA, NSDAP undNS-Rechtswahrerbund keineswegs ein über-zeugter Nationalsozialist war. Höchstens zuBeginn des Regimes setzte er aufgrund sei-ner charakteristischen Suche nach einem „drit-ten Weg“ zwischen Liberalismus und Kom-munismus gewisse Hoffnungen in den linkenFlügel der NSDAP. Diese erübrigten sich man-gels eines theoretischen Konzeptes und poli-tischer Durchsetzungsfähigkeit des sozialre-volutionären Parteiflügels gegenüber Hitlerjedoch schnell.

Sowohl in seinen Arbeiten wie in seinen Ver-anstaltungen zeigte sich Preiser durchaus kri-tisch gegenüber dem NS-Gedankengut undkonzentrierte sich auf rein wissenschaftlicheInhalte anstelle ideologischer Verbrämung, wasihm einige Probleme bei seinem beruflichenFortkommen bereitete. Seine Bindung an dasakademische Leben und seine Verantwortungals Familienvater erforderten natürlich ein ge-wisses äußeres Arrangement mit dem Regime,nachdem nach 1933 keine Aussicht auf eineBerufung ins Ausland mehr bestand. Nachseiner Berufung nach Jena 1940 schloss ersich jedoch schnell dem oppositionellen Ge-sprächskreis um Ricarda Huch an. Ab 1943war er außerdem Mitglied des nationalökono-mischen Freiburger Kreises mit Walter Eucken,Adolf Lampe, Günter Schmölders, Heinrichvon Stackelberg und anderen, die wirt-schaftspolitische Konzeptionen zur Nach-kriegszeit auch für die Mitglieder des Kreisau-er Kreises um Carl Goerdeler erarbeiteten.

Ausgehend von der gesellschaftlichenTrennung zwischen den ProduktionsfaktorenArbeit und Kapital – Arbeiter werden in dermachtpolitischen Tradition Franz Oppenhei-mers vom Besitz an Kapital und Grundbesitzweitgehend ausgeschlossen –, beginnt derwirtschaftliche Aufschwung in Preisers Kon-junkturtheorie typischerweise mit einem exo-genen Überangebot an Arbeit. Dies führt überden resultierenden Druck auf die Löhne zueiner Verschiebung der Einkommensquotenzugunsten der Gewinnquote der Unternehmer,

die entsprechend ihre Investitionen erhöhenwerden, zumal die im Zuge wachsender Nach-frage wieder steigenden Löhne den Ge-winnerhöhungen zeitlich hinterherhinken. Dersomit letztlich durch eine temporäre Ver-schiebung der Einkommensverteilung in-duzierte Aufschwung endet erst, wenn zu-sätzliche Erweiterungsinvestitionen mangelsverfügbarer unbeschäftigter Arbeit nicht mehrgetätigt werden können und nunmehr zuLohnsteigerungen führen. Sobald sich die Un-ternehmer bewusst werden, dass eine Voll-auslastung der im Boom übermäßig getä-tigten Erweiterungsinvestitionen nicht dauer-haft gewährleistet werden kann, stellen sie ih-re Investitionstätigkeit ein. Sie „sterilisieren“ihre bis dahin investierten Gewinnanteile durchSammlung im Unternehmen oder auf derBank. Ausbleibende Investitionen bedeutenjedoch Beschäftigungsrückgang, sinkendeLöhne und Gewinne, kurz den Beginn der Rezession, welche durch die anfänglich nochhohe Konsumnachfrage lediglich verzögertwird. Der Abschwung geht so weit, bis dieLöhne aufgrund des Existenzminimums nichtweiter sinken können.

Die Besonderheit von Preisers Theorie, die aufKlassikern wie Robert Malthus oder Karl Marxaufbaut, liegt nun darin, dass mit dem Er-reichen der konjunkturellen Talsohle ein neu-es Quasigleichgewicht der Volkswirtschaft er-reicht wird. Aus diesem folgt im Unterschiedzu anderen zyklischen Konjunkturtheoriennicht automatisch wieder ein Aufschwung. Ein solcher erfordert neue Anreize für die Un-ternehmen, ihr überschüssiges, „geparktes“Finanzkapital zu investieren. Diese können ent-weder in besonderen Gewinnchancen außer-gewöhnlich erscheinender Innovationen imSinne Josef Schumpeters liegen oder in derEroberung fremder Märkte, wodurch sich wie-der die Verbindung zur ökonomischen Impe-rialismustheorie ergibt.

Noch vor John Maynard Keynes hat Preiserdamit auf die Möglichkeit eines Gleichgewichtsbei Unterbeschäftigung und die psychologi-schen Faktoren unternehmerischer Investiti-onsentscheidungen und konjunktureller Be-wegungen hingewiesen. Und noch ein weitererPunkt verweist auf Preisers Nähe zu Keynes:Nachdem es nicht Kapitalmangel ist, der dieUnternehmer vom Investieren abhält, und da-mit auch der Zins mangels Kreditfinanzierungvon Investitionen in seinem Modell im Gegen-satz zur Neoklassik keine Rolle spielt, kommtdem Staat in Krisensituationen eine zentraleRolle zur Beschäftigungssteigerung zu. Sosprach sich Preiser bereits 1931, also zuHochzeiten der Deflationspolitik der Weimarer

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Republik, ganz explizit für staatliche kredit-finanzierte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmenaus. Sie sollten das brachliegende Kapital in-vestitions- und nachfragewirksam nutzen undden Anstoß zum Aufschwung geben.

Preiser forderte damit als einer der Ersten eineantizyklische Fiskalpolitik, ohne ihr deswegenden Status einer „Heilslehre“ zu geben, densie nach 1945 eine Zeit lang hatte. Eine dau-erhafte Überwindung des Konjunkturproblemsist nach Preiser nur durch strukturelle Ver-änderungen in der Einkommens- und Ver-mögensverteilung möglich, die auf größereGleichmäßigkeit ausgerichtet ist. Auch hier sollder Staat durchaus deutlich lenkend eingrei-fen. Das ordnungspolitische Ziel Preisers istvor diesem Hintergrund eine konjunkturelleWirtschaftslenkung in einer „vom Staat ge-ordneten und überwachten Marktwirtschaft“.Sie soll die postulierte Unfähigkeit der Wirt-schaft zur selbststeuernden Stabilität unterBeibehaltung von Privateigentum und Marktausgleichen, nicht zuletzt aus sozialen Grün-den.

Blesgen gelingt es, die theoretisch fundierte,grundsätzlich interventionsfreundliche HaltungPreisers durchgängig in seiner Darstellung vonPreisers Wirken in der bundesdeutschen Wirt-schaftspolitik nach 1946 als Mitglied des „Wis-senschaftlichen Beirates“ deutlich zu machen,die den zweiten Teil des Buches ausmacht.Das Ziel einer „gelenkten Marktwirtschaft“wurde – in unterschiedlichen Ausprägungenund Begrifflichkeiten – durchaus auch von an-deren führenden Ökonomen der Zeit verfolgt,jedoch kaum in der Originalität und analyti-schen Stringenz Preisers. Die Selbständigkeitder Preiserschen Positionen machte ihn beiden teilweise sehr umstrittenen Themen derNeuordnung der bundesdeutschen Nach-kriegswirtschaft immer wieder zum pragmati-schen Vermittler zwischen neoliberalen undeher planwirtschaftlichen Extrempositionen.Auf die Vielzahl der Fragen und Stellungnah-men von der Währungsreform bis z.B. zur Eta-blierung des Rentensystems soll hier nichtweiter eingegangen werden. Blesgens detail-lierte und kenntnisreiche Darstellung vermit-telt jedoch ein lebhaftes und tief gehendes Bildder verschiedenen Einstellungen und wissen-schaftlichen Positionen bei der theoretischenund institutionellen Verankerung der sozia-len Marktwirtschaft durch die deutsche Wirt-schaftspolitik der fünfziger und sechziger Jahre.

Wichtig bleibt die grundsätzliche Skepsis Prei-sers an eher naiven neoliberalen Vorstellungeneiner dauerhaften Beseitigung der Arbeits-

losigkeit in einer geldwirtschaftlich stabilenMarktwirtschaft. Diese Skepsis verband er mitder Forderung nach möglichst großer Chan-cengleichheit zwischen Besitz und Nicht-Be-sitz sowie nach einer staatlichen Gewährleis-tung der sozialen Sicherheit. Besondersinteressant erscheinen auch unter gegenwär-tigen Vorzeichen seine Forderungen nach ei-ner Teilhabe der Arbeiter am Kapital durch dieSchaffung von „Arbeiter-Investment-Trusts“,Investivlohnmodelle, Gewinnbeteiligungen undSparförderung. An die Stelle des Ende derfünfziger Jahre um sich greifenden „Wachs-tumsfetischismus“ um fast jeden Preis, dersich auch heute noch durchaus großer Be-liebtheit in der wirtschaftspolitischen Diskus-sion erfreut, setzte er die Forderung eines„möglichst stabilen Wachstums“. Dieses Kon-zept findet heute unter dem Schlagwort derNachhaltigkeit wieder neue Beachtung.

Von bleibendem Wert ist damit insbesondereErich Preisers im Grunde genommen gesell-schaftspolitischer, die engen Grenzen des aka-demischen Faches sprengender Ansatz derVolkswirtschaftslehre. Dieser Ansatz lässt sichnicht auf irgendwelche „Schulen“ oder Modenreduzieren, wie es sie heute in der Ökonomiegibt.

Preisers Bewusstsein der sozialen Einbettungjeden wirtschaftlichen Handelns und damit derpolitischen Verantwortung des Wirtschafts-wissenschaftlers verlieh ihm eine grundsätz-liche Skepsis gegenüber allzu simplen wirt-schaftspolitischen Erfolgsrezepten und theo-retischen wie ordnungspolitischen Ewigkeits-postulaten.

Gerade gegenüber aus den USA „importier-ten“ Ansätzen der Volkswirtschaftslehre wür-de man sich auch heute bisweilen eine ähnli-che Skepsis an den deutschen Universitätenwünschen. In diesem Sinn bleibt für ihn undseine bis heute fortdauernde Aktualität ein Zi-tat Ludwig Erhards aus dem Jahr 1957 gera-dezu programmatisch, das Blesgen an denSchluss seines Buches stellt: „Ich glaubenicht, dass es sich bei der wirtschaftspoliti-schen Zielsetzung der Gegenwart gleichsamum ewige Gesetze handelt. Wir werden sogarmit Sicherheit dahin gelangen, dass zu Rechtdie Frage gestellt wird, ob es noch immer rich-tig und nützlich ist, mehr Güter, mehr materi-ellen Wohlstand zu erzeugen oder ob es nichtsinnvoller ist, unter Verzichtleistung auf diesen’Fortschritt’ mehr Freizeit, mehr Besinnung,mehr Muße und mehr Erholung zu gewinnen.“

Ralph Rotte

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Dietmar Wendt: Erfolg mit eQ: Wie Sie in der neuen Welt des e-business Karrie-re machen, Campus Verlag, Frankfurt amMain/New York 2000, ISBN 3-593-36438-7,228 Seiten, 39,80 DM.

Die Abkürzung „eQ“ steht für „elektronischeIntelligenz“, womit die besondere Fähigkeitzum intelligenten Umgang mit der digitalenTechnik gemeint ist. Intelligenz wird grundsätz-lich als die Befähigung zum Erkennen und Lö-sen von Problemen interpretiert. Der Autorgeht kurz auf Howard Gardners „Multiple In-telligenztheorie“ ein, erwähnt Jean Piagets„Genetische Epistemologie“ und setzt sich anmehreren Stellen mit Daniel Golemans „Emo-tionaler Intelligenz“ auseinander. Die elektro-nische Intelligenz oder „eQ“ gehört zu den „le-bensklugen Intelligenzen“. eQ bezeichnet dieSumme von Fähigkeiten, die ihr Besitzer ak-tiv entwickeln muss, um sich in einer zuneh-mend komplexeren und immer mehr vernetz-ten Welt zurechtzufinden und, wenn er daswill, Karriere zu machen. Erfolg und Karrierestehen im Zentrum von eQ. Dietmar Wendtfasst seine Einsichten in einer „Erfolgsformelfür das neue Jahrtausend“ zusammen: „eQ =IQ + EQ + X“. IQ steht hier für Rationalität, al-so Sprache, Denken, Logik, Abstraktion,schlussfolgerndes Denken usw., EQ hingegeninsbesondere für Emotionalität, also Spiel-freude, Neugier, Intuition, Phantasie, Flexibi-lität usw. Der wichtige Faktor X ist entschei-dend für eQ und schließt drei Schlüssel-kompetenzen ein: den Umgang mit digitalenTechniken, die Loslösung von Zeit und Raumund die Fähigkeit zum „Networking“ und zumvernetzten Denken.

In den nachfolgenden acht Abschnitten sei-nes Werkes beschäftigt sich der Autor mit derAbhängigkeit des e-Business vom eQ, mit derneuen und revolutionären e-Society und mitdem neuen eQ-Lernen, d.h. den Möglichkei-ten der Karriereplanung mit Hilfe von eQ. AlsSchlussfolgerungen aus der eQ-Formel dis-kutiert er neue Formen der Mitarbeiterführung,Anregungen für neue Organisationsformen undneue Geschäftsimpulse.

Eine zusammenfassende Würdigung des Wer-kes erlaubt nur stichwortartige Hinweise aufeinige wiederkehrende Argumente. Somit kannhier weder Vollständigkeit beansprucht nochSystematik erreicht werden. D. Wendt erwähntin Verbindung mit der elektronischen Intelli-genz (eQ) immer wieder die „Loslösung vonZeit und Raum“. Er meint hier nicht den Zeit-faktor als „Quantenbegriff“ (vgl. etwa D.Deutsch oder C.F. von Weizsäcker). Er verstehtdarunter vielmehr die „Global Generation“, die

weltweit kommuniziert und handelt und dabeikeine Einschränkungen durch Raum- oderZeitgrenzen erfährt. In Verbindung mit eQ istdie Zeit nicht primär als „Konstrukt desmenschlichen Gehirns“ gedacht. Es geht auchnicht um das „Paradox der Zeit“ (I. Prigogine).Primär ist die gelebte und erlebte Zeit gemeint.Durch eQ wird die Trennung zwischen Arbeitund Privatleben aufgehoben. Mit den neuenKommunikationsmitteln kann jeder auch in derPrivatwohnung, ja sogar am Strand seine Ar-beit erledigen. „Die berufliche Tätigkeit ist da-mit weder an einen bestimmten Arbeitsplatz(Raum) noch an eine festgelegte Arbeitszeit(Zeit) gebunden.“ Die drei Schlüsselkompe-tenzen – digitale Phantasie, Loslösung von Zeitund Raum sowie das Networking – bestim-men, wie bereits oben erwähnt, den wichtigenFaktor X in der Erfolgsformel zur Kennzeich-nung der elektronischen Intelligenz. Die digi-tale Technik intelligent zu benutzen, ihre spe-ziellen Merkmale zu akzeptieren und sie mitder eigenen Arbeitsweise und den eigenenFähigkeiten abzustimmen, macht somit denKern von eQ aus. Es kommt dabei entschei-dend auf schnelle, sichere und störungsfreieMobilität an. Dies geschieht, wenn Menschund Technik zu einem neuen Organismus ver-schmelzen.

Durch das Internet kann eine neue „klassen-lose Gesellschaft“ entstehen. Es entwickeltsich eine Art „virtuelles Weltbürgertum“. DieErde wird zum globalen Dorf. Wichtige Kom-petenzen, die im Zusammenhang mit der In-formations- und Kommunikationstechnologieimmer wieder erwähnt werden, sind: Kreati-vität, Phantasie, Flexibilität, eine rasche Auf-fassungsgabe, die Fähigkeit zum Kombinie-ren und Transferieren.

Damit die Leserinnen und Leser die praktischenKonsequenzen aus den jeweiligen Teilab-schnitten der „eQ-Analyse“ ziehen können, hatder Autor seine Ergebnisse jeweils in klare und dezidierte Handlungsanweisungen undKernsätze zusammengefasst. Damit es im im-mer dichter werdenden „Datendschungel“ nichtzu mentalen „Verdauungsstörungen“ und zudem neuen Krankheitsbild der „Fragmentia“(Zersplitterung des Wissens durch unvollstän-dige Informationshäppchen) kommt, brauchtman die „Emotionale Intelligenz“ (EQ). Sieschafft die erforderliche Stabilisierung der Per-sönlichkeit. „Ganzheitliches Denken“ verhindertdarüber hinaus das so genannte „Karoshi“.Symptome dieses Krankheitsbildes sind stän-dige Übermüdung, hohe Reizbarkeit, sprung-haftes Denken, Unfähigkeit zum zusammen-hängenden Sprechen und hoher Bluthochdruckbis hin zum tödlichen Zusammenbruch.

Buchbesprechungen 141

Eine wichtige Konsequenz der elektronischenIntelligenz (eQ) ist der „e-Chef“ als Führungs-persönlichkeit. Dieser legt sich auf keinen typischen Führungsstil mehr fest, sondernnutzt für die leitende Position gezielt diejeni-gen Aspekte und Mittel, die innerbetrieb-lich weiterführen. Phantasie, Vernetzung derFührungsmodelle und Loslösung von beste-henden Mustern sind auch im Managementdas Rezept für erfolgreiche und zielstrebigeMitarbeiterführung mit eQ. Es handelt sichhierbei um das ebenfalls ganzheitliche „orga-nische Management“, was D. Wendt folgen-dermaßen zusammenfasst: „Wer auf ’Führungmit Herz’ setzt, wird ein erstaunliches Ent-wicklungspotenzial bei seinen Mitarbeiternentdecken und vielleicht ganz neue, unge-ahnte Ziele erreichen.“

Die elektronische Intelligenz (eQ) hat auch er-hebliche Konsequenzen für das Lernen – in-nerhalb und außerhalb der Schule. Die Uni-versitäten und Schulen müssen raus aus demElfenbeinturm der „reinen Lehre“ und werdendurch private Akademien und Institute mehrund mehr Konkurrenz bekommen. Neben „ler-

nendem Spielen und spielendem Lernen“ wirdes immer vielfältigere Wege geben, sich Wis-sen anzueignen, da Informationen allen Men-schen mit ausreichendem eQ mühelos undüberall zugänglich sein werden. Letztlich istnur das Resultat, nämlich Fachwissen und eQ,entscheidend und nicht der Weg, wie mandorthin gelangt ist. „Respektlose Querdenker“sind für innovative Prozesse besonders wich-tig. Die heranwachsende digitale Generation(so genannte „Net-Kids“) bringt bereits die ge-wünschte Unbefangenheit gegenüber der di-gitalen Technik mit.

Da das Werk sehr flüssig, gut verständlich undan vielen Stellen erfrischend unbefangen for-muliert ist, sind die Voraussetzungen gut, einBestseller zu werden. Darüber hinaus ist esdem Autor hervorragend gelungen, kompli-zierte Zusammenhänge präzise, übersichtlichund überzeugend darzustellen. Das Buch for-dert seine Leserinnen und Leser zum „Mitma-chen“ auf. D. Wendt ruft uns zu: „Packen wir'san!“

Gottfried Kleinschmidt

Politische Studien, Heft 373, 51. Jahrgang, September/Oktober 2000

Ankündigungen

Folgende Neuerscheinungen aus unseren Publikationsreihen können von Interessenten bei der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Lazarettstraße 33, 80636 München bestellt werden:

� Sonderausgabe der POLITISCHEN STUDIENAuftrag Prävention.Offensive gegen sexuellen Kindesmissbrauch(Schutzgebühr 10,00 DM)

� Berichte & Studien– Organisierte Kriminalität. Bestandsaufnahme, Transnationale

Dimension, Wege der Bekämpfung (Schutzgebühr 10,00 DM)– Die Arbeitnehmer-Union in der CSU. Geschichte und Strukturen

der CSA von 1953 bis 1990 (Schutzgebühr 10,00 DM)– Darstellungspolitik oder Entscheidungspolitik? Über den Wandel von

Politikstilen in westlichen Demokratien (Schutzgebühr 10,00 DM)– Osttimor und die Krise des indonesischen Vielvölkerstaates

in der Weltpolitik (Schutzgebühr 10,00 DM)

� aktuelle analysen– Krieg in Tschetschenien– Populisten auf dem Vormarsch?

Analyse der Wahlsieger in Österreich und der Schweiz

� Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen– Qualitätssteigerung im Bildungswesen. Innere Schulreform –

Auftrag für Schulleitungen und Kollegien– Die Beziehungen der Volksrepublik China zu Westeuropa.

Bilanz und Ausblick am Beginn des 21. Jahrhunderts– Von der ewigen Suche nach dem Frieden.

Neue und alte Bedingungen für die Friedenssicherung– Die islamischen Staaten und ihr Verhältnis zur westlichen Welt.

Ausgewählte Aspekte.– Die PDS: Zustand und Entwicklungsperspektiven– Deutschland und Frankreich: Gemeinsame Zukunftsperspektiven– Bessere Justiz durch dreigliedrigen Justizaufbau?

Über den Buchhandel zu beziehen:

� Bernd, Rill (Hrsg.): Fünfzig Jahre freiheitlich-demokratischerRechtsstaat – Vom Rechtsstaat zum Rechtswegestaat, Baden-Baden 1999. (ISBN 3-7890-6238-3)

� Reinhard C. Meier-Walser/Gerhard Hirscher (Hrsg.): Krise und Reformdes Föderalismus. Analysen zu Theorie und Praxis bundesstaatlicherOrdnungen, München 1999. (ISBN 3-7892-8019-4)

Autorenverzeichnis

Daniel Dietzfelbinger, Dr.,Mitarbeiter der MAN AG, BereicheBerufsbildung, Technikbewertung,Vorschlagswesen, Sicherheitsma-nagement sowie Fragen der Unter-nehmens- und Wirtschaftsethik,München

Andreas Feser,wissenschaftlicher Mitarbeiter derCSU-Landesgruppe im DeutschenBundestag, Berlin

Roland Fleck, Dr.,Berufsmäßiger Stadtrat und Wirt-schaftsreferent der Stadt Nürnberg,Vorsitzender der Wirtschaftsrefe-renten Konferenz Nürnberg – Fürth– Erlangen – Schwabach

Jutta Engbers, Dr.,Rechtsanwältin, Friesoythe

Ludger Helms, Dr.,wissenschaftlicher Assistent am Institut für Politikwissenschaft,Humboldt-Universität zu Berlin

Hans-Joachim Heusler, MR,Bayerische Staatskanzlei, München

Siegfried Höfling, Prof., Dr.,Referent für Technologie und Zu-kunftsfragen der Akademie für Poli-zik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung e.V., München

Dieter Kiehl,freier Journalist und Publizist,Lehrbeauftragter an der Univer-sität München

Hans-Joachim Lindstadt, Dr.,Leiter der Abteilung Volkswirt-schaft und Verkehr der IHK Nürn-berg und Mittelfranken

Christian Löfflmann,Sparkassen Verband Bayern, Mün-chen

Reinhard C.Meier-Walser, Dr.,Leiter der Akademie für Politikund Zeitgeschehen sowie Chefre-dakteur der POLITISCHEN STUDI-EN der Hanns-Seidel-Stiftung e.V.,München

Patrick Moreau, Dr.,Forschungsdirektor am CNRS (Cen-tre National de la Recherche Scien-tifique) Paris/Berlin

Markus Söder, Dr., MdL,Vorsitzender der CSU-Medienkom-mission, Sprecher für Innova-tion, Forschung und Technologieder CSU-Landtagsfraktion, Mün-chen

Steffen Städtler, Geschäftsführer der Dr. StädtlerGmbH, München