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express . D-63020 Offenbach . PF 10 20 63 . (069) 88 50 06 . Fax (069) 82 1116 . Nr. 10/2005 . 43. Jahrgang . ISSN 0343-5121 . Preis: Euro 3,50 G e w e r k s c h a f t e n I n l a n d Rainer Roth/Harald Thomé: »Der Anstand der Aufständigen«, zum Clement-Pamphlet S. 1 Siegfried Dierke: »Eine Frage des Profits?«, zum Umbau des Gesundheitssystems S. 2 AK: »Richtig gewählt!«, Bundestagswahlkommentar S. 4 »Wanderarbeiter werden organi- siert«, Aktion vor Hamburger Männerwohnheim S. 4 Kjell Hansen: »An den Taten sollt Ihr sie erkennen«, IG BAU: Tarifvertraglicher Offenbarungseid und schnelle Eingreiftruppen S. 5 NaRa: »Hört die Signale, Schwes- tern!«, zur Strategie des Marburger Bundes und der Fortsetzung der Krankenhaushierarchie mit anderen Mitteln S. 6 »Metall-Tarifrunde 2006«, »Nicht kleckern, sondern k(l)otzen!« S. 8 Anne Allex: »1-Euro-JobberInnen aufgepasst!«, Handlungshilfe für Betroffene, Betriebs- und Personalräte S. 9 B e t r i e b s s p i e g e l Anton Kobel: »Geht doch: in der Krise streiken!«, Klinik-Beschäftigte erfolgreich im Tarifkampf BaWü S. 6 »Stärker geworden«, Gespräch mit ver.di-Aktiven zu den Uniklinik-Streiks in BaWü S. 7 »Billig ist krank«, ver.di fordert Tarifvertrag statt Dumpinglohn S. 7 Inken Wanzek: »Netzwerker«, neue Formen von Arbeitskampf und Organisierung bei Siemens, Teil II S. 8 »Schluss mit Genuss«, Streik bei Gate Gourmet in Düsseldorf: Solidarität ist angesagt – und möglich S. 11 E u r o p a / I n t e r n a t i o n a l e s Kemal Bozay: »Gemeinsam voneinander lernen – den Dialog stärken!«, zur politischen und gewerkschaftlichen Debatte in der Türkei über den EU-Beitritt S. 12 Florian Vollmer: »Wirkungsvolle Sozialmaschine«, zur US-amerikanischen Faschismus- rezeption im New Deal S. 14 KH: »Jobmotor Militärausgaben«, zum US-Arbeitsmarkt S. 14 alle bilder dieser ausgabe: tardi/vautrin, »le cri du peuple – le testament des ruines«, band 4, castermann 2004, ISBN 2-203-39931-7 D er Anstand der Aufständigen Rainer Roth und Harald Thomé zum Clement-Pamphlet Neben kaum kaschierten naturalisieren- den Vergleichen aus dem Schatzkästlein der NS-Propaganda, an denen sich auch die öffentliche Kritik entzündete, geht es in Superminister Clements Vermächtnis primär um den Nachweis, dass die Män- gel und nicht eingeplanten Mehrkosten der sog. Sozialreformen vor allem auf den individuellen und organisierten »Lei- stungsmissbrauch« skrupelloser Sozial- betrüger zurück zu führen seien. Unab- hängigen Beratungsstellen, Gewerk- schaften und Linken wird vorgeworfen, durch ihre Beratungspraxis »Abzocke« zu fördern und damit den »sozialen Rechtsstaat« zu unterhöhlen. Wie weit das Bundeswirtschaftsministerium selbst sich von der Rechtsstaatlichkeit entfernt hat, zeigen die Mit-Verfasser des mittler- weile in 23. Auflage erschienenen »Leit- fadens zum ALG II«, hrsg. von dem Bera- tungsprojekt »AG TuWas« an der Fach- hochschule Frankfurt am Main. Mit ihrer im Folgenden dokumentierten Stellun- gnahme reagieren sie auf die persönli- chen Angriffe aus dem Wirtschaftsmini- sterium, die sich in ähnlicher Form auch in der ‚Bild am Montag’, dem »Deutschen Nachrichten-Magazin« Spiegel vom 24. Oktober finden. Nicht nur Clement, auch der Spiegel hat Probleme mit Beratern, die Menschen zu »Informationen, die für den höchstmöglichen Bezug staatlicher Leistungen vonnöten sind«, verhelfen. Droht künftig wieder Gnade vor Recht? Das Bundesministerium für Wirtschaft und Ar- beit bezichtigt uns als Autoren des Leitfadens ALG II/Sozialhilfe von A-Z, wir würden »Bei- hilfe zum Betrug statt Beratung« betreiben und Sozialbetrug »als eine Art ‘Notwehr’ gegen so- ziale Einschnitte rechtfertigen«. Welche Bewei- se gibt es für diese schwerwiegende Anklage? Beihilfe bei Interessenvertretung als Beihilfe zum Betrug? Als Beleg für »Empfehlungen, die sich leicht als Ideen zum Sozialbetrug verstehen lassen«, dient dem Ministerium ein auf der Umschla- grückseite abgedrucktes Gedicht von Erich Fried. Dieser wünscht den Armen für eine bes- sere Zukunft, sie sollten im Kampf gegen die Reichen so unbeirrt, findig und beständig sein, wie die Reichen im Kampf gegen die Armen. Arbeitslose und Arme müssen vielfach allein schon deshalb findig und unbeirrt sein, um nachweisen zu können, dass sie Anträge und Unterlagen überhaupt abgegeben haben bzw. um das ihnen zustehende Geld zu bekommen. (Vgl. die Ergebnisse der Umfrage der Stiftung Warentest in Finanztest 11/2005) Das Mini- sterium rückt die Interessenvertretung für Ar- beitslose als solche schon in die Nähe des Be- trugs. Vertreten aber nicht auch Behörden und Mini- sterien Interessen, z.B. ihre eigenen und/oder die der Wirtschaft? Ist nicht auch auf dieser Ba- sis Betrug möglich? Die Interessenvertretung von Arbeitslosen abzulehnen, leistet den Unre- gelmäßigkeiten der Behörden Vorschub. Dass es einen Kampf der Reichen gegen Arme gibt, ist keine »billige Klassenkampfparole«. Es wird allein dadurch belegt, dass das Ministerium un- ter dem Beifall der Arbeitgeber Arbeitslose in seinem Missbrauchsreport pauschal diskrimi- niert, während es gleichzeitig für weitere Steu- ersenkungen für »die Reichen« eintritt, denen Steuerbetrug gewiss nicht fremd ist. Was ist der Report anderes als eine Art Klas- senkampf mit billigen Parolen? Information über ein Urteil des Bundesver- fassungsgerichts als Beihilfe zum Betrug? Als Beihilfe zum Betrug wird gewertet, dass wir »den Geist der neuen Grundsicherung auf den Kopf stellen«. Wir weisen nämlich darauf hin, dass eine eheähnliche Gemeinschaft nur dann besteht, wenn jemand sein Einkommen vorran- gig für seinen Partner einsetzen will, bevor er seine eigenen Verpflichtungen erfüllt. Das ent- spricht dem Urteil des Bundesverfassungsge- richts vom 17. November 1992, in dem es heißt: »Ohne rechtlichen Hinderungsgrund kann der mit dem Arbeitslosen nicht verheira- tete Partner auch jederzeit sein bisheriges Ver- halten ändern und sein Einkommen ausschließ- lich zur Befriedigung eigener Bedürfnisse oder zur Erfüllung eigener Verpflichtungen einset- zen. Wenn sich ein Partner entsprechend ver- hält, besteht eine eheähnliche Gemeinschaft nicht oder jedenfalls nicht mehr.« (Leitfaden, S. 62) Dieses Urteil wurde am 2. September 2004 nochmals bestätigt. Wie alle Entschei- dungen des BVerfG hat es laut Grundgesetz Gesetzescharakter. Minister Clement müsste also in diesem Fall statt uns eigentlich dem Bundesverfassungsge- richt selbst »Beihilfe zum Betrug« und »Verbrü- derung mit Abzockern« vorwerfen. Denn wir werden ja des Betrugs verdächtigt, weil wir über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts infor- mieren. Da die Behörden ihrer Beratungs- und Auskunftspflicht nach den § 14 und 15 SGB I nicht nachkommen, müssen »Helfershelfer« wie wir das übernehmen. Das gefällt Behörden nicht, die eine Kuhle in einem Doppelbett, Männerunterhosen auf einer Wäscheleine oder die Anwesenheit eines Mannes in der Woh- nung einer Frau als Vorwand nehmen, um Leis- tungen zu streichen und sich einen finanziellen Vorteil zu verschaffen. Laut BGB gibt es keine Unterhaltspflichten zwischen nicht-verheirateten Paaren. Eine eheähnliche Gemeinschaft liegt deshalb nur bei freiwilligen realen Zahlungen vor. Das Bundes- ministerium dagegen will am liebsten aus je- dem Zusammenleben eines Mannes mit einer Frau eine Unterhalts- und Einstandsgemein- schaft machen. Dadurch werden Anspruchsbe- rechtigte um ihnen zustehende Leistungen be- trogen. Der »Geist der neuen Grundsicherung« verstößt nicht nur in diesem Fall gegen gelten- des Recht, sondern auch, indem Stiefeltern und eheähnliche Partner durch das SGB II für Deutsche Post AG Postvertriebstück D 6134 E Gebühr bezahlt AFP Postfach 10 20 63 63020 Offenbach express Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit

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  • ✉ express . D-63020 Offenbach . PF 10 20 63 . ☎ (069) 88 50 06 . Fax (069) 82 1116 . Nr. 10/2005 . 43. Jahrgang . ISSN 0343-5121 . Preis: Euro 3,50

    Gewerkschaften Inland

    Rainer Roth/Harald Thomé:»Der Anstand der Aufständigen«,zum Clement-Pamphlet S. 1

    Siegfried Dierke: »Eine Frage des Profits?«, zum Umbau des Gesundheitssystems S. 2

    AK: »Richtig gewählt!«, Bundestagswahlkommentar S. 4

    »Wanderarbeiter werden organi-siert«, Aktion vor Hamburger Männerwohnheim S. 4

    Kjell Hansen: »An den Taten sollt Ihr sie erkennen«, IG BAU: Tarifvertraglicher Offenbarungseidund schnelle Eingreiftruppen S. 5

    NaRa: »Hört die Signale, Schwes-tern!«, zur Strategie des MarburgerBundes und der Fortsetzung derKrankenhaushierarchie mit anderen Mitteln S. 6

    »Metall-Tarifrunde 2006«, »Nichtkleckern, sondern k(l)otzen!« S. 8

    Anne Allex: »1-Euro-JobberInnen aufgepasst!«, Handlungshilfe für Betroffene, Betriebs- und Personalräte S. 9

    Betriebsspiegel

    Anton Kobel: »Geht doch: in der Krise streiken!«, Klinik-Beschäftigte erfolgreich im Tarifkampf BaWü S. 6

    »Stärker geworden«, Gespräch mit ver.di-Aktiven zu den Uniklinik-Streiks in BaWü S. 7

    »Billig ist krank«, ver.di fordert Tarifvertrag statt Dumpinglohn S. 7

    Inken Wanzek: »Netzwerker«, neue Formen von Arbeitskampf und Organisierung bei Siemens,Teil II S. 8

    »Schluss mit Genuss«, Streik bei Gate Gourmet in Düsseldorf:Solidarität ist angesagt – und möglich S. 11

    Europa/Internationales

    Kemal Bozay: »Gemeinsam voneinander lernen – den Dialog stärken!«, zur politischen und gewerkschaftlichen Debatte in der Türkei über den EU-Beitritt S. 12

    Florian Vollmer: »Wirkungsvolle Sozialmaschine«, zur US-amerikanischen Faschismus-rezeption im New Deal S. 14

    KH: »Jobmotor Militärausgaben«,zum US-Arbeitsmarkt S. 14

    alle bilder dieser ausgabe:

    tardi/vautrin, »le cri du peuple – le testament des ruines«, band 4, castermann 2004, ISBN 2-203-39931-7

    Der Anstand der AufständigenRainer Roth und Harald Thomé zum Clement-Pamphlet

    Neben kaum kaschierten naturalisieren-den Vergleichen aus dem Schatzkästleinder NS-Propaganda, an denen sich auchdie öffentliche Kritik entzündete, geht esin Superminister Clements Vermächtnisprimär um den Nachweis, dass die Män-gel und nicht eingeplanten Mehrkostender sog. Sozialreformen vor allem aufden individuellen und organisierten »Lei-stungsmissbrauch« skrupelloser Sozial-betrüger zurück zu führen seien. Unab-hängigen Beratungsstellen, Gewerk-schaften und Linken wird vorgeworfen,durch ihre Beratungspraxis »Abzocke«zu fördern und damit den »sozialenRechtsstaat« zu unterhöhlen. Wie weitdas Bundeswirtschaftsministerium selbstsich von der Rechtsstaatlichkeit entfernthat, zeigen die Mit-Verfasser des mittler-weile in 23. Auflage erschienenen »Leit-fadens zum ALG II«, hrsg. von dem Bera-tungsprojekt »AG TuWas« an der Fach-hochschule Frankfurt am Main. Mit ihrerim Folgenden dokumentierten Stellun-gnahme reagieren sie auf die persönli-chen Angriffe aus dem Wirtschaftsmini-sterium, die sich in ähnlicher Form auch inder ‚Bild am Montag’, dem »DeutschenNachrichten-Magazin« Spiegel vom 24.Oktober finden. Nicht nur Clement, auchder Spiegel hat Probleme mit Beratern,die Menschen zu »Informationen, die fürden höchstmöglichen Bezug staatlicherLeistungen vonnöten sind«, verhelfen.Droht künftig wieder Gnade vor Recht?

    Das Bundesministerium für Wirtschaft und Ar-beit bezichtigt uns als Autoren des LeitfadensALG II/Sozialhilfe von A-Z, wir würden »Bei-hilfe zum Betrug statt Beratung« betreiben undSozialbetrug »als eine Art ‘Notwehr’ gegen so-ziale Einschnitte rechtfertigen«. Welche Bewei-se gibt es für diese schwerwiegende Anklage?

    Beihilfe bei Interessenvertretung als Beihilfe zum Betrug?Als Beleg für »Empfehlungen, die sich leichtals Ideen zum Sozialbetrug verstehen lassen«,dient dem Ministerium ein auf der Umschla-grückseite abgedrucktes Gedicht von ErichFried. Dieser wünscht den Armen für eine bes-sere Zukunft, sie sollten im Kampf gegen dieReichen so unbeirrt, findig und beständig sein,wie die Reichen im Kampf gegen die Armen.Arbeitslose und Arme müssen vielfach alleinschon deshalb findig und unbeirrt sein, umnachweisen zu können, dass sie Anträge undUnterlagen überhaupt abgegeben haben bzw.um das ihnen zustehende Geld zu bekommen.(Vgl. die Ergebnisse der Umfrage der StiftungWarentest in Finanztest 11/2005) Das Mini-sterium rückt die Interessenvertretung für Ar-beitslose als solche schon in die Nähe des Be-trugs.

    Vertreten aber nicht auch Behörden und Mini-sterien Interessen, z.B. ihre eigenen und/oderdie der Wirtschaft? Ist nicht auch auf dieser Ba-sis Betrug möglich? Die Interessenvertretungvon Arbeitslosen abzulehnen, leistet den Unre-gelmäßigkeiten der Behörden Vorschub. Dasses einen Kampf der Reichen gegen Arme gibt,ist keine »billige Klassenkampfparole«. Es wirdallein dadurch belegt, dass das Ministerium un-ter dem Beifall der Arbeitgeber Arbeitslose inseinem Missbrauchsreport pauschal diskrimi-niert, während es gleichzeitig für weitere Steu-ersenkungen für »die Reichen« eintritt, denenSteuerbetrug gewiss nicht fremd ist.

    Was ist der Report anderes als eine Art Klas-senkampf mit billigen Parolen?

    Information über ein Urteil des Bundesver-fassungsgerichts als Beihilfe zum Betrug?Als Beihilfe zum Betrug wird gewertet, dass wir»den Geist der neuen Grundsicherung auf denKopf stellen«. Wir weisen nämlich darauf hin,dass eine eheähnliche Gemeinschaft nur dannbesteht, wenn jemand sein Einkommen vorran-gig für seinen Partner einsetzen will, bevor er

    seine eigenen Verpflichtungen erfüllt. Das ent-spricht dem Urteil des Bundesverfassungsge-richts vom 17. November 1992, in dem esheißt: »Ohne rechtlichen Hinderungsgrundkann der mit dem Arbeitslosen nicht verheira-tete Partner auch jederzeit sein bisheriges Ver-halten ändern und sein Einkommen ausschließ-lich zur Befriedigung eigener Bedürfnisse oderzur Erfüllung eigener Verpflichtungen einset-zen. Wenn sich ein Partner entsprechend ver-hält, besteht eine eheähnliche Gemeinschaftnicht oder jedenfalls nicht mehr.« (Leitfaden, S. 62) Dieses Urteil wurde am 2. September2004 nochmals bestätigt. Wie alle Entschei-dungen des BVerfG hat es laut GrundgesetzGesetzescharakter.

    Minister Clement müsste also in diesem Fallstatt uns eigentlich dem Bundesverfassungsge-richt selbst »Beihilfe zum Betrug« und »Verbrü-derung mit Abzockern« vorwerfen. Denn wirwerden ja des Betrugs verdächtigt, weil wir überdas Urteil des Bundesverfassungsgerichts infor-mieren. Da die Behörden ihrer Beratungs- undAuskunftspflicht nach den § 14 und 15 SGB Inicht nachkommen, müssen »Helfershelfer« wiewir das übernehmen. Das gefällt Behördennicht, die eine Kuhle in einem Doppelbett,Männerunterhosen auf einer Wäscheleine oderdie Anwesenheit eines Mannes in der Woh-nung einer Frau als Vorwand nehmen, um Leis-tungen zu streichen und sich einen finanziellenVorteil zu verschaffen.

    Laut BGB gibt es keine Unterhaltspflichtenzwischen nicht-verheirateten Paaren. Eineeheähnliche Gemeinschaft liegt deshalb nur beifreiwilligen realen Zahlungen vor. Das Bundes-ministerium dagegen will am liebsten aus je-dem Zusammenleben eines Mannes mit einerFrau eine Unterhalts- und Einstandsgemein-schaft machen. Dadurch werden Anspruchsbe-rechtigte um ihnen zustehende Leistungen be-trogen.

    Der »Geist der neuen Grundsicherung«verstößt nicht nur in diesem Fall gegen gelten-des Recht, sondern auch, indem Stiefelternund eheähnliche Partner durch das SGB II für

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    expressZeitung für sozialistischeBetriebs- und Gewerkschaftsarbeit

  • A2 express 10/2005

    Privatversicherung verabschieden können,tun dies nun in wachsender Zahl; und dieje-nigen, die in einer gesetzlichen Krankenver-sicherung bleiben (müssen), werden immerunzufriedener mit dem Leistungsangebot, daihnen zusätzlich immense, privat zu tragendeKosten aufgebürdet werden.

    Der Einstieg in ein Modell privater Zu-satzversicherungen scheint da nur folgerich-tig. Das FDP-Programm sieht neben einerobligatorischen Basisversicherung gleich nurnoch privaten, kapitalgedeckten Krankenver-sicherungsschutz vor, mit persönlicher Wahl-freiheit je nach Vorlieben (und Portemon-naie). Auch die CDU plant mit ihrem zyni-scherweise »solidarische Gesundheitsprämie«genannten Modell eine Beerdigung des Soli-darprinzips: Alle Erwachsenen sollen näm-lich einkommensunabhängig die gleicheKopfpauschale für ihren Krankenversiche-rungsschutz einbezahlen.

    Der »freie Markt« soll’s richtenWenn nun so der Boden bereitet ist dafür,dass ein radikaler Umbau zwar Unmut abernicht gleich große Protestwellen in der Be-völkerung hervorruft, finden auch weitereVokabeln schneller offene Ohren:

    »Wahlfreiheit«, sowohl für die Versicher-ten bei der Auswahl ihrer Kasse, aber auchfür die miteinander konkurrierenden Kran-kenkassen hinsichtlich des angebotenen Leis-tungsspektrums sowie »Vertragsfreiheit«, d.h.die Kassen können entscheiden, bei welchenKliniken und ÄrztInnen ihre Versichertenbehandelt werden können

    Abschaffung »obrigkeitsstaatlicher Kon-trolle«; bessere Gesundheitsleistungen durch»Konkurrenz« und kundenorientierte privat-wirtschaftliche Anbieter sowohl im stationä-ren wie im ambulanten Bereich

    »Selbstbestimmung« oder Risikoverant-wortung für alle BürgerInnenDabei wird unterschlagen, dass Marktwirt-schaftlichkeit den Kostendruck noch er-höhen und die Ressourcenkrise verschärfenkann. Denn so entstehen falsche Anreize zugewinn-maximierenden Maßnahmen, diemedizinisch vielleicht gar nicht angebrachtsind und nicht zum Wohlergehen beitragen,aber kostenträchtig sind. Erwähnt sei hierbspw. ein unsinnig hoher Einsatz von tech-nologischen Geräten wie Computertomogra-fie, aber auch der Ausbau von Lifestyle-Me-dizin. Die Konkurrenz unter den Kassenführt zudem dazu, dass sich ihr Angebot aus-richtet an denjenigen Versicherten, die ehermehr einzahlen, als sie an Gesundheitskosten

    der Beitragsbemessungs- und Pflichtversiche-rungsgrenze nur in »gedeckelter« Form prak-tiziert. Behandlungsablauf und -ausrichtungsind und waren gekennzeichnet durch einpaternalistisches Ärztegebaren. MedizinischeStandards, Behandlungsmethoden und For-schung sind fast durchgängig ausgerichtet anMännern mittleren Alters. Der Medizin-und Forschungsapparat diente somit stetsmehr der Festigung gesellschaftlicher Macht-und Herrschaftsverhältnisse als sozialen An-sprüchen.

    Und die niedergelassenen ÄrztInnen sindnicht erst in den letzten Jahren zu Unterneh-merInnen und Geschäftsleuten geworden:Schon immer waren sie neben dem Wohleihrer PatientInnen auch dem Anwachsen ih-res Geldbeutels bzw. ihres Kontostands ver-pflichtet. Erst recht haben Pharmaindustrieund Medizingerätehersteller – heute wieauch früher – einzig und allein die Mehrungihres Profits als Ziel. Eine ökonomische Aus-richtung des Gesundheitssystems ist somitnichts Neues, verpflichtet das Sozialgesetz-buch doch auch Krankenkassen, Leistungs-erbringer und Versicherte zu einem wirt-schaftlichen Verhalten.

    Veränderungen

    Von einer neu einsetzenden Ökonomisie-rung des Gesundheitssystems kann alsonicht gesprochen werden. Neu ist jedoch, inwelchem Maße nun alle Bereiche der ge-sundheitlichen Versorgung ökonomischenPrinzipien unterworfen und von Effizienz-kriterien durchdrungen, Solidarprinzipienentsorgt sowie Krankheitsrisiken privatisiertwerden sollen. Gesundheitsversorgungs-strukturen entziehen sich dabei immer stär-ker einer öffentlichen Steuerung und Kon-trolle. Hierbei wird ein Denken durchge-setzt, dass Gesundheit nicht (mehr) als öf-fentliches Gut betrachtet und Gesundheits-versorgung nicht mehr als gesellschaftlicheAufgabe definiert. Das Bereitstellen gesund-heitlicher Versorgungseinrichtungen wie z.B.Kliniken soll nunmehr rein nach Rentabi-litätskriterien erfolgen. Aber auch falsch ver-standene Vorstellungen von Patientenauto-

    nomie bzw. Selbstbestimmung beförderndiesen Wandel genauso wie gesundheitspoli-tische Vorgaben, in denen individuelles ge-sundheitsbewusstes Verhalten bzw. Verschul-den von Krankheitsverursachung gegenübersozialen Faktoren zunehmend überbetontwird. Im Folgenden werden einzelne Ebenendargestellt, auf denen dieser neoliberale Um-bau vollzogen wird.

    Krankenversicherung und SolidaritätDie Leistungsfähigkeit der (zumindest in ei-nigen Grundzügen) solidarisch finanziertengesetzlichen Krankenversicherung GKV wirdweiter ausgehöhlt: Dazu tragen u.a. unsinni-ge finanzielle Belastungen (wie durch dasScheitern einer Positivliste für Arzneimittel)bei, doch nicht zuletzt auch gesetzliche Re-gelungen wie Beitragsbemessungs- und Ver-sicherungspflichtgrenze, die Besserverdienen-de aus der Solidarität entlassen und anderePersonengruppen erst gar nicht einbeziehen.

    Zudem wird das System einer solidari-schen Krankenversicherung in der politischenDebatte totgeredet: Immer wieder (und im-mer wieder falsch) wird die Mär einer Ko-stenexplosion ausgebreitet, die aufgrund ei-ner Überalterung der Gesellschaft, kosten-trächtiger medizinisch-technischer Weiterent-wicklungen und zu hoher Inanspruchnahmemedizinischer Leistungen eine gesetzlicheKrankenversicherung in der uns bekanntenForm nicht finanzierbar machen würde. Einüber 25 Jahre nahezu gleich bleibender Anteilder GKV-Ausgaben am Bruttoinlandspro-dukt belegt aber das Gegenteil. Auch im in-ternationalen Vergleich ist zu sehen, dassbspw. Schweden mit einer eher ungünstigenAlterstruktur in der Bevölkerung relativ ge-ringe Gesundheitsausgaben hat.

    Die Akzeptanz der GKV in der Bevölke-rung wird außerdem geschwächt durch diewachsende Zahl an Leistungsausgrenzungen,Zuzahlungen und »Eigenleistungen«. Der sogenannte Arbeitgeberanteil liegt längst weitunter 50 Prozent, die Kapitalseite wird mehrund mehr entlastet, zuletzt z.B. um über vierMrd. Euro durch den so genannten »Zusatz-beitrag« in Höhe von 0,9 Prozent, der seit 1.Juli 2005 alleinig von den Versicherten auf-zubringen ist. Diejenigen, die sich in eine

    Weitgehend unbeachtet von der Öf-fentlichkeit vollzieht sich im Bereichder Gesundheitsversorgung ein drasti-scher und rapider Umbau. Im folgen-den Beitrag zeigt Siegfried Dierke, aufwelchen Ebenen und mit welchen Me-chanismen dieser Umbau erfolgt undwelche bedrohlichen Folgen dies u.a.für Versicherte, PatientInnen und Be-schäftigte hat. Neben der Aushöhlungund Umgestaltung der gesetzlichenKrankenversicherung spielen Privati-sierungen im Krankenhausbereich, dieSterbehilfediskussion, Schuldzuwei-sungen an die Individuen sowie derAppell an die »Eigenverantwortlich-keit« dabei eine große Rolle. Ange-sichts der bislang eher fragmentiertenProteste plädiert Dierke für einen er-weiterten, gesellschaftlich gefasstenGesundheitsbegriff und für eine neueethische Fundierung als Vorausset-zung für gemeinsamen Widerstandvon Beschäftigten des Gesundheits-wesens und PatientInnen.

    Im Rückblick auf die letzten Jahrzehnte wirdoftmals ein verklärtes Bild der gesundheitli-chen Versorgungslandschaft in (West-)Deutschland gezeichnet: fast umfassendeGesundheitsversorgung für gesetzlich Versi-cherte, solidarische Finanzierung der Kran-kenversicherung, paritätische Beteiligung derArbeitgeber und Erfüllung eines gesamtge-sellschaftlichen Auftrags durch Krankenhäu-ser in öffentlicher Trägerschaft. Dieses Bildeines in den Grundzügen nach sozialen Ge-sichtspunkten ausgerichteten Gesundheits-systems ist allerdings nur ansatzweise richtig.

    Denn schließlich gab es in der bundesre-publikanischen Gesundheitsversorgungschon immer eine Zwei- (bzw. Drei-)Klas-sen-Medizin, mit Privatversicherten einer-seits, KassenpatientInnen andererseits sowiez.B. Flüchtlingen mit einer noch weiter ein-geschränkten Krankenbehandlung. GleicheZugangschancen sind also nur sehr bedingtgegeben; ebenso wird die Solidarität infolge

    Eine Frage des Profits?Siegfried Dierke* zum Umbau des Gesundheitssystems

    die Kinder des Partners voll unterhaltspflich-tig gemacht werden. (§ 7 Abs. 3 Nr. 4 SGBII) Das BMWA hat die Anwendung diesesrechtswidrigen Paragraphen ab 20. Septem-ber 2005 zurückgenommen, nachdem Ge-richte seine Rechtswidrigkeit festgestellt undBetroffene, auch gestützt auf unseren Leitfa-den, dagegen protestiert hatten. Bis jetztwurde die durch diesen Rechtsbruch in Mil-lionenhöhe eingesparten Gelder nichtzurückgezahlt.

    Zur Erinnerung: Betrug liegt laut Strafge-setzbuch dann vor, wenn jemand »in der Ab-sicht, sich oder einem Dritten einen rechts-widrigen Vermögensvorteil zu verschaffen,das Vermögen eines anderen dadurch beschä-digt, dass er durch Vorspiegelung falscheroder durch Entstellung und Unterdrückungwahrer Tatsachen einen Irrtum erregt oderunterhält«. (§ 263 StGB) Wir jedenfalls ha-ben keine falschen Tatsachen vorgespiegelt.Bei uns jedenfalls können wir keine Beihilfezum Betrug feststellen.

    Erklärung der Bedingungen und Folgenvon Schwarzarbeit als Aufforderung zurSchwarzarbeit?Das BMWA wirft uns vor, wir würdenSchwarzarbeit mit den Hinweis »entschuldi-gen«, dass ALG II/Sozialhilfe »nicht bis zumMonatsende reicht«. Das gilt als Beleg fürBeihilfe zum Betrug.

    Wir haben im Leitfaden erklärt, dass die-ser Umstand sowie die kleinlichen Anrech-nungsvorschriften bei ErwerbstätigkeitSchwarzarbeit »begünstigen«. (S. 203)Schwarzarbeit kann also dadurch vermindertwerden, dass Leistungen erhöht und die An-rechnungsvorschriften verbessert werden.Dafür treten wir ein.

    Eine Sache (teilweise) zu erklären, heißtnicht, sie zu entschuldigen und zu billigen.Wer Gesetzesverletzungen wie Diebstahl,Mord usw. erklärt, ruft nicht schon deshalbdazu auf. Dinge verändern zu wollen, setztimmer voraus, sie zu verstehen.

    Wir geben den Ratschlag, darauf zu ach-ten, dass bei Rückforderungen nicht angege-bener Arbeitseinkommen nur ALG II/Sozial-hilfe zurückverlangt wird, nicht aber andereangerechnete Einkommen, die die Behördeauf sich übergeleitet hat. Wir warnen also da-vor, einen Betrug mit einem weiteren Betrugseitens der Behörde zu beantworten. Daskreidet das BMWA uns an. Warum?

    Uns wird ferner angelastet, dass wir Ar-beitslose nicht vor Schwarzarbeit warnen.Auch die Informationsbroschüre der Bundes-agentur für Arbeit von September 2004warnt nicht vor Schwarzarbeit. Folgt daraus,dass auch die BA Schwarzarbeit fördert? ImÜbrigen gibt es Schwarzarbeit nur, weil esUnternehmer gibt, die Arbeitslose schwarz ar-beiten lassen.

    Dürfen »gesetzesuntreue« Behörden keine»natürlichen Gegner« sein?Das BMWA wirft uns vor, wir würden Ar-beitsagenturen und Sozialverwaltungen als»natürliche Gegner« ansehen.

    Als Beleg dient, dass wir den Aussprucheines Trierer Sozialamtsleiters aus dem Jahre1976 zitieren: »Wenn wir die Leute überihren Anspruch aufklären würden, wären wirschnell pleite. Um überleben zu können,müssen wir gesetzesuntreu sein, und wir sindes auch.« (Der Spiegel 52/1976, S. 52)

    Das BMWA bezeichnet dieses Zitat 30Jahre später als »angebliches Zitat«. Soll eseine Erfindung des Spiegel sein? Der Sozial-amtsleiter gab offen Rechtsbruch zu, denn imSGB I heißt es: »Die Leistungsträger, ihreVerbände und die sonstigen in diesem Ge-setzbuch genannten öffentlichrechtlichenVereinigungen sind verpflichtet, im Rahmenihrer Zuständigkeit die Bevölkerung über dieRechte und Pflichten nach diesem Gesetz-buch aufzuklären.« (§ 13 SGB I Aufklärung)Dass die Behörden dieser gesetzlichen Auf-klärungspflicht nicht nachkommen, war1976 Ausgangspunkt für den Leitfaden, des-sen Autoren heute wir sind. Wir erklären, dieAussage des Sozialamtsleiters würde auchheute noch gelten. Das BMWA kreidet uns»simpelste Feindbilder« an, weil wir das be-haupten, »ohne irgendeinen Hinweis daraufvorzulegen.«

    Das BMWA glaubt offensichtlich, dassdie Arbeitsagenturen die Bevölkerung heuteüber ihre Ansprüche (Rechte und Pflichtennach dem SGB II und SGB XII bzw. nachden SGB I und SGB X usw.) aufklären. Wirreiben uns erstaunt die Augen. Haben wir dieLeitfäden übersehen, mit denen die Bundes-agentur bzw. das BMWA alle ALG II-Bezie-her so umfassend aufklärt, wie wir es tun?Wir bitten um Zusendung. Hat die BA in-zwischen ihre Durchführungshinweise zumSGB II veröffentlicht? Haben die Options-kommunen Leitfäden herausgegeben? Trotzgesetzlicher Verpflichtung gibt es vielerortsnicht einmal persönliche Ansprechpartner.Und wenn sie vorhanden sind, kennen siesich oft mangels ausreichender Schulung, Be-rufsfremdheit und befristeter Einstellungkaum aus. Allein die Existenz und die weiteVerbreitung des Leitfadens beweisen indirekt,dass die Behörden ihre gesetzlichen Auf-klärungspflichten nicht ausreichend wahr-nehmen. Unser Leitfaden ist keine Beihilfezum Betrug, sondern Beihilfe zur Aufklärungüber das SGB II und das SGB XII. Die Ab-qualifizierung als »windig« und »polemisch«dient dazu, gerade das noch mehr zu er-schweren.

    Mit der wachsenden Kompliziertheit derGesetze, dem mangelnden Fachwissen vielerBearbeiter und dem gestiegenen Interesse anEinsparungen jenseits der Legalität hat die

  • A express 10/2005 3

    auf ihren individuellen Gesundheitszustandkaum mehr Rücksicht nimmt. Eine Verkür-zung der Behandlungsdauer kann eine baldi-ge Wiederaufnahme bedingen (»blutige Ent-lassung«). Für die Beschäftigten hat das neueAbrechnungswesen einen erhöhten arbeitsor-ganisatorischen Druck und z.T. auch gewal-tige Lohneinbußen bzw. Entlassungswellenzur Folge. Insbesondere in privatisierten Un-ternehmen ohne tarifvertragliche Bindungenist dies der Fall. Viele kleinere kommunaleKrankenhäuser werden aufgrund mangeln-der »Rentabilität« geschlossen oder eben pri-vatisiert werden.

    Privatisierung der KrankenhauslandschaftDie Einführung der DRGs bevorteilt die pri-vaten Klinikbetreiber; Kliniken in öffentli-cher Trägerschaft müssen sich in der Unter-nehmensführung entweder angleichen (auchals Vorbereitung für eine Privatisierung),werden geschlossen oder von privaten Ak-tiengesellschaften geschluckt. Absehbar wer-den ein oder zwei Handvoll Groß-Konzerne

    demnächst einen Großteil der deutschenKrankenhauslandschaft besitzen, die Löhnedrücken, die Arbeitsbedingungen verschär-fen und ggf. die vorgehaltene Versorgungeinschränken (zumindest was die Erreichbar-keit und Wohnortnähe anbelangt). Im Sinneder Aktionäre geht es dabei zum einen umeine direkte Gewinn-Abschöpfung; die Ren-dite für das eingesetzte Kapital liegt im zwei-stelligen Prozentbereich. Zig Millionen Euroaus dem Gesundheitsetat wandern so schonjetzt Jahr für Jahr auf die Konten der Ak-tionäre, obwohl derzeit erst ca. acht Prozent

    verursachen bzw. daran, welche Leistungenentsprechend honoriert werden, und ebennicht daran, welche essentiellen Bedürfnissekranke Menschen haben.

    Also geht es um Profit-Absicherung undnicht um einen »freien Markt«, über dendann eine optimale Gesundheitsversorgunggeregelt würde. Deutlich wird dies beimSchutz von Monopolen oder Oligopolen imBereich der Pharmaindustrie oder dem Aus-schluss unerwünschter Konkurrenz aus derAlternativmedizin. Zudem sollen Altlastenund bestehende »Schulden« kommunalerKrankenhäuser vor einer Privatisierung vonder Öffentlichkeit getragen werden; das alteSpiel somit: Privatisierung der Gewinne, So-zialisierung der Schulden bzw. Ausgaben.

    Krankenhausfinanzierung nach DRGIn der nächsten Zeit wird die gesamte Finan-zierung der stationär erbrachten Leistungen(mit Ausnahme der Psychiatrie) nach so ge-nannten Diagnosis Related Groups (Fallpau-schalen) erfolgen. D.h. die Kliniken erhalten

    diagnosebezogen eine einheitlich fixe Sum-me erstattet, unabhängig davon, welches An-gebot diese Einrichtung insgesamt für dieBevölkerung vorhält, welche PatientInnenversorgt werden und welcher Aufwand hier-für erforderlich ist. Damit werden Behand-lungskosten nicht nur kalkulierbar, was nichtan sich das Problem ist, sondern auch zwi-schen den unterschiedlichen Abteilungen ei-nes Krankenhauses verrechenbar. Ein»Krankheitsfall« wird auf diese Weise waren-förmig organisiert. Dies garantiert für diePatientInnen einen Behandlungsablauf, der

    der Krankenhäuser privatwirtschaftlich be-trieben werden. Zum anderen aber betreibeneinige der großen privaten Krankenhaus-Ak-tiengesellschaften auch ein Eindringen inden Bereich der Forschung und Ausbildung.So versuchen sie, Behandlungsstandards undLeitlinien unter ihrer Regie festzulegen,nicht zuletzt im Interesse von Privatversiche-rungskonzernen, Geräteherstellern oder derPharmaindustrie, die z.T. in den Vorständendieser Krankenhaus-AGs sitzen.

    »Autonomie« oder: Patienten als »Kunden«Wahlfreiheit und Selbstbestimmung sind dieSchlagworte, mit denen u.a. FDP und Ar-beitgeberverbände nicht nur den Ausstiegaus einer (zumindest annähernd) solidari-schen Krankenversicherung anstreben, son-dern auch im gesellschaftlichen Bewusstseineine Neu-Definition des Status von Patien-tInnen durchsetzen wollen: Nicht mehr eine»gängelnde Staatsbürokratie« oder paternalis-tische ÄrzteInnen dürfen über die Gesund-

    heitsversorgung ent-scheiden, sondern je-des einzelne Indivi-duum soll »frei« aus-wählen können, wel-che Krankheitsrisi-ken in welchemMaße versichert wer-den und welche Be-handlung durchge-führt wird.

    Diese sehr popu-listischen Formulie-rungen beinhaltennatürlich gleich eineganze Reihe von Feh-lern: Krankheitsrisi-ken sind für Einzel-personen kaum vor-hersehbar. Die Wahlderjenigen Erkran-kungen, die versi-

    chert sein sollen, kann kaum nach rationalenÜberlegungen hinsichtlich einer Wahr-scheinlichkeit und Schwere erfolgen, son-dern wird durch die finanzielle Situation je-des Einzelnen gesteuert. Gerade die Schlech-terverdienenden werden somit ein ungleichhöheres Risiko eingehen (müssen), bei einerbestimmten Erkrankung nicht versichert zusein und dementsprechend keine adäquateBehandlung zu bekommen.

    Eine größere Patientenbeteiligung beiden Entscheidungen im Behandlungsablaufist sicherlich eine unterstützenswerte Forde-

    Notwendigkeit der Aufklärung sogar nochzugenommen.

    In der Tat sehen wir Behörden, die »geset-zesuntreu« sind, als »natürliche Gegner« an.Das zu bemängeln, ist mehr als merkwürdig.Der Spiegel schreibt, unser Leitfaden enthalte»alle Informationen, die für den höchstmögli-chen Bezug staatlicher Leistungen vonnötensind.« (Nr. 43/2005, S. 42) Der Leitfadenklärt also die Bevölkerung über ihre Rechteund Pflichten umfassend auf.

    »Höchstmöglich« kann nur etwas sein,was im Rahmen der bestehenden von Bun-destag und Bundesrat beschlossenen Gesetzeund der Rechtsprechung möglich ist. Bun-destag und Bundesrat haben das SGB II ver-abschiedet. Wenn man aber das Gesetz inAnspruch nimmt, reden Verantwortliche vonMissbrauch, von der Dehnung der Gesetze,von Betrug, von Grauzonen usw. Wenn dieInanspruchnahme eines Gesetzes als Miss-brauch gilt, müssten eigentlich die Parteienund Institutionen, die das SGB II verabschie-det haben, als Helfershelfer des Missbrauchsauf der Anklagebank sitzen und nicht wir.

    ZusammenfassungWir haben im Report des BMWA keineneinzigen Beleg für die Anschuldigung gefun-den, wir würden Beihilfe zum Betrug leisten.Diese Behauptung stellt also eine Verleum-dung dar. Wir fordern das Bundesministeri-

    um auf, die Verbreitung des Reports einzu-stellen und die Verleumdungen zurückzuneh-men.

    Die Aufklärung über und die Inan-spruchnahme von Rechten wird in die Nähedes Missbrauchs bzw. Betrugs gerückt, umALG II-BezieherInnen daran zu hindern, dievon Bundestag und Bundesrat verabschiede-ten rechtlichen Möglichkeiten in vollem Um-fang wahrzunehmen. Das ist insbesonderedeshalb nötig, um die vielen Milliarden anGewinnsteuersenkungen nicht zurückneh-men zu müssen, die in keiner Weise die ver-sprochenen Investitionen und Arbeitsplätzegebracht haben.

    SchlussbemerkungAusgangspunkt für die Diskreditierung derparteilichen Beratung von Erwerbslosen istder Umstand, dass die Bundesregierung stattder im Haushalt für ALG II für 2005 einge-stellten 14,6 Mrd. Euro 25,6 Mrd. Euro auf-wenden muss. Der verantwortliche Ministermeint, die Differenz von 11 Mrd. Euro mitdem Missbrauch durch Arbeitslose und »Hel-fershelfer« wie uns erklären zu können.

    In Wirklichkeit hat die Bundesregierungstatt der 21,2 Mrd. Euro, die sie 2004 ur-sprünglich als Jahresbedarf kalkuliert hatte,nur 14,6 Mrd. Euro eingestellt, also 4,4 Mrd.Euro zu wenig. »Weil er unbedingt einen ver-fassungsmäßigen Haushalt vorlegen musste,

    hat Hans Eichel die Zahlen schöngerechnetund diese Zahlen dann zur Grundlage seinerPlanung gemacht«, schreibt Carsten Germisin der FAZ. (23. Oktober 2005)

    Statt den Bilanzbetrug zu kritisieren, derzu den angeblichen Mehrausgaben führte,hetzt Clement lieber gegen Arbeitslose undihre Berater. Nur hier fließt das WörtchenBetrug leicht von den Lippen.

    Der wichtigste Grund für die verbleiben-den Mehrausgaben von 4,4 Mrd. Euro be-steht darin, dass mit Hartz IV Erwerbslose ingroßem Umfang aus der stillen Reserve her-ausgeholt und über ALG II finanziert wer-den, z.B. Partner von ehemaligen Arbeitslo-senhilfebezieherInnen, arbeitslose Jugendlicheoder Alleinerziehende. Ein Blick in die Un-tersuchungen des Instituts für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung (IAB) der Bundesagenturfür Arbeit könnte darüber aufklären. (IABKurzbericht 10 vom 8. Juli 2005)

    Ein weiterer wichtiger Grund besteht dar-in, dass mehr Erwerbstätige als jemals zuvor(Vollzeitbeschäftigte, Minijobber und Selbst-ständige) ergänzendes ALG II bekommen,weil sie unterhalb des ALG II-Niveaus leben.Hartz IV deckt also auch die Armut von Ar-beitenden teilweise auf.

    Weiterhin hat die Arbeitslosigkeit entge-gen den Schätzungen von 2004 ganz einfachzugenommen. Nach einer internen Studie desWirtschaftsministeriums ist der Zuwachs von

    ALG II-BezieherInnen zur Hälfte auf die stei-gende Arbeitslosigkeit und zur anderen Hälf-te auf die gesetzlichen Neuregelungenzurückzuführen. (Spiegel Nr. 43/2005, S. 43)Minister Clement aber konstruiert, dass dieMehrausgaben nicht durch geschönte Haus-haltspläne, das Gesetz selbst bzw. die wirt-schaftliche Lage zustande kommen, sonderndurch Missbrauch und »Helfershelfer« wieuns.

    Das ist eine unseriöse Fälschung.Die Verleumdungen gegen Arbeitslose

    und in diesem Zusammenhang gegen uns ste-hen nicht nur in der Verantwortung desscheidenden Wirtschaftsministers, sondernder gesamten noch amtierenden SPD-Grü-nen-Regierung. Und sie sind Geschäftsgrund-lage der neuen Großen Koalition, aus derenReihen man keinerlei Kritik an ClementsVorgehen hört.

    Frankfurt / Wuppertal,den 3. November 2005

    Rainer Roth ist Professor an der FH Frankfurt am Main,email: [email protected] Thomé ist Mitarbeiter der Erwerbslosenorganisati-on Tacheles e.V. und Bildungs-Rerefent, email: [email protected]

    Bestellungen für den Leitfaden der AG TuWas: Fachhoch-schulverlag, Kleiststr. 31, 60318 Frankfurt am Main, Tel.:(069) 1533-2820, Fax: (069) 1533-2840, email: [email protected]

    In eigener Sache

    Geneigte LeserInnen, liebe Freunde undKollegen,

    es fällt schwer, Werbung in eigener Sa-che zu machen, zumal in Zeiten wie die-sen, wo die Umverteilung in der Klassemit dem Problem zu tun hat, dass denweniger werdenden Wenigen, die ‘über-flüssige’ Mittel haben, immer mehr wer-dende Viele gegenüber stehen, die we-nig haben. Wir wenden uns im Bewusst-sein dessen und dennoch an Euch, weilwir, die Beschäftigten des TIE-Bildungs-werks e.V. und der express-Redaktion,nach langen Diskussionen und gründli-cher Recherche zum »wie, wo, warum«beschlossen haben, einen solidarischenAlterssicherungsfonds für alle Beschäf-tigten der beiden politischen Projekteaufzubauen, für den wir Euch hiermitum Unterstützung bitten. Auch wenn wirunsere Arbeit gerne und mit Überzeu-gung(en) machen: Die finanzielle Seiteder politischen Bildungs-Arbeit, die wir –einige von uns seit Jahrzehnten im Rah-men der vielfältigen Arbeitsfelder undAktivitäten des Sozialistischen Büros,von TIE und express, Daimler-Koordina-tion, Autokoordination, Gewerkschafts-linker, Netzwerk Arbeit & Migrationu.v.m. – leisten und die nur zu einem Teilin der Zeitung erscheint, war schon im-mer prekär, hat immer nur gereicht, umgerade so über die Runden zu kommen– von den Errungenschaften des Rheini-schen Kapitalismus wie einer halbwegssoliden sozialen Absicherung im Alterganz zu schweigen.

    Kurz: Wir wollen nicht, dass einzelne,die konkret vor dem Problem der Finan-zierung ihres »Unruhestands« stehen,damit alleine und im Regen stehen, undwir wollen nicht, dass die Jüngeren spä-ter individuell bezahlen müssen, wasTeil einer kollektiven Arbeit jetzt ist.Deshalb die »kleine kollektive« Lösung,bevor wir zu alt sind für die »große gesellschaftliche Lösung«...

    Unsere Bitte um Solidarität von Euch:Spendet, auch wir werden alt – aber mitEurer Hilfe gemeinsam!

    Spendenkonto: AFP e.V., Postbank Dortmund, BLZ 440 100 46,Kt.-Nr.: 688 284 461 (Spendenbeschei-nigungen können ausgestellt werden)

  • Im besten Fall bleiben Kommen-tare nicht unwidersprochen, soauch der Wahlkommentar vonSlave Cubela in der letzten Aus-gabe des express. Ein in Bezugauf den Wahlerfolg der Links-partei ebenfalls skeptischer,aber weniger parlamentaris-muskritischer Beitrag von An-ton Kobel erreichte uns »anstel-le eines Leserbriefs«.

    Die Linkspartei hat die Wahlen ge-wonnen: 8,7 Prozent statt die 3,9Prozent der PDS in 2002. Die SPDhat weniger verloren als erwartet.Die Grünen sind stabiler als auchvon links erhofft. Und dennoch:Rot-Grün wurde abgewählt, wegen

    ihrer Politik, trotz ihrer Zugpferde!Schwarzgelb wurde verhindert

    und kann keine Regierungskoalitionder Marktradikalen bilden.

    Ist damit der Sozialstaat vertei-digt? Wird Hartz IV zurückgenom-men oder mindestens bedeutsamverändert? Wird der Kampf gegendie Arbeitslosen und erfolglosenLehrstellenbewerber beendet, undwerden endlich – parlamentarischund außerparlamentarisch – Kämpfefür Arbeits- und Ausbildungsplätzeund gegen Arbeitslosigkeit geführt?

    Wird die SPD das, was sie imWahlkampf im Stil einer Opposi-tionspartei propagiert hat – wie Rei-chensteuer, soziale Gerechtigkeitusw. – in Politik umsetzen, oder wardas nur Wahlkampfpropaganda?Wird sie als Regierungspartei die

    Lohn- und Gehalts-forderungen der Ge-werkschaften genausolautstark unterstüt-zen, wie sie vor dem

    Wahlsonntag getönt hat?Und die Grünen/ML? Eine »Mo-

    derne Linke« wollen sie sein. Mal ge-spannt, was das konkret heißt.

    Klar, die Linkspartei hat mit ent-scheidender Unterstützung derWahlalternative Arbeit und SozialeGerechtigkeit (WASG) einen mut-machenden Wahlsieg errungen. ImBundestag ist endlich wieder eineOpposition vertreten, die den Neoli-beralismus entschieden ablehnt, dieSolidarität und soziale Gerechtigkeit,Kampf gegen Armut und für Friedenvertritt. Das erwarten viele. Vielmehr, als diesmal die Linke gewählthaben. Eine Chance!

    Auch das gilt’s zu fragen: Warumwurden es nicht mehr als 8,7 Pro-zent? Warum keine höhere Wahlbe-teiligung, weder in Mannheim noch

    bundesweit, obwohl die Linksparteieine Alternative geboten hat? 6,6Prozent in Mannheim, aber auch nur3,8 Prozent in Baden-Württemberg!Wer oder was hindert viele Men-schen, die Linke zu wählen?

    Fazit: Ein Anfang ist gemacht. Nichtmehr und nicht weniger. Es gilt nochviel und viele zu verändern. Auch dieLinkspartei! AK

    Der Beitrag wurde ursprünglich verfasst alsGastkommentar von Anton Kobel (WASG-Mitglied, Bundestagskandidat der Linksparteiin Mannheim) für »mannheim konkret«, Zei-tung der DKP-Kreisorganisation Mannheim,Oktober 2005

    R U B R I K4 express 10/2005

    rung. Wenn aber hier aus PatientInnenKundInnen werden, denen im Krankenhausoder in der Praxis eine Produktpalette ange-boten wird zur Auswahl, wird der BegriffPatientenautonomie in falscher Weise ge-wendet. Die Alternative zur Vorstellung, Pa-tientInnen als hilfsbedürftige Mündel ärztli-cher und pflegerischer Fürsorge zu betrach-ten, darf nicht darin bestehen, sie nun zuselbstbestimmten, »befreiten« und eigenver-antwortlichen »UnternehmerInnen des eige-nen Körpers« (Frigga Haug) zu machen.Stattdessen muss es darum gehen, die Er-krankten in einem partnerschaftlichen Ver-halten zu befähigen, die bestmögliche Ent-scheidung für sich treffen zu können. Al-leingelassen fehlen den allermeisten Men-schen die Kompetenz und das Wissen, erstrecht in einer Notlage. Das Pochen auf »Ei-genverantwortung« der PatientInnen darfalso nicht die BehandlerInnen aus ihrer Ver-antwortung der kranken Person gegenüberentlassen. Ärztliche und pflegerische Tätig-keit muss das Patientenwohl zum unum-strittenen Ziel haben, ohne den Zwang, be-triebswirtschaftlich denken zu müssen oderden Ehrgeiz, wissenschaftlichen Erkenntnis-gewinn im Rahmen von Experimenten zuerhalten, aber auch ohne in alte paternalisti-sche Modelle zurückzufallen.

    Selbstbestimmung der PatientInnen soll-te als Orientierungspunkt für BehandlerIn-nen mit ihrem Heilauftrag dienen, eineHandlungsautonomie möglichst weitgehendherzustellen. Schmerzen, Angst, Leiden und

    werden von den neoliberalen Strategen aus-geblendet. Maßnahmen der Prävention undGesundheitsförderung werden verstärkt aufder individuellen Ebene der Verhaltensände-rung eingesetzt, statt als soziale Quer-schnitts-Aufgabe verstanden, die insbesonde-re sozial Benachteiligten zugute kommenund an den Lebens-, Arbeits- und Umwelt-bedingungen ansetzen muss. Ein Rollbackund zunehmende Medikalisierung bzw. Me-dizinisierung findet bei Erkrankungen statt,für die zuvor auch von der Ärzteschaft einegesellschaftliche (Mit-)Bedingtheit aner-kannt wurde, wie z.B. beim Magengeschwür.So entsteht eine Entvergesellschaftung undEntsolidarisierung; Gesellschaft, Kapital undPolitik werden aus ihrer Verantwortung fürdie Bedingungen von Gesundheit undKrankheit entlassen. Sozial bedingte Risiken(aufgrund von Wohn-, Arbeits- oder Ein-kommensverhältnissen, Zugang zu Bildungs-und Freizeiteinrichtungen, gesellschaftli-chem Status und sozialer Verankerung) wer-den ignoriert und/oder privatisiert.

    Umformung des GesundheitsbegriffsUnter Gesundheitsversorgung wird vom Ver-fasser die Bereitstellung aller medizinischerund nicht-medizinischer Maßnahmen bzw.Rahmenbedingungen verstanden, die not-wendig sind, um der gesamten Bevölkerungeine möglichst uneingeschränkte gesell-schaftliche Teilhabe und Mobilität zu ge-währleisten. Dies muss insbesondere für die-jenigen mit Behinderung oder bleibenderschwerer Erkrankung gelten und darf nichtin einen überhöhten und damit ausgrenzen-den Gesundheitsbegriff münden. Demge-genüber versucht die Wissenschafts- undMachtelite einen Gesundheitsbegriff zu for-men, der »eigenverantwortliches« gesund-heitsbewusstes Verhalten zur Grundlage so-wie »Gesundheit« zur Norm macht. Die Ver-antwortung und Schuld für Erkrankungenwird dabei dem Individuum zugeschoben.Wer nicht dazu passt, hat nicht nur Pech,sondern ist zudem selber schuld.

    Protest, Widerstand und Notwendigkeiteiner ethischen DebatteDer noch viel zu schwache Widerstand ge-gen den neoliberalen Angriff im Gesund-heits- und Sozialbereich orientiert sich zu-meist an einem Festhalten am bestehendenSystem und dem Einfordern alter errunge-ner sozialer Rechte. Sicherlich wäre diesweitaus besser als das, was uns droht. Dochkann so aus dem Blick geraten, dass das de-fensive Beharren auf dem Status Quo derZielsetzung eines solidarischen Gesundheits-systems kaum gerecht wird und nicht über-zeugen kann.

    Als Voraussetzung für die Durchsetzungeiner sozialen Verantwortung für Gesundheit

    Verletzbarkeit führen zu einer Abhängigkeitvon den behandelnden ÄrztInnen und Pfle-gekräften. Das erfordert ein persönlichesVertrauensverhältnis und ein Vertrauen aufderen unbedingtes ethisches Verhalten. Die-ser Schutzanspruch findet in dem liberalenMarkt- und Kunden-Verständnis keinenPlatz. Die Rolle des Kunden ist im Krank-heitsfall völlig unangebracht. Jedoch ist sieein wichtiger Puzzlestein für die Durchset-zung neoliberaler Denkmuster im Gesund-heitswesen.

    »Würdevolles Sterben«, Sterbehilfe, sozialverträgliches Frühableben und GesundheitsidealeGeplant ist auch, die Reichweite von Patien-tenverfügungen auszudehnen und nicht aufden unmittelbaren Sterbeprozess oder sichertödlich verlaufende Erkrankungen zu be-schränken. Deklariert als »Selbstbestimmungfür ein würdevolles Sterben« sollen nach denVorstellungen von FDP und Teilen der SPDneue gesetzliche Rahmenbedingungen ge-schaffen werden: Für jede mögliche Erkran-kung, Behinderung oder Unfallfolge sollenMenschen im Vorhinein die Einstellung le-bensrettender oder -erhaltender medizini-scher Behandlung beschließen können, wennsie eine solche Situation vorab als unerträg-lich einschätzen. Diesen (potentiell) erkrank-ten Menschen geht es aber zumeist nicht umwürdevolles Sterben, sondern um die Angst,unter den gegebenen sozialen Verhältnissen,in einer behindertenfeindlichen Gesellschaft,bei unzulänglicher Bereitstellung von Hos-pizplätzen oder Schmerztherapie und unterdem Kostendiktat oft unmenschlicher Pflegenicht mehr würdevoll leben zu können oderaber den Angehörigen zu sehr auf der Taschezu liegen. Ergänzt mit einem europaweitenVordringen der Sterbehilfediskussion (sieheEröffnung einer Filiale der Schweizer Sterbe-hilfeorganisation Dignitas in Hannover) wer-den Voraussetzungen zu einem »sozialverträg-lichen Frühableben« geschaffen. Hier geht esum die Entledigung von »Überflüssigen« undnicht um Förderung von Selbstbestimmungauch beim Sterben.

    Gesellschaftliche Verantwortlichkeit

    Glaubt man den Äußerungen vieler Gesund-heitspolitikerInnen, aber auch von Kranken-kassenvertreterInnen und ÄrztInnen, so istein Großteil aller Erkrankungen zurückzu-führen auf individuelles Fehlverhalten undSelbstverschulden. Gesunderhaltung sei des-halb in großem Maße steuerbar z.B. durchbewusste Ernährung oder entsprechendesSport- und Freizeitverhalten. Gesellschaftli-che Ursachen für Krankheitsverursachung

    und Krankheit bedarf es zum einen einesGesundheitsbegriffs, der neben biologisch-physikalischen Faktoren auch psycho-sozialeund Umweltfaktoren einbezieht. Zum ande-ren aber besteht vornehmlich die Notwen-digkeit einer Ethik-Debatte: Diskurse überRationalisierung / Rationierung in der Me-dizin und Gerechtigkeitsmodelle (Leistungs-gerechtigkeit oder Verteilungs- bzw. Chan-cengerechtigkeit) dürfen nicht den beken-nenden Kapitalisten überlassen werden. Auf-gezeigt werden muss, dass utilitaristischesKosten-Nutzen-Denken bzw. reine Kosten-Effektivitäts-Überlegungen im Gesundheits-bereich fehl am Platze sind. Diese Debattemuss in die Öffentlichkeit getragen werdenunter Einforderung einer Liste unveräußerli-cher individueller Rechte wie Garantie derHilfe, Gleichbehandlung, Diskriminierungs-verbot und besondere Förderung bzw.Schutzmaßnahmen für Benachteiligte. Da-mit dies nicht abstrakt bleibt und wirkungs-los verpufft, müssen diese Forderungen nachRechten eingebracht werden in die realenKämpfe von PatientInnen, Beschäftigtenund BürgerInnen allgemein.

    Diese ethischen Prinzipien für die Aus-gestaltung des Gesundheitssystems (im en-geren Sinne) bzw. einer gesundheitsförderli-chen Gesamtpolitik können somit Leitbild,Messlatte und verbindende Klammer für alldiejenigen sein, die sich an unterschiedlich-sten Stellen gegen den neoliberalen Umbauzur Wehr setzen oder versuchen, Einfluss zunehmen auf die Politik. So kann z.B. derWiderstand gegen Krankenhausprivatisie-rungen breitere Unterstützung gewinnen,wenn es um mehr als Besitzstandswahrungfür die derzeit Beschäftigten geht. Auch diemanchmal eher fragwürdige Partizipationvon PatientenvertreterInnen oder NGOs ingesundheitspolitischen Gremien, Ethikkom-missionen, bei der Verfahrensbeteiligung inBürgeranhörungen oder Projekten im Rah-men des Healthy-City-Programms wie aberauch der Widerstand gegen Hartz IV kön-nen so gestärkt werden und eine neue ge-meinsame Perspektive erhalten.

    Dazu bedarf es einer klaren Analyse, umFehlentwicklungen bzw. Missstände öffent-lich zu machen bzw. laut zu skandalisieren.Reale Beteiligungsrechte müssen eingefor-dert und wahrgenommen werden. Die allge-meine Grundlage für gesundheitspolitischeForderungen und Aktivitäten muss dabeieine öffentlich und laut geführte Debatte umEthik und Gerechtigkeit liefern. Nur so kön-nen wir es schaffen, eine umfassende Ge-sundheitsversorgung für alle herzustellenund nicht auch dieses existentielle Feld denProfitgeiern, Sozialplanern und Eugenikernzu überlassen.

    * Siegfried Dierke ist Arzt, Gesundheitswissenschaftlerund PatientInnenberater und lebt in Berlin

    Richtig gewählt!

    Am 15. Oktober hat die Ham-burger IG BAU gemeinsam mitdem Europäischen Verband derWanderarbeiter eine Aktionvor einem Männerwohnheim inHamburg-Hamm durchgeführt.Drei Stunden lang informiertensie die zur Zeit weit über 100dort untergebrachten polni-schen Entsendearbeiter überihre Rechte und diskutiertenmit ihnen gewerkschaftlicheOrganisierung.

    Wander werden

    Aktion vor

  • Noch am 29. Juli hatte die Industrie-gewerkschaft Bauen Agrar Umweltgesenkten Hauptes den neuen Tarif-vertrag und damit die unbezahlte Ar-beitszeitverlängerung um eine Wo-chenstunde, abgesenkte Mindestlöh-ne, Lohnsenkungen in zwei Berufs-gruppen sowie untertarifliche Akkord-Arbeit unterzeichnet. Nur zwei Mona-te später kämpferische Töne: Eine»schnelle Eingreiftruppe« soll denMarkt von gewerkschaftsfeindlichenBetrieben bereinigen, der »Häuser-kampf« wird vorbereitet.

    Bereits im April 2004 hatten die Bauarbeit-geber ihr Ziel deutlich formuliert. Insgesamtzehn Prozent weniger sollte sie die Arbeit derBauleute künftig kosten. Zu diesem Zweckwurden verschiedene »Vorschläge« unterbrei-tet. Neben den im Juli von der IG BAU ak-zeptierten Einschnitten zählten dazu nachden Vorstellungen von Bauindustrie- undBaugewerbeverband auch die Kürzung deszusätzlichen Urlaubsgeldes, weitere zwei un-bezahlte Wochenstunden oder auch die De-montage der Kündigungsfristen.

    Hintergrund: Der ungebremste Abbauder regulär Beschäftigten im Baugewerbevon 1,4 Millionen auf nun 700 000 seit1995, die Hartz-Gesetzgebung mit künftigbis zu 210 000 Betroffenen des »Arbeitslo-sengeldes II« alleine am Bau, oder auch diebeinahe völlige »Entschäftigung« der großenBaukonzerne nahmen der gewerkschaftli-chen Verhandlungskommission offenbar denGlauben an die eigene Kraft. Zudem sorgtdie Zersplitterung der Arbeitgeberverbändebei der IG BAU für Kopfzerbrechen: Stan-den ihr mit der Bauindustrie, dem eherkleinteiligen Baugewerbe und seit einigenJahren dem aggressiven »Zweckverband Ost-deutscher Baubetriebe« bereits traditionellmehrere nicht selten zerstrittene Lager ge-genüber, entzogen zuletzt auch einzelne Lan-desverbände der Unternehmer ihren jeweili-gen Bundesstrukturen das Verhandlungs-mandat – vor allem in Lohnfragen. Ergebnisdieser Entwicklung: Einen bundeseinheitli-chen Flächentarif gibt es schon lange nichtmehr, lediglich der für allgemeinverbindlicherklärte Rahmentarif galt zuletzt noch

    gleichlautend in allen Ländern ... auf demPapier.

    In der Tat war und ist die Realität aufden Baustellen von diesen Voraussetzungennachhaltig geprägt. Nur eine kleine Zahl gutorganisierter Betriebe gewährt noch aus-nahmslos alle tariflichen Leistungen. Insbe-sondere in Ostdeutschland und in den länd-lichen Regionen der westdeutschen Länderregiert hingegen ausschließlich der Ellenbo-gen, selbst der Mindestlohn ist vielerorts einFremdwort. Die IG BAU hatte vor diesemHintergrund von Beginn der Gespräche andie Sorge, die sturmreif unterlaufenenFlächen- und Bundesrahmentarife würdeneiner wirklichen Auseinandersetzung in derBranche nicht standhalten. IhreFührung – insbesondere der Bundesvor-sitzende Klaus Wiesehügel, der schei-dende Tarif-Chef Ernst-Ludwig Lauxund der Bauhauptgewerbe-Verantwortli-che Dietmar Schäfers – sorgten dahereifrig für Ruhe an der Tariffront. Zu-gleich wurden aus einigen RegionenHorrorszenarien gemeldet, die einenicht vorhandene Kampfbereitschaft derKollegInnen wiedergeben sollten. Dochso nachvollziehbar die Vorsicht der Ge-werkschafter, umso unverständlicherihre Passivität jenseits der Verhand-lungstische: Statt die Bauleute zu mobi-lisieren oder zumindest in »Alarmbereit-schaft« zu versetzen, zog man sich 15Monate lang verschämt von den Bau-stellen zurück. Die Belegschaften rea-gierten, wie ihre Organisation es vorge-macht hatte – mit Schweigen und Kapi-tulation.

    Frühzeitig wurden zudem Un-mutsäußerungen ehrenamtlicher Struk-turen in den Wind geschlagen.Während sich bundesweit aktive Baugewerk-schafterInnen fragten, was wohl die Taktikder so überaus stillen Verhandlungsführungsein mochte, votierte eine Konferenz derBundesfachgruppen im Bauhauptgewerbenoch Ende November 2004 deutlich gegenArbeitszeitverlängerungen, etwas wenigernachdrücklich auch gegen die Tariföffnungim Akkord- und Leistungslohn. Doch wieandere Einwände wurde auch diese gewichti-ge Meinungsäußerung keines ernsthaftenGedankens gewürdigt. Statt das »Nein« zu-mindest zur Kenntnis zu nehmen, wurde sei-

    ne Bedeutung umdefiniert: Nicht generellgegen eine Arbeitszeitverlängerung hätte dasVotum gesprochen, lediglich die unbezahlteMehrarbeit sei Gegenstand der Diskussiongewesen, veröffentlichte man organisations-intern. Dass im Ergebnis dann doch unbe-zahlte Mehrarbeit herauskam, spricht fürsich und den Umgang mit dem Ehrenamt.

    Nur zwei Monate später, auf dem BonnerGewerkschaftstag der IG BAU vom 2. biszum 7. Oktober 2005, versuchte Wiesehügelvor rund 300 Delegierten die überraschendeKehrtwende. Angetrieben von wachsenderKritik an der schwachen Tarifpolitik gab erzunächst seinen Kritikern Recht und kün-digte – nun mit 94 Prozent im Amt bestätigt

    – in einem Grundsatzreferat an, künftig ra-biat gegen gewerkschaftsfeindliche Betriebevorzugehen. Mit einer »schnellen Eingreif-truppe« sollen diese nötigenfalls gar »vomMarkt genommen« werden, wenn Unterneh-mer etwa die Wahl von Betriebsräten oderganz generell Gewerkschaftsarbeit aktiv ver-hindern. Auch in der Tarifpolitik, kündigteder Bundesvorsitzende an, müsse sich die IGBAU auf eine bisher ungekannte Situationeinstellen. Die Zeit bis zum Auslaufen desjüngsten Bau-Tarifvertrages Mitte 2007 sollnun genutzt werden, um sich »in den Betrie-

    R U B R I K express 10/2005 5

    Wir befinden uns in der Culinstraße6, tief im Hamburger Osten. Einstgehörte das 10-stöckige Wohnhausdem öffentlichen Wohnungsunter-nehmen SAGA, heute heißt die Be-sitzerin »VerwaltungsgesellschaftCULIN mbH«. Doch auch hinterdiesem wenig aussagekräftigen Na-men soll sich jemand ganz anderesverbergen: der berüchtigte Duisbur-ger Immobilienmogul HenningConle, der seit Jahrzehnten immerwieder in der öffentlichen Kritiksteht. Rund 250 Euro warm kostethier ein 12qm großes Zimmer, diepolnischen Arbeiter leben in Dop-pelzimmern – oft Monate lang.

    Von 14 bis 17 Uhr postieren sichheute Aktivisten der Industriege-werkschaft Bauen Agrar Umwelt unddes Europäischen Verbandes derWanderarbeiter vor dem Gebäude,sprechen die von den Baustellenkommenden polnischen Bauleutean. Bis zu 400 Polen werden hierzeitweise von ihren Unternehmenuntergebracht, hauptsächlich vonden Baukonzernen BUDIMEX undCALBUD. Beide Unternehmen ste-hen bundesweit im Ruf, den allge-meinverbindlichen, tariflichen Min-destlohn von 12,30 pro Stunde zuunterlaufen und die Sozialkasse Bau(SOKA-BAU) zu betrügen. Den-

    noch werden sie regelmäßig für diegroßen deutschen Baukonzernetätig, etwa für WAYSS & FREY-TAG, HOCHTIEF oder auch dieösterreichische STRABAG.

    Da die Männer auf ihre Arbeits-plätze auf den Baustellen angewiesensind und sich die IG BAU mit ihrerPolitik der Razzien nicht eben weni-ge Feinde unter ArbeitsmigrantIn-nen gemacht hat, kommt es dannauch nicht zur spontanen Zusam-menarbeit mit den Gewerkschaftern.Erste Kontakte aber werden ge-schmiedet, vor allem von den Aktivi-sten des Wanderarbeiter-Verbandes.Die polnischsprachigen Flugblättermit einer kurzen Ansprache und denTelefonnummern der Organisationfinden reißenden Absatz.

    Polnische Bauleute werden inDeutschland überwiegend unterge-setzlich bezahlt. In der Regel erhal-ten sie zwar den Mindestlohn füreine vertraglich vereinbarte Arbeits-zeit, müssen dann aber monatlich

    weitere bis zu 100 Stunden umsonstschuften. Da die Männer in der Re-gel auch noch unterschreiben müs-sen, dass sie beispielsweise nur 130Stunden pro Monat arbeiten, fälltdie nachträgliche Beweisführung beider Erkämpfung der fehlenden Löh-ne schwer. Davon abgesehen kom-men immer wieder Fälle vor, in de-nen die Arbeiter überhaupt keinenLohn erhalten haben, wie aktuellbeim polnischen Fliesen-Unterneh-men »Granit-Brzesko«, einem Sub-unternehmen des deutschen Unter-nehmens »Marmor-Müller«.

    Der Verband der Wanderarbeiterwurde im September 2004 von derIG BAU gegründet und hat nichtsGeringeres zum Ziel, als Organisati-onsstruktur aller wandernden Arbei-terInnen in Europa zu werden.Dafür erweitert sich der Verbandkontinuierlich: Nachdem man sichzunächst fast ausschließlich auf pol-nische Bauleute konzentriert hat,sollen in einem nächsten Schritt

    auch ungarische Kollegen vom Bauorganisiert werden. Zudem bereitetman sich für die nächste Erntesaisonauf den Einsatz bei ErntehelferInnenin der Landwirtschaft vor. Paralleldazu sucht der Verband offensiv Ko-operationspartnerInnen im In- undAusland und spricht zu diesemZweck bei Gewerkschaften, Verei-nen, AnwältInnen und Sozialverbän-den vor. Wer sich weiter informierenoder in Kontakt treten will, kanndies tun unter:

    European Migrant Workers Union,Heddernheimer Landstr. 151, 60439Frankfurt am Main, Tel. (069)9511993–0, Fax (069) 9511993–9

    ben völlig neu aufzustellen«. Nach Auslaufender aktuellen Verträge will die Gewerkschaftin der Lage sein, »Häuserkämpfe«, also vonArbeitsniederlegungen begleitete Haustarif-verhandlungen, in zahlreichen Unternehmenzu organisieren. Zu diesem Zweck werden inzahlreichen Bezirksverbänden bereits seit2001 Vertrauensleute-Strukturen aufgebautund Betriebsgruppen installiert – ein No-vum, hatte man sich bislang ausschließlichauf die Organisierung in Ortsverbänden ge-stützt. Um die Mitgliedschaft nachhaltig zumotivieren baut Wiesehügel auch die Bun-deszentrale der IG BAU um: Künftig mussjede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter mo-natlich ein willkürlich ausgewähltes Mitglied

    anrufen und nach Kritik und Anregungenfragen. Der Vorsitzende selbst und seine nunacht VorstandskollegInnen stellen sich min-destens einmal im Monat per Chat den Fra-gen der Basis.

    Der 52jährige Sozialdemokrat antwortetmit diesen Neuerungen auf die anhaltendeKrise der IG BAU. Von der aktuellen Tarif-runde abgesehen, leidet die Organisation seitJahren unter einem expansiven Mitglie-derrückgang (-21 Prozent seit 1995), einerArbeitslosigkeit von bis zu 35 Prozent in ein-zelnen ihrer Branchen und bröckelnden Ta-

    »An den Taten sollt Ihr sie erkennen«IG BAU: Tarifvertraglicher Offenbarungseid und schnelle EingreiftruppenVon Kjell Hansen*

    arbeiterorganisiertHamburger Männerwohnheim

  • Im Zuge der Tarifauseinandersetzun-gen der Ärzte an Unikliniken unddes Austritts des Marburger Bundsaus der Tarifgemeinschaft mit ver.dihat der Vorsitzende des mb Montgo-mery in einem Interview nun an-gekündigt, dass der mb – eventuell –eine Gesundheitsgewerkschaft grün-den wolle: Er lade »Schwestern, Pfle-ger und technisches Personal zurGründung eines Interessenverbandesein«, sagte Montgomery in einem In-terview mit der Zeitschrift für die»Informationselite« Focus, die dieWelt gerne in ärztegerechtem For-mat aufbereitet. Nachdem der mbwährend der letzten Wochen 10 000neue Mitglieder (das macht ca. 12,5Prozent Zuwachs) unter den ange-stellten Ärzten gewonnen hat, stößt

    dieses Angebot nun anscheinend aufgroßes Echo bei Schwestern undPflegern – wenigstens behauptet dasdie Pressestelle des mb.

    Zweierlei ist hier also zu fragen:Will der mb das wirklich? Und:Können das die Schwestern undPfleger wirklich wollen? Die Taktikdes mb ist doch relativ leicht durch-schaubar. Da er den Ruch der Stän-deorganisation nicht los wird undauf entsprechende Kritik äußerst pi-kiert reagiert (Vgl. »Der MarburgerBund stellt Verdis (!) Propaganda ge-gen Krankenhausärzte klar!«, Pres-seerklärung vom 25. Oktober 2005,in: www.marburger-bund.de), ver-sucht er nun die Flucht nach vornanzutreten und – eventuell, wiemehrfach betont – zur Gesundheits-

    gewerkschaft zu werden. Welche ArtOrganisation das werden würde,kann man sich leicht ausmalen.Auch wenn dort Schwestern undPfleger Mitglied würden, änderte dassicher nichts an der Dominanz derÄrzte, solange sich sonst nichts imGesundheitswesen und speziell anden Verhältnissen im Krankenhausändert.

    Nur umgekehrt würde ein Schuhdraus: Beinhaltete eine (Tarif-)Auseinandersetzung auch eine De-batte um die Hierarchie im Kran-kenhaus, dann ließe sich neu darübernachdenken, ob eine Gesundheitsge-werkschaft auch für Schwestern,Pfleger – und fortschrittliche Ärztesinnvoll sein könnte. Über ihr Ver-hältnis zu ver.di müsste dann eben

    diskutiert werden. Ansätze zu so et-was gab es in den 70er Jahren schoneinmal in der Bundesrepublik – siesind allerdings gescheitert bzw. niepraktisch geworden.

    Für die Schwestern und Pflegerkann ein Beitritt zum mb nicht wirk-lich eine Perspektive sein – es seidenn, sie wollen beitragen zur Fort-setzung der Krankenhaushierarchiemit anderen Mitteln und das Feigen-blatt spielen für die Ärzte, die nochvor ein paar Wochen ständig stän-disch verkündet haben, dass genugfür die da unten gemacht wurde,jetzt seien sie mal dran.

    Dass ver.di auch neue Mitglieder– und zwar in ähnlichen Größenord-nungen – gewinnen kann, zeigt dieTarifauseinandersetzung in Baden-Württemberg (siehe Artikel oben).Bedingung dafür scheint allerdings,dass endlich wieder die Auseinander-setzung gesucht wird. So lohnt sichWiderstand auch für ver.di.

    NaRa

    R U B R I K6 express 10/2005

    rif-Standards allenthalben. Konnte man trotz dieser Rahmen-bedingungen im Juni 2002 noch einen beeindruckenden,bundesweiten Arbeitskampf organisieren und gewinnen, andem sich rund 40 000 Bauleute aktiv beteiligten, sieht sich somancher Funktionär heute einer Übernahme durch die IGMetall gegenüber. Nur wenig mehr als 400 000 Mitgliederkann die Gewerkschaft Bauen Agrar Umwelt heute aufweisen,was bereits umstrittene Einschnitte im Personal nach sich zog.Um die schwächelnde Betreuung der Mitglieder aufzufangenund dennoch Kampffähigkeit herzustellen, betont Klaus Wie-sehügel bereits seit einem Jahr die Notwendigkeit, den ehren-amtlichen Bereich der Organisation massiv zu stärken. Außer-dem bemüht man sich emsig, neue Betriebsräte zu wählenund junge GewerkschafterInnen politisch zu schulen. Wiediese Bemühungen allerdings mit ausschließlich von der Or-ganisationsspitze diktierten Tarifrunden zusammenpassenoder mit einem Gewerkschaftsbeirat erzielt werden sollen, derbislang allenfalls als «Nickdackel« agierte, sei dahingestellt.

    Als am 4. Oktober Wirtschaftsminister Wolfgang Clement(SPD) zu den 300 Delegierten gesprochen hatte, erntete vorallem Ernst-Ludwig Laux anhaltenden Beifall, als er dem Mi-nister mit auf den Weg gab: »Das hat sich ja alles ganz gut an-gehört, Wolfgang. Uns haben aber die letzten Jahre gelehrt,vorsichtig zu sein. Darum sagen wir uns: An den Taten solltIhr sie erkennen!« Ähnlich skeptisch verließen viele Delegiertedie ehemalige Bundeshauptstadt nach dem Gewerkschaftstag.Nicht ohne Grund war eine mehrstündige Auseinanderset-zung zwischen Mitgliedern des scheidenden Bundesjugend-vorstands und dem Bundesvorstand von den Mitgliedern mitgroßem Interesse verfolgt worden. Ein Antrag aus Nordhessenbekam darauf trotz Intervention verschiedener Vorstandsmit-glieder die Mehrheit der Stimmen, nachdem deutlich wurde,wie sehr die Jugendlichen in den letzten Monaten politischentmündigt worden waren. Dabei beschäftigte sich Antrag 23eigentlich mit der Verteilung der Personalbudgets zwischenBundesvorstand und Bezirksverbänden, die der Gewerk-schaftstag nun leicht zugunsten der Regionen korrigierte. An-trag 127 und damit die Forderung nach einem Bundesjugen-dreferenten scheiterte anschließend nur an der Interventionder Delegierten-Nummer 001 – Wiesehügel persönlich. Dasdeutliche Vertrauen, dass dieselben Delegierten dem Bundes-vorstand noch kurz zuvor bei den Wahlen ausgesprochen hat-ten, kann daher nur als Vorschuss verstanden werden. Ob erzurückgezahlt wird, bleibt abzuwarten. * Kjell Hansen ist Betriebsrat der IG BAU

    Vom 5.–16. Oktober 2005 streikten in Heidelberg, Freiburg,Tübingen und Ulm die Belegschaften der vier Unikliniken inBaden-Württemberg. Es war das nichtwissenschaftliche bzw.nichtärztliche Personal. Bei den wenig kampferfahrenenStreikenden handelte es sich nicht um traditionelle Kampf-truppen aus der Arbeiterschaft des öffentlichen Dienstes wieMüllmänner und StraßenbahnfahrerInnen, sondern überwie-gend um Angestellte und Frauen im »personennahen Dienst-leistungsbereich«, sprich Pflegeberufe: neben dem eigenenBerufsethos, unmittelbar in Kontakt mit den Patienten undderen Angehörigen, kritisch beäugt von Vorgesetzten, Presseund Öffentlichkeit.

    Die Ziele dieses Arbeitskampfes waren komplex, aber of-fensichtlich gut vermittelt in den Belegschaften und einsich-tig für die Öffentlichkeit. Es war ein Streik gegen eine Ver-längerung der Arbeitszeiten und weitere Arbeitsbelastungen,den Abbau von Urlaubs- und Weihnachtsgeld, gegen Null-runden bei den Gehältern – und es ging um die Erzwingungeines Tarifvertrages. Die Unikliniken waren Mitte 2004 ausdem Arbeitgeberverband und damit einer Tarifbindung aus-getreten. Jede Einzelne wollte den Beschäftigten zuerst perEinzelarbeits- bzw. Ausbildungsvertrag für die Neueingestell-ten und dann noch mit dem tarifvertraglichen Segen einerschwach erscheinenden Gewerkschaft ver.di massive Ver-schlechterungen aufdrücken.

    Ver.di und die anfangs schwach organisierten Belegschaf-ten nahmen den Kampf gegen tarifliche Konzessionen und

    Spaltungen der Belegschaften, für die Anerkennung durchden Arbeitgeber und einheitliche tarifliche Regelungen aufund setzten sich durch.

    In der Krise streiken geht also doch. Und noch etwas istbemerkenswert. Der Arbeitskampf wurde nicht nur inner-halb der Kliniken, sondern bewusst mit vielfältigen Aktionenin der Öffentlichkeit geführt. Auch die Parolen, dass die Ge-werkschaften der Vergangenheit angehörten bzw. bestenfallsRelikt vergangener Zeiten seien, verbunden mit dem Hinweisauf den Mitgliederschwund als »Beweis« für diese Behaup-tungen, werden durch diesen Arbeitskampf erschüttert.

    Für ver.di u.a. zeigt sich exemplarisch: Es geht auch an-ders, es gibt Alternativen zur Anpassung, weil es Bedürfnisseund Hoffnungen gibt. Neben der politischen Stärkung erfuhrauch die gewerkschaftsinterne Ökonomie eine: Der gewerk-schaftliche Organisationsgrad stieg in den Kliniken bei denca. 20 000 unter den Tarifvertrag fallenden Beschäftigten umzehn Prozent (!).

    Die hohe Zustimmung von über 90 Prozent in der zwei-ten Urabstimmung zeugt von einer gut bei den Mitgliedernverankerten Tarifpolitik mit akzeptablem Ergebnis. Bestätigtwurde auch, dass man in und mit jeder Belegschaft eine Ge-werkschaft (be-)gründen kann. Das »rebellische und demo-kratische Potential« ist offenbar noch immer und immer wie-der da. In größerer Zahl als manche Angsthasen, Zaudererund Modernisten glauben machen wollen.

    Anton Kobel

    Das TarifergebnisDie von den Arbeitsgebern geforderte 40-Stundenwoche statt vorher 38,5 konnte verhindert werden. Vereinbart wurden 38 Stunden fürBeschäftigte über 55 Jahren, 38,5 für Beschäftigte zwischen 40 und 55 Jahren, 39 Stunden für unter 40jährige. Für ca. 2 000 Auszubil-dende und (Pflege-)SchülerInnen gilt die 38,5-Stundenwoche statt vorher 41 Stunden. Auch die zwischenzeitlich über 41 Stunden abge-schlossenen Arbeitsverträge sind auf die neuen Arbeitszeiten zurückgeführt. »Vereinbart wurde eine an der Belastung orientierte Wo-chenarbeitszeit«, so verdi.

    Für Februar bis Dezember 2005 erhalten alle Beschäftigten eine Einmalzahlung von 390 Euro, für 2006 und 2007 je 300 Euro einmalig.Auszubildende und SchülerInnen bekommen 195 Euro für 2005 und je 300 Euro in 2006 und 2007. Diese Einmalzahlungen beinhalten da-mit zwar eine soziale Komponente, werden aber nicht tabellenwirksam. Vereinbart wurden auch Verhandlungen über eine neue, einheit-liche Entgelttabelle, die an die Stelle der bisher drei Tabellen für ArbeiterInnen, Angestellte und Pflegeberufe wie Krankenschwestern, Heb-ammen u.ä. treten sollen. Diese neue Tabelle wird 2006 um 0,25 Prozent erhöht.

    Statt des bisherigen Urlaubsgelds von 332 Euro in den unteren und 255 Euro in den höheren Tarifgruppen sowie des Weihnachtsgelds von82 Prozent eines jeweiligen Monatsentgelts erhalten alle ab 2006 eine Sonderzahlung in Höhe von 88 Prozent des persönlichen Entgeltes.Für 2005 gilt die bisherige Regelung. Die Klinikchefs hatten den Wegfall des Urlaubsgeldes und eine Kürzung des Weihnachtsgeldes auf60 Prozent gefordert.

    Die Zustimmung zu diesem Ergebnis ist in der Urabstimmung groß: 86 Prozent in Heidelberg und über 90 Prozent in allen vier Unikliniken.Eine differenzierte Betrachtung und Bewertung wird im nebenstehenden Interview mit zwei ver.di-Aktiven aus Heidelberg deutlich. AK

    Geht doch: in der Krise streiken!Klinik-Beschäftigte erfolgreich im Tarifkampf BaWü

    Hört die Signale, Schwestern!Zur Strategie des Marburger Bundes und der Fortsetzung der Krankenhaushierarchie mit anderen Mitteln

  • Damit hätten wohl nur wenige inver.di gerechnet: Im Laufe des Streiksging es unter den kampferfahrenenBeschäftigten nicht mehr um die Fra-ge, wer streiken muss, sondern werstreiken darf, statt Notdienst zu schie-ben. Doch nicht nur dieser Wandel imDenken war ein bemerkenswerterAspekt des Streiks.

    Anton Kobel sprach mit Ralf Kiefer,Mitglied der ver.di-Tarifkommissionund Sprecher der Vertrauensleute ander Uni-Klinik Heidelberg, und Mia Lin-demann, ver.di-Geschäftsführerin Hei-delberg-Buchen, über ihre Einschät-zung des Streiks.

    AK: Ihr wart vom 5.–16. Oktober d.J. imStreik. Wie bewertet Ihr das komplexe Ergebnis?

    Ralf Kiefer: Das Ergebnis kommt gut an.Wir haben uns durchgesetzt. Relativ erfolg-reich bei der Arbeitszeit. Die Arbeitgeberhatten in den letzten Monaten mit Neuein-gestellten die 41-Stundenwoche per Arbeits-vertrag vereinbart, bei den Verhandlungenwollten sie von den bisher tariflichen 38,5Stunden auf 40 Wochenstunden verlängern.Das konnten wir richtig gut verhindern. Diejetzt vereinbarte Arbeitszeit gilt für alle. Da-mit haben wir auch für andere ein deutlichesZeichen gesetzt. Besonders gut ist es für dieAuszubildenden und Neueingestellten. Statt41 Stunden nur 38,5 für die Azubis und 38-39 Stunden, je nach Alter, für die Neuen.Beim Geld, bei den Tariferhöhungen hättees mehr sein müssen! Die 390 Euro reichenkaum für den Inflationsausgleich. Sie werdenauch nicht tabellenwirksam. Besonders kri-tisch sehe ich die Regelung zum Urlaubs-und Weihnachtsgeld, die jetzt zu einerJahressonderzahlung von 88 Prozent einesMonatsgehalts zusammengefasst sind. Bisherhatten wir beim Urlaubsgeld eine deutlichesoziale Komponente: als Festbeträge 332Euro für die unteren und 255 Euro für diehöheren Tarifgruppen. Das wurde jetzt fak-tisch auf sechs Prozent des jeweiligen Gehal-tes eingedampft. Das ist nicht gut. Trotz die-ser Kritik im Einzelnen ist unser Tarifab-schluss ein guter Erfolg.

    Mia Lindemann: Bei der Bewertung mussman auch sehen, dass wir jetzt einen identi-schen Tarifvertrag für alle Beschäftigten anden vier Unikliniken in Baden-Württemberghaben. Wir konnten die von den Arbeitge-bern vollzogene Spaltung in bisherige undneu eingestellte Beschäftigte aufheben. Un-ser Arbeitskampf und Tarifabschluss setztneue Maßstäbe gegen gewerkschaftlicheKonzessionspolitik. Es gibt erkennbare Alter-nativen zu den geforderten Verschlechterun-

    gen. Eine Verlängerung der Arbeitszeitenkönnen wir verhindern. Gerade hier ist derAbschluss ein großer Erfolg.

    AK: Erstaunlich ist der besondere Erfolg für dieAzubis. Oft fallen sie ja hinten runter bei Ta-rifverhandlungen.

    Mia: Die Azubis haben sich ganz aktiv undkreativ im Arbeitskampf beteiligt. Es ist auchihr Erfolg. Und wir wollten Spaltungen inder Belegschaft verhindern.

    AK: Ging es – außer den materiellen Zielen –auch um etwas anderes, nach dem Verbands-austritt Eurer Arbeitgeber?

    Ralf: Jede Uniklinik in Heidelberg, Freiburg,Tübingen und Ulm wollte einen eigenenHaustarifvertrag mit deutlichen Verschlechte-rungen. Sie wollten finanzielle Auswirkungen

    der politischen Gesundheitsreform auf unsBeschäftigte abwälzen. Wir in den Klinikenwären also doppelt und dreifach betroffen, alsBeschäftigte und dann als Kranke und Bei-tragszahler. Wir wollten einen einheitlichenTarifvertrag, das Nulldiktat unserer Arbeitge-ber beim Gehalt brechen und die Sonderzah-lungen erhalten. Das ist uns gelungen.

    Mia: Unsere Gewerkschaft ist jetzt aner-kannt, bei den Beschäftigten und den Chefs.

    Ein gutes Pfund für alle Beschäftigten, auchfür die Zukunft.

    AK: Ihr seid im und durch den Arbeitskampfstärker geworden. Wie und Warum?

    Ralf: In Zahlen und im Bewusstsein. In denvier Unikliniken gab es über 1 100 neue Ge-werkschaftsmitglieder. Unser Organisations-grad ist deutlich gestiegen. Im Bewusstseinder Aktiven, d.h. der Vertrauensleute undPersonalräte, und der ganzen Belegschaft,nicht nur bei den am Streik Beteiligten, sindwir alle richtig stärker. »Das haben wir (!) ge-schafft«, ist das vorherrschende Gefühl. Manmuss sehen: Vor dem Streik fand niemanddie 40- bzw. 41-Stundenwoche gut. Die Be-denken, ob wir die längere Arbeitszeit ab-wehren können, waren sehr groß! Ein Groß-teil unserer Belegschaft hat Zweifel an unse-rer Kraft gehabt. Wir hatten bisher nur Er-

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    fahrungen mit Warnstreiks, und jetzt warenwir im Erzwingungsstreik. Das war etwasNeues und Unbekanntes. Und da ist eineunglaubliche, nicht vorhersehbare Dynamikentstanden: »Wir wollen dabei sein.« »Es istunser Streik.« Bei der Einteilung zu denNotdiensten – für uns in den Krankenhäu-sern ein wichtiges Thema – entstand die Fra-ge »wer muss (!) arbeiten und darf nicht (!)streiken?« Damit hatten wir nicht gerechnet.Zeichen unserer Stärke war auch ein hoherGrad an Selbstorganisation im Streik, auchmit dem Ziel, eine große Beteiligung zu er-reichen. Wir haben ganz viel Kraft ent-wickelt. Wir hätten noch länger streikenkönnen.«

    AK: Eure Streiktaktik, Wechselstreik genannt,war erfolgreich. War sie auch problemlos?

    Mia: Erstaunlicherweise ja. In Heidelberghatten wir am ersten Streiktag alle außer denNotdiensten aufgerufen. Die Beteiligung warenorm. In den folgenden Tagen setzten wirwirksame Nadelstiche. Wir hatten uns aufdrei Monate Kampf eingestellt. Wichtig wa-ren die vielen Diskussionen und Gesprächeüber Streiken im Krankenhaus. Wir streiktenja nicht gegen die Patienten, sondern gegendie Arbeitgeber. Dieses Bewusstsein, Ralf hates gerade gesagt, ermöglichte den Wechsel-streik. Wir streikten vor allem da intensiv,wo es für den Arbeitgeber teuer wurde.Wenn der eigene Krankentransport ausfiel,mussten das Rote Kreuz oder Taxis gemietetwerden. Das geht ins Geld. Gleiche Wir-kung haben ausgefallene Großeinnahmen,wenn z.B. nur die Notoperationen ausge-führt werden konnten. Bei den Beschäftigtenkam unsere Streiktaktik gut an.

    AK: Wie ist die Stimmung jetzt nach demStreik?

    Ralf: Die Stimmung ist wirklich gut. DieStimmung im Streik wirkt noch immernach. Bei der Urabstimmung zeichnet sichtrotz Kritik im Einzelnen, die ich auch inder Tarifkommission geäußert hatte, einehohe Zustimmung ab. Und beides ist rich-tig: die Kritik und die Zustimmung! Deut-lich zu sehen und zu spüren ist das nicht nurbei den Streikenden, sondern bei allen ge-wachsene Selbstbewusstsein. Auch Stolz undZufriedenheit wegen des guten Gelingens.Wir haben die eigene Kraft gespürt und ihreWirkungen erfahren. Ein gutes Gefühl!

    AK: Und Du Mia?

    Mia: Rundum zufrieden. Wir haben wasrichtig Gutes erreicht.

    Wir dokumentieren hier einFlugblatt der Gewerkschaftver.di, das zu Streiks und Pro-testen an Universitätsklinikenund Landeskrankenhäusernaufruft und demnächst an denentsprechenden Orten verteiltwerden soll.

    Für den Bund und die Kommunengilt ab 1. Oktober ein neues Tarif-recht (der TVöD), und es wurden inden westlichen Bundesländern Ein-malzahlungen von 300 Euro für2005, 2006 und 2007 vereinbart; inden östlichen Bundesländern eineAnhebung der Ost-Vergütungstabel-le bis 2007. Die Tarifgemeinschaftder Länder weigert sich weiterhin,

    das neue Tarifrecht auch für denLänderbereich zu übernehmen. Siebesteht auf ihrer Forderung, die Ar-beitszeit auf bis zu 42 Wochenstun-den zu erhöhen.

    Auch an einer Kürzung der Zu-wendung und der Streichung vonUrlaubsgeld halten die Länder wei-ter fest. Die Beschäftigten in Uni-versitätskliniken und Landeskran-kenhäusern sind hiervon unmittel-bar betroffen. Mittlerweile ist fastjede/r dritte/r Beschäftigte in denUniversitätskliniken, bedingt durchNeueinstellungen bei ausgelaufe-nen befristeten Arbeitsverträgenund Arbeitsvertragsänderungen ausanderen Anlässen, von den Ver-schlechterungen durch die Kündi-gung der Tarifverträge für Urlaubs-geld, Zuwendung und zur Arbeits-

    zeit betroffen. Außerdemsind einige Universitätskli-niken nicht mehr tarifge-bunden und damit zum Teilseit 2003 von der Tarifent-wicklung abgekoppelt. (...)

    Das dürfen wir nichthinnehmen! Wir müssen den Arbeit-gebern in den Universitätsklinikendeutlich machen, dass wir es nichtakzeptieren, wenn wir von der Ein-kommensentwicklung im Öffentli-chen Dienst abgekoppelt werden.Auch in den Landeskrankenhäusernfordern wir eine Verbesserung unse-rer Arbeitsbedingungen!

    Für einen Verzicht auf gleicheStandards wie im Bund und in denKommunen werden wir nicht be-lohnt. Jetzt droht auch noch die Pri-vatisierung von Universitätsklinikenund Landesbetrieben, allen voran inHessen und Niedersachsen.

    In dieser schwierigen Situationwill der Marburger Bund nun für dieÄrzte Sonderregelungen durchset-zen. Er argumentiert, die Ärzte seiendie einzigen Leistungsträger in den

    Universitätskliniken. Dabei nimmter in Kauf, dass im Rahmen der ge-deckelten Krankenhaus-Budgets dieSondervergünstigen für die Ärztenur zu Lasten der anderen Berufs-gruppen durchgesetzt werden kön-nen. Konsequenz wäre eine Spaltungder Belegschaften und eine Benach-teiligung der übrigen Beschäfti-gungsgruppen in den Universitäts-kliniken.

    In Baden-Württemberg habenuns die Beschäftigten gezeigt, dass esauch anders geht: Hier ist es unserenKolleginnen und Kollegen in denUniversitätskliniken gelungen, einenTarifvertrag auszuhandeln, mit demwieder unmittelbare Tarifbindunghergestellt werden konnte. Diewöchentliche Arbeitszeit wurde auf38 bis 39 Wochenstunden gestaffeltnach Alter festgelegt, und es wurden390 Euro Einmalzahlungen für 2005und von 300 Euro für 2006 und2007 vereinbart. Die Kolleginnenund Kollegen in Baden-Württem-berg haben bewiesen: Bessere Bedin-gungen können erkämpft werden.

    Zeigt Ihr dies Eurem Arbeitgeberauch, und werdet aktiv! Beteiligt euch an Aktionen, beteiligteuch am Streik !

    Wir fordern:● Ein neues Tarifrecht an den Uni-versitätskliniken!● Keine Kürzung der Zuwendungund des Urlaubsgeldes!● Erhalt der 38,5 Stunden regel-mäßige Wochenarbeitszeit!

    »Stärker geworden«Gespräch mit ver.di-Aktiven zu den Uniklinik-Streiks in BaWü

    Billig ist krankver.di fordert Tarifvertrag statt Dumpinglohn

  • R U B R I K8 express 10/2005

    bungsvertrag ausgeschieden. Von diesen Mit-arbeitern sind alle diejenigen, die sich auf dieKündigung eingelassen haben, heute nochim Betrieb und mittlerweile wieder reinte-griert: ca. 200 Beschäftigten (Schwerbehin-derte, Jubilare mit besonderem Kündigungs-schutz, Ältere) wurde Anfang 2003 aufgrunderfolgreicher BR-Widersprüche nicht gekün-digt, ca. 200 wurde gekündigt.1 Von diesenGekündigten wurden in der ersten Instanzalle Prozesse von den Mitarbeitern gewon-nen; in der zweiten Instanz, die bis auf weni-ge Prozesse abgeschlossen ist, sieht es ähnlichaus. Das Arbeitsgericht und Landesarbeitsge-richt München hat Siemens mehrmals auf-gefordert, die Kündigungen zurückzuziehen,sie seien rettungslos verloren.

    Fazit: An diesem Beispiel sieht man deut-lich, dass die sogenannten sozialverträglichenLösungen wie Aufhebungsvertrag und Be-schäftigungsgesellschaft für viele heute Ar-beitslosigkeit bedeutet hätten: Ein Drittelder Mitarbeiter in der Beschäftigungsgesell-schaft wurde im August 2004 arbeitslos. DieKündigung muss nicht immer die schlechte-ste Lösung sein. Für 200 Siemens-Mitarbei-ter war es der Weg der Kündigung und diedaran anschließende Gegenwehr, die dazuführten, dass sie den Arbeitsplatz letztlichbehalten konnten.

    6. Meinungsführerschaft

    Der Betriebsrat München Hofmannstraßepraktizierte von Anfang an eine offene Infor-mationspolitik. Er informierte die Beleg-schaft kontinuierlich und diskutierte mit ihrdie Situation. Sein Ziel war herauszufinden,was die Belegschaft wollte und sie mit einzu-binden in den schwierigen Prozess gegen denStellenabbau. Der BR diskutierte einzeln mitMitarbeitern, um ihre Meinung zu bestimm-ten Verhandlungspunkten zu erfahren. Zu-sätzlich fanden in dieser Zeit insgesamt zehnBetriebsversammlungen statt. Der BR stelltesich eindeutig hinter die Belegschaft undsprach offen mit ihr: »Wir können den Ar-beitgeber nicht daran hindern, dass er kün-digt, aber wir tun alles, was möglich ist, umes zu verhindern.« So ließ der BR z.B. dieBetriebsleitung selbst die Kündigungsabsichtverkünden. Sie musste selbst ihr Beschäfti-

    gungsmodell vorstel-len. Der BR ließ sichnicht vor den Karrender Betriebsleitungspannen und entgeg-nete dem wirtschaftli-chen Argument, ICNsei in roten Zahlen,und wenn der Stellen-abbau nicht vollzogenwerde, dann gehe ICN

    pleite, mit dem Argument: »Wird der Stel-lenabbau vollzogen, gehen zunächst einmaldie Mitarbeiter pleite, ihre Existenz ist rui-niert, und es ist daher legitim, dass sie umdie Erhaltung ihres Arbeitsplatzes kämpfen.«Außerdem wies der BR darauf hin, dass derArbeitsvertrag mit der Siemens AG undnicht mit ICN bestehe, und dass es der Sie-mens AG besser gehe denn je. Zusätzlichlegte der Betriebsrat ein Modell (à la VW)vor, das mittels Arbeitszeitverkürzung undweiterer Maßnahmen alle Arbeitsplätze hättesichern können. Die Betriebsleitung war zurDiskussion über diese Alternative nicht be-reit und lehnte es ungeprüft ab. Spätestenshier erkannte die Belegschaft, dass es demArbeitgeber nicht um die Sanierung vonICN (heute COM) und die Rettung der Ar-beitsplätze ging, sondern nur darum, ihrenWillen mit Macht durchzusetzen. Dies führ-te dazu, dass 3 000 Siemens-Mitarbeiter vorder Firmenzentrale in München demon-strierten. Für viele war es die erste, abernicht die letzte Demonstration in ihrem Le-ben. Der Siemens-Vorstand war nach Erlan-gen geflohen. Diese Demo brachte denDurchbruch bei der Betriebsvereinbarung,die es nun umzusetzen galt.

    Der Betriebsleitung gelang es währenddes ganzen Stellenabbaus nicht mehr, dieMeinungsführerschaft im Betrieb zurückzu-erobern.

    7. Zur Entstehung des NCI

    Am 11. November 2002 erhielten die Mitar-beiter die Blauen Briefe: »Ihr Arbeitsplatzentfällt. Wir bieten Ihnen einen Aufhe-bungsvertrag an oder die Möglichkeit, in dieBeschäftigungsgesellschaft zu gehen. Anson-sten müssen Sie mit einer betriebsbedingtenKündigung rechnen«. Der Betrieb war andiesem Tag lahmgelegt. Es war, als ob einMeteor eingeschlagen hätte. Einige liefenherum wie aufgescheuchte Hühner, anderesaßen erstarrt vor ihrem PC, ganze Abteilun-gen legten die Arbeit nieder. Sprach man je-manden auf den Gang an, erzählte er seineLebensgeschichte und offenbarte seine Le-bensverhältnisse.

    Der Beginn des Mitarbeiter-NetzwerksNCI war eine schlichte Email, die die Kolle-

    ginnen und Kollegen von benachbarten Ab-teilung zusammenrief und dazu aufrief, alleInteressierten mitzubringen. Zwischen 30und 40 Leuten folgten diesem ersten Aufruf.Während der Vorstellungsrunde erzählte je-der Mitarbeiter, wie es ihm ging, was er fühl-te und wie hilflos er sich dieser existenzbe-drohenden Situation gegenüber sah. DiesesSprechen über Gefühle war ein sehr wichti-ger Moment; er half den KollegInnen, ausder emotionalen Isolation herauszutreten.Das Sprechen über Emotionen ist heutenoch ein zentrales Element im NCI. Ohneden Aufbruch des Tabus »Gefühle« wäre derZusammenhalt im NCI nicht gelungen.

    Die Information über diese erste Gruppedes NCI verbreitete sich in Windeseile. Mit-arbeiter, die zur Beratung beim BR kamen,wurden vor den Türen angesprochen und ge-fragt, ob sie im NCI, das zu diesem Zeit-punkt noch keinen Namen hatte, mitmachenwollten. Auch hier das Gleiche: Jeder erzählteseine Geschichte, jeder schloss sich an.

    Die zweite Phase war die Aufklärungüber betriebsbedingte Kündigung, überKündigungsschutz, soziale Auswahl, Weiter-beschäftigung nach § 102 BetrVG und dasGeschehen vor Gericht. In den verschieden-sten Abteilungen hielt die Autorin dann – alsMitarbeiterin von Siemens – den gleichenVortrag über das Thema Kündigungsschutz-klage. Es sprach sich in Windeseile herum,dass es jemand gab, der wusste, welche recht-lichen Folge eine Kündigung hat und welcheMittel es gibt, sich dagegen zu wehren. Beijedem Treffen wurden die Email-Adressender Mitarbeiter eingesammelt. So entstandder erste NCI-Verteiler.

    Dann folgte das erste NCI-Treffen mitdem Ziel, die Mitarbeiter zu bewegen, ihreSache selbst in die Hand zu nehmen. Es ka-men ca. 200 Beschäftigte zu diesem Treffen.Der große Saal im Gewerkschaftshaus platzteaus allen Nähten. An den Wänden warenWandzeitungen mit Themenvorschlägen an-gebracht, angefangen von Emotionen bis hinzu rechtlichen Fragen. Zunächst drohte dieVeranstaltung, eine ganz normale Betriebs-versammlung zu werden. Dann aber folgtendie Mitarbeiter dem Aufruf: »OrganisiertEuch selbst, gründet Gruppen, tragt Euch inden Email-Verteiler ein, redet miteinander,lernt Euch kennen.« Die Veranstaltung warein voller Erfolg. Ein ehemaliger Abteilungs-leiter sagte: »So, jetzt kämpfe ich!« Er tut esbis heute, wie viele andere auch. Damit warein weiteres zentrales Element von NCI ge-boren: die solidarische Eigeninitiative undEigenverantwortung. Die Situation – auf dereinen Seite die Wissenden (BR), auf der an-deren Seite die Hilflosen (Belegschaft) – wardurchbrochen. Die Hilflosen wurden selbstzu Wissenden. Es gelang, die MitarbeiterIn-nen aus ihrer Abhängigkeit von BR und an-

    Nachdem Inken Wanzek im ersten Teilzum einen die wirtschaftliche Lage vonSiemens geschildert hat, die besser ist,als von Siemens behauptet, und zumanderen die Arbeitgebersicht bei ei-nem Großteil der Belegschaft beschrie-ben und kritisiert hat, erfahren wir inTeil II nun, wie sich die Belegschaftwandelte und ein kämpferisches Mit-arbeiter-Netzwerk gründete.

    5. Daten zum Stellenabbau

    Mitte August 2002 (d.h. zur Ferienzeit inBayern) gab die Firmenleitung bekannt, dassinnerhalb von sechs Wochen ein Drittel derBelegschaft am Standort München Hof-mannstraße abgebaut werden sollte. Dies be-traf 2 300 MitarbeiterInnen in der Festnetz-und 300 in der Mobilnetz-Sparte.

    Durch Maßnahmen wie Arbeitszeitver-kürzung, Vorruhestandsregelungen und In-sourcing gelang es dem Betriebsrat, die An-zahl der abzubauenden Arbeitsplätze auf1 100 (in der Festnetzsparte) bzw. 150 (inder Mobilnetzsparte) zu reduzieren. Den1 100 bzw. 150 Mitarbeitern wurde eine Sie-mens-interne Beschäftigungsgesellschaft, be-grenzt auf 14 Monate mit der Option einerVerlängerung, und der klassische Aufhe-bungsvertrag angeboten. Bei Nicht-Annah-me eines dieser Angebote sollte die betriebs-bedingte Kündigung erfolgen. Im Rahmeneines Sozialplans waren die finanziellen Din-ge geregelt. Zu betonen ist, dass jeder – egal,ob er den Aufhebungsvertrag angenommenhätte, in die Beschäftigungsgesellschaft ge-gangen oder gekündigt worden wäre – eineAbfindung in der Höhe von ein bis zwei Jah-resgehältern (abhängig von Alter undDienstzugehörigkeit) erhalten sollte. Die Ab-findung in der Beschäftigungsgesellschaftwar niedriger als die über Aufhebungsvertragund Kündigung.

    Von den genannten 1 250 Mitarbeiternbekamen in der ersten Kündigungswelle(insgesamt gab es drei) ca. 850-900 Mitar-beiter dieses Angebot. Davon sind ca. 350 indie beE gegangen, ca. 400 haben sich auf dieKündigung eingelassen, und der Rest istüber Vorruhestandsregelungen oder Aufhe-

    Die Autokoordination, ein Zusam-menschluss kritischer Betriebsräte undVertrauensleute aus dem Automobil-und Zulieferbereich, hat sich auf eineraußerordentlich gut besuchten Tagungam letzten Oktoberwochenende aufein unternehmensübergreifendes Vor-gehen bei der anstehenden Tarifrunde2006 verständigt. Zentrale Forderun-gen beziehen sich auf eine deutlicheUmverteilung angesichts gestiegenerLebenshaltungskosten, zu erwartenderMehrwertsteuererhöhungen und gestie-gener Profite der Unternehmen, eineRevision des »Pforzheimer Abkom-mens« der IGM, um die mit diesemTarifwerk in Gang gesetzten Spal-tungsprozesse und tariflichen Erosions-prozesse zu stoppen, sowie Arbeitszeit-

    verkürzungen einschließlich einer Aus-weitung der sog. »Steinkühlerpausen«auf andere Tarifgebiete. Diese von Un-ternehmensvertretern als »Baden-Württembergische Krankheit« bezeich-neten Pausen beinhalten Erholzeitenund Verteilzeiten in der taktgebunde-nen Fertigung und wurden 1973 alsBeitrag zur Humanisierung der Arbeiteingeführt. Der entsprechende Tarif-vertrag wurde von den Unternehmenin Baden-Württemberg gekündigt undsoll wohl in der anstehenden Tarifrun-de »verrechnet« werden – ein Vorgang,der große Empörung unter den direktBetroffenen auslöst, im übrigen Bun-desgebiet und in der bürgerlichen Pres-se jedoch weitgehend verständnislos als»Privilegiendiskussion« abgetan wird.

    Exemplarischmüsse daher, sodie KollegInnender Autokoordi-nation, im Au-tomobilbereichversucht werden,

    Druck auf die Ausweitung dieser Pau-sen zu entfalten und so die humanisie-renden Dimensionen einer Arbeitszeit-verkürzung auf allen Ebenen wiederins Gedächtnis zu rufen. Wir werdenin der nächsten Ausgabe des express dieausführlichen Forderungspapiere derAutokoordination dokumentieren, imFolgenden zunächst ein Beitrag vonden KollegInnen der Stuttgarter »alter-native«, die sich ebenfalls bereits Ge-danken zur anstehenden Tarifrundegemacht haben:

    Noch bevor die IG Metall mit derForderungsdiskussion für die Lohn-tarifrunde 2006 begonnen hat, las-sen die Arbeitgeber deutlich ihre Ab-sichten erkennen: Die gekündigten

    Tarifverträge zu den vermögenswirk-samen Leistungen und zu den Erhol-zeitpausen aus dem Lohnrahmenta-rifvertrag II (LRTV II) sollen in ei-ner Mogelpackung mit der Tarifrun-de verrechnet werden. Diese Rech-nung darf nicht aufgehen!

    Durch den ständig steigendenLeistungsdruck und die Verkürzungder Taktzeiten brauchen wir die Er-holzeiten mehr denn je, wie oft sol-len wir dafür noch bluten? Und wirbrauchen eine spürbare Reallohner-höhung, ohne dass dabei ständig be-

    reits erkämpfte Erfolge angerechnetwerden!

    Die Politik der »Lohnmäßigung«der zurückliegenden Jahre, die zuReallohnverlusten von 0,9 Prozentführte, muss von den Gewerkschaf-ten endlich aufgekündigt werden –und Argumente für dringend not-wendige und kräftige Reallohnstei-gerungen gibt es mehr als genug:● Wird nicht seit Jahren die schwa-che Binnennachfrage bemängelt?Und die hat doch vor allem etwasmit Kaufkraft und Löhnen zu tun!● Seit Juli müssen wir die Beiträgefür Krankengeld und Zahnersatz al-leine berappen, während die Arbeit-geber aus der paritätischen Finanzie-rung entlassen wurden und Millio-nen sparen!● Klar ist auch: Jedes ProzentLohnerhöhung bringt Geld in diemaroden Sozialkassen. Bekanntlichist in der Rentenkasse Ebbe, womitweitere Rentenkürzungen und Bei-tragserhöhungen drohen.

    NetzwerkerInken Wanzek über neue Formen von Arbeitskampfund Organisierung bei Siemens / Teil II

    Metall-Tarifrunde 2006»Nicht kleckern, sondern k(l)otzen!«

  • deren »Wissenden« herauszuholen – und da-mit auch