PRAKTISCHE THEOLOGIEEine Theorie- und Problemgeschichte€¦ · wichtigen TRE-Artikel zu Recht...

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EVANGELISCHE VERLAGSANSTALT PRAKTISCHE THEOLOGIE Eine Theorie- und Problemgeschichte Herausgegeben von Christian Grethlein und Helmut Schwier ARBEITEN ZUR PRAKTISCHEN THEOLOGIE

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APrTh33

ISBN 978-3-374-02514-5

E V A N G E L I S C H E V E R L A G S A N S T A L T

EVANGELISCHE VERLAGSANSTALT Leipzig www.eva-leipzig.de

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Eine Theorie- und Problemgeschichte

Herausgegeben vonChristian Grethlein und Helmut Schwier

A R B E I T E N Z U R P R A K T I S C H E N T H E O L O G I EDer Band stellt die Praktische Theologie in ihrer Gesamtheit dar und zieht, gegliedert in drei Teilen, eine Bilanz. Es geht um die Stellung der Praktischen Theologie innerhalb der Theologie und ihr Verhältnis zu anderen Wissenschaften. Dabei werden zentrale Themen angesprochen wie Praktische Theologie und Empirie, Bibel, Religion, Kirche und Mission. Der dritte Teil be-fasst sich mit ausgewählten Bereichen: der Pastoraltheologie, der Poimenik, der Kybernetik, mit Katechetik/Religionspädagogik und Diakonik. Jedes Kapitel benennt abschließend die Herausforderungen, denen sich praktisch-theologische Arbeit heute stellen muss.

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Praktische Theologie

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Arbeiten zur Praktischen Theologie

Herausgegeben vonWilfried Engemann, Christian Grethlein

und Jan Hermelink

Band 33

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Praktische Theologie

Eine Theorie- und Problemgeschichte

Herausgegeben von Christian Grethlein und Helmut Schwier

EVANGELISCHE VERLAGSANSTALTLeipzig

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Die Deutsche Bibliothek – Bibliographische Information

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet

über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

© 2007 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · LeipzigPrinted in Germany · H 7174

Alle Rechte vorbehaltenGedruckt auf alterungsbeständigem Papier

Satz: Claudia Rüdiger, MünsterDruck und Binden: Hubert & Co., Göttingen

ISBN 978-3-374-02514-5www.eva-leipzig.de

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VORWORT

1999 erschien gleichsam als erster Band und Vorläufer des jetzt vorgelegten Buchs eine Rekonstruktion der Praktischen Theologie anhand der Darstel-lung ihrer Klassiker.1 Damit versuchten jüngere Praktische Theologen dem Problem zu begegnen, dass es in praktisch-theologischen Diskussionen häu-fig an Tiefenschärfe fehlt und so manche unnötigen Diskurse aufbrechen oder oberflächlich geführt werden. Schon damals war den beiden Herausge-bern allerdings klar, dass dieser biografiebezogene Zugang nur ein erster Schritt bzw. eine Vorbereitung zu der von Henning Schröer in seinem ge-wichtigen TRE-Artikel zu Recht geforderten »problemgeschichtlichen Skiz-ze« der Praktischen Theologie darstellte.2

Ermutigt durch die freundliche Aufnahme der ersten Publikation – nach kurzer Zeit konnte der Verlag eine Paperback-Ausgabe auflegen – wird mit dem vorliegenden Band dieser zweite, erheblich schwierigere Schritt gewagt. Die Geschichte der Praktischen Theologie soll in insgesamt drei Durchgän-gen problemgeschichtlich rekonstruiert werden, um so die Herausforderun-gen, vor denen sie steht, mit historischer Tiefenschärfe wahrnehmen zu können.

Besonders zwei aktuelle und zugleich grundlegende Problemlagen seien genannt, die solch eine problemgeschichtliche Grundierung notwendig er-scheinen lassen. Zum einen beginnt offensichtlich in den Kirchen Deutsch-lands ein vertieftes, durchaus kontroverses Nachdenken über deren zukünf-tige Gestaltungen. Das im Sommer 2006 erschienene EKD-Impulspapier »Kirche der Freiheit« ist ein gegenwärtig viel beachteter Ausdruck hiervon. Zum anderen vollzieht sich in Deutschland eine tief greifende Hochschulre-form. Der sog. Bologna-Prozess ist die öffentlich diskutierte Chiffre für Entwicklungen, die spätestens mit der politisch gewollten Steigerung der Studierendenzahlen in den siebziger Jahren begannen und mittlerweile bis in kleinste organisatorische Fragen Auswirkungen haben. Hier gilt es, die Stel-lung und auch Organisationsform der Theologie neu zu bedenken.

An beiden Themen, Kirchen- und Studienreform, hat Praktische Theo-logie von Anfang an großes Interesse gezeigt. Damit sie auch für die vor uns liegenden Aufgaben einen substantiell gewichtigen Beitrag liefern und so zur Förderung der Kommunikation des Evangeliums in Kirche und Öffentlich-keit und damit bei den Menschen dieses Landes beitragen kann, ist eine Besinnung auf Einsichten aus der Disziplingeschichte wichtig. Die dazu not- 1 GRETHLEIN, Christian/MEYER-BLANCK, Michael (Hgg.): Geschichte der Praktischen

Theologie. Dargestellt anhand ihrer Klassiker, Leipzig 1999. 2 SCHRÖER, Henning: Praktische Theologie, in: TRE 27 (1997), 190–220, 195.

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Vorwort VI

wendige Urteilsbildung will der vorliegende Band in drei Schritten ermögli-chen.

In einem ersten wissenschaftstheoretischen Teil wird die Stellung der Praktischen Theologie innerhalb der Theologie und in ihrem Verhältnis zu anderen Wissenschaften bestimmt. Die unleugbaren Tendenzen zur Ver-selbstständigung Praktischer Theologie und einzelner ihrer Disziplinen wer-den so verständlich; zugleich wird aber auch die Bedeutung einer im Ganzen der Theologie integrierten und gerade deshalb vielfache Kontakte zu nicht-theologischen Wissenschaften pflegenden Praktischen Theologie deutlich.

Es folgt die perspektivische Darstellung der Entwicklung Praktischer Theologie anhand fünf ausgewählter Grundbegriffe. Sie zeigt in jeweils neuen Facetten, wie Praktische Theologen in unterschiedlicher Weise aktu-elle Herausforderungen aufnehmen – mit welchem Gewinn und zu welchem Preis.

Schließlich wird der im theologischen Studienbetrieb leitenden Fokussie-rung auf Arbeitsbereiche Rechnung getragen. Denn nicht zuletzt sie be-stimmt durch darauf bezogene Publikationen, angefangen von Zeitschriften über Monografien bis hin zu Lehrbüchern, und entsprechende Organisati-onsformen nachhaltig die praktisch-theologische Arbeit.

Erst diese drei Ebenen, die wissenschaftstheoretische, die thematisch-begriffliche und die bereichsbezogen-disziplinäre, lassen zusammengenom-men eine der Komplexität dieser Disziplin adäquate problemgeschichtliche Bestandsaufnahme praktisch-theologischer Arbeit zu. Sie ist entsprechend dem von Anfang an zu diesem Fach gehörenden Gegenwarts- und Praxis-bezug zugleich eine Formulierung der Herausforderungen, vor denen Prak-tische Theologen heute stehen, wollen sie ihren Beitrag zum Gesamtprojekt Theologie leisten. Jedem/r mit der Praktischen Theologie einigermaßen Vertrauten wird klar sein, dass ein solcher Band nicht mehr von einem oder einer Einzelnen verfasst werden kann. Deshalb baten wir am Thema interessierte Kollegin-nen und Kollegen um Mitarbeit. Sie haben sich bereitwillig der Mühe unter-zogen, sich an die Lektüre der Texte aus den beiden zurückliegenden Jahr-hunderten zu machen und diese auf die jeweiligen Themen hin auszuwerten. Allein ein Beitrag konnte wegen vielfältiger anderweitiger Verpflichtungen nicht fertig gestellt werden.

Für die Darstellung bewährte sich weithin das Schema von sechs Epo-chen, das in dem Vorgängerband einleitend Christian Grethlein und Michael Meyer-Blanck entwickelten und sich großenteils mit der unabhängig davon entstandenen Einteilung der Fachgeschichte in dem genannten TRE-Artikel durch Henning Schröer deckt.

Wie schon in diesem ersten 1999 erschienenen Band präsentiert sich – diesmal vielleicht noch deutlicher – mit diesem zweiten umfangreichen Buch

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Vorwort VII

zur Geschichte der Praktischen Theologie eine neue Generation von Prakti-schen Theologinnen und Theologen. Sie vergewissert sich durch die prob-lemgeschichtliche Arbeit ihrer eigenen Wurzeln. Allerdings führten die Jahre seit 1999 auch dazu, dass bei den Meisten die Beanspruchung durch zusätz-liche Aufgaben in Universität und Kirche erheblich zunahm. Daher sind wir froh, dass nun trotz aller Widrigkeiten wie Dekanaten und Gremienanforde-rungen der Band abgeschlossen und damit unserem Fach hoffentlich eine gute problemgeschichtliche Grundlage für die Weiterarbeit angesichts der heutigen Herausforderungen zur Verfügung gestellt werden kann.

Um die bessere Lesbarkeit zu erhöhen, wurden in sämtlichen Beiträgen die – im Einzelnen recht unterschiedlich gehandhabten – Kursivsetzungen getilgt, auch in Zitaten. Es bleibt die schöne Pflicht des Dankens: - den Kolleginnen und Kollegen für ihre Mitarbeit; - der verlässlichen und freundlichen verlegerischen Betreuung durch Frau Dr. Annette Weidhas von der Evangelischen Verlagsanstalt; - Frau Claudia Rüdiger, BA, die die technische Gestaltung des Manuskripts übernahm und souverän meisterte; - Frau Yvonne Weber, MA, für die erste Durchsicht, Korrektur und Bear-beitung der Manuskripte; - Frau cand. theol. Lisa Krengel, die die Manuskripte in eine satzfertige Fas-sung brachte und das Personenregister erstellte; - der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland, der Evangelischen Kirche der Pfalz, der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, der Evangelischen Kirche in Baden, der Evangelischen Kirche von Westfalen sowie der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, die mit Druckkostenzuschüssen eine moderate Preisgestaltung ermöglichten und damit zeigten, dass sich – jedenfalls manche – Kirchen auch in finan-ziell schwierigen Zeiten ihrer Verbundenheit mit akademischer Praktischer Theologie bewusst sind. Münster/Heidelberg im Frühjahr 2007 Christian Grethlein Helmut Schwier

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INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

1. HauptteilStellung der Praktischen Theologie innerhalb der Theologie und ihr Verhältnis zu anderen Wissenschaften.................................................. 1

Christian Albrecht Zur Stellung der Praktischen Theologie innerhalb der Theologie – aus praktisch-theologischer Sicht................................................... 7

Martin Laube Zur Stellung der Praktischen Theologie innerhalb der Theologie – aus systematisch-theologischer Sicht............................................61

Wilfried Engemann Kommunikation des Evangeliums als interdisziplinäres Projekt. Praktische Theologie im Dialog mit außertheologischen Wissenschaften ................................................................ 137

2. HauptteilZentrale Themen der Praktischen Theologie................................................. 233

Helmut Schwier Praktische Theologie und Bibel........................................................................ 237

Christian Grethlein Praktische Theologie und Empirie................................................................... 289

Michael Meyer-Blanck Praktische Theologie und Religion .................................................................. 353

Jan Hermelink Praktische Theologie und Kirche..................................................................... 399

Eberhardt Hauschildt Praktische Theologie und Mission ................................................................... 457

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Inhaltsverzeichnis X

3. HauptteilAusgewählte Bereiche der Praktischen Theologie......................................... 511

Uta Pohl-Patalong Pastoraltheologie................................................................................................. 515

Isolde Karle Poimenik .............................................................................................................. 575

Ralph Kunz Kybernetik............................................................................................................ 607

Bernd Schröder Katechetik und Religionspädagogik................................................................. 685

Christoph Schneider-Harpprecht Diakonik ............................................................................................................... 733

Christian Grethlein/Helmut Schwier Ausblick: Praktische Theologie – Bestandsaufnahme und Herausforderungen..................................................................................... 793

Sach- und Personenregister................................................................................ 803

Sachregister .......................................................................................................... 803 Personenregister.................................................................................................. 809 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ...................................................... 825

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1. HAUPTTEIL: STELLUNG DER PRAKTISCHEN THEOLOGIE INNERHALB DER THEOLOGIE UND IHR VERHÄLTNIS ZU ANDEREN WISSENSCHAFTEN

Praktische Theologie ist eine »Krisenwissenschaft«, und zwar in doppelter Hinsicht:

Sie entsteht als eigene Disziplin in einem kulturellen Kontext, der von vielen, wenn nicht sogar allgemein als kritisch für Kirche, Christentum und Religion diagnostiziert wird.

Sie scheint, wenn man den auch in den folgenden Aufsätzen zitierten Stimmen zahlreicher Gelehrter über die Zeiten hinweg glauben darf, selbst permanent in der Krise zu stecken.

Von daher erscheint es angemessen, problemgeschichtliche Studien zur Praktischen Theologie mit Überlegungen zu ihrem wissenschaftstheoreti-schen Status einzuleiten.

Ein eiliger Leser, der mit der Praktischen Theologie wenig vertraut ist und schnell die folgenden diesem Thema gewidmeten drei umfangreichen Artikel überfliegt, kann schnell den Eindruck gewinnen: In diesem Teil wer-den zwei Gegenstände behandelt.

Die Beiträge von Martin Laube und Christian Albrecht erschließen sich auch bei flüchtiger Lektüre als zusammengehörig. Gewiss, beim Systema-tiker Laube ist ein gewisses Stirnrunzeln – sorgfältig in geschickte Fremdzi-tate und eine knappe, aber entschiedene Mahnung zum Abschluss verpackt – über die Praktische Theologie und ihre wissenschaftstheoretischen Bemü-hungen unübersehbar, während man bei Albrecht – wiederum geschickt durch selbstkritische Reflexionen eingeleitet und ein energisches Schluss-votum abgerundet – ein engagiertes praktisch-theologisches Herz schlagen hört. Doch bei beiden wirft Friedrich Schleiermachers enzyklopädischer Entwurf einen so breiten Schatten, dass demgegenüber die disziplinäre Dif-ferenz bisweilen eher zweitrangig wirkt.

Dagegen beherrschen bei Wilfried Engemanns Blick auf die Interdis-ziplinarität der Praktischen Theologie andere Helden die Szene. Von Schlei-ermacher liest man nur ganz am Rande. Und doch geht es auch bei ihm um eine wissenschaftstheoretische Bestimmung von Praktischer Theologie – jetzt aber nicht im Haus der Theologie, sondern auf dem Forum zwischen (Praktischer) Theologie und anderen Wissenschaften.

Pointiert gefragt: Hat die Praktische Theologin als Akteurin im Rahmen der Theologie eine andere Gestalt als in ihrem mittlerweile in der Theologie als selbstverständlich akzeptierten Verhältnis zu anderen Wissenschaften?

Eine erste Spur legen die Situationsanalysen, von denen Laube – und sich hieran zustimmend anschließend Albrecht – und Engemann ausgehen:

Martin Laube markiert in »2.1 Diskussionslage zu Beginn des 19. Jahr-hunderts« fünf Themenkomplexe, die Schleiermachers Denken und dann u. a. seine Konstruktion von Praktischer Theologie bestimmen:

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Christian Grethlein/Helmut Schwier 2

Das Auseinandertreten von Kirche und Christentum. Die Unterscheidung von Theologie und Religion. Das Aufkommen des historischen Bewusstseins. Der Übergang von Gott zum religiösen Bewusstsein. Die Krise der Theologie als Wissenschaft. Engemann leitet seine Überlegungen dagegen mit einem pastoralen »Tages-protokoll« ein, das systematisiert folgende Themen präsentiert: Bedeutung gruppendynamischer Kenntnisse beim Umgang mit Mitarbeiter/innen. Systemische Einsichten bei der Beratung von Menschen am Übergang im Lebenslauf. Kultursoziologische Analysen als hermeneutischer Schlüssel in einer Kommunikationssitua-tion. Tiefenpsychologische Erfahrung in der Seelsorge. Theaterwissenschaftliche Kenntnisse als liturgisches Instrumentarium. Sprachakttheorie als Beitrag zu einer homiletischen Kriteriologie. Erst ein genauerer Blick zeigt die Zusammenhänge zwischen diesen analyti-schen Ausgangspunkten – aber auch die Divergenzen. Die von Laube für den Beginn des 19. Jahrhunderts diagnostizierte Bewusstseinslage ist mitt-lerweile auf ganzer Breite bei den Menschen angekommen. Der Siegeszug von Bildungsinstitutionen, allen voran das Schulwesen, hat die hier genann-ten Differenzierungsprozesse zum Allgemeingut gemacht. Sie können mit wenig Interpretationsaufwand in die Engemannschen Fall-Skizzen eingetra-gen werden. Umgekehrt ist dies aber nicht möglich. Die von Engemann genannten konkreten Themenbereiche sind den von Laube genannten The-menkomplexen nur schwer zuzuordnen. Wir vermuten, dies liegt daran, dass die für die innertheologische enzyklopädische Diskussion zu Recht von Albrecht und Laube als grundlegend herausgestellte Theoriebildung eben zu einem Zeitpunkt erfolgte, in der sich erst langsam die Entstehungsbedin-gungen für die von Engemann genannten empirischen Wissenschaften her-ausbildeten. Zweifellos sind aber die von Engemann genannten berufs-praktischen Problemkonstellationen – und hier liegt eine wichtige neue Ak-zentuierung – praktisch-theologisch nur durch Rezeption außertheologi-scher Wissensbestände angemessen zu bearbeiten. Und in der Tat wird viel-leicht bei manchen Praktischen Theolog/innen, aber auch pastoralen Prak-tiker/innen die Lektüre nichttheologischer Literatur mehr Zeit in Anspruch nehmen als die theologischer Publikationen. Und dies ist nicht vergeblich. Eindrücklich führt Engemann an vielerlei Beispielen den Reflexionsgewinn vor, den Praktische Theologie aus der Beschäftigung mit nichttheologischen Wissenschaften erhält – und der auch den anderen theologischen Fächern zugute kommen könnte.

Allerdings scheint hier eine Schwierigkeit zu liegen. Die beschriebenen Tendenzen der Verselbstständigung Praktischer Theologie sind nicht (nur)

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1. Hauptteil 3

auf Selbstüberschätzung von deren Fachvertreter zurückzuführen; sie signa-lisieren auch eine gestörte Kommunikation zu den anderen theologischen Disziplinen – ein seit langem beschriebenes Problem. Hier führen die Hin-weise auf die – so das Konstruktionsprinzip der Albrechtschen Überlegun-gen – »Spannung zwischen technischem und epistemischem Charakter« bzw. – so von Laube eindrücklich herausgearbeitet – zwischen theologi-schen Reflexionsperspektiven und ausdifferenzierten theologischer Diszipli-nen weiter. Wie jüngst von Ingolf Dalferth ausgearbeitet, bedürfen die theo-logischen Disziplinen in ihrer Arbeit der historischen, systematischen und empirischen Perspektive, allerdings in unterschiedlicher Gewichtung.3 Hin-ter diese Einsicht wird man nicht mehr zurückgehen können, ohne ein wie-teres Mal eine Runde auf bereits begangener Bahn zu drehen.

Schließlich ist es interessant, wie unterschiedlich Albrecht und Laube auf der einen und Engemann auf der anderen Seite sich auf die vorliegende praktisch-theologische Literatur beziehen. Liegt bei den erstgenannten das Schwergewicht auf Autoren des 19. Jahrhunderts, kommt diese Zeit bei Engemann nur am Rande in den Blick. Sein Blick richtet sich auf das 20. Jahrhundert. In beiden Fällen bilden konkrete Diskurse bzw. kulturelle Kontexte den Hintergrund. Schleiermacher entwickelt seine Enzyklopädie im Umfeld der Universität und deren Reform. Die von Engemann heraus-gehobenen Praktischen Theologen, besonders genannt werden Oskar Pfister und Otto Haendler, agieren in anderen Bereichen. Für Pfister4 ist – auf dem Hintergrund väterlich vermittelten theologischen Liberalismus (Otto Baum-garten, Friedrich Niebergall) – die Begegnung mit Sigmund Freud entschei-dend; er lehnt mehrere Rufe auf Professuren ab und verbleibt im Pfarramt – und bei seiner psychoanalytischen Praxis. Haendler wird – frömmigkeits-praktisch in der Michaelsbruderschaft beheimatet – durch die Begegnung mit Carl Gustav Jungs Psychologie geprägt. Auch er wirkt lange im Pfarramt und wechselt erst im sechsten Lebensjahrzehnt auf den Katheder. Für En-gemann ist bei beiden wegweisend, dass sie zu Einsichten kommen, die auch nichttheologische Wissenschaften fördern –, also einen tatsächlichen Dialog möglich machen. Zugleich zeigt sich hier aber auch das praktische Problem: Die Arbeiten von Pfister und Haendler werden trotz ihrer innovativen wis-senschaftlichen Qualität nicht in der zeitgenössischen Wissenschaft wahrge-nommen. Bei dieser weitgehenden Resonanzlosigkeit Praktischer Theologie in anderen Wissenschaften ist es geblieben. Es war für den vorliegenden Band schon nicht einfach, einen qualifizierten Systematischen Theologen für einen Beitrag zu gewinnen – und Martin Laube war ja einige Jahre als As-sistent in einem praktisch-theologischen Institut (bei Wolfgang Steck) tätig. 3 DALFERTH, Ingolf: Evangelische Theologie als Interpretationspraxis. Eine systematische

Orientierung, Leipzig 2004, 176–201. 4 S. grundlegend NASE, Eckart: Oskar Pfisters analytische Seelsorge, Berlin 1993.

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Christian Grethlein/Helmut Schwier 4

Im Gegensatz zur innertheologischen Standortbestimmung tritt hinsichtlich der Interdisziplinarität nur ein Autor auf, nämlich ein Praktischer Theologe. Wen hätte man als Nichttheologen fragen können, ob er die Praktische The-ologie in ihren interdisziplinären Bemühungen vorstellen möchte und könn-te?

Wendet man die eben genannte Problematik noch einmal disziplinge-schichtlich, so kann man – in Übertragung des berühmten Eingangssatzes von Thomas Nipperdey in den ersten Band seiner Deutschen Geschichte »Am Anfang war Napoleon.«5 – fragen: Fing mit Schleiermacher Alles an? Gewiss, schon ein kurzer Blick in die einschlägigen Lehrbücher zeigt den »überwältigenden Einfluß« seiner Überlegungen. Und Laube und Albrecht könnten wohl in der Tat ihre Überlegungen beginnen mit: Am Anfang war Schleiermacher. Allerdings ist auch bei ihm, der souverän nicht nur in meh-reren theologischen Disziplinen, sondern auch in Philosophie, Philologie und Pädagogik brillierte, ein Hiatus zwischen seinen Beiträgen zu praktisch-theologischen Fragen und seinen sonstigen Arbeiten zu konstatieren. So kann man z. B. Schleiermachers Pädagogik mühelos ohne Bezug zur Kate-chetik rekonstruieren, wie auch seine Äußerungen zu dieser nicht unbedingt der Kenntniss seiner pädagogischen Schriften bedürfen – ganz abgesehen davon, dass eben die heute für Praktische Theologie unerlässlichen Bezugs-wissenschaften sich erst etwa einhundert Jahren nach Schleiermacher aus-bildeten. Die bei Schleiermacher klare anthropologische Grundlegung von Religion konnte sich in den Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts neuen bzw. sich neu ausrichtenden Wissenschaften nicht etablieren. Und von daher sind theologische Reflexionen in ihrem spezifisch theologischen Gehalt nicht vermittelbar. Dies tritt deutlich spätestens dann hervor, als die für Schleiermachers Theologieverständnis fundamentale Ausrichtung auf die Kirchenleitung dadurch an gesellschaftlicher Plausibilität verliert, dass die Kirchen auch in Deutschland zunehmend als Anbieter auf dem Markt der Daseins- und Wertorientierungen auftreten.

So bleibt der in diesem einleitenden Teil unternommene Versuch, in-nertheologische enzyklopädische Reflexionen und interdisziplinäre Arbeit gleichermaßen in ein Verständnis Praktischer Theologie zu integrieren, not-gedrungen etwas einseitig. Denn er erforderte entsprechend der doppelten Orientierung von Praktischer Theologie zur Theologie und zu nichttheolo-gischen Wissenschaften auch eine außertheologische Perspektive. Doch eröffnet Engemanns Verständnis von Praktischer Theologie als »1. Theorie für die Kommunikation des Evangeliums (2.) durch Personen (3.) auf der Basis von Zeichen (4.) in bestimmten Situationen (5.) zur Gestaltung von Kirche (6.) um der Zu- und Aneignung der Freiheit willen« einen Rahmen, 5 NIPPERDEY, Thomas: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat,

München 1983 u. ö., 11.

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1. Hauptteil 5

in dem die genannte Aufgabe weiter bearbeitet werden kann. Dabei ist sein Fachverständnis unübersehbar in doppelter Hinsicht positionell – sowohl hinsichtlich des theologischen als auch des interdisziplinären Selbstver-ständnisses. Doch nennt es auf jeden Fall Gesichtspunkte, die eine durch die Disziplingeschichte belehrte Praktische Theologie nicht mehr negieren kann – und die sie auch anderen Wissenschaften anbieten kann, die auf praktisch-theologisch relevanten Gebieten forschen.

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CHRISTIAN ALBRECHT

ZUR STELLUNG DER PRAKTISCHEN THEOLOGIE INNERHALB DER THEOLOGIE – AUS PRAKTISCH-THEOLOGISCHER SICHT

1. EINLEITUNG Geschwisterzwist im Haus der Theologie: die jüngste Schwester, die Prakti-sche Theologie, hat das klassische Problem des jüngsten Kindes. Sie findet ihre Rolle unter den Geschwistern nicht. Und dieses Problem will sie lösen wie so viele jüngste Kinder: indem sie ihre Beziehungsprobleme mit den älteren Geschwistern ausdiskutiert. Die beißen nicht recht an; sie ahnen schon, was kommt, denn es ist immer das gleiche: erst kokettiert die Jüngste etwas beleidigt mit ihrer Rolle als Aschenputtel1 unter den Geschwistern, und wenn keiner schnell genug widerspricht, dann wird sie aggressiv und zetert, dass der Vater ihr eigentlich die Krone versprochen habe. Die Älte-ren wenden sich betreten ab, gibt die Jüngste doch mit diesem stets wieder-kehrenden Zitat nur zu erkennen, dass sie die Prophezeiung des Vaters nie richtig verstanden hat. Denn der hatte seinem Nesthäkchen eine Rolle als tüchtige Kletterin in den Wipfeln der Bäume vorausgesagt, dort, wo es win-dig und schwankend wird; nicht aber eine Rolle als Prinzesschen, vor der die anderen Geschwister sich sollten verneigen müssen.2 Nur die Systematische Theologie, die älteste Schwester, die sich für den Familienfrieden zuständig fühlt, hört dem Lamento ab und an zu, und in ihrer milden Zuwendung schwingt mit, was eigentlich alle denken: dass die jüngste Schwester natür-lich zur Familie gehört, auch wenn sie immer schon ein wenig anders war als die anderen: ein wenig kapriziöser, ein wenig sprunghafter – und manchmal leider auch: ein wenig einfältiger.

Nun wird keiner, der Praktische Theologie näher kennt, sie nicht umge-hend in Schutz nehmen wollen. Und zu ihrer Verteidigung wird dann argu-mentiert, dass das Identitätsproblem, das die Praktische Theologie plagt, ihr in die Wiege gelegt worden ist. Aus konstitutionellen Gründen muss die

1 Nicht auf Einzelbelege ist zu verweisen, sondern bereits auf Belegsammlungen für diese

seit über hundert Jahren gängige Metapher. Solche Zitatzusammenstellungen finden sich bei DREHSEN 1988, Bd. 2, 28–31. – STECK 1975, 65–80, hier 66, Anm. 2. – SCHRÖER 1997, 190–220, hier 193.

2 Das reflexhaft zitierte Wort von der Praktischen Theologie als der »Krone des theologi-schen Studiums« findet sich bekanntlich bei SCHLEIERMACHER 1998, 243–315, hier 253, Nr. 31. Es wird notierenswerterweise in der zweiten Auflage der Kurzen Darstellung nicht mehr wiederholt. – Vgl. allerdings auch DERS. 1850, 26. – Missverstanden wird dieses Wort häufig auch in einer zweiten Hinsicht. Denn Schleiermacher bezeichnet die Praktische Theologie nicht etwa als die Krone der Theologie, sondern als die Krone des theologischen Studiums.

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Christian Albrecht 8

Praktische Theologie stets mit der Frage nach ihrer Selbstbegründung be-fasst sein, weil diese Selbstbegründung nicht ein für alle Mal unverrückbar feststehen kann. Sie hat vielmehr teil an der Dynamik ihres Gegenstandes, den religiösen Lebenswelten des kirchlichen, öffentlichen und privaten Christentums unter den Bedingungen der Neuzeit. Deren Wandlungen muss nicht nur die Theoriearbeit, sondern auch die Selbstbegründung der Prakti-schen Theologie sich stets von neuem anpassen. »Die ständige Reflexion und Umkonstruktion ihrer Grundlagen wird man der Praktischen Theologie daher nicht als Geburtsfehler anlasten, sondern als sachnotwendig zubilligen müssen.«3

Enzyklopädische Fragestellungen müssen dabei als die klassischen Ver-dichtungspunkte der Selbstbegründungsproblematik gelten. Denn wissen-schaftssystematische Verhältnisbestimmungen bilden Konsequenzen der Auffassungen, die eine Disziplin von ihrem eigenen Thema und ihrer Frage-stellung, von ihrer theoretischen und methodischen Gestalt hat. Diese Auf-fassungen sind es, die jenen Verhältnisbestimmungen voraus liegen und sie leiten. Insofern ist es ein reizvolles und lohnendes Unternehmen, die Ge-schichte der Verhältnisbestimmungen zwischen Praktischer Theologie und den anderen theologischen Disziplinen in den Blick zu nehmen.

Allerdings könnten gegen die – mir vorgegebene – Themenfokussierung Einwände erhoben werden. Denn die Beschränkung des Referates auf die Sichtweise der Praktischen Theologie könnte in mehrfacher Hinsicht als problematisch empfunden werden. Erstens könnte gesagt werden, es sei die angemessene Behandlung von enzyklopädischen Fragestellungen ja gerade dadurch charakterisiert, dass in ihr ein Standpunkt über den Disziplinen eingenommen wird und eben nicht aus der Perspektive einer einzelnen Disziplin heraus argumentiert wird. Zweitens könnte eingewendet werden, dass die Unterscheidung zwischen einer systematisch-theologi-schen und einer praktisch-theologischen Sichtweise und ihre Aufteilung auf zwei Beiträge auch deswegen problematisch sei, weil darin disziplinenübergreifende Diskurskonstellationen nicht recht deutlich werden können; Reaktionen und Gegenreaktionen über die Disziplinen-grenzen hinweg können kaum in den Blick geraten, allenfalls durch wechselseitige Verweise zwischen den entsprechenden Beiträgen in diesem Band angedeutet werden. Drittens könnte man darauf hinweisen, dass es eine Reihe von Autoren gibt, die nicht ohne weiteres nur einer Disziplin zugerechnet werden können. Gerade für die – auch in enzyklopädischer Hinsicht entscheidende – Prägephase der Geschichte der Praktischen Theologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist das mehrfach der Fall. Es stellt sich hier nicht allein die Frage, ob Schleiermacher der Systematischen oder der Praktischen Theologie zugerechnet werden soll. Wie ist es mit dem spekulativen Theologen Philipp Konrad Marheineke, der in Heidelberg und Berlin jeweils auch Praktische Theologie las? Welche Disziplin darf Richard Rothe für sich in Anspruch nehmen? Selbst die als kanonisch geltenden klassischen Autoren der Prakti-schen Theologie entziehen sich eindeutiger Zurechnung. Carl Immanuel Nitzsch war von 1822 bis 1847 in Bonn Professor für Systematische und Praktische Theologie, Alexander

3 KRAUSE 1972, XXI.

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Praktische Theologie und Theologie – praktisch-theologische Sicht 9

Schweizer versah in Zürich neben der Professur für Praktische Theologie ab 1840 zugleich auch die Professur für Ethik und ab 1885 diejenige für Dogmatik, und Christian Palmers Tübinger Lehrstuhl, den er ab 1852 innehatte, war derjenige für Praktische Theologie und Ethik. Auch im 20. Jahrhundert finden sich immer wieder Autoren, die sich bereits im Blick auf ihre äußerlichen, akademischen Stationen nicht ohne weiteres ausschließlich der Prakti-schen Theologie zurechnen lassen – man denke nur an Leonhard Fendt in Erlangen, an Karl Völker in Wien oder an Martin Doerne, der ab 1934 in Leipzig Professor für Praktische Theologie war, von 1947 bis 1954 in Rostock und Halle Professor für Systematische Theolo-gie und ab 1954 in Göttingen wieder Professor für Praktische Theologie. Im ganzen ließe sich also einwenden, dass die Stellung der Praktischen Theologie innerhalb der Theologie sich viel eher aus solchen die Disziplinengrenzen überschreitenden Konstellationen heraus gebildet hat, als dass sie in einer ausschließlich praktisch-theologischen Sicht hinreichend erfasst werden könnte. Gleichwohl soll hier der Versuch unternommen werden, insbesondere praktisch-theologische Autoren und ihre Äußerungen zur Stellung der Prak-tischen Theologie im Ganzen der Theologie zu berücksichtigen. Wenn also im Folgenden gefragt wird nach der Geschichte der Konzepte, in denen die Praktische Theologie sich selbst ins Verhältnis zu den anderen theologi-schen Disziplinen bzw. ins Verhältnis zur Theologie als ganzer setzt, dann verbindet sich damit die Absicht, einen Beitrag zur Geschichte des Selbst-verständnisses der Praktischen Theologie zu leisten. Die Fragestellung lässt jedoch nicht zu, die enzyklopädischen Debatten in der gebotenen interdis-ziplinären Breite zu rekonstruieren.

Im Folgenden werde ich so vorgehen, dass ich zunächst relativ ausführ-lich das Grundproblem beschreibe, das die praktisch-theologischen Selbst-beschreibungen des Verhältnisses zu den anderen theologischen Disziplinen leitet. Dann soll ein Überblick gegeben werden über die Formen, in denen dieses Problem in der Geschichte der Praktischen Theologie bearbeitet worden ist. Ein kurzer Ausblick schließt diese Erwägungen ab.

2. SCHLEIERMACHERS PROBLEMFORMULIERUNG Friedrich Schleiermachers enzyklopädischer Entwurf4, der als theologisches Reformprogramm angelegt war5, verfolgte das Ziel, die sich seit dem späten 18. Jahrhundert rasant vollziehende Umbildung von Gegenstand und Me-thode der theologischen Wissenschaft sowie den wissenschaftskulturellen Bedingungen ihres Vollzuges Rechnung zu tragen. Martin Laube hat im vor-liegenden Beitrag dieses Bandes (s. unter 2.1) fünf Problemdimensionen benannt, die die theologischen Grundlagendebatten der Wende des 18. aufs 19. Jahrhundert bestimmten: Die Einsicht in die Differenz zwischen Kirche 4 SCHLEIERMACHER 1998, 325–446. 5 BIRKNER 1996, 285–305.

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und Christentum, die Einsicht in die Differenz zwischen Theologie und Re-ligion, das Aufkommen des historischen Bewusstseins, die Umstellung des Gegenstandes der Theologie von Gott auf das religiöse Bewusstsein und die Krise der Theologie als Wissenschaft. Ebenso wie den Zeitgenossen standen diese Problemdimensionen auch Schleiermacher vor Augen, als er sich 1811 anschickte, sie konstruktiv in ein systematisches Neuverständnis der The-ologie zu überführen. 2.1 Die Neuordnung der Theologie Die äußerlich markanteste und zugleich die Programmrichtung deutlich anzeigende Veränderung betraf die von Schleiermacher vorgenommene Umstellung der Disziplinenmatrix. Die um die Wende des 18. aufs 19. Jahr-hundert eingespielte Einteilung der Theologie in vier Unterdisziplinen er-setzte er durch ein dreigliedriges System. So hatte etwa der Göttinger Theologieprofessor Gottlieb Jakob Planck (1751–1833) noch 1794/95 in seiner theologischen Enzyklopädie folgenden Konsens formulieren können: »Man ist jetzt fast allgemein übereingekommen, alles, was zu einer gelehrten Erkenntniß der Religion gehören soll, unter vier Hauptfächer zu ordnen, wovon man eines der Exegese, ein zweytes der historischen, das dritte der systematischen Theologie, und das vierte denjenigen besonderen Wissenschaften widmet, die man sehr schicklich durch den Namen der ange-wandten Theologie, Theologia applicata, oder auch, wenn man wollte, Theologia applicatrix bezeichnen könnte.«6 Auch Schleiermacher selbst konnte 1810 noch die Gliederung der Theologie »in die exegetische, historische, dogmatische und praktische« als »die be-kannte Einteilung der Theologie« bezeichnen.7

Demgegenüber schlägt er 1811 einen massiven Umbau der Theologie vor. Dessen Gehalte können und brauchen hier nur sehr kurz angedeutet zu werden.8 Schleiermachers Umbau betrifft zunächst den Wissenschaftscha-rakter der Theologie, dann ihren inneren Zusammenhang. Der Wissen-schaftscharakter der Theologie erhellt insbesondere aus dem System der Wissenschaften, wie Schleiermacher es in den verschiedenen Entwürfen der Ethik9 entfaltet. Wesentlich ist hier, dass Schleiermacher grundsätzlich zwei Arten der Wissenschaft unterscheidet: Einerseits die »notwendig«, »real« oder »rein« genannten Wissenschaften, die sich aus einem philosophischen Begriff des Wissens ableiten lassen, und andererseits die so genannten »po- 6 PLANCK 1794, 89. 7 SCHLEIERMACHER 1972, 3–7, hier 3. 8 S. ausführlicher in Laubes Beitrag 2.2. Vgl. außerdem BIRKNER 1964; DERS. 1996; GRÄB

1991; RÖSSLER 1994, 18–71; 133–149; SCHRÖDER 1996, 100–123; GRÄB 2000a, 87–95. 9 Vgl. dazu die folgenden Quellen: SCHLEIERMACHER 1927, 513–557, hier insbes. 524–

537. – DERS. 1998 (2. Auflage), §§ 1–31. – DERS. 1987, 1–32.

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sitiven« Wissenschaften, die ihre Existenz einer praktischen Aufgabe ver-danken. In ihnen wird verschiedenes Einzelwissen mit dem Zweck zusam-mengestellt, die Bewältigung konkreter Handlungsaufgaben zu ermöglichen. Zu diesen positiven Wissenschaften gehört etwa die Medizin (die die Her-stellung des Körpers in seinen Normalzustand bezweckt) oder Jurisprudenz (die die Hervorbringung des Rechts bezweckt) – und schließlich eben auch die Theologie, die die Erhaltung des christlichen Glaubens in der Gemein-schaft bezweckt.10 Das heuristische Spezifikum der positiven Wissenschaf-ten besteht darin, dass sie sich das zur Zweckerfüllung notwendige Wissen aus anderen Wissenschaften entleihen und zu eigenen, zweckbezogenen Ensembles zusammenstellen.

Schleiermachers Umbau der Theologie betrifft sodann den inneren Zu-sammenhang der positiven Wissenschaft Theologie. Schleiermacher ersetzt die eingespielte Viergliederung dadurch, dass er die Theologie in drei Dis-ziplinen einteilt, in die Philosophische, Historische und Praktische Theolo-gie. Der Philosophischen Theologie kommt dabei die Funktion einer theo-logischen Grundlagendisziplin zu, denn ihre Aufgabe besteht darin, die Ka-tegorien zur Erfassung des Wesens des Christentums in seinen geschichtli-chen Ausprägungen zusammenzustellen. Die umfängliche Historische Theologie ist die eigentlich materialreiche Disziplin der Theologie. Sie ent-hält die exegetischen, die im engeren Sinne kirchengeschichtlichen und die dogmatischen Kenntnisse. Und die Praktische Theologie leitet schließlich aus diesen Kenntnissen die zur Berufsführung unerlässlichen, kenntnisrei-chen und kenntnisgesättigten »Kunstregeln«11 ab. Insofern ihr Verfahren da-rin besteht, spekulativ-theoretisch gewonnene Maßstäbe an den empirisch-praktischen Zustand zu legen, hat sie den Status einer technischen Disziplin. Die drei Disziplinen bauen also in systematischer Weise aufeinander auf. Schleiermacher setzt für die Arbeit der Praktischen Theologie als ganze und auch in all ihren Subdisziplinen voraus, dass »die philosophische und die his-torische Theologie klar und im richtigen Maß angeeignet sind.« 12 2.2 Konsequenzen für die Praktische Theologie Blickt man von hier aus noch einmal auf die oben erwähnten Problemdi-mensionen, die die theologischen Grundlagendebatten der Zeit bestimmten und auch in Schleiermachers Reformprogramm ihren Niederschlag finden, dann zeigt sich, dass in Schleiermachers Begründung der Praktischen The-ologie insbesondere die Problemdimension der Differenz zwischen Religion und Theologie aufgenommen ist.

10 SCHLEIERMACHER 1987, 1. 11 SCHLEIERMACHER 1998 (2. Auflage), § 265. 12 A. a. O., § 260.

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Schon der zweite der Einleitungsparagraphen in die Praktische Theologie formuliert bündig: »Das Bedürfniß der praktischen Theologie entsteht also nur für den, in welchem religiöses Interesse und wissenschaftlicher Geist vereint sind.«13 Mit dieser Einzeichnung der Unterscheidung von Religion und Theologie in den Begründungszusammenhang der Praktischen Theologie stand Schleier-macher in historischen und sachlichen Kontinuitäten. Botho Ahlers hat 1980 deutlich gemacht, in welcher Weise die Vor- und Frühgeschichte der modernen Praktischen Theologie sich im 18. Jahrhundert als Konsequenz der Unterscheidung von Religion und Theologie vollzog.14 Die zunehmende Einsicht in die Irreduzibilität der historisch gewachsenen Differenz fun-gierte als Legitimationsfigur für theoretische Programme der Anerkennung der Unterscheidung und ihrer Folgen, zugleich aber für ihre Vermittlung. Diese Vermittlung war einerseits nicht anders denn als Reflexion des Ver-hältnisses denkbar und trug damit eine streng theoretische Gestalt. Anderer-seits weist die theoretische Reflexion des funktionalen Zusammenhangs von Religion und Theologie in mehrfacher Hinsicht »auf Bewußtsein und Tätig-keit desjenigen Subjekts, das das menschliche Bindeglied zwischen beiden Institutionen darstellt, des Pfarrers also, der in seiner Rolle als ›Lehrer der Religion‹ theologische Ausbildung mit der Wahrnehmung religiöser Bedürf-nisse vermittelt.«15 Die Deutungstheorie der Unterscheidung von Theologie und Religion, die Theorie und Praxis in ihr je verschiedenes Recht setzt, besaß also eine systematisch begründete Affinität zur alten Pastoraltheolo-gie, die – sei es als Anwendung der Dogmatik wie in der Orthodoxie, sei es als Sinnerfüllung aller Theologie überhaupt wie im Pietismus – die Kunstre-geln des pastoralen Handelns zusammenstellte. Und dass diese – sachlich konsequente – Verbindung zu Zeiten Schleiermachers nicht unüblich war, zeigt auch der Blick etwa in die zeitgleich mit der ersten Auflage der Kurzen Darstellung entstandene, ebenfalls 1811 erschienene Grundlegung der Prak-tischen Theologie des Tübinger Theologieprofessors Valentin Friedrich Baur (1757–1813). Dieser war nach Stationen als Stiftsrepetent in Tübingen, Diakon in Herrenberg und Archidi-akon in Tübingen von 1812 bis zu seinem Tod 1813 Inhaber der vierten Professur der evan-gelisch-theologischen Fakultät, auf der seine Vorgänger sich insbesondere mit exegetischen und historischen Themen befasst hatten, bis der Lehrstuhl 1815 zum Lehrstuhl für Pädagogik und Homiletik deklariert wurde und damit als einer der ersten praktisch-theologischen Lehr-stühle in Deutschland gelten kann. 1811 veröffentlichte Baur seine Grundlegung »Ueber das Verhältniß der practischen Theologie zur wissenschaftlichen«16. Darin sucht er vehement die 13 SCHLEIERMACHER 1998 (1. Auflage), 300, Nr. 2; die Parallelformulierung 1830 in DERS.

1998 (2. Auflage), § 258. 14 AHLERS 1980. 15 A. a. O., 155. 16 BAUR 1811.

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»Unentbehrlichkeit des Studiums der wissenschaftlichen Theologie für den practischen Reli-gions-Lehrer«, den Pfarrer, zu begründen – eine »an sich klare und bekannte Wahrheit«, die der »öffentlichen Mitteilung für unwerth« gehalten werden könnte, wenn nicht »der gegen-wärtige philosophische und theologische Zeitgeist« eine solche Erinnerung notwendig ma-chen würde.17 Baur entwickelt zunächst auf historischem Wege den Begriff der Praktischen Theologie und sucht dann die Notwendigkeit ihrer wissenschaftlichen Gestalt zu erweisen. Das führt ihn auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Praktischen Theologie und den übrigen Disziplinen der Theologie. In diesem Zusammenhang erkennt er das Spezifikum der Praktischen Theologie insbesondere darin, dass sie dem Pfarrer »die Verschiedenheit der Theologie von der Religion, in so fern sie nicht nur in der Form und Art der Darstellung der Wahrheiten, sondern auch in diesen selbst, sich von einander entfernen, klarer und einleuch-tender [macht] und er selbst dadurch […] fähiger [wird], die Gränze richtiger und genauer abzusteken, innerhalb welcher er sich beim Vortrage der Religions-Wahrheiten verweilen solle«18. Die als Theorie verstandene Praktische Theologie dient also, am Orte des Bewusst-seins des Pfarrers, der Schärfung seiner Wahrnehmungsfähigkeit der Differenz zwischen religiösem Leben und theologischer Lehre, und zwar mit dem Ziel, seine Urteilsfähigkeit über ihre wirklichen und möglichen Zusammenhänge zu steigern und ihn dadurch aus Gründen handlungsfähig zu machen: »Je genauer der Lehrer den christlichen Lehrbegriff in seinem ganzen systematisch-geordneten Zusammenhang […] kennt, je mehr er das Moment man-cher Wahrheiten und Säze, so wohl nach ihrer Entstehung und Ausbildung, als auch ihren Werth und Einfluß, schäzen und würdigen lernt, um das, was wirklich Religion ist, was durch den lebhaft empfundenen Eindruk seiner Wahrheit, der Einrichtung und den Bedürfnissen der menschlichen Natur gemäs, bessert und beruhigt, aus der darunter gemischten Masse bestimmender Formeln herausheben zu können, […] desto fähiger wird er seyn, zu beurthei-len, was aus dieser Masse von Materialien in den Volksunterricht, seinem eigenthümlichen Zwek gemäß, aufgenommen werden soll, was in einem näheren oder entfernteren, in einem mittelbaren oder unmittelbaren, oder vielleicht in keinem Zusammenhang mit dem Zwek der Religion […] stehe, was also zu diesen Zweken ausgewählt und mit weiser Beurtheilung ausgesondert werden muß.«19 Die auch von Schleiermacher vorgenommene Eintragung der Differenz von Religion und Theologie in den Begründungszusammenhang der Praktischen Theologie ist also, nur dies sollte damit verdeutlicht werden, nicht außergewöhnlich, sondern bewegt sich durchaus im Rahmen der zeitgenössischen Debatten. Auch wenn man sagen muss, dass Schleiermacher sich insgesamt mit seinem enzyklopädischen Neugliederungsvorschlag nicht durchgesetzt hat, sondern dass es theologieorganisatorisch bei der von Planck als Konsens festge-stellten Vierteilung geblieben ist, wird man doch die Fülle der in Schleierma-chers Kurzer Darstellung gebündelten und von ihr ausgehenden theologie-theoretischen Impulse nicht abstreiten wollen.20 Dazu zählt etwa die Bedeu-tung, die der Historischen Theologie nach Umfang und Stellenwert in Schleiermachers Enzyklopädie wie auch im theologischen Wissenschaftsbe-

17 A. a. O., [unpag. S. I der] Vorrede. 18 A. a. O., 95. 19 A. a. O., 95f. 20 Vgl. dazu etwa die bei BIRKNER 1996, 289f. gegebenen, weiterführenden Hinweise zur

Wirkungsgeschichte.

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trieb des 18. und 19. Jahrhunderts zukommt. Dazu zählt insbesondere aber auch der theologietheoretische Status, den die Praktische Theologie gewinnt.

Um die Reichweite des Statuswechsels zu erfassen, muss zunächst noch einmal der damit als überwunden geltende Charakter der vormodernen Praktischen Theologie in Erinnerung gerufen werden. Sie konnte mit Fug und Recht als ein Appendix der eigentlichen, wissenschaftlichen Theologie gelten, der – etwa in Form einer elementarisierten Dogmatik oder Ethik – eine Sammlung von Regeln zur Anwendung der wissenschaftlichen Theolo-gie für die Predigt und den Unterricht enthielt. So hatte Planck es noch eingeschätzt und diesen Appendix folgerichtig aus der wissenschaftlichen Theologie ausgeschlossen, um ihn als »Anhang über diejenigen theologi-schen Wissenschaften [,] die zu der angewandten Theologie gehören« und »unter den eigentlich-theologischen Wissenschaften keinen Platz behaupten können«21, abhandeln zu können. Denn diese Regelsammlungen und die ihnen dienenden »praktische[n] Uebungs-Kollegien«, in denen »die Wahrheiten der Glaubens- und Sittenlehre populär vorgetragen werden«22 müs-sen, »gehören nicht zu der Theologie an sich betrachtet oder sie sind nicht nothwendig, um uns das Studium ihrer Wahrheiten und die eigene Erkenntniß ihrer Lehre möglicher oder leichter zu machen, sondern sie sollen uns nur die beste und natürlichste, die schicklichste und wirksamste Art lehren, wie wir unsere schon erlangte Erkenntniß auch andern mitteilen, und in verschiedenen Formen mittheilen können«23. 2.3 Die Praktische Theologie als technische Disziplin Demgegenüber liegt Schleiermachers enzyklopädischer Auffassung der Praktischen Theologie eine Konzeption zugrunde, der zufolge ihr ein voll-gültiger wissenschaftlich-theologischer Status zukommen soll. Zunächst einmal: Die Praktische Theologie ist eine technische Disziplin, die »Kunst-regeln«24 für die Praxis des kirchenleitenden Handelns formuliert. Schon damit ist sie bereits mehr und anderes als eine Sammlung von Anwendungs-vorschriften einer elementarisierten Dogmatik oder Ethik und mehr auch als eine bloße Sammlung von Verfahrensrezepten und Klugheitsregeln. Denn die Kunstregeln soll die Praktische Theologie aufstellen in der Orientierung an den philosophisch-theologischen und historisch-theologischen Vorgaben. Dieser Zusammenhang wird von Schleiermacher ausdrücklich präzisiert, insofern die Praktische Theologie nicht die »Aufgaben richtig fassen lehren« kann, sondern es nur mit der »richtigen Verfahrungsweise bei der Erledi-gung« dieser Aufgaben zu tun hat. Die Aufgabenbestimmung selbst fällt

21 PLANCK 1795, 593. 22 A. a. O., 606. 23 PLANCK 1794, 117. 24 SCHLEIERMACHER 1998 (2. Auflage), § 265.

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dagegen in den Bereich der Philosophischen und der Historischen Theolo-gie, die deswegen für die Praktische Theologie vorauszusetzen sind: »Die praktische Theologie will nicht die Aufgaben richtig fassen lehren; sondern, indem sie dieses voraussezt, hat sie es nur zu thun mit der richtigen Verfahrungsweise bei der Erledi-gung aller unter den Begriff der Kirchenleitung zu bringenden Aufgaben. Für die richtige Fassung der Aufgaben ist durch die Theorie nichts weiter zu leisten, wenn philosophische und historische Theologie klar und im richtigen Maaß angeeignet sind.«25 Doch es kommt noch ein Aspekt hinzu, der in den Begriffen der »Kunstre-gel« und der »technischen Disziplin« verborgen ist. Die von der Praktischen Theologie aufzustellenden Kunstregeln zielen nicht auf ihre mechanische Befolgung, sondern auf die individuell begründete Inanspruchnahme durch den gebildeten Kleriker. Deshalb grenzt Schleiermacher die »Kunstregeln im engeren Sinn«, die er für die Praktische Theologie im Auge hat, von den Regeln einer »mechanischen Kunst« ab. Das Spezifikum der Kunstregeln im engeren Sinn besteht darin, dass – mögen die Regeln selbst auch noch so evident sein – sich ihre Anwendung nicht mehr auf Regeln bringen lässt, sondern ein eigenes Vermögen (»Talent«) voraussetzt, das weder mit der theoretischen Kenntnis der Regeln noch der eingeübten Fähigkeit zu ihrem Vollzug identisch ist. Dagegen ist in den Regeln einer mechanischen Kunst »jene Anwendung schon mit enthalten«.26 Die Anwendung von Kunstregeln der Praktischen Theologie, an die Schleiermacher denkt, setzen also »die subjekthafte Entscheidungskompetenz der im kirchlichen Interesse und auf der Basis ihrer theologischen Bildung Handelnden«27 voraus.

Daneben tritt die Pointe, die in der Qualifizierung der Praktischen Theologie als einer technischen Disziplin enthalten ist. Aus ihr geht eine Näherbestimmung der im Begriff der Kunstregeln geforderten Entschei-dungskompetenz hervor. Die Architektonik von Schleiermachers System der Wissenschaften rechnet damit, dass zur Vermittlung von spekulativen und empirischen Wissenschaftstypen überbrückende bzw. verbindende Dis-ziplinen notwendig sind, die »kritischen« und die »technischen« Diszipli-nen.28 Dabei kommt den kritischen Disziplinen (zu ihnen rechnet Schleier-macher etwa die Religionsphilosophie oder die Ästhetik) die Aufgabe zu, das in der Geschichte empirisch Gegebene mit dem in der Vernunft speku-lativ Entfalteten so zu vergleichen, dass eine begründete Beurteilung der einzelnen geschichtlichen Erscheinungen ermöglicht wird. Dagegen verglei-chen die technischen Disziplinen (zu ihnen zählt Schleiermacher etwa Päda-gogik, Hermeneutik oder Praktische Theologie) in umgekehrter Richtung 25 A. a. O., § 260 mit Zusatz. 26 A. a. O., § 265 mit Zusatz. 27 GRÄB 2000a, 97. 28 S. o. Anm. 9, vgl. auch RÖSSLER 1994, 30.

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die spekulative Konstruktion mit dem empirisch Gegebenen, um Kriterien für das Handeln im geschichtlich Gegebenen zu gewinnen. »Ihre Aufgabe ist die Ermittlung und Beschreibung derjenigen Bedingungen, die eine ange-messene und daher gelungene Praxis innerhalb einzelner geschichtlicher Erscheinungen (Staat, Kirche, Wissenschaft) ermöglichen.«29 Die Kompetenz derer, die die Kunstregeln anwenden, besteht also darin, dass sie vermittels der in der technischen Disziplin der Praktischen Theolo-gie enthaltenen Kunstregeln selbst in die Lage versetzt werden, von diesen Kunstregeln einen der Sache wie der individuellen Situation angemessenen Gebrauch machen zu können30 – oder anders gesagt: dass sie »auf hand-lungsorientierende Weise zwischen dem kategorialen Wissen um die kon-stitutiven Phänomene der menschlich-geschichtlichen Welt einerseits und ihrer empirischen Wahrnehmung andererseits zu vermitteln suchen.«31

Das aber bedeutet, dass die Praktische Theologie selbst über ein reflexi-onstheoretisches Bewusstsein der Differenz zwischen der theoretisch-theo-logischen Auffassung christlich-kirchlichen Lebens und den religionsprakti-schen Lebensformen des kirchlichen Christentums verfügen muss. Dieses Bewusstsein ist nicht einfach identisch mit dem Bewusstsein der Differenz von Religion und Theologie, das ja bekanntlich zu den Konstitutionsmo-menten des Schleiermacherschen Theologieprogrammes überhaupt zählt und die Konzeption sowie den Vollzug der Theologie in all ihren Teilen bestimmt.32 Es ist aber so, dass die Differenz von Religion und Theologie für die Konstitution der Praktischen Theologie eine herausragende Bedeu-tung gewinnt, wenn in der Praktischen Theologie nun insbesondere das Bewusstsein des kirchlich Handelnden für die Differenz zwischen theore-tisch-theologischen Lehrbestimmungen und den empirischen Formen der christlich-kirchlichen Lebenswelt geschärft werden soll, und zwar so ge-schärft werden soll, dass er in die Lage versetzt ist, die von der Theologie unterschiedene Welt der gelebten Religion innerhalb der Theologie selbst thematisch werden zu lassen. 2.4 Der Doppelcharakter der Praktischen Theologie Jedenfalls wird man sagen müssen, dass Schleiermachers Funktionsbe-schreibung der Praktischen Theologie zwei Momente erkennen lässt: zum einen enthält die Praktische Theologie die Kunstregeln des Amtshandelns, zum anderen kultiviert sie – ob in oder neben den Kunstregeln, das bleibt 29 Ebd. 30 GRÄB 1991, 165. 31 GRÄB 2000a, 97. 32 S. in Laubes Beitrag 2.1.2.

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offen – auch das theoretische Bewusstsein der Differenz und der Vermitt-lungsbedürftigkeit zwischen theologisch-theoretischem Lehrbegriff und empirischen Vollzügen der christlich-kirchlichen Lebenswirklichkeit. Die schwer zu beantwortende Frage, wie beide Momente bei Schleiermacher miteinander zusammenhängen, könnte die Einschätzung nahe legen, dass in Schleiermachers Bestimmung der Praktischen Theologie ein enger Begriff der Praktischen Theologie und ein weiteres Verständnis ihrer Aufgaben nebeneinander bestehen.33 In der Tat ließe sich sagen, dass Schleiermacher in den Bestimmungen von KD2 § 25 (Die Aufgabe der Praktische Theologie besteht darin, dass sie das »Wissen« um den »Zwekk der christlichen Kir-chenleitung« zu einer »Technik« zusammenfaßt34) und KD2 § 260 (»Die Praktische Theologie will nicht die Aufgaben richtig fassen lehren; sondern indem sie dieses voraussetzt, hat sie es nur zu thun mit der richtigen Verfah-rungsweise bei der Erledigung aller unter den Begriff der Kirchenleitung zu bringenden Aufgaben«35) eher einen engen Begriff der Praktischen Theolo-gie vor Augen hat, während ihm in KD2 § 28 ein relativ weiter Begriff der Praktischen Theologie vorzuschweben scheint – es ist dort die Praktische Theologie, vermöge derer das Ganze der Theologie »mit dem tätigen christ-lichen Leben zusammenhängt«36.

In den unmittelbar auf Schleiermacher folgenden Entwürfen der Prakti-schen Theologie ist das Problem von Schleiermachers Einzeichnung der Praktischen Theologie in den Zusammenhang der anderen theologischen Disziplinen vor allem darin gesehen worden, dass die Erfassung der Aufga-ben der Praktischen Theologie aus dieser selbst ausgegliedert worden ist. Dagegen ist argumentiert worden, dass die wissenschaftliche Praxis der Praktischen Theologie unvermeidlich mit ihrer theologischen Selbstreflexion auf die eigenen Grundlagen und Voraussetzungen beginnen müsse, wenn sie

33 Vgl. dazu auch GRÄB 1991, 151f. 34 SCHLEIERMACHER 1998 (2. Auflage), § 25. 35 A. a. O., § 260. 36 A. a. O., § 28. Diese Lesart wird allerdings durch die Nachschrift David Friedrich Strauß’

zum fraglichen Paragraphen noch differenziert. Dort wird einerseits die diffizile heuristi-sche Organisation der Historischen Theologie hervorgehoben, der gegenüber die ande-ren beiden Disziplinen einfacher organisiert sind, weil »die eine nur die Grundbegriffe aufzustellen hat, die andre nur die Kunstregeln.« Andererseits wird anschließend sofort der Gedanke entfaltet, daß die drei theologischen Disziplinen einander wechselseitig ent-halten: Die historische Theologie schließt »die 2 andern auf geschichtliche Weise in sich. Werden wir nun nicht ebenso sagen müssen, daß die praktische Theologie die 2 andern enthält auf technische Weise, und daß die philosophische Theologie beyde andern in sich schließt, aber nur implicite, weil sie die Principien enthält? Dieß ist nun eben das Wesen der Theologie als eines Ganzen, daß […] kein Theil derselben absolut außer dem anderen ist. Darin liegt ein Grund der Zuversicht, daß in dieser Organisation alle theolo-gischen Disciplinen enthalten seyn werden.« SCHLEIERMACHER 1987, 27f.

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wirklich als vollgültige Disziplin im Kreis der theologischen Disziplinen soll gelten können und nicht nur als Sammlung von Regeln zu deren Anwen-dung. So hat Carl Immanuel Nitzsch seine diesbezügliche Kritik an Schlei-ermacher zusammenfassen können in der bündigen Feststellung: »Daß die Kunstregel aus der Idee eines Thuns abgeleitet werde, gehört selbst zur Kunsttheorie.«37 Freilich wird damit doch eher ein Anspruch formuliert als ein Konzept vorgestellt, so dass die Korrektur eher als Ausdruck eines blei-benden Problems gelten muss denn als dessen Lösung. Man muss jedoch auch sehen, dass Schleiermacher mit der Trennung der Aufgabenbestim-mung vom Zweckvollzug, den er für die Praktische Theologie fordert, keine heuristische Sondergesetzmäßigkeit der Praktischen Theologie statuiert, son-dern seinen auch etwa im Falle der Dogmatik aufgestellten Grundsatz um-setzt, dass »das, was der Erklärung einer Wissenschaft vorangeht, nicht zur Wissenschaft selbst gehören kann«38. Es kann hier nicht weiter verfolgt werden, in welcher Weise die Konstitutionsproblematik, die Schleiermacher der Dogmatik und der Praktischen Theologie aufgegeben hat – indem beide qua Begründung, aber nicht qua Vollzug als wissenschaftlich gelten, die Begründung aber außerhalb des Vollzuges der Disziplinen stattfinden soll –, strukturanalog ist und auch zu vergleichbaren Problemen bei der Rezeption des von Schleiermacher diesen Disziplinen zugedachten wissenschaftssyste-matischen Stellenwertes geführt hat.

Das hier weiter zu verfolgende, tiefere Problem von Schleiermachers Einzeichnung der Praktischen Theologie in den Zusammenhang der theolo-gischen Disziplinen liegt damit, so zeigt sich, in dem Doppelcharakter, der der Praktischen Theologie zukommt. Sie enthält einerseits eine Sammlung von Kunstregeln des Amtshandelns, die sich aus den Vorgaben der anderen Disziplinen ergeben, andererseits muss sie zugleich eine Reflexionstheorie auf die Differenz und die Vermittlungsbedürftigkeit zwischen theologisch-theoretischem Lehrbegriff und empirischen Vollzügen der christlich-kirchli-chen Lebenswirklichkeit enthalten, um die Kunstregeln sinnvoll auszuwäh-len und zu begründen: Keine homiletische Kunstregel ohne ein Bewusstsein des Verhältnisses zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Predigt, keine liturgische Kunstregel ohne ein Bewusstsein des Verhältnisses zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Gottesdienstes. Die Praktische Theologie ist

37 NITZSCH 1847, 32. – Schon 1831 unterschied Nitzsch Grundlegung und Verfahrens-

theorien in der Praktischen Theologie, um darauf zu bestehen, daß beide Aspekte inner-halb der Praktischen Theologie ihren Ort haben. So DERS. 1831, p. 5: »Aliud est agen-tem et ministrantem in ecclesia idones ad iudicandum praesentem statum facultate – praemunire, aliud ipsos agendi modos tradere et ministrandi artes.«

38 SCHLEIERMACHER 2003, § 1.1 (12f.). – Vgl. zum Problem des wissenschaftssystemati-schen Stellenwertes von Einleitungen in die Wissenschaften bei Schleiermacher auch ALBRECHT 1994, 206–209.

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eben so sehr Kunstlehre des Amtshandelns wie Reflexionstheorie des Ver-hältnisses zwischen theologisch-theoretischem Lehrbegriff und empirischen Vollzügen christlich-kirchlicher Lebenswirklichkeit – und zwar, wie man schnell einsieht, einschließlich aller prinzipiellen Voraussetzungen und Be-dingungen, die für den Vollzug einer solchen Reflexionstheorie unerlässlich sind.

Das Problempotential dieses Doppelcharakters zeigt sich in der Per-spektive der hier zu verhandelnden Fragestellung nach dem Verhältnis der Praktischen Theologie zu anderen theologischen Disziplinen in seiner vollen Schärfe. Sofern die Praktische Theologie Elemente einer Kunstlehre des Amtshandelns enthält, deren Begründungen in anderen theologischen Dis-ziplinen liegen, ist sie recht eigentlich nicht eine eigenständige und vollgül-tige theologische Disziplin, sondern enthält Anweisungen und Regeln, deren Zusammenstellung selbst nicht mehr als wissenschaftlich gelten kann. An-dererseits: Sofern die Praktische Theologie Elemente einer Reflexionstheorie des Verhältnisses zwischen theologischem Begriff und christlich-kirchlicher Wirklichkeit enthält, behandelt sie Fragestellungen, die zunächst einmal in das Feld anderer Disziplinen gehören, etwa in eine systematisch-theologi-sche Theorie der gegenwärtigen Religion oder in eine historisch-theologi-sche Erfassung des christlich-kirchlichen Lebens in der Gegenwart. Die Praktische Theologie kann also in dieser Perspektive ebenfalls nicht ohne weiteres als eine eigenständige theologische Disziplin gelten, sondern als eine, die aus den Anleihen bei ihren theologischen Schwesterdisziplinen lebt, deren Erwägungen sie bestenfalls verdoppelt, schlimmstenfalls verzerrt. Kurz gesagt: Entweder respektiert die Praktische Theologie ihre Beschrän-kung, gibt insofern ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit preis und kata-pultiert sich damit aus dem Kreis der theologischen Disziplinen – oder sie versucht, dem ihr zugeschriebenen wissenschaftlichen Charakter zu entspre-chen, indem sie Begründungsgänge wiederholt oder umformt, gerät dabei aber notwendig in Konflikt mit den anderen theologischen Disziplinen.

Damit ist das Grundproblem markiert, das der Selbstreflexion der Prak-tischen Theologie auf ihr Verhältnis zu den anderen theologischen Diszipli-nen seit Schleiermacher aufgegeben ist. Es liegt in der Spannung zwischen der Zweckbestimmung der Praktischen Theologie, Kunstregeln enthalten zu sollen, die gerade keinen Wissenschaftsanspruch erheben – und der Verfah-rensbestimmung der Praktischen Theologie, für diese Kunstregeln wissen-schaftliche Begründungen parat haben zu sollen, deren Entfaltung nicht mit den Zweck- und Verfahrensbestimmungen oder den ausgeführten Themen der anderen theologischen Disziplinen kollidiert bzw. konkurriert. Die Be-deutung, die darin liegt, dass Schleiermacher der Praktischen Theologie diese Spannung als stets neu zu reflektierendes Grundproblem ihres Selbst-verständnis nachgewiesen und aufgegeben hat, ist kaum zu überschätzen.

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Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die praktisch-theologischen An-sätze des 19. und 20. Jahrhunderts, das Verhältnis der Praktischen Theologie zu den anderen theologischen Disziplinen zu bestimmen, gelesen werden müssen als faktische Auseinandersetzungen mit den von Schleiermacher zu-sammengestellten Aspekten und Elementen, die zu jener Grundspannung geführt haben, und zwar auch dort, wo diese Auseinandersetzung nicht explizit geführt wird. Die Geschichte der praktisch-theologischen Verhält-nisbestimmung der Praktischen Theologie innerhalb der Theologie lässt sich rekonstruieren als Geschichte der Umformung oder Umbestimmung, der Aufwertung oder Abwertung von Elementen und Aspekten jener Grund-spannung eines wissenschaftlichen Selbstverständnisses der Praktischen Theologie, die sämtlich bereits von Schleiermacher zusammengestellt und in den Zusammenhang gebracht worden sind – und zwar auch dort, wo das von späteren Autoren als solches nicht gewusst oder kenntlich gemacht wird. Vielleicht lässt sich sogar sagen, dass die Markierung dieses Grund-problems Schleiermachers eigentlichen Rang als »Urheber der prakt. Theol. als Wissenschaft«39 ausmacht, jedenfalls übersteigt die Wirkung dieser Prob-lemanzeige bei weitem die Durchsetzungskraft seiner enzyklopädischen Be-stimmung der Praktischen Theologie.

3. ZUR GESCHICHTE DER PROBLEMBEARBEITUNG: TYPEN DER VERHÄLTNISBESTIMMUNG

Die Geschichte der praktisch-theologischen Bestimmung der Stellung der Praktischen Theologie innerhalb der Theologie lässt sich als implizite Aus-einandersetzung lesen mit der oben entwickelten Grundspannung zwischen dem kunstlehrehaften Charakter und dem reflexionstheoretischen Charak-ter, der Schleiermachers Bestimmung des wissenschaftssystematischen Ortes der Praktischen Theologie innerhalb der Theologie leitete. Nicht immer wird direkt auf diese Spannung zwischen technischem und epistemischem Charakter Bezug genommen, vielmehr werden in der Hauptsache Anstren-gungen unternommen, die Rahmenbedingungen so zu verändern, dass die Spannung entschärft oder zum Verschwinden gebracht wird. Doch im gan-zen zeigt sich: Die Wissenschaftsgeschichte der Praktischen Theologie kennt zwar unterschiedliche Akzentuierungen von Elementen und Aspekten, die sich schon in Schleiermachers Bestimmung fanden, fügt ihnen jedoch kaum wesentliche neue Parameter hinzu. Hinzu kommt, dass wiederkehrende Typen solcher Akzentuierungen sich ausmachen lassen. In ihnen sind für das Unternehmen, die Stellung der Praktischen Theologie im Ganzen der theologischen Wissenschaft zu bestimmen, unterschiedliche Ansätze ge-

39 ACHELIS 1890, 4.

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wählt, die sich jedoch wiederholen. Offensichtlich ist die Menge der denkba-ren Ansätze begrenzt, so dass sich hier Verwandtschaftsbeziehungen erge-ben.

Daher bietet es sich an, die Orientierung über die Selbstverortungen der Praktischen Theologie innerhalb der Theologie als Rekonstruktion der his-torisch auftretenden Typen einer solchen Verhältnisbestimmung zu liefern. Zwar hat diese Typisierung – wie jede andere auch – etwas notgedrungen Schematisches, auch fügen sich natürlich nicht alle ausgewählten Verhältnis-bestimmungen zweifelsfrei in ein solches Schema ein. Zudem vermag die Typisierung stets nur einem überwiegenden Moment des jeweiligen Entwur-fes Ausdruck zu geben, ohne allen seinen Facetten gerecht werden zu kön-nen; misstrauisch stimmt eine solche Typisierung vielleicht auch deswegen, weil sich innerhalb der ganz einseitig, nämlich: ausschließlich mit Rücksicht auf die hier einschlägige Fragestellung gebildeten Gruppen Zusammenstel-lungen von Autoren ergeben, die unter anderen Gesichtspunkten wohl kaum als programmverwandt gelten können. Kurz: die Typisierung ist und bleibt eine Sache der Interpretation. Aber sie vermag noch am ehesten die wissenschaftsgeschichtlich gegebene Mannigfaltigkeit konstruktiv zu ma-chen für ein Bewusstsein der Möglichkeiten und Grenzen, die für eine sol-che Verhältnisbestimmung überhaupt bestehen.

Unter diesen Einschränkungen sollen im Folgenden sieben Haupttypen – teils noch einmal mit Untertypen – der praktisch-theologischen Bestim-mung der Stellung der Praktischen Theologie im Ganzen der Theologie vorgestellt werden. Sie werden unterschieden nach ihren Anknüpfungs- oder Ansatzpunkten. Ein erster Typ knüpft an Schleiermachers Bestimmung der Theologie insgesamt als eine auf den praktischen Zweck der Kirchen-leitung hin konzipierte Wissenschaft an. Ein zweiter Typ nimmt den Ge-danken der Dreiteilung der theologischen Wissenschaft auf, bestimmt sie jedoch neu. Der dritte Typ nimmt die Verhältnisbestimmung so vor, dass der Gegenstandsbereich der Praktischen Theologie präzisiert wird: ihr Spe-zifikum im Kreise der theologischen Disziplinen ergibt sich dadurch, dass sie in herausgehobener Weise den Kirchenbezug der Theologie abdeckt und für ihn einsteht. Dadurch wird die die Praktische Theologie bestimmende Grundspannung zwischen ihrem kunstlehrehaften Charakter und ihrem reflexionstheoretischen Charakter entschärft. Die folgenden beiden Typen gehen so vor, dass sie jeweils ein Glied dieser Spannung aufnehmen und mehr oder weniger entschlossen so stark machen, dass der jeweils andere Aspekt dabei deutlich untergeordnet wird. Der sechste Typ versucht die Spannung dadurch aufzulösen, dass die Verbindung der Glieder – auf ver-schiedene Weise – durchschnitten wird. Der siebente Typ schließlich ver-sucht, wiederum auf verschiedene Weise, die Spannung dadurch als bestim-mend zu erhalten, dass der Konstitutionsgrund der Praktischen Theologie

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außerhalb dieser Grundspannung gesucht wird und sie somit an Dramatik verliert. Diese Typen sollen nun der Reihe nach vorgestellt werden. Dabei besteht das Ziel nicht darin, die sich zur Sache äußernden Autoren vollzäh-lig zu listen, sondern jeden Typ durch klassische, repräsentative oder origi-nelle Vertreter erläutern zu lassen. 3.1 Die Ableitung der Praktischen Theologie aus dem Zweck der

Theologie als ganzer Zuerst zu nennen ist ein Ansatz zur Beschreibung der Stellung der Prakti-schen Theologie innerhalb der Theologie, der bei der Bestimmung des Be-griffes der Theologie überhaupt einsetzt. Ansatzpunkt zum Aufweis der Legitimität der Praktischen Theologie innerhalb der Theologie, aber auch zum Aufweis ihrer spezifischen Funktion für das Ganze der Theologie ist also nicht der Begriff der Praktischen Theologie, sondern der Begriff der Theologie überhaupt. 3.1.1 Ein erster Untertyp dieses Ansatzes findet sich insbesondere in der Frühgeschichte der modernen Praktischen Theologie. 3.1.1.1 Hinzuweisen wäre hier etwa auf Alexander Schweizer (1808–1888). In seiner 1836 veröffentlichten Antrittsvorlesung40 auf der – zunächst au-ßerordentlichen – Professur für Praktische Theologie an der neu gegründe-ten Zürcher Universität entwirft er – in expliziter Anknüpfung an Schleier-machers Bestimmung der Theologie als einer positiven Wissenschaft, die kritisch aufgenommen und modifiziert werden soll – einen Begriff der Theologie als ganzer, aus dem dann der Begriff der Praktischen Theologie mit innerer Stimmigkeit abgeleitet wird.

Die Theologie als ganze hat nach Schweizers Auffassung zwei Richtun-gen, nämlich eine »Richtung auf das Wissen« und »ein praktisches Interesse an der christlichen Kirche«.41 Dabei legt Schweizer die Auffassung zu Grunde, dass eine dergestalt zweidimensionale Theologie sich historisch entwickelt hat aus einer ursprünglich homogenen Form der Theologie, die in ihren urchristlichen und frühkirchlichen Anfängen ausschließlich als praktisches Interesse an der Kirche bestand und sich allmählich umgebildet hat zu jener Doppelform, weil das praktische Interesse im Zuge seiner Aus-differenzierung von sich aus das Wissen verlangte. Dazu kommt, dass Schweizer das praktische Interesse unmittelbar aus religiösen Impulsen her-vorgehen sieht und auch bestimmen kann als »Glaubensinteresse«42. So

40 SCHWEIZER 1836. 41 A. a. O., 17. 42 A. a. O., 20.

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vermag er dann die Theologie als ganze zu verstehen als »ein Wissen, wel-ches die glaubende Kirche sich bildet von sich selbst«43: Das »Einander-durchdringen von Wissen und Glauben«44 gilt ihm als das entscheidende Kennzeichen der Theologie.

Ist die Theologie als ganze dergestalt auf die Praxis der Kirche bezogen und religiös motiviert, fällt die Funktionsbestimmung der Praktischen The-ologie in ihr nicht mehr schwer. Die zweiteilige Theologie gliedert sich, im Modus des relativen Überwiegens, a) »in ein Gebiet, wo das Wissen über die auch da seienden Glaubensinteressen dominirt und überwiegend das be-stimmende und lebendige wäre« und das Schweizer als der »sogenannte theoretische Theil, zerfallend in den historischen und construierenden oder systematischen« gilt. Daneben tritt b) »ein Gebiet, wo die Glaubensintressen [sic] sich unmittelbar geltend machen und über das auch vorhandene Wissen dominiren, es also anwenden und für praktische Zwecke benutzen […]; dieses aber [ist] das Gebiet der praktischen Theologie«45. Es finden sich mithin in Schweizers Bestimmung der Praktischen Theologie durchaus auch das Moment der Bezogenheit auf die Kirche oder der Anwendungsaspekt. Entscheidend für seine Verhältnisbestimmung ist aber, dass die Praktische Theologie aus dem Begriff der Theologie als ganzer abgeleitet bzw. dedu-ziert46 wird. Denn etwas zugespitzt könnte man sagen, dass die Theologie als ganze zur Praktischen Theologie erklärt wird, die dann die historischen und systematischen Unterdisziplinen aus sich entwickelt. Am deutlichsten wird das in den Verhältnisbestimmungen, mit denen Schweizer seine 1848 erschienene Homiletik einleitet. Die Praktische Theologie hat demzufolge den Vorzug, »unmittelbar Theorie zur kirchlichen Praxis« zu sein und den Zweck der Theologie am reinsten aufzunehmen, während die »theoretische Theologie« mit ihren historischen und spekulativen Zweigen »nur mittelbar eine Bedingung ist für diese Praxis«47. 3.1.1.2 Auch Carl Immanuel Nitzsch (1787–1868) bestimmt die Stellung der Praktischen Theologie im Ganzen der Theologie im Ausgang von der Be-stimmung des Begriffs der Theologie als ganzer. Sie ist eine in allen ihren Teilen auf die kirchliche Praxis des Christentums bezogene Wissenschaft, die aber erst in und mit der Praktischen Theologie vollständig ist. So heißt es 1847, gleich am Anfang des monumentalen Gesamtentwurfes der Praktischen Theologie: »Durch Theologie gelangt die Kirche zu ihrem wissenschaftlichen Selbstbewußt-sein. Sie verständigt sich über die Gründe und Principien ihres Daseins, über ihr Zeitverhält- 43 A. a. O., 18. 44 A. a. O., 19. 45 A. a. O., 21f. 46 A. a. O., 16. 47 SCHWEIZER 1848, 9.

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niß und ihren Lehrinhalt. Dieses wissenschaftliche Wissen ist nun zwar, unbeschadet seiner Selbständigkeit, ein Wissen um des Handelns willen und hat in allen seinen Theilen die wei-tere Selbstbethätigung der Kirche im Auge, nur ist es noch kein Wissen vom kirchlichen Handeln selbst. Demnach vollendet sich die kirchliche Wissenschaft durch Theorie der kirch-lichen Ausübung des Christenthumes und wird so zu einer praktischen Theologie.«48 Nitzsch verfährt also so, dass er zunächst das Thema und den epistemischen Status der Theologie als ganzer bestimmt: Thema der Theologie ist die Selbstbetätigung der Kirche, mithin alle Elemente, Aspekte und Dimensio-nen, die zum kirchlichen Leben gehören. Der epistemische Status der Theo-logie ist dabei durch ihre Zweckbestimmung gekennzeichnet. Sie ist, als ganze, ein Wissen, das um des Handelns willen besteht und also in mehr oder weniger direkter Weise diesem Handeln dient. Damit sind die entschei-denden Weichenstellungen vorgenommen. Die Praktische Theologie ist der-jenige Teil der Theologie, der die Aufgabe der Gesamt-Theologie am reins-ten und unmittelbarsten repräsentiert.

Die weiteren Näherbestimmungen zur Stellung der Praktischen Theolo-gie im Ganzen der Theologie müssen auf dem Hintergrund dieser entschei-denden Weichenstellung verstanden werden. Diese Näherbestimmungen ha-ben ihre gemeinsame Tendenz darin, den theoretischen Charakter der Prak-tischen Theologie, ihre Selbstständigkeit und Eigenständigkeit unter den theologischen Disziplinen und schließlich ihre Gleichrangigkeit mit ihnen sicherzustellen. Die enzyklopädischen Näherbestimmungen richten sich auf drei Hauptaspekte. Erstens, die theoretische und gleichrangige Gestalt der Praktischen Theologie innerhalb der theologischen Disziplinen ergibt sich durch ihren spezifischen Gegenstandsbereich. »Ist die christliche Religion als Gegenstand der [gesamttheologischen] Wissenschaft gesetzt«49, so sind vier wissenschaftliche Grundfragen unterscheidbar: diejenige nach dem Wesen des Christentums, nach seiner Geschichte, nach seiner Bestimmtheit als Inhalt des Bewusstseins bzw. als Denkart, Lebens- und Weltsicht sowie nach seiner Darstellung und Ausübung – oder kurz: die Fragen nach »Princip, Historie, Doctrin, Ritus«50 des Christentums. Sie begrün-den die vier Grunddisziplinen der Theologie.

Zweitens, die notwendige und eigenständige Gestalt der Praktischen Theologie innerhalb der theologischen Disziplinen zeigt sich daran, dass sie mit entsprechenden Gebieten der »allgemeinen philosophischen oder historischen Wissenschaft in ein nothwendiges Verhältniß der Wechselwirkung trete.«51 Für die Praktische Theologie ist dieses Verhältnis durch den Zusammenhang mit der Praktischen Philosophie gegeben.52

Drittens, die selbstständige Gestalt der Praktischen Theologie innerhalb der theologi-schen Disziplinen ist sodann auch noch einmal durch ihren Anwendungscharakter gegeben:

48 NITZSCH 1847, 1. 49 A. a. O., 5. 50 A. a. O., 5. 51 A. a. O., 31. 52 Ebd.

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Die Praktische Theologie bezieht das in den anderen Disziplinen versammelte Wissen auf das kirchliche Handeln. »Ueberhaupt verhält sich die praktische Theologie zur theoretischen wie eine Kunstwissenschaft und dieß sichert ihr eine vollkommne Selbständigkeit.«53 Es ist leicht zu sehen, dass Nitzsch diese Bestimmungen in der Anknüpfung an Impulse Schleiermachers macht und teils mit dem Anspruch ihrer Modi-fikation, auch wenn dies im Einzelnen nicht immer angemerkt wird. Expli-zite Diskussionen des enzyklopädischen Programms Schleiermachers finden sich in verschiedenen, prominenten Zusammenhängen von Nitzschs Ein-leitung in seinen Gesamtentwurf.54 Beansprucht Nitzsch grundsätzlich, »auf den Fortschritt Schleiermachers aufmerksam zu machen […], dann aber den die Gedanken des großen Lehrers nach bestem Vermögen zu ergänzen oder auch zu berichtigen«55, so richten sich die von ihm angebrachten Modifika-tionen von Schleiermachers enzyklopädischem Programm der Praktischen Theologie vor allem auf drei Punkte: es ist einmal die Einholung der Aufgabenbestimmung der Praktischen Theologie in die Praktische Theologie selbst56, es ist sodann die ekklesiologische Grundle-gung der Praktischen Theologie bzw. die Ausrichtung des wissenschaftlichen Selbstverständ-nisses der Praktischen Theologie an dem »actuose[n] Subject: Kirche, Gemeine«57 und es ist

53 Ebd. 54 Vgl. etwa a. a. O., 1–5.105–107.111–118.133–135. 55 A. a. O., 111. 56 Siehe dazu oben 2.4. 57 NITZSCH 1847, 111. Instruktiv fasst RÖSSLER 21994, 40, die Pointe der Modifikation

Schleiermachers an in dieser Hinsicht zusammen: »Schleiermacher hat, da er die Religion wesentlich unter dem Aspekt der Gemeinschaft verstand, die kirchliche Aufgabe zum konstituierenden Zweck der Theologie gemacht und darin deren grundsätzlich prakti-sche Ausrichtung aufgenommen. Er hat jedoch die Aufgabe der Theologie entscheidend als theoretische angesehen: Die Theologie sowohl als philosophische wie als historische dient dem Verstehen der Religion. Die Einwirkung auf Religion und religiöse Praxis bleibt demgegenüber persönliche Sache dessen, der sich zur Kirchenleitung berufen fühlt. Im Dienst seiner Aufgabe wird die Praktische Theologie entfaltet, aber eben als Kunstlehre von formalem Charakter, deren Anwendung der Urteilskraft des Einzelnen überlassen bleiben muss. Demgegenüber macht die Verselbständigung der Praktischen Theologie bei Nitzsch die Einwirkung auf die Religion und die religiöse Praxis zum theologischen Programm. Solche Einwirkung wird danach nicht mehr vom gemeinsa-men Leben der Christen erwartet, sondern muss jetzt ausdrücklich und nach allgemei-nen Richtlinien wahrgenommen werden. Dieses Programm ist offenbar Ausdruck für den Verlust der Selbstverständlichkeit, die bis dahin die Wirksamkeit des Gemeindepfar-rers begleitet hat. In der Verselbständigung der Praktischen Theologie bringt sich das Bewusstsein schwindender ›Kirchlichkeit‹ und der deutlicher werdenden Differenz zwi-schen Kirche und Welt zur Geltung. Die Verwissenschaftlichung der Praktischen Theologie ist der Versuch, die Einwirkung auf Religion und religiöse Praxis aus den Zu-fälligkeiten individuellen Handelns heraus und auf die Ebene der Objektivität emporzu-heben. Dieses Programm erst schließt – mit Nitzsch – die Entstehungsgeschichte der Praktischen Theologie ab.«

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schließlich die Korrektur des Zusammenhangs, in dem die Praktische Theologie mit den Gebieten der allgemeinen Wissenschaft steht: Nitzsch wandelt Schleiermachers Vorstellung der Beleihung in das Konzept eines Wechselwirksamkeitsverhältnisses. Entscheidend für Nitzschs enzyklopädische Bestimmung der Praktischen Theologie ist aber die Veränderung des Theologiebegriffes selbst, die in der impliziten Auseinandersetzung mit Schleiermacher erfolgt. Die Theologie wird bei Nitzsch zu einer praktisch abgezweckten, allerdings nicht lediglich positiven, sondern selbstständig begründeten Wissenschaft. Aus diesem Theologiebegriff vermag dann die Subdisziplin der Praktischen Theologie notwendig und gleich ursprünglich mit den anderen Disziplinen hervorzu-gehen. 3.1.1.3 Zu nennen in diesem Zusammenhang sind auch die Ausführungen des Herborner Praktischen Theologen Wilhelm Otto (1800–1871), der 1869 eine »Evangelische Praktische Theologie« verfasste. Ihm geht es in erster Linie darum, die Wissenschaftlichkeit der Praktischen Theologie gerade im Horizont der übrigen theologischen Disziplinen zu erweisen und festzuhal-ten. Dazu geht er von dem Begriff der Theologie insgesamt aus: Deren Ge-genstand ist, in allen ihren Teilen, das Christentum, das durch »ein freies Thun verwirklicht werden soll«. Insofern ist die Theologie in ihrer Gesamt-heit »Wissenschaft von einem Thun«, mit anderen Worten »praktisch«.58 In diesen Rahmen kann nun die Praktische Theologie eingezeichnet werden: Sie vermittelt »ein wissenschaftliches Erkennen von der kirchlichen Pflege des Christenthums« und unterscheidet sich insofern hinsichtlich ihres Ge-genstandes, nicht aber aufgrund ihres Wissenschaftscharakters und auch nicht aufgrund ihres Praxisbezuges von den übrigen Teilen der Theologie.59

Hinzuweisen ist schließlich auch auf die Bestimmung, die Leonhard Fendt (1881–1957) der Praktischen Theologie im Horizont der theologi-schen Gesamtwissenschaft gibt. Er konzipiert die Theologie als ganze von ihrer Bezogenheit auf die »neutestamentliche kirchliche Praxis«60 her, so dass die neutestamentliche Disziplin die organisierende Mitte der Theologie bil-det. Die übrigen Disziplinen sind jener neutestamentlichen kirchlichen Pra-xis auf ihre je spezifische Weise »dienlich«61. Der Dienst der Praktischen Theologie besteht darin, speziell das »neutestamentliche kirchliche Handeln« zu rekonstruieren und seine Linien bis in die Gegenwart auszudehnen.62

58 OTTO 1869, 2. 59 A. a. O., 3. 60 FENDT 1938, 81f. 61 A. a. O., 6. 62 A. a. O., 5.

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3.1.2 Ein zweiter Untertyp des Bemühens, den Theologiebegriff als ganzen so zu fassen, dass eine zu selbstbewusstem Auftreten ermunterte Praktische Theologie sich ergibt, zielt von vornherein stärker auf die hierarchische Ordnung der theologischen Subdisziplinen ab. 3.1.2.1 Ein Beispiel hierfür liefert etwa Eduard Thurneysen (1888–1977). Er hat sich zur einschlägigen Problematik pointiert geäußert in einer 1926 er-schienenen Rezension, die die Homiletik Karl Fezers bespricht.63 Anlass der enzyklopädischen Erwägungen ist der Umstand, dass die christliche Predigt als Kernproblem der gesamten Theologie aufgefasst wird und erwiesen wer-den soll. Dazu werden Thema und Verfahren der Theologie als ganzer fol-gendermaßen beschrieben: »An der Tatsache der Predigt, dem christlichen Reden von Gott, nimmt sie [sc.: die Theologie als ganze] ihren Ausgang.«64 Es folgen Ausführungen zur dreiteiligen Gliederung der Theologie: »Daran dass dieses christliche Reden von Gott zurückweist auf die Predigt der Kir-che hinter uns, diese auf die sie begründende Predigt der Apostel, entsteht die historische Theologie im weitesten Sinne; daran dass diese Predigt in sich selber einen originalen Sinnzusammenhang verrät, entsteht die syste-matische, und daran dass diese Predigt weitergehen will und soll, die so ge-nannte praktische Theologie mit ihrem Kern, der Homiletik.«65 Ist die Theo-logie als ganze derart umrissen, so fällt es nicht mehr schwer, die herausge-hobene Bedeutung der praktisch-theologischen Disziplin zu bestimmen: »Bedenken wir dies, so wird sofort klar nicht nur, wie eng der Zusammen-hang zwischen den einzelnen Disziplinen der Theologie sein muss, sondern auch mit was für einem Nachdruck die dritte der genannten Disziplinen belegt ist. Denn in ihr mündet sozusagen der ganze Strom der theologischen Arbeit.«66 Thurneysen nutzt die Gelegenheit umgehend zu einer Kritik der Wissenschaftspraxis der Theologie, in der die Praktische Theologie als Seis-mograph, teils als Leidtragende der Krise der Theologie dargestellt wird. Dabei wird allerdings deutlich, in welch starkem Maße die Praktische Theologie von den Vorarbeiten der anderen Disziplinen abhängig ist, inwie-fern sie also zwar autonom, aber gerade nicht autark ist: »Sollte es etwa im historischen oder systematischen Teile der Theologie zu einer mehr oder weniger gründlichen Skepsis oder gar zu einer gänzlichen Infragestellung und Aufhebung des Gegenstandes der Theologie gekommen sein […], so wird zum Schluß bei der Mündung in die praktische Theologie das Wasser nur spärlich oder gar nicht mehr fließen. Umgekehrt, wenn die ganze Theologie ihres Gegenstandes wieder gewisser wird, so wird sich das auch

63 THURNEYSEN 1926, 197–203. 64 A. a. O., 197. 65 Ebd. 66 Ebd.

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sofort in der neuen Bestimmtheit und Sachlichkeit zeigen, mit der in der Homiletik Wesen und Gestalt der Predigt erfaßt und vertreten wird.«67 Die Praktische Theologie ist bei Thurneysen also die zentrale und bedeu-tendste Disziplin der Theologie, sie ist aus eigener Kraft aber nicht lebens-fähig, sondern auf die Zuarbeit der anderen Disziplinen angewiesen. 3.1.2.2 In vergleichbarer Weise hat der Frankfurter Praktische Theologe Adolf Allwohn (1893–1975) im Jahre 1931 das Verhältnis der Praktischen Theologie zu den theologischen Disziplinen bestimmt.68 Auch er setzt ein mit einer Bestimmung des Gegenstandes der Theologie insgesamt, aus der dann die Zentralstellung der Praktischen Theologie abgeleitet werden kann. »Die gesamte Theologie hat das Handeln der Kirche zum Gegenstand.«69 Die historische Theologie ist dann in erster Linie für die Untersuchung der Lebensäußerungen der Kirche in der Vergangenheit zuständig, die Systema-tische und die Praktische Theologie sind darin verwandt, dass ihre Erwä-gungen an Prinzipien ausgerichtet sind und als Formenlehre verfahren: Die Systematische Theologie statuiert den Sinn verschiedener Formen des kirchlichen Handelns, die Praktische Theologie stellt die konkrete Gestal-tung dieser Formen fest. Systematische und Praktische Theologie haben also »verschiedene Intentionen« bzw. sie schlagen »verschiedene Richtungen in-nerhalb desselben Stoffgebietes« ein.70 3.1.2.3 Zu nennen sind in diesem Zusammenhang schließlich auch die Aus-führungen Alfred Dedo Müllers (1890–1972)71. Er insistiert zunächst auf dem »praktische[n] Charakter der Gesamttheologie«72, deren Aufgabe, so führt Müller in Anknüpfung an scholastische Autoren aus, darin gesehen werden muss, »das rationale Denken […] seiner Abstraktheit, seiner Isolie-rung zu entnehmen und das Denken wieder als Gesamtvorgang zu verste-hen, an dem der ganze Mensch beteiligt ist«73. Die Theologie als ganze wird damit, so erläutert Müller sein Verständnis Luthers, »der lebendige intellek-tuelle Vollzug der in Kreuz und Auferstehung Christi beschlossenen Weis-heit Gottes«74. Damit sind die gedanklichen Voraussetzungen geschaffen, unter denen die Praktische Theologie als die der Theologie »wesentlich zu-

67 A. a. O., Sp. 198. 68 ALLWOHN 1931. 69 A. a. O., 16. 70 A. a. O., 21. 71 MÜLLER 1950. 72 A. a. O., 21. 73 A. a. O., 22. 74 A. a. O., 23.

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gehörige Konkretisierung der Gesamttheologie«75 entworfen werden kann, nämlich als »theologische Lehre von der richtigen Verwirklichung des Rei-ches Gottes in der Kirche und durch die Kirche in der Welt«76. 3.1.2.4 Das Problem des in diesem Untertyp eingeschlagenen Weges ist offensichtlich. Die Zentralstellung der Praktischen Theologie wird erkauft durch Bestimmungen vom Sinn und Aufbau der Theologie als ganzer, die in den anderen Disziplinen kaum auf Verständnis, geschweige denn auf Zu-stimmung rechnen können. Damit führt die enzyklopädische Selbstveror-tung der Praktischen Theologie im Rahmen der Theologie insgesamt fak-tisch zu einer Selbstisolierung und Selbstmarginalisierung der Praktischen Theologie.

Allerdings ist der in diesem ersten Abschnitt vorgestellte Ansatz, die Funktion der Praktischen Theologie für das Ganze der Theologie auf dem Weg einer Aufgabenbestimmung der Theologie insgesamt zu erzielen, grundsätzlich ein Weg, der auf große Anschlussfähigkeit in systematisch-the-ologischen Erwägungen auf das enzyklopädische Problem der Praktischen Theologie rechnen kann. So leiten auch etwa Eberhard Jüngel oder Eilert Herms die enzyklopädische Einordnung und Charakterisierung der Prak-tischen Theologie aus einem Begriff der Theologie als ganzer ab.77 3.2 Die Praktische Theologie als Hauptdisziplin der Theologie Der zweite Haupttyp ist dadurch charakterisiert, dass in ihm die Überfüh-rung der vierteiligen Gliederung der Theologie in ein dreiteiliges Modell aufgenommen wird. Die Praktische Theologie ist damit weniger in der Ge-fahr, als ein bloßer Anhang zu den eigentlichen theologischen Disziplinen gelten zu müssen, sondern erhält den Rang einer der drei theologischen Hauptdisziplinen. Die entsprechenden Umgliederungsansätze finden sich naturgemäß eher in der Frühgeschichte der Praktischen Theologie und mit-hin in einer Epoche, in der die Wissenschaftsorganisation der Theologie insgesamt im Umbruch war. Sie variieren die auch bei Schleiermacher schon gegebene Unterscheidung in die systematische bzw. philosophische bzw. spekulative Disziplin, die historische Disziplin und die praktische Disziplin. So entfaltet und begründet der Berner Praktische Theologe Ferdinand Friedrich Zyro (1802–1878) im Jahr 183778 nach einer ausführlichen Über-sicht über die zeitgenössischen Einteilungsformen79 seine Einteilung folgen-

75 A. a. O., 25. 76 A. a. O., 13. 77 S. in Laubes Beitrag 4. 78 ZYRO 1837, 689–725. 79 A. a. O., 691f.

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dermaßen: Die erste Disziplin ist diejenige der Spekulation, die »die Idee christlicher Theologie als einer realen und präsenten, oder das Wesen des Christenthums als eines Inbegriffs wissenschaftlich zu begreifender Sätze« darstellt. Die zweite Disziplin befasst sich mit der »Geschichte dieser Idee in ihrer zeitlichen Gestaltung vom ersten Beginne bis auf die Gegenwart«. »Das Letzte ist die Darstellung des Organismus, in und mit welchem sich die Idee in der Zeit verwirklichet, die praktische Theologie.«80 Der Göttinger, später Leipziger Praktische Theologe Karl Theodor Albert Liebner (1806–1871) variiert 184381 die Dreiteilung folgendermaßen: »Die speculative Theologie ist das Wissen um die Idee, d.i. das nothwendige, ewige, unveränderliche Wesen, die absolute göttli-che Wahrheit der christlichen Religion, die Einheit der in der christlichen Offenbarung ge-setzten göttlichen Gedanken, somit das immerwährende Seynsollen des christlichen Glauben, Lebens (der Gegenstand der Dogmatik und Ethik).« »Die historische Theologie ist das Wis-sen um die zeitliche Erscheinung, empirische Verwirklichung dieser Idee, und zwar um die Erscheinung, sofern sie eine bereits gewordene, fertige ist, sey sie nun eine der Idee adäquate oder inadäquate; also das Wissen um das gesammte empirische Daseyn der christlichen Religion.« Schließlich »die praktische Theologie ist das Wissen um die werdende Erscheinung – und da diese sich nicht von selbst macht […] um das Thun, die Arbeit daran, oder das Wissen um die rechte Art und Kunst, die Idee zur möglichst adäquaten Erscheinung und Wirklichkeit zu bringen.«82 Das gemeinsame Programm solcher Dreiteilungen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnte auch darin gesehen werden, die drei theologischen Disziplinen aus den drei zeitlichen Dimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft abzuleiten bzw. auf diese zu beziehen.83 3.3 Der Bezug auf das kirchliche Leben als enzyklopädischer

Bestimmungsgrund der Praktischen Theologie Die fünf nun folgenden Haupttypen nehmen direkt Bezug auf die oben erläuterte und auf Schleiermacher zurückgeführte Spannung zwischen einer kunstlehrehaften und einer reflexionstheoretischen Dimension in der Prakti-schen Theologie. Sie gehen mit dieser Spannung jedoch höchst unterschied-lich um.

Der hier zunächst vorzustellende dritte Haupttyp nimmt die Verhältnis-bestimmung der Praktischen Theologie zum Ganzen der Theologie so vor, dass bei der Fixierung des Themas oder des Gegenstandsbereiches der Praktischen Theologie angesetzt wird. Dabei wird durchweg der Bezug auf das kirchliche Leben herausgestellt. Auf diese Weise wird zwar noch nicht

80 A. a. O., 702f. 81 LIEBNER 1843, 629–642. 82 A. a. O., 630. 83 VON ZEZSCHWITZ 1890, 3–37, hier 7.

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notwendigerweise ein Unterschied zu den übrigen Disziplinen festgestellt. Die thematische Spezifikation der Praktischen Theologie führt aber dazu, dass sich die Differenz zwischen den regelhaften und den reflexiven As-pekten verringert bzw. im Extremfall sogar auflöst. Da die Vermittlungs-bedürftigkeit zwischen theologisch-theoretischem Lehrbegriff und empiri-schen Vollzügen des christlich-kirchlichen Lebens sich auf den Bereich der Kirche beschränkt, können das reflexive Bewusstsein dieser Vermittlungs-bedürftigkeit und die Aufstellung von handlungsorientierenden Regeln kaum noch in kognitiven Konflikt geraten. Die Lehre von der Kirche, das Leben in der Kirche und die lehrgemäße Einwirkung auf dieses Leben bil-den einen Zusammenhang.

Nun ist die Auffassung, dass die Praktische Theologie in erster Linie das kirchliche Leben zum Gegenstand hätte, kaum von der Hand zu weisen und in der praktisch-theologischen Literatur bekanntlich entsprechend weit ver-breitet. Hier sollen aber lediglich einige Beispiele für solche Ansätze genannt werden, in denen die Bestimmung des kirchlichen Lebens als des zentralen Themas der Praktischen Theologie zum Schlüssel für die enzyklopädische Einzeichnung der Praktischen Theologie in den Kontext der Gesamttheolo-gie wird. 3.3.1 Zuerst genannt sein soll hier der Göttinger Praktische Theologe Fried-rich Ehrenfeuchter (1814–1878). Seine 1859 erschienene Darstellung der Praktischen Theologie84 spricht gleich in den ersten Sätzen emphatisch die Gewißheit aus, dass für die Praktische Theologie dankenswerterweise die Zeiten vorüber seien, »da man nichts anderes in ihr erblickte als einen zwei-deutigen Anhang zu dem eigentlichen Körper der theologischen Wissen-schaft, da man sie mechanisirender Gesetzlichkeit überliess oder willkührli-chem Belieben. In dem grossen Zusammenhange des theologischen Sys-tems, wie verschieden derselbe im einzelnen auch bestimmt werden mag, behauptet nun die praktische Theologie eine ebenbürtige Stellung.«85 Dies nun ist der »wissenschaftlichen Haltung selbst, welche die praktische Theo-logie annimmt«, zu verdanken, und diese gewinnt sie durch die Selbstver-pflichtung auf die »Wirklichkeit ihres Gegenstandes« bzw. »das Eingehen auf die lebendige Bestimmtheit des Gegebenen.« Dieses Gegebene aber »ist für die praktische Theologie die Kirche, und so entspringt die Aufgabe, vor allem sichere Einsicht über die Kirche zu erlangen.«86

Damit ist die Voraussetzung bestimmt, die Ehrenfeuchter zu einer Dreiteilung der Theologie und zur Bestimmung der zentralen Funktion der Praktischen Theologie in ihr führt. Hier kennt Ehrenfeuchter zwei Wege der

84 EHRENFEUCHTER 1859. 85 A. a. O., 3. 86 A. a. O., 3f.

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Einteilung: Einmal einen »progressiv«87 genannten Weg, der rekonstruiert, »wie aus der göttlichen Offenbarung in That und Wort durch die Gebiete und Formen der erscheinenden Welt hindurch der Organismus der Kirche in dem Selbstbewusstsein und der Selbstbethätigung des Glaubens entsteht und wirksam wird.«88 Daneben steht der »regressive« Weg, der vom Gege-bensein der bestehenden Kirche aus gleichsam im Rückschlussverfahren die Einteilung begründen soll. Ohne hier auf Bedenken gegen die Heuristik eingehen zu wollen, muss Ehrenfeuchters Ziel genannt werden, das in der doppelten Sicherstellung des Kirchenbezuges Theologie besteht: »Auf bei-den Wegen werden wir sie mit dem Leben der Kirche auf das innigste ver-knüpft sehen.«89 Der progressive Weg führt nun zu folgender Einteilung der Theologie: »Der Inhalt jener göttlichen Offenbarung hat zu seinem wissen-schaftlichen Ausdruck die theologische Principienlehre, die Erscheinung stellt sich in der Kirchengeschichte, Bewusstsein und That des Glaubens in der dogmatischen und ethischen Theologie dar, die Wirklichkeit der Kirche endlich, ihr eigentliches Handeln als solches erzeugt als ihr wissenschaftli-ches Organ die praktische Theologie.«90 Auf regressivem Wege ergibt sich eine andere, ebenfalls bereits bekannte Begründung für die Dreiteilung: »Vom Standpunkt der regressiven Ueberlegung aber, die von der Vorausset-zung der bestehenden Kirche ausgeht, tritt uns ein Dreifaches entgegen, jenes Dreifache, das überhaupt ein Leben setzt und erhält, der Grund, der die Ursprünge eines Daseins in sich birgt und trägt, die aus dem Grund entstandene Entwicklung, die aus dieser Bewegung gewordene Gegenwart, worin zugleich auch der Keim der Zukunft liegt. Die Erkenntniss der beiden ersten Glieder in dieser Reihe bildet den Umkreis der theoretischen, die des letzten den Inhalt der praktischen Wissenschaft«.91 3.3.2 Auch in Gerhard von Zezschwitz’ (1825–1886) »System der Prakti-schen Theologie«, das 1878 erschien92, nehmen die enzyklopädischen Ver-hältnisbestimmungen der Praktischen Theologie ihren gedanklichen Aus-gang von dem in und mit der Kirche gegebenen Gegenstand der Prakti-schen Theologie: Es »ergibt sich für die praktische Theologie die [enzyklopädische] Stelle und Bedeutung der abschliessend trilogischen Synthese als Bewusstsein der Kirche von ihrer Aufgabe, sich fort-gehend in der Welt zu verwirklichen«93.

87 A. a. O., 178. 88 Ebd. 89 Ebd. 90 Ebd. 91 Ebd. 92 VON ZEZSCHWITZ 1878. 93 A. a. O., 5.

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Um diesen Ausgangspunkt herum werden nun die anderen übrigen theolo-gischen Disziplinen und die Aufgabe der Gesamttheologie gruppiert: »Wie Wirklichkeit als Vergangenheit und Verwirklichung als Zukunft mit der Idee als immerwährende Gegenwart in der Mitte verhalten sich dann die drei beherrschenden Hauptgebiete der theologischen Wissenschaft«94 – nämlich: historische, systematische bzw. spekulative und praktische Theologie95. Der sich daraus ableitende Wissenschaftsanspruch der Theologie liegt von Zezschwitz zufolge dann darin, dass die Theologie »sich als das wissen-schaftliche Selbstbewusstsein der Kirche, und auf der Höhe desselben, als das wissenschaftliche Bewusstsein von der Idee des Christenthumes und dem Ideale des christlichen Lebens«96 versteht. Die Perspektive aufs Chris-tentum muss dabei aber als Implikation des Verständnisses der Kirche gel-ten, die »nach ihrer Idee die unmittelbare Verwirklichung des Christenthums auch im Bewusstsein der Menschheit«97 ist. So lässt sich sagen, dass über den gemeinsamen thematischen Bezug auf die Kirche die Praktische Theo-logie mit der Theologie überhaupt im enzyklopädischen Zusammenhang gehalten wird, wie auch die Theologie als ganze ihre Einheit über den Kir-chenbegriff erfährt. 3.3.3 Die bei von Zezschwitz anklingende Frage nach dem Verhältnis zwi-schen Christentum und Kirche in der Themenbestimmung der Praktischen Theologie und der Theologie insgesamt ist dann etwa bei Friedrich Nieber-gall (1866–1932) wieder aufgenommen. Er, der insbesondere auf die religi-onswissenschaftliche Fundierung der Praktischen Theologie den Akzent legt, widmet der innertheologisch-enzyklopädischen Verhältnisbestimmung der Praktischen Theologie in seinem 1918 erschienenen Gesamtentwurf98 nur beiläufige Aufmerksamkeit. Um so deutlicher wird, dass sich seiner Auffassung nach die Stellung der Praktischen Theologie innerhalb der The-ologie aus ihrem spezifischen Gegenstandbereich, dem Leben der Kirche, ergibt, mit der die Praktische Theologie eine Eigenständigkeit innerhalb der Theologie beansprucht, deren Thema durch das Christentum gebildet wird: »Wie es die Hauptmasse der Theologie mit der Frage zu tun hat: Was ist Christentum? – so die Praktische Theologie mit der andern: Was hat die Kirche zu tun? – Eine gute Antwort auf diese Frage gibt ihr mehr Recht in der Theologie, als die ausgetüftelste [sic] Rechtfertigung ihrer Stellung in der Wissenschaft.«99

94 Ebd. 95 A. a. O., 1. 96 A. a. O., 4. 97 A. a. O., 3. 98 NIEBERGALL 1918. 99 A. a. O., 12.

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3.3.4 Bei Ernst Christian Achelis (1838–1912) war zuvor schon deutlich geworden, dass die Bestimmung des enzyklopädischen Ortes der Prakti-schen Theologie über das Kirchenthema sich mit dem kritischen Überbie-tungsversuch der klassischen Bestimmungen Schleiermachers und Nitzschs verbinden kann. Nitzschs Gedanke, der wissenschaftliche Vollzug der Prak-tischen Theologie bestehe als Anwendung der Ergebnisse und Methoden der anderen Disziplinen, und Schleiermachers Gedanke, dass die Praktische Theologie die übrigen Disziplinen voraussetze, wird für die enzyklopädische Verhältnisbestimmung als unzureichend zurückgewiesen: »Das Eigentümli-che und wissenschaftlich Selbständige der prakt. Theologie besteht in dem, was keine andere Disziplin zur Aufgabe hat: aus der Kirche und ihrer im-manenten Lebensbewegung die Selbstbethätigung derselben abzuleiten und hieraus die Norm und das Ziel aller ihrer Thätigkeiten zu gewinnen.«100 Auch das im selben Jahr und im selben Verlag wie Achelis’ Werk erschienene Lehrbuch der Praktischen Theologie aus der Feder des Straßburger Praktischen Theologen Alfred Krauss (1836–1892) ging selbstverständlich davon aus, dass der Inhalt der Praktische Theologie »uns durch das Vorhandensein der christlichen Kirche gegeben« ist und sich durch diesen Inhalt »ein eigenes und eigenthümliches Gebiet von Wissenschaften und Kunsttheorieen« für die Praktische Theologie ergebe.101 Und schließlich vermochte auch der Bonner Praktische Theologe Emil Pfennigsdorf (1868–1952) den Enzyklopädie-Abschnitt seines Gesamtent-wurfes der Praktischen Theologie mit der bündigen Feststellung zu beginnen: »Mit der Er-kenntnis des kirchlichen Handelns als des besonderen Gegenstandes der Pr. Th. ist ihr Recht als einer besonderen Disziplin in der Theologie sichergestellt«102, um von dort aus die übrigen theologischen Disziplinen (unter der Überschrift: »Die Hilfswissenschaften«) auf die Aufgabe der Praktischen Theologie hin zuzuordnen. 3.3.5 Zuletzt muss im Rahmen der Entfaltung dieses Haupttyps auch die Kirchentheorie Reiner Preuls (geb. 1940) genannt werden.103 Er geht von der Voraussetzung aus, dass der Gegenstand der Praktischen Theologie »das kirchliche Handeln«104 ist und dass »die eigentliche Aufgabe der Praktischen Theologie« darin besteht, »konstruktive Verbesserungsvorschläge« im Blick »auf einen gegebenen kirchlichen Zustand« zu machen »und entsprechende 100 ACHELIS 1890, 7. 101 KRAUSS 1890, 10. 102 PFENNIGSDORF 1929/1930, hier Band 1, 9. – In diesem Zusammenhang soll auch auf

den Bonner Praktischen Theologen Eugen Sachsse (1839–1917) hingewiesen werden, der ebenfalls eine Schlüsselstellung der Praktischen Theologie für die Theologie insge-samt reklamierte, freilich eher in wissenschaftsorganisatorischer Gestalt. Denn ihm zu-folge sichert die Praktische Theologie das Proprium der Theologie als einheitliche Dis-ziplin an der Universität, indem sie das Ziel aller Theologie repräsentiert. Fiele die Prak-tische Theologie in dieser Funktion aus, dann löste man die Theologie als ganze auf und »ihre Disziplinen werden untergebracht in anderen Fakultäten« (SACHSSE 1914, 22).

103 PREUL 1997. 104 A. a. O., 3.

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Verfahren für das kirchliche Handeln zu entwickeln«.105 Unter dieser Bedin-gung wird die Kirchentheorie zunächst zur Schlüsseldisziplin der Prakti-schen Theologie, denn sie bezieht den in der Dogmatik ausgearbeiteten »Lehr- oder Wesensbegriff« der Kirche auf den je konkret gegebenen kirch-lichen Zustand »mit dem Zweck einer kritischen Beurteilung und gege-benenfalls Verbesserung dieses Zustandes«106. Doch damit ist die enzyklopä-dische Funktion der Kirchentheorie noch nicht erschöpft. Denn sie wird, ihres Verbindungscharakters zwischen den Vorgaben des dogmatischen Lehrbegriffs der Kirche und den Konkretionen in Handlungs- und Verbes-serungsvorschläge halber, zum »Verbindungsstück zwischen Systematischer und Praktischer Theologie«107. Die Praktische Theologie, die sich »nicht auf das Zitieren [dogmatischer Kirchentheorien] beschränken kann«108, beteiligt sich dabei an der Rekonstruktion109 dogmatischer Ekklesiologie, indem sie ergänzt, was in den dogmatischen Vorgaben noch nicht »bis zu dem Grade begrifflich ausgearbeitet« ist, dass die dogmatische Kirchentheorie »auf ge-genwärtige Problemlagen unmittelbar anwendbar«110 wäre. Preul zufolge sichert die in dieser Hinsicht kirchentheoretisch verstandene und durchge-führte Praktische Theologie ihr erstens den Zusammenhang zwischen den »Theorien über die verschiedenen Handlungsfelder pastoraler Amtsfüh-rung«111 und den Verfahrensregeln, zweitens den Zusammenhang der ver-schiedenen praktisch-theologischen Subdisziplinen112 und drittens den Zu-sammenhang auf die human- und sozialwissenschaftlichen Forschungen mit relevantem Bezug auf »das System Kirche«113. 3.4 Die Praktische Theologie als überwiegende Kunstlehre Die folgenden beiden Haupttypen nehmen den Grundgegensatz zwischen dem kunstlehrehaften Charakter der Praktischen Theologie und ihrem refle-xionstheoretischen Charakter für die enzyklopädische Verhältnisbestim-mung so auf, dass sie jeweils ein Glied des Gegensatzes stärken, um die Be-deutung des jeweils anderen Gliedes abzuschwächen. So ist hier zunächst ein Ansatz zu nennen, der den kunstlehrehaften, die Zusammenstellung von Handlungsregeln betreffenden Aspekt aufgreift.

105 Ebd. 106 Ebd. 107 A. a. O., 4. Im Original hervorgehoben. 108 A. a. O., 3 109 Ebd. 110 A. a. O., 4. 111 Ebd. 112 A. a. O., 7. 113 A. a. O., 9.

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3.4.1 Die Betonung dieses Aspektes im Zusammenhang von enzyklopädi-schen Erwägungen und die Bestimmung der Stellung der Praktischen Theologie innerhalb der Theologie über ihr Spezifikum der Praktischen Theologie, Handlungsregeln zusammenzustellen, findet sich insbesondere im Rahmen von Versuchen, die Praktische Theologie insgesamt als Hand-lungswissenschaft zu verstehen und mithin insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren. Von ihnen soll gleich die Rede sein. Doch hat es auch schon zuvor Bemühungen in diese Richtung gegeben. So hat etwa Theodosius Harnack (1817–1889) die Praktische Theologie grundsätzlich als »Wissen-schaft vom ›kirchlichen Handeln‹ im engeren und specifischen Sinne dieses Wortes«114 verstanden. Die Praktische Theologie ist, so heißt es erläuternd, »Wissenschaft von der Selbstbethätigung der Kirche zur Auswirkung ihrer Idee auf Grund ihrer Vergangenheit für die Fortbildung zu ihrer Zu-kunft.«115 Von dieser Grundbestimmung aus wird nun das Verhältnis zu den übrigen theologischen Disziplinen erläutert. Die Praktische Theologie knüpft an die Arbeit der übrigen Disziplinen an, um daraus ihr Spezifikum zu gewinnen: »Als praktische Disciplin setzt sie […] die ganze theoretische Theologie: die biblische, die historische, die systematische voraus; aber aus der Idee der Kirche, die sie aus ihnen allen schöpft, gewinnt sie auch ein selbständiges Princip in dem Begriff des objectiv kirchlichen Handelns.«116 Sodann insistiert Harnack auf der konkreten und unmittelbaren Funktion der Praktischen Theologie für das kirchliche Handeln: »ihr Gegenstand [ist] das kirchliche Handeln, d.h. nicht irgend welches Handeln in abstracto, sondern das wirkliche Handeln der wirklichen Kirche«117. Aus diesem allen ergibt sich nun das Spezifikum der Praktischen Theologie: Sie unterscheidet sich dadurch von den übrigen Disziplinen »und erweist sich als praktische, dass sie es »mit der richtigen Verfahrungsweise bei der Ausübung der Le-bensthätigkeiten der Kirche zu thun hat.«118 Und in expliziter Anknüpfung an Schleiermacher hält Harnack dann fest, dass die Praktische Theologie zwar überall wird ausgehen müssen von den Vorgaben der übrigen theologi-schen Disziplinen, die der Praktischen Theologie die Ableitungen der kirch-lichen Lebenstätigkeiten zustellen, aber die Praktische Theologie wird »im-mer übergehen müssen zu einer Methodik und wird leitende Regeln für das Handeln zu geben haben.«119 Darin liegt der Zweck der Praktischen Theolo- 114 HARNACK 1877, 23. 115 Ebd. 116 A. a. O., 24. 117 A. a. O., 26. 118 A. a. O., 29. 119 Ebd.

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gie im Zusammenhang der übrigen Disziplinen, dass sie für diese Resultate bürgt. 3.4.2 Als im Zusammenhang der Konjunktur der Sozialwissenschaften in den 1960er und 1970er Jahren verschiedentlich der Vorschlag unterbreitet wurde, die Praktische Theologie als Handlungswissenschaft zu verstehen, ist auch versucht worden, dieses Verständnis für die innertheologische Enzy-klopädie fruchtbar zu machen. An zwei Ansätze ist hier zu erinnern. 3.4.2.1 So hat Gerhard Krause (1912–1982) sein 1967 vorgetragenes Plä-doyer dafür, die Praktische Theologie als »Handlungswissenschaft der Kir-che«120 zu verstehen, auch damit begründet, dass dieses Verständnis den Blick für die Eigenständigkeit der Praktischen Theologie wecke. Sie greife zwar auf die gleichen Wissensbestände wie die anderen theologischen Dis-ziplinen zurück, aber diese Wissensbestände »stehen dort gerade nicht unter dem Aspekt des gegenwärtig notwendigen Handelns der Kirche.« Indem die Praktische Theologie sich die Aufgabe stellt, aus dem auch anderen theolo-gischen Disziplinen zugehörigen Wissen Handlungsregeln abzuleiten, sichert sie einerseits den Zusammenhang mit diesen Disziplinen, andererseits ge-winnt sie jedoch auch eine Eigenständigkeit ihnen gegenüber, indem sie eine Aufgabe übernimmt, die keine der anderen Disziplinen zu erfüllen in der Lage ist. In ähnlicher Weise hat Henning Schröer (1931–2002) die enzyklopädischen Konsequenzen seiner Aufforderung, »die Praktische Theologie muss sich als moderne Handlungswissen-schaft konstituieren«, angedeutet.121 3.4.2.2 Auf eine andere Verstehensmöglichkeit hat Karl-Fritz Daiber (geb. 1931) im Jahr 1977 aufmerksam gemacht. Hier liegt die enzyklopädische Pointe des handlungstheoretischen Verständnisses der Praktischen Theolo-gie darin, dass die Praktische Theologie sich ihres fragmentarischen, auf Ergänzung durch die anderen Disziplinen angewiesenen Charakters bewusst wird. Der jeweilige Einzelgegenstand, der von verschiedenen theologischen Disziplinen in je verschiedener Perspektive in den Blick genommen wird, wird von keiner vollständig erfasst, insbesondere nicht von der auf hand-lungstheoretische Konsequenzen sinnenden Praktischen Theologie, son-dern: »der Gegenstand selbst erfordert die Ergänzung durch die jeweils an-dere Disziplin«122. Hier liegt der enzyklopädische Akzent des handlungs-theoretischen Verständnisses also auf der bewussten Selbstbeschränkung der Praktischen Theologie und ihrer Angewiesenheit auf Ergänzung und 120 KRAUSE 1972, 418–444, hier 431. 121 SCHRÖER 1972, 445–459, hier 446. 122 DAIBER 1977, 84.

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Korrektur durch die anderen theologischen Disziplinen. Allerdings wird gerade in dieser Wendung das grundsätzliche Problem der handlungstheo-retischen Bestimmungen der Praktischen Theologie in enzyklopädischer Hinsicht deutlich: die Konzentration auf den handlungswissenschaftlichen Aspekt muss in enzyklopädischer Hinsicht als eine Reduktion erscheinen, die den wissenschaftlichen Charakter der Praktischen Theologie in Frage stellt. 3.5 Die Praktische Theologie als überwiegende Reflexionstheorie Der nun vorzustellende Typ verhält sich zu dem zuvor genannten spiegel-bildlich: Auf dem Hintergrund der Spannung zwischen Kunstlehre und Reflexionstheorie wird der letztgenannte Aspekt gestärkt, wohingegen der erste zurücktritt. Hier wird also die enzyklopädische Einordnung der Prakti-schen Theologie in das Ganze der Theologie vorgenommen unter dem As-pekt, dass ein theoretisches Bewusstsein der Differenz und der Vermitt-lungsbedürftigkeit zwischen theologisch-theoretischem Lehrbegriff und em-pirischen Vollzügen der christlich-kirchlichen Lebenswirklichkeit zu den Konstitutionsmomenten der Praktischen Theologie gehört und einen we-sentlichen Bestimmungsgrund bietet für die Verhältnisse, in denen die Prak-tische Theologie zu den übrigen theologischen Disziplinen steht.

Dabei lassen sich zwei Grundmodelle unterscheiden, die hier auch als zwei Untertypen firmieren sollen. Im ersten Untertyp wird die enge Ver-wandtschaft herausgestellt, die zwischen der Praktischen Theologie und einzelnen anderen Teilen der Theologie besteht. Im zweiten Untertyp wird die kritische Funktion der Praktischen Theologie für den Vollzug der übri-gen theologischen Disziplinen herausgestellt, woraus sich ihre Bedeutung innerhalb der Theologie insgesamt ergibt. 3.5.1 Zunächst zu dem Untertyp, der die – in ihren reflexionstheoretischen Teilen begründete – Nähe der Praktischen Theologie zu anderen Teilen der Theologie zu erweisen sucht. Enzyklopädische Ausdeutungen dieser Auffas-sung der Praktischen Theologie werden häufig als Bestimmungen des Ver-hältnisses von Praktischer Theologie und Ethik vorgenommen, die als ver-wandt betrachtet werden. Für diese enge Verbindung können nicht nur sachliche Gründe in Anschlag gebracht werden, denen zufolge die Praktische Theologie und Ethik als »praxisbezogene« Disziplinen der Theologie der Dogmatik gegenübergestellt werden können123, sondern auch wissenschaftsge-schichtliche Gründe, denen zufolge sich die Vor- und Frühformen der Praktischen Theologie im 18. Jahrhundert insbesondere auch aus der Ethik heraus entwickelt haben124.

123 RÖSSLER 21994, 7. 124 NITZSCH 1847, 39–122.

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3.5.1.1 In programmatischer Weise hat Christian Palmer (1811–1875) diesen Zusammenhang zwischen Praktischer Theologie und Ethik betont.125 Die Zusammenordnung von Praktischer Theologie und Ethik ist dabei teils die sachliche Folge, teils aber auch ein Darstellungsmittel des Palmer vorschwe-benden Wissenschaftscharakters der Praktischen Theologie, ihrer Aufgaben und ihres Zweckes.

Palmer beginnt seine Ausführungen mit der Zurückweisung von zwei Missverständnissen der Aufgabe der Praktischen Theologie, die sich mit den Stichworten Anweisung und Anwendung verbinden. Erstens, die Praktische Theologie hat keinen Anweisungscharakter; sie wäre missverstanden, wo sie als »Sammlung von Regeln zur Erlangung derjenigen Fertigkeit und Brauch-barkeit, die ein Pfarrer haben muss«126, verstanden wird. Zweitens und damit zusammenhängend: die Praktische Theologie ist keine Anwendung des in anderen theologischen Disziplinen versammelten Wissens. Sie wäre ebenso missverstanden, würde man annehmen, in ihr »handelte es sich ja nur darum, dem Pfarrer zu zeigen, wie er das, was er aus der Dogmatik, Moral u. s. w. gelernt, am geeigneten Orte unter seinen Pfarrkindern zu verwerten habe«127. Vielmehr enthält die Praktische Theologie »nicht die Anwendung eines vorher schon mir inwohnenden Wissens auf gewisse concrete Verhält-nisse in Amt und Leben, sondern ein Wissen selbst, das mir die übrige The-ologie noch nicht dargeboten«128.

Die Praktische Theologie ist auf das kirchliche Leben, das ihren Ge-genstand bildet129, so bezogen, dass dieses ihr vorgegeben ist und nicht etwa erst durch sie hervorgebracht wird. Auch ist es nicht ihre Aufgabe, das ebenfalls von ihr vorgefundene Handeln in der Kirche »erst hervorzubrin-gen, oder auch nur das schon im Gang befindliche zu corrigiren, zu beför-dern«130. Diese Aufgabe besteht vielmehr darin, über die Prinzipien zu ori-entieren, die dieses Handeln bestimmen.131 Dazu aber muss sie selbst die Grundlagenreflexion auf die Formen und Zusammenhänge, auf Sinn und Zweck des jeweiligen Handelns durchführen. Das Verfahren dieser Grund-lagenreflexion unterscheidet sich nicht prinzipiell von dem in anderen Dis-ziplinen: Idealbegriffe des jeweils in Augenschein Genommenen müssen selbsttätig gewonnen werden und gegen die ebenfalls selbständig erhobenen Realbegriffe gehalten werden.

125 PALMER 1856, 317–361. 126 A. a. O., 319. 127 A. a. O., 321. 128 A. a. O., 323. 129 A. a. O., 327. 130 A. a. O., 323. 131 A. a. O., 324.

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Abgewiesen wird damit wiederum zweierlei. Erstens, dass die Praktische Theologie ihre leitenden Idealbegriffe – Palmer nennt etwa denjenigen der Kirche – von anderen Disziplinen übernimmt. »Es ist leicht gesagt: die Dogmatik stellt diesen Begriff in seiner Idealität auf, als Object des Glaubens – credo sanctam ecclesiam catholicam –, die praktische Theologie zeigt, wie der-selbe zu verwirklichen sey«132. Das gilt Palmer als zu schematisch und er wendet dreierlei ein: die Prakti-sche Theologie muss sich diesen Idealbegriff selbst bilden, die Verwirkli-chung ist mindestens so sehr Gegenstand der Ethik wie der Praktischen Theologie und die Dogmatik »hält sich offenbar keineswegs innerhalb der Schranken des Idealen.«133 Abgewiesen wird zweitens das Missverständnis, dass die Praktische Theologie in der Aufstellung von Regeln aufginge und darin ihr Spezifikum hätte. Ihre Aufgabe besteht vielmehr in Wesensbestim-mungen – die Regeln folgen dann gleichsam von selbst. »Die Homiletik z. B. hat in erster Linie nicht Regeln zu geben, wie man eine Predigt machen soll, sondern sie hat die Idee, das Wesen der Predigt zu bestimmen und füllt damit ein Fach theologischen Wissens, näher des Wissens von einer Art der Manifestation und Wirksamkeit des Geistes der Kirche, aus; dass daraus sich im Verlaufe von selbst Regeln bilden, geschieht ganz nur in derselben Weise, wie aus den Paragraphen einer christlichen Ethik sich jeder Leser, dem überhaupt an der Sache liegt, der sich mit denselben nicht bloß auf’s Examen zu versehen gedenkt, auch wirkliche Lebensregeln abstrahiren wird.«134 Im übrigen, so Palmer, verfahren auch andere theologische Disziplinen nicht anders: »Setzt mir die Dogmatik auseinander, was Christus ist, so soll ich nun also von ihm denken, wie ich es als Wahrheit zu erkennen bekom-men habe«135.

War die Parallelisierung von Praktischer Theologie und Ethik in diesen Ausführungen, wie gesagt, mehrfach schon Mittel der argumentativen Illust-ration, so ist ihre enzyklopädische Zusammenstellung nun die Konsequenz aus der vorgetragenen Auffassung des Verhältnisses von Prinzipienreflexion und Regelwissen in der Praktischen Theologie. Praktische Theologie und Ethik »haben es mit einem durch christliche Principien zu bestimmenden Handeln zu thun«136, wobei die Differenz im Gegenstandsbereich liegt: »Die Ethik hat das sittliche, die praktische Theologie das kirchliche Leben zum Gegenstande«. Die Prinzipienreflexionen in Ethik und Praktischer Theolo-gie zielen gleichermaßen auf Orientierungswissen über das, was im jeweils vorgefundenen Feld zu handeln ist, ohne dass sie in Handlungsregeln auf- 132 A. a. O., 321. 133 Ebd. 134 A. a. O., 323. 135 Ebd. 136 A. a. O., 324.

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gingen. In diesem Sinne sind Ethik und Praktische Theologie gleichermaßen »praktische Disziplinen«.137 Rechnet Palmer später dann auch noch die his-torischen Teile der Theologie zu dieser »praktischen Seite der theologischen Wissenschaft«, um diese »der dogmatischen gegenüberzustellen«138, so wird vollends das Bemühen deutlich, die Stellung der Praktischen Theologie in-nerhalb der Theologie über ihre Theoriepraxis zu bestimmen: Nicht Regeln, auch nicht der Gegenstand machen die enzyklopädische Besonderheit der Praktischen Theologie aus, sondern der Umstand, dass sie ihre spezifischen Themen und Fragestellungen in einer den übrigen theologischen Disziplinen entsprechenden theoretischen Methodik behandelt. 3.5.1.2 Auch die enzyklopädische Konzeption Martin von Nathusius’ (1834–1906) ist bestimmt durch die Verwandtschaft zwischen Ethik und Praktischer Theologie, die sich durch die vergleichbare differenztheoretische Grundfrage ergibt. Er konstruiert diese wissenschaftssystematische Ver-wandtschaft nun allerdings insbesondere im Blick auf vergleichbare Gestal-tungsaufgaben: »Es gilt das eigene Leben und die vom Einzelnen und der Gemeinde abhängigen Lebensge-biete dem Evangelium gemäß zu gestalten – und es gilt, alle diejenigen Schritte zu thun, welche dieses Evangelium jedem neuen Geschlecht und jedem Volk der Erde zugänglich zu machen. Der Darstellung der ersten Aufgabe dient die Ethik, der andern die praktische Theologie.« 139 Dieser vergleichbaren Gestaltungsaufgabe halber gelten ihm Ethik und Praktische Theologie als verwandt – wenngleich von Nathusius auch Unter-schiede markiert. So gilt ihm die Ethik als zugehörig in das Ensemble der historischen Disziplinen der Theologie, während die Praktische Theologie eine eigene Hauptdisziplin bildet. Ein weiterer Unterschied besteht hinsicht-lich des Gegenstandsbereiches: die Ethik enthält die Theorie des christlichen Handelns, die Praktische Theologie hingegen die Theorie des kirchlichen Handelns.140 Eine originelle Zusammenordnung von Ethik und Praktischer Theologie, die hier nicht unerwähnt bleiben soll, wenngleich sie ein reflexionstheoretisches Potential der Praktischen Theologie gerade nicht in Anspruch nimmt, findet sich dann bei Eduard Freiherr von der Goltz (1879–1939). Ihm zufolge hat die Ethik all jene grundsätzlichen und prinzipiellen Frau-gen zu klären, die sich in der Praktischen Theologie als Fragen nach den Begründungen ihrer Verfahrensweisen melden, dort aber nicht verhandelt werden sollen.141 Ethik und Praktische

137 Ebd. 138 A. a. O., 332. 139 VON NATHUSIUS 1899, 28. 140 A. a. O., 28f. 141 VON DER GOLTZ 1917, 19.

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Theologie sind also gerade durch ihre Aufgabenteilung aufeinander zugeordnet: die Prakti-sche Theologie ist die »Anwendung der Ethik auf das Subjekt der empirischen Kirchenge-stalt«142. 3.5.1.3 Wieder ganz aus dem gemeinsamen Differenzbewusstsein zwischen theologisch-theoretischem Lehrbegriff und empirischen Vollzügen der christlich-kirchlichen Lebenswirklichkeit heraus hat dann Wilhelm Gräb (geb. 1948) jüngst die enzyklopädische Nähe von Ethik und Praktischer Theologie begründet.143 Historisch gesehen verdankten beide Disziplinen sich der mit der Aufklärung gegebenen Anerkennung der Fähigkeit des Menschen zur sittlich-moralischen Selbstbestimmung und dem Widerspruch gegen autoritär-dogmatische Vorschriften, die auf Lebensansichten und Le-benspraxis des Menschen zielten. Insofern ergab sich die Notwendigkeit einer Umbestimmung der Kirche im gemeinsamen Fokus von Ethik und Praktischer Theologie: »Aus der Kirche als sakramentaler Heilsanstalt und autoritärer sittlicher Ordnungsmacht mußte eine gesellschaftliche Institution ethisch-religiöser Kommunikation und Bildung werden.«144 Ethik und Prak-tische Theologie werden so zu verwandten Disziplinen der Wahrnehmung und kritischen Selbstverständigung institutionell und individuell gelebter Religion, die insbesondere dogmatischen Vorgaben entgegengestellt sind. Die entsprechende Forderung lautet denn auch: »Eine Praktische Theologie, die der Lebens-welt der Menschen zugewandt ist und sich nicht von abstrakten dogmatischen Konstruktio-nen eines worthörigen Glaubens abhängig machen will, braucht deshalb eine theologische Ethik, die sich ihrerseits auf den neuzeitlichen Begriff vom Menschen einstellt, sich von ihm her entwirft. Im Verbund mit einer solchen Ethik findet sie den Anschluss sowohl an die im Selbstverständnis der Zeitgenossen dominante Autonomieanmutung, wie eben an diejenigen Orientierungsfragen gelebten Lebens, die den Menschen im Kontext ihrer Lebenswelt selber aufbrechen. Sie gewinnt teil an dem Diskurs, den eine solche Ethik, die keine gebietende, sondern eine argumentierende ist, zur Klärung der die Menschen betreffenden Fragen ihrer Lebensorientierung anregt.«145 3.5.2 Genannt werden muss sodann, als zweiter Untertyp des die reflexi-onstheoretische Dimension der Praktischen Theologie betonenden Ansatzes der enzyklopädischen Verhältnisbestimmung, eine Richtung, in der die kriti-sche Funktion der Praktischen Theologie für den Vollzug der übrigen theologischen Disziplinen herausgestellt wird. Das die Praktische Theologie in ihren reflexionstheoretischen Teilen leitende Bewusstsein des Unterschie-des zwischen theologisch-theoretischem Lehrbegriff und empirischen Voll-zügen der christlich-kirchlichen Lebenswirklichkeit bestimmt das Verhältnis 142 A. a. O., 24. 143 GRÄB 2000b, 114–126. 144 A. a. O., 116. 145 A. a. O., 122.

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zu den übrigen Disziplinen dahingehend, dass es diese zur Reflexion auf Recht und Grenzen der je eigenen Theoriebedingungen und Theorievoll-züge zwingt. Die Praktische Theologie wird den übrigen theologischen Dis-ziplinen hier entgegengestellt als deren kritisches Gewissen, als auf Dauer gestellte Infragestellung ihrer Selbstverständlichkeiten.

In diesem Sinne sieht etwa Gert Otto (1927–2005) die Stellung der Prak-tischen Theologie innerhalb der Theologie dadurch gekennzeichnet, dass die »Praktische Theologie als Kritik der Theologie«146 fungiere. Wolfgang Steck (geb. 1940) bezieht diese Funktion auf die Differenz von Theorie und Pra-xis: Die Praktische Theologie nimmt die »theoretische Konstruktion von Praxis« als eine ihrer wesentlichen Aufgaben wahr, deswegen begreift sie sich, im Kontext der Gesamttheologie, auch nicht »als praktische Seite« der theoretischen Theologie, sondern »als ihr kritisches theoretisches Pen-dant«147. Michael Meyer-Blanck (geb. 1954) kann, weil er die Praktische Theologie als »Hermeneutik christlicher Praxis« definiert, ihre Funktion im Ganzen der Theologie dadurch gekennzeichnet sehen, dass sie den »Verste-henshorizont der anderen theologischen Disziplinen«148 verändert. Mit an-deren Worten: Es kommt »der Praktischen Theologie im Ensemble theolo-gischer Disziplinen auch die Aufgabe zu, die Erkenntnisweisen und Deu-tungsmuster Systematischer und Biblischer Theologie zu verändern.«149 3.6 Die enzyklopädische Bestimmung der Praktischen Theologie

durch Zerschneidung der Spannung zwischen Kunstlehre und Reflexionstheorie

In dem nun vorzustellenden Haupttyp wird die Bewältigung der Grund-spannung zwischen kunstlehrehaftem und reflexionstheoretischem Charak-ter dadurch erwartet, dass die Bedingungen zum Verschwinden gebracht werden, unter denen jene Spannung überhaupt erst entstehen kann. Zwei Wege sind hier eingeschlagen worden. Zum einen ist der Anspruch, die Praktische Theologie könne und müsse beide Aspekte in sich integrieren, aufgegeben worden und die beiden Dimensionen sind auf zwei selbststän-dige Disziplinenteile verteilt worden. Zum anderen konnte der Anspruch, die Praktische Theologie müsse einen Platz als vollwertige wissenschaftlich-theologische Disziplin einnehmen, aufgegeben werden. 3.6.1 Zuerst zu nennen ist das Konzept, die nicht wissenschaftsfähigen, technischen und anwendungsorientierten Teile der Praktischen Theologie

146 OTTO 1974, 105–115, hier 110. 147 STECK 1975, 65–80, hier 74. 148 MEYER-BLANCK 1994, 401. 149 MEYER-BLANCK 2002, 121–132, hier 124.

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aus dem Kanon der theologischen Disziplinen auszugliedern, um die Prakti-sche Theologie auf gleicher wissenschaftlicher Augenhöhe mit den übrigen Disziplinen anzusiedeln. So hat Paul Drews (1858–1912) in einer 1910 er-schienenen reformprogrammatischen Schrift150 den Vorschlag unterbreitet, dem Doppelcharakter der Praktischen Theologie dadurch Rechnung zu tragen, dass der epistemische und der technische Teil der Praktischen Theologie je eine eigene, selbstständige Disziplin bilden und beide überdies einen unterschiedlichen institutionellen Ort gewinnen sollten: Lediglich die epistemische Praktische Theologie sollte an der Universität und im Kreis der theologischen Disziplinen verbleiben; die technische Praktische Theologie sollte dagegen an die Predigerseminare verlegt werden. Durch die Trennung sollten beide Disziplinen eine entsprechende Aufwertung und Erweiterung ihres Umfangs erfahren. Die technische Praktische Theologie sollte sich unbefangen der Aufgabe widmen, den bereits im Beruf stehenden Pfarrern »neue und gute Antworten und Anregungen« für ihre »Probleme und Fra-gen« zu bieten.151 Die epistemische Praktische Theologie sollte dagegen durch empirische Fragestellungen, wie sie etwa in der Kirchenkunde, der religiösen Volkskunde und der Religionspsychologie aufgenommen sind, erweitert werden152, ebenso sehr aber auch durch eine Prinzipienlehre, in der sich (unschädliche) Überschneidungen mit den Themen der Dogmatik und Ethik ergeben können153. Drews’ umstrittener Vorschlag, der seine kontroverse Diskussion nicht zuletzt den zeitgenös-sischen Debatten um die Studien- und Ausbildungsreform verdankt, war so neu freilich nicht: schon 1809 hatte der Colditzer Diaconus Johann Friedrich Voigtländer (1769–1844) entsprechende Vorschläge zur Teilung der Theologie und der Ausgliederung einzelner Teile in spezielle Predigerseminare gemacht154, und auch Schleiermacher hat 1810 erwogen, »ein homiletisches oder Prediger-Seminarium« außerhalb der Universität anzusiedeln.155 3.6.2 Es können dann die Bedingungen, die zur Grundspannung zwischen dem kunstlehrehaften und dem reflexionstheoretischen Teil der Praktischen Theologie führen, aber auch dadurch zum Verschwinden gebracht werden, dass die Praktische Theologie ihren eigenen Wissenschaftsstatus in Frage stellt und selbst gar nicht mehr den Anspruch erhebt, in demjenigen Voll-sinne, der für die übrigen theologischen Disziplinen einschlägig ist, wissen-schaftlich-methodische Theorie zu sein. Die klassische Variante dieser enzy-

150 DREWS 1910. 151 A. a. O., 48. 152 A. a. O., 54–79. 153 A. a. O., 77. 154 VOIGTLÄNDER 1809. 155 SCHLEIERMACHER 1927, 6.

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klopädischen Option besteht darin, die Praktische Theologie in die Nähe der Kunst zu rücken.

So formulierte schon 1854 der Erlanger Systematische und Praktische Theologe Johannes Heinrich August Ebrard (1818–1888): »Die praktische Theologie ist also beim Lichte besehen, nicht ein Wissen, sondern ein Kön-nen; nicht eine Wissenschaft, sondern eine Kunst. Und zwar eine theologi-sche Kunst. Es ist die Kunst, in welcher die gewonnene theologische Er-kenntniß praktisch wird, in welcher sie eine praktische Anwendung erlei-det.«156

Auch Otto Baumgarten (1858–1934) hat die Auffassung vertreten, dass der Praktische Theologe »etwas Künstlerisches, Dichterisches, Intuitives mehr noch als Wissenschaftlichkeit an sich haben« muss und die Praktische Theologie damit vom »nomothetisch-dogmatisch-normative[n] Betrieb« der Theologie abgegrenzt: Die Bedeutung der Praktischen Theologie liegt, in enzyklopädischer Hinsicht, nicht zuletzt »in der Ueberwindung des von der Beschäftigung mit der systematischen Theologie nahe gelegten Dogmatis-mus und Absolutismus einer für alle unterschiedslos gültigen Norm des Denkens und Handelns.«157

In jüngerer Zeit hat Albrecht Grözinger (geb. 1949) die Auffassung vom Kunst-Charakter der Praktischen Theologie erneuert, zugleich aber auch auf ihre enzyklopädische Folgeproblematik hingewiesen. Ihm zufolge ist die Praktische Theologie, als Kunst der Wahrnehmung verstanden, »weder reine Wissenschaft noch reine Technik, sondern sie siedelt sich exakt an der Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft an. In diesem Zwischenreich hat sie ihren Ort. Dies wird auch die Methode ihrer Sprache und Darstel-lung bestimmen. Auch hier changiert sie zwischen wissenschaftlicher Ob-jektsprache und künstlerischer Performance. Deshalb hat sie es auch so schwer im Haus der theologischen Wissenschaft.«158 3.7 Die enzyklopädische Bestimmung der Praktischen Theologie

durch Integration der Spannung zwischen Kunstlehre und Reflexionstheorie

Der letzte hier zu umreißende Haupttyp versucht, den Aporien der das Selbstverständnis und die enzyklopädische Verhältnisbestimmung der Prak-tischen Theologie bestimmenden Grundspannung zwischen dem kunstleh-rehaften und dem reflexionstheoretischen Charakter der Praktischen Theo-logie dadurch zu entgehen, dass der theologisch-wissenschaftliche Begriff der Praktischen Theologie in einer jenseits dieser Spannung liegenden Weise

156 EBRARD 1854, 4. 157 BAUMGARTEN 1913, 1720–1726, hier 1725f. Im Original teils hervorgehoben. 158 GRÖZINGER 1995, 158.

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konstruiert wird, die es erlaubt, die Spannung selbst in den Begriff der wis-senschaftlichen Praktischen Theologie zu integrieren. Die fundamentale Bedeutung der Grundspannung für die Theoriepraxis der Praktischen Theo-logie soll also in der enzyklopädischen Bestimmung erkennbar sein, diese aber gerade nicht anleiten und dirigieren. 3.7.1 Ein erster hier zu nennender Weg besteht darin, den Positivitätscha-rakter der theologischen Wissenschaft insgesamt auch auf die Praktische Theologie als ganze zu beziehen: Die Praktische Theologie als ganze kommt zunächst einmal (und vor ihrer Inbezugsetzung zu den anderen theologi-schen Disziplinen) dadurch zustande, dass sie sich das zu ihrer Zweckerfül-lung notwendige Wissen aus den historischen und philosophischen Allge-meinwissenschaften entleiht. Stand dieser Schleiermachersche Gedanke schon bei Carl Immanuel Nitzsch159 und Paul Drews160 im Hintergrund, so leitet er faktisch auch das enzyklopädische Programm Volker Drehsens (geb. 1949). Die Aufgabe der Praktischen Theologie, eine »anspruchsvolle Phänomenologie der gelebten Religion des individuellen, öffentlichen und kirchlich organisierten Christentums« zu präsentieren, lässt sich nur dadurch erfüllen, dass die Praktische Theologie die modernen Sozial- und Kulturwis-senschaften beleiht, mit denen sie zahlreiche gemeinsamen Gegenstände und Themenfelder »unter dem Gesichtspunkt der v. a. kirchenrelevanten und professionsspezifisch virulenten Religions- bzw. Christentumspraxis«161 verbinden. Eben dieser Zweckbezug sichert »der Praktischen Theologie nicht weniger als der historischen und systematischen Theologie einen eige-nen Erkenntnis- und Diagnosebereich«162. Im Blick auf diesen konstituiert sie sich als ein Ensemble zweckbezogen zusammengestellter Kunstlehren, aber auch diagnostischer sowie religions- und christentumstheoretischer Wissensbestände. Solchermaßen begründet, tritt die Praktische Theologie den übrigen theologischen Disziplinen nun mit einem solchen Selbstbe-wusstsein der Ebenbürtigkeit entgegen, an dem der Vorwurf der Verdopp-lung von Fragestellungen, die auch in anderen theologischen Disziplinen verhandelt werden, abprallt. Denn die Wiederholung dieser Ergebnisse stellt keine praktisch-theologische Neukonstitution der Theologie überhaupt dar, keine Rekonstruktion der historischen und systematischen Themen zu er-mäßigten Bedingungen, sondern wertet diese Ergebnisse durch Einzeich-nung in die spezifisch praktisch-theologische Perspektive auf: Die Prakti-sche Theologie »ist die Einübung und Pflege eines Bewusstseins von der Relevanz der systematischen und historischen Einsichten der Gesamttheo-

159 NITZSCH 1847, 31. 160 DREWS 1910, 54–79. 161 DREHSEN 2002, H. 1–2, 156–166, hier 160. 162 Ebd.

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logie für ihr Praxisverständnis von gelebter christlicher Religion. Insofern ist sie kein additiver, sondern ein integraler Bestandteil der Theologie.«163 3.7.2 Bestand der Argumentationsgang dabei darin, im Blick auf das Ganze der Praktischen Theologie deren Doppelcharakter als notwendig zu erken-nen und das Verhältnis zu den übrigen theologischen Disziplinen aus der Perspektive eines in sich geschlossenen Begriffs der Praktischen Theologie heraus zu entwerfen, so gilt das erst recht von dem letzten hier vorzustel-lenden Weg der enzyklopädischen Verhältnisbestimmung. Er hat seine Pointe bei der Frage nach der Einheit der Praktischen Theologie. 3.7.2.1 Dieser Weg findet sich etwa durch Heinrich Bassermann (1849–1909) eingeschlagen. In Ausführungen aus dem Jahr 1879164 bestimmt er zunächst die Aufgabe der Praktischen Theologie. Sie besteht in dem »wis-senschaftliche[n] Verständnis des protestantisch-kirchlichen Wesens und [der] Unterscheidung der verschiedenen kirchlichen Funktionen, in welchen jenes Wesen sein Leben ausspricht, darstellt, kundgibt und fortpflanzt: das Verständnis von dem ›Organismus der Kirche‹.«165 Diese formale Aufgabe erfährt ihre materiale Ergänzung dadurch, »diesen Organismus […] mit Stoff zu erfüllen, mit demjenigen material zu versorgen, welches er in sich zu verarbeiten hat«166. Diese Aufgabe nun kann, so Bassermann, nur von einer Praktischen Theologie erfüllt werden, »welche sich nicht nur im Besitz der Resultate weiß, zu denen die scientifische Theologie in der betreffenden Zeitperiode gekommen ist, sondern auch in vollem Einklang mit denselben befindet.«167 Die Wissenschaftlichkeit der Praktischen Theologie ist also grundsätzlich nicht anders bestimmt als die Wissenschaftlichkeit der Theo-logie, deren Disziplin sie bildet. Entscheidend für die enzyklopädische Ver-hältnisbestimmung ist jedoch, dass die Praktische Theologie die zur Erfül-lung ihrer Aufgaben notwendigen Resultate der wissenschaftlichen Theolo-gie so enthält, dass diese in der Praktischen Theologie zu einer Einheit wer-den: Die von der wissenschaftlichen Theologie ausgehenden Linien müssen in der Praktischen Theologie »zusammenlaufen in dem einen von geschickter Hand zu findenden Punkte einer immer neu sich vollziehenden Vervollkommnung und Ausgestaltung des kirchlichen Le-bens.«168

163 A. a. O., 164. 164 BASSERMANN 1909, 1–14. 165 A. a. O., 8. 166 A. a. O., 9. 167 A. a. O., 7. 168 Ebd.

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Wie disparat auch immer die Inhalte und der jeweilige epistemische Stellen-wert der in der Praktischen Theologie versammelten Inhalte sein mögen: die Praktische Theologie gewinnt dadurch, dass sie diese Inhalte um ihrer Auf-gabenerfüllung willen zusammenstellt, ihre Einheit, die sie als selbstständige theologische Disziplin konstituiert, ihre Ebenbürtigkeit im Organismus der Gesamttheologie begründet und sich zugleich »äußerlich dokumentiert in der Gleichberechtigung des praktisch-theologischen Lehrstuhls neben den übrigen in der Fakultät.«169

In vergleichbarer Weise argumentiert Bassermann 1896.170 Hier be-stimmt er zunächst den Gegenstand der Praktischen Theologie als »das Ganze des in der Gegenwart pulsierenden kirchlichen Lebens«171 Die Auf-gabe der Praktischen Theologie wird dann darin gesehen, »diesen Gegen-stand zum Verständnis zu bringen«172. Zur Erfüllung dieser Aufgabe nimmt die Praktische Theologie notwendigerweise einen Doppelcharakter an, denn sie muss wissenschaftlich-analytische Teile ebenso enthalten wie eine »Technik«, die freilich »nicht die Hauptsache« in der Praktischen Theologie sein kann.173 Für das »akademische[] Bürgerrecht«174 der Praktischen Theo-logie im Ensemble der theologischen Disziplinen ist hingegen entscheidend, dass die Praktische Theologie »die Erträgnisse [der kirchengeschichtlichen und der systematischen] Disziplinen aufnimmt, sie zu einem Gesamtbilde des heutigen kirchlichen Lebens vereinigt und dieses als Ganzes wie in allen Einzelheiten zum Verständnis bringt, ganz wie sie auch der Ergebnisse der exegetischen Theologie bedarf, um den Maßstab einer biblischen und da-durch evangelisch-protestantischen Frömmigkeit zu gewinnen, mit welchem sie den vorliegenden Stand beurteilen und in die Zukunft weisende neue Wege von irreführenden zu unterscheiden in den Stand gesetzt wird.«175

Auch hier herrscht also der Gedanke, dass die Praktische Theologie die unterschiedlichen und vielfältigen Ergebnisse der übrigen Disziplinen in einen einheitlichen, an ihrer Aufgabe orientierten Zusammenhang bringt. Die damit begründete spezifische Funktion im Ensemble der theologischen Disziplinen kann Bassermann dann identifizieren mit dem ursprünglichen »Ziel aller Theologie«, »kirchliche Aufgaben, die in der Zukunft liegen, mit wissenschaftlichen Mitteln, die wesentlich der Vergangenheit angehören, zu lösen«.176 Erst der Umstand, dass im Zuge der nachaufklärerischen Diffe-

169 Ebd. 170 BASSERMANN 1909, 15–36. 171 A. a. O., 28. 172 A. a. O., 29. 173 Ebd. 174 A. a. O., 17. 175 A. a. O., 29. 176 A. a. O., 30.

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renzierung der theologischen Disziplinen die unmittelbare praktische Ab-zweckung der übrigen Disziplinen in den Hintergrund trat, forderte die Entstehung einer Praktischen Theologie, die sich stellvertretend für die anderen Disziplinen auf dieses Ziel ausrichtete.177 3.7.2.2 Auch ein vor zwanzig Jahren erschienenes Gemeinschaftswerk des Praktischen Theologen Wilhelm Gräb (geb. 1948) und des Systematischen Theologen Dietrich Korsch (geb. 1949) unternimmt die enzyklopädische Bestimmung der Praktischen Theologie im Ausgang von der Frage nach der Einheit der Praktischen Theologie.178 Die Überlegungen setzen ein bei der Beobachtung einer zunehmenden Spezialisierung der Praktischen Theologie, die den differenzierten Handlungsanforderungen der kirchlichen Berufspra-xis geschuldet sei. Damit ist das Problem verbunden, dass »theologische Grundlagenbesinnung« und »hochspezialisiertes Handlungswissen«179 zu-nehmend auseinander zu fallen drohen. Als Integrationsparadigma wird dann die Rechtfertigungslehre entfaltet. Die Praktische Theologie, die in der Rechtfertigungslehre die Einheit ihrer gegensätzlichen Impulse findet, ver-mag dann zu erkennen zu geben, wie unter den je individuellen kirchlich-gesellschaftlichen Verhältnissen der Grund des Glaubens als Begründung desjenigen Subjektes von Praxis fungiert, dem als einem in der Rechtferti-gungslehre begründeten Subjekt auch eine entsprechende Struktur seiner Selbsttätigkeit korrespondiert. In enzyklopädischer Perspektive dient die biblisch-theologisch gegebene, systematisch-theologisch entfaltete Rechtfer-tigungslehre damit zur Begründung einer in ihrer diastatischen Struktur als einheitlich aufzufassenden Praktischen Theologie. 3.7.2.3 Vor allem aber hat Dietrich Rössler (geb. 1927) die enzyklopädische Selbstbestimmung der Praktischen Theologie als Frage nach ihrer Einheit gestellt. Bei Rössler wird die Frage nach der Einheit der Praktischen Theo-logie zur Schlüsselfrage des praktisch-theologischen Selbstverständnisses.180

Ausgangspunkt ist wiederum die Beobachtung der diastatischen Gestalt der Praktischen Theologie. Für diese gibt es mehrere Gründe, so etwa die zunehmende Spezialisierung der Praktischen Theologie in Fachgebiete, die ihre Entsprechungen in den differenzierten Bedürfnissen des kirchlichen und religiösen Lebens haben, daneben aber auch die verselbstständigten Be-gründungstheorien in den einzelnen Fachgebieten der Praktischen Theolo-gie.181

177 Ebd. 178 GRÄB/KORSCH 1985. 179 A. a. O., 9. 180 RÖSSLER 1991, 43–51. – Vgl. auch RÖSSLER 21994, 60–69. 181 RÖSSLER 1991, 43f.

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Aus dieser Beobachtung ergibt sich die Notwendigkeit der Einheit der Praktischen Theologie. Sie ist nötig, »damit das von ihr angeleitete Handeln nicht in solche Rollen zerfällt, die keinen Zusammenhang untereinander mehr haben.«182 So gilt, dass die einzelne Tätigkeitsform einer Legitimation, einer Autorität und einer Konsensfähigkeit bedarf, die nicht in den speziel-len Begründungen schon hinreichend gefunden werden können, sondern die sich erst aus dem Zusammenhang mit anderen Tätigkeitsformen als schlüs-sig erweisen.

Daneben lässt sich eine zweite Begründung für die Notwendigkeit der Einheit der Praktischen Theologie finden. Sie ergibt sich aus der Frage nach dem Gegenstand der Praktischen Theologie wie nach dem Subjekt des kirchlichen Handelns. Als spezifischer, von den Gegenständen der anderen theologischen Disziplinen deutlich unterschiedener Gegenstand lässt sich formulieren: »Die Praktische Theologie hat […] zum Gegenstand, was im Namen aller Christen von einigen zu tun ist. Ihr Gegenstand ist das, wofür die Kirche sinnvoll einen Auftrag erteilt.«183 Soll nun das Handeln dieser Bestimmung entsprechen, zugleich die Praxis der Subjekte dieses Handelns nicht in individuelles Gepräge auseinander fallen, dann bedarf es »einer zu-sammenstimmenden Theorie sowohl des Gegenstandes der Praktischen Theologie wie des Subjekts der damit bestimmten Praxis«184, die nicht an-ders gefunden werden kann als in einer praktisch-theologischen Theorie, die ihre Einheit zum eigenen und selbstständigen Thema gemacht hat.

Die nähere Bestimmung dessen, was unter diesen Bedingungen als »Ein-heit der Praktischen Theologie« soll fungieren können, mündet in den Vor-schlag »die Prinzipien, aus denen sich die differenzierte Gestalt kirchlicher Praxis der Neuzeit gebildet hat, selbst zum Prinzip der Einheit und der Glie-derung der Praktischen Theologie zu machen.«185 Als dieses Prinzip erkennt Rössler die dreifache Gestalt des neuzeitlichen Christentums, das als kirch-liches, öffentliches und privates Christentum in Erscheinung tritt. Diese dreifache Gestalt des Christentums hat die drei großen Praxisfelder der Kir-che (Predigt, Unterricht, Seelsorge) und die damit gegebenen drei Aufgaben-felder der Praktischen Theologie geformt.

Damit ist ein Begriff der Einheit der Praktischen Theologie gewonnen, der zunächst einmal die innere Differenzierung der Praktischen Theologie begründet. Im vorliegenden Zusammenhang ist aber von besonderem In-teresse, dass der solchermaßen bestimmte Begriff der Einheit der Prakti-schen Theologie auch ihre Verhältnisbestimmung zu den übrigen theologi-schen Disziplinen leitet. Denn die Selbstständigkeit der Praktischen Theolo-

182 A. a. O., 45. 183 A. a. O., 47. 184 Ebd. 185 A. a. O., 48.

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gie als theologische Disziplin und im Gegenüber zu diesen erwächst nun wesentlich aus der Selbstständigkeit, die der Praxis der Kirche im Horizont der geschichtlichen Praxis des Christentums zugeschrieben werden muss. Nicht die diffuse Bezogenheit der Praktischen Theologie auf »die Praxis« überhaupt, die sie mit den übrigen theologischen Disziplinen teilt, begründet das Eigenrecht der Praktischen Theologie gegenüber den übrigen theologi-schen Disziplinen. Vielmehr ist es ihre Aufgabe, die geschichtlich gegebene Form und Wirklichkeit des sich differenzierenden neuzeitlichen Christen-tums als ein in sich differenziertes, aber einheitliches Ganzes zu verstehen, das den Formen des Handelns vorausliegt und das Prinzip der praktisch-theologischen Theoriebildung abgibt.186

4. AUSBLICK Die voran stehenden Ausführungen sollten, unter anderem, illustrieren, dass das Repertoire der Deutungen, in denen die Stellung der Praktischen Theo-logie innerhalb der Theologie bestimmt werden kann, begrenzt ist: Sie keh-ren, als Varianten, im Laufe der Wissenschaftsgeschichte der Praktischen Theologie in leicht abgewandelter Form wieder. Insofern kann dieser Aus-blick auch keine substantiell neuen Aspekte enthalten. Er kann allenfalls Akzentuierungen enthalten von Aspekten und Dimensionen, die im Voran-stehenden schon genannt sind. Und es ist kein Zufall, dass diese Akzentuie-rungen stets im Rückgriff auf Schleiermacher argumentieren, der den Rah-men entworfen hat, innerhalb dessen praktisch-theologische Erwägungen zur Enzyklopädie seither stehen. Unter diesen Einschränkungen sollen, sehr kurz, drei Punkte genannt sein. 4.1 Die Unterscheidung zwischen Wissenschaftssystematik und

-organisation Erinnert werden soll zunächst an den Unterschied zwischen Wissenschafts-systematik und Wissenschaftsorganisation. Genauer gesagt, handelt es sich um den Unterschied zwischen a) der wissenschaftssystematischen Einteilung der theologischen Disziplinen, die Ausdruck des Gesamtverständnisses der Theologie ist sowie des Verständnisses der jeweiligen Disziplin, aus deren Perspektive oder in deren Interesse die Einteilung vorgenommen wird und b) der auf die Organisation des Wissenschaftsbetriebes zielenden, innerfa-kultären und auf den Studienbetrieb bezogenen Einteilung der theologi-schen Disziplinen. Die Grenzverläufe und die Durchlässigkeiten auf den beiden Ebenen sind nicht unbedingt deckungsgleich und sie müssen sich

186 RÖSSLER 21994, 5–10.

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auch nicht unbedingt entsprechen. Schon Schleiermacher hatte ja in wissen-schaftssystematischer Hinsicht der Praktischen Theologie eine Selbststän-digkeit zugedacht, die er aber auf der wissenschaftsorganisatorischen Ebene nicht meinte wiederholen zu sollen, indem er die Einrichtung eigener Pro-fessuren für die Praktische Theologie für unnötig hielt, sondern dafür ein-trat, dass »dies von denen, die sich mit den theoretischen Disciplinen be-schäftigen, beiläufig geschieht.«187 Knapp zweihundert Jahre später und im Horizont der zunehmender Differenzierungen der Theologie wird man die Pointe der Unterscheidung vermutlich umdrehen müssen: Die wissen-schaftsorganisatorisch notwendig gewordene Verselbstständigung der Prak-tischen Theologie darf nicht über den wissenschaftssystematisch bedeutsa-men Sachverhalt hinwegtäuschen, dass die Praktische Theologie der Sache nach eine Aufgabe übernimmt, die der Theologie insgesamt aufgegeben ist.188

Denn die Praktische Theologie mit der ihr spezifischen Fragestellung, die hier vorläufig einmal als die Fragestellung nach der gelebten Religion in den kirchlichen, öffentlichen und privaten Lebenswelten des neuzeitlichen Christentums verstanden werden soll, hat es mit Grundproblemen und Grundbegriffen zu tun, die für die theologische Arbeit in allen Disziplinen leitende Bedeutung haben. In dieser wissenschaftssystematischen Hinsicht ist die Praktische Theologie nicht das Reservat eines einzelnen Faches, son-dern ein Element und Aspekt aller theologischen Fächer. Die Praktische Theologie repräsentiert eine Sachdimension, die der Theologie als ganzer aufgegeben ist. Sie vertritt eine Einstellung des Interesses und des Horizon-tes auf die gelebte Religion, die die Arbeit der Theologie auch in ihren histo-rischen und systematischen Teilen mitbestimmt. In dieser Hinsicht ist die Theologie als ganze praktisch, so wie sie auch als ganze historisch verfährt und systematisch.

187 SCHLEIERMACHER 1974, 179f, Zitat 180. – Dass die Differenz zwischen Wissenschafts-

systematik und Wissenschaftsorganisation auch die anderen Disziplinen bzw. den Auf-bau der Theologie insgesamt betrifft, indem Schleiermacher neben der Praktischen The-ologie auch die Dogmatik anders verrechnet, zeigen auch seine Vorschläge zur Einrich-tung der theologischen Fakultät vom 25. Mai 1810 (s. o. Anm. 7), 4: »Man könnte sich daher für den Anfang mit drei ordentlichen Lehrern begnügen, wenn man sie, und das wäre an sich keine schwere Aufgabe, so wählte, dass der eine ein Exeget und zugleich ein Dogmatiker, der andere ein Exeget und zugleich ein Historiker und der dritte ein Historiker und zugleich ein Dogmatiker wäre. Denn an solchen, welche die praktische Theologie nebenher vortrügen, darf es in einer an Kanzelrednern so reichen Stadt wie Berlin nicht leicht fehlen, und eine eigene Professur dieses Fachs scheint mir eher nachteilig zu sein.«

188 Den folgenden Gedankengang habe ich näher ausgeführt in ALBRECHT 2000, 323–326. Dort finden sich auch Hinweise auf weitere Literatur.

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Freilich hat genau darum die wissenschaftsorganisatorische Differenzie-rung der Theologie in verschiedene Disziplinen, die jeweils eine der Theolo-gie als ganze aufgegebene Fragestellung repräsentieren, ihren guten Grund. Zwar stellen die wissenschaftsorganisatorischen Unterscheidungen der Dis-ziplinen Abstraktionen dar, die weder ihren tatsächlichen Vollzügen in For-schung und Lehre noch ihrem Zusammenhang mit der Theologie insgesamt entsprechen. Aber gerade deswegen muss die Differenzierung der Theologie in mehrere Disziplinen als Ausdruck einer notwendigen und sinnvollen Arbeitsteilung verstanden werden. Was allerdings in dieser wissenschaftsor-ganisatorischen Perspektive aus pragmatischen Gründen abgegrenzt er-scheint, muss deswegen nicht auch gleich in wissenschaftssystematischer Hinsicht außerhalb der Fragestellung einer Disziplin liegen. Und umgekehrt: Was aus wissenschaftssystematischer Perspektive nicht zum genuinen The-menbestand einer Disziplin gehört, mag gleichwohl einen notwendigen Ort innerhalb ihrer Lehr- und Forschungsvollzügen haben. Jedenfalls, und nur darauf sollte es hier ankommen: im Lichte der Unterscheidung zwischen wissenschaftssystematischer und wissenschaftsorganisatorischer Ebene verlieren manche enzyklopädische Programme an Dramatik, andere gewin-nen sie erst. 4.2 Das Beleihungsverfahren in der Praktischen Theologie Hinsichtlich der Integration reflexionstheoretischer Fragestellungen in die technische Disziplin der Praktischen Theologie und der seit Schleiermacher der Praktischen Theologie aufgegebenen Frage, wie reflexionstheoretische Erwägungen und kunstlehrehafte Regeln miteinander zusammenhängen können, mag noch einmal der Blick auf den von Schleiermacher begründe-ten lehntheoretischen Charakter des theologischen Wissens nützlich sein.

Martin Laube hat im vorliegenden Beitrag (unter 2.2) dieses Bandes Schleiermachers Vorstellung vom Zweckbezug der positiven Wissenschaf-ten zusammengefasst: Sie können genuin eigenes Wissen nicht selbst produ-zieren, sondern sind vielmehr dadurch bestimmt, dass sie sich aus anderen Wissenschaften dasjenige Wissen entleihen, das sie zur Erledigung ihrer jeweiligen Aufgabe brauchen. So schöpft beispielsweise die positive Wissen-schaft »Historische Theologie« ihr Datenmaterial aus dem in der realen Wis-senschaft »empirische Geschichtskunde« erfassten Wissensbestand – oder anders gesagt: das in der Historischen Theologie zusammengestellte Wissen stellt eine Teilmenge der in der empirischen Geschichtskunde gesammelten Gesamtmenge dar. Das wesentliche Kennzeichen der positiven Wissen-schaften besteht also darin, dass in ihnen ganz verschieden herkünftiges Einzelwissen in eigenen, zweckbezogenen Ensembles zusammengeordnet ist. Das Proprium der theologischen Wissenschaft insgesamt kann infolge-dessen nicht in speziellen Wissensgehalten bestehen, sondern vielmehr in

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der eigenen Zusammenstellung und Anordnung des allgemein verfügbaren Wissens.

Dieses Kennzeichen der theologischen Wissenschaft gilt nun nicht nur für die Theologie insgesamt, sondern es gilt insbesondere auch für ihre ein-zelnen Disziplinen.189 Nicht nur der interdisziplinäre Konstitutionscharakter der Theologie insgesamt ist von Schleiermacher gesehen, sondern es ist damit zugleich auch der interdisziplinäre Konstitutionscharakter ihrer ein-zelnen Disziplinen bereits gesehen. Das soll im Blick auf das hier interessie-rende Beispiel der Praktischen Theologie verdeutlicht werden, wenngleich Analoges natürlich auch für die übrigen Disziplinen gilt.

Schleiermacher muss zwei Formen des Beleihungsverfahrens vorausset-zen. Erstens gilt für die Praktische Theologie, was für die Theologie insge-samt gilt: Sie stellt aus dem Reich des Gesamtwissens dasjenige zusammen, was sie zu ihrer Zweckerfüllung benötigt. Sie entleiht sich das Wissen aus den realen Wissenschaften.190 Schleiermacher hat hier, in Bezug auf einige Aufgaben der technischen Disziplin Praktische Theologie, gelegentlich bei-spielsweise die Rhetorik191, aber auch die Psychologie192 genannt. Dieses Verfahren einer Beleihung von nichttheologischen Disziplinen hat sich in der Praktischen Theologie seit Schleiermacher als selbstverständlich einge-spielt. Es ist innerhalb und außerhalb der neuzeitlichen Praktischen Theolo-gie nicht ernsthaft umstritten.

Daneben muss für die Praktische Theologie aber noch eine zweite Form des Beleihungsverfahrens vorausgesetzt werden. Denn die Praktische Theo-logie beleiht faktisch auch ihre Schwesterdisziplinen, die Historische und die Philosophische Theologie. Die Praktische Theologie integriert Kenntnisse und Wissensbestände in ihre eigenen Vollzüge, die sie der Philosophischen und der Historischen Theologie entnimmt. Dass jene Schwesterdisziplinen die einschlägigen Wissensbestände ihrerseits zuvor aus nichttheologischen, realwissenschaftlichen Mutterdisziplinen entlehnt haben, ficht die Praktische Theologie dabei nicht an. Für sie wird vielmehr jenes Wissen überhaupt erst dadurch relevant, dass die theologischen Schwesterdisziplinen es aus Zweck-mäßigkeitsgründen in ihre Wissensensembles aufgenommen haben. Erst weil jenes Wissen in zweckmäßiges philosophisch-theologisches und histo-risch-theologisches Wissen transformiert worden ist, gewinnt die Praktische Theologie Gründe, es selbst zur Kenntnis zu nehmen.

Schleiermacher selbst hat diesen Vorgang praktisch-theologischen Zu-griffs auf philosophisch-theologische und historisch-theologische Wissens-bestände grundsätzlich damit begründet, dass die Praktische Theologie »so-

189 Diese These habe ich schon einmal entfaltet in ALBRECHT 2003, 108–113. 190 SCHLEIERMACHER 1998 (2. Auflage), § 6. 191 SCHLEIERMACHER 1850, 6. 192 SCHLEIERMACHER 1987, 10.

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wohl der Materie als der Form nach« auf den beiden Zweigen der Philo-sophischen und der Historischen Theologie beruht.193 Diese enthalten die Kenntnisse, derer jene zur Aufstellung ihrer Kunstregeln bedarf. So hält Schleiermacher fest, dass »aus [dem] Gesichtspunkt der leitenden Thätigkeit betrachtet sich die theologischen Kenntnisse […] die der Thätigkeit voran-gehn müssen, in zwei Hälften sondern, nämlich die eigentlich geschichtli-chen, und die die Principien für das geschichtliche enthalten.«194 Dabei wird wiederholt, dass die Prinzipien in den Bereich der Philosophischen Theolo-gie fallen, die materialen geschichtlichen Kenntnisse hingegen in den Be-reich der Historischen Theologie.195

Ganz offensichtlich hat Schleiermacher aber damit gerechnet, dass die Wesensbestimmungen der Philosophischen Theologie und das empirisch-historische Datenmaterial der Historischen Theologie dort zwar bereit-gehalten werden, dass beides aber innerhalb der Praktischen Theologie noch einmal rezipiert werden muss, und dass die Rezeption dieser Kenntnisse der Aufstellung der Kunstregeln innerhalb der Praktischen Theologie noch einmal vorangehen muss. Denn Wesensformeln und Datenmaterial, die so genannten »Zweckbegriffe«, stehen in der Philosophischen und Histori-schen Theologie nur als Einzelmaterial zur Verfügung, das erst durch die Einordnung in den Zusammenhang der praktisch-theologischen Zwecke seine Relevanz als »Aufgabe« der Praktischen Theologie gewinnen kann. Zwar gilt unbestritten: »Diese Zweckbegriffe selbst, die Aufgaben, sind in der philosophi-schen Theologie in ihrer Beziehung mit der historischen enthalten, und die praktische Theo-logie hat nur die richtige Methode der Lösung anzugeben.«196 Dabei rechnet Schleiermacher nun aber offensichtlich damit, dass eine hinreichende und umfassende Einsicht in die Aufga-ben der Praktischen Theologie erst durch die Rezeption der philosophisch- und historisch-theologischen Wissensbestände innerhalb der Praktischen Theologie selbst zustande kom-men kann: »Wirklich können die Aufgaben auch nicht in der philosophischen oder histori-schen Theologie vorkommen, weil sie immer ein schlechthin Einzelnes sind; aber die philo-sophische und historische Theologie, angewandt auf den gegebenen Kreis der Kirche, geben dann die Aufgaben. Wenn nun aber die Aufgaben selbst nicht vorkommen in der philosophi-schen und auch nicht in der historischen Theologie, – die praktische Theologie muss sie aber doch voraussezen, wo kommen sie dann vor? Es fehlt hier ein Mittelglied, und es scheint nothwendig, daß die praktische Theologie auch müsse ein Verhältniß zur Feststellung der Aufgaben haben. Allerdings hat die praktische Theologie die Aufgaben, welche jedem aus seiner philosophischen und historischen Theologie einzeln entstehen, zu subsumiren und darnach zu classificiren.«197

193 SCHLEIERMACHER 1998 (1. Auflage), 301, § 6. 194 SCHLEIERMACHER 1850, 22. Vgl. auch 18f. und 21. 195 A. a. O., 22f. 196 SCHLEIERMACHER 1987, 251. So ja auch schon DERS. 1998 (2. Auflage), § 260. 197 SCHLEIERMACHER 1850, 251.

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Das bedeutet, und darauf kommt es hier an: An der Hauptfunktion der Praktischen Theologie, »Regel[n] zur Lösung der Aufgaben«198 zu geben, macht Schleiermacher keine Abstriche. Aber er setzt realistischerweise vor-aus, dass diese Funktion erst erfüllt werden kann, wenn die Praktische Theologie zuvor die philosophisch-theologischen Rahmenbedingungen und die historisch-theologischen Gehalte ihrer Aufgaben in ihren eigenen Zu-sammenhängen rekonstruiert hat.199 Diese Rekonstruktion oder Rekapitula-tion in eigenen Zusammenhängen ist erstens deswegen nötig, weil die Prak-tische Theologie jene Rahmenbedingungen und Gehalte erst in einen zweckmäßigen praktisch-theologischen Zusammenhang stellen muss, der am philosophisch-theologischen und historisch-theologischen Ort schlech-terdings noch nicht ohne weiteres erkennbar sein kann. Und sie ist zweitens deswegen nötig, weil philosophisch-theologische Wesensformel und histo-risch-theologische Datensammlungen selbst der Gesetzmäßigkeit histori-scher Wandlungen unterworfen sind, mithin als »Urtheil über die Gegenwart nicht als absolut abgeschlossen vorausgesezt werden«200 können, sondern innerhalb der Praktischen Theologie noch einmal eigens auf ihre Aktualität und Zeitgemäßheit hin befragt werden müssen. Sie müssen befragt werden unter dem Gesichtspunkt, ob sie der praktisch-theologischen Aufgabe einer Optimierung gegenwärtiger und zukünftiger Praxis des christlichen Lebens gemäß sind oder dementsprechend modifiziert werden müssen.

Man muss allerdings zugeben, dass diese zweite Form der Beleihung, die Zusammenstellung praktisch-theologischen Wissens durch die Integration philosophisch-theologischer und historisch-theologischer Wissensbestände, innerhalb und außerhalb der Praktischen Theologie nach Schleiermacher bei weitem nicht so selbstverständlich und unstrittig eingespielt ist wie die erste Form der praktisch-theologischen Beleihung nichttheologischer Wissensbe-stände. Dafür wird man eine ganze Reihe von Gründen finden können, die allerdings überwiegend pragmatischer Natur sind, weil sie mit den – oben kurz angesprochenen – Notwendigkeiten des wissenschaftsorganisatori-schen Alltagsbetriebes der theologischen Disziplinen und der Gewöhnung an eingespielte Grenzziehungen zu tun haben. In prinzipieller, wissen-schaftssystematischer Hinsicht wird man in der Praktischen Theologie aus 198 Ebd. 199 Für diese Interpretation spricht nicht zuletzt auch die faktische Durchführung, die

Schleiermacher seiner eigenen Praktischen Theologie gegeben hat, soweit dies rekon-struierbar ist – vgl. dazu etwa SCHLEIERMACHER 1987, 65–68.68–70.347–349.466–470.521–532.569–571.622–651. Der Gedanke ist übrigens, ohne direkten Bezug auf Schleiermacher, 1921 noch einmal entfaltet worden von dem Wiener Kirchenhistoriker und Praktischen Theologen Karl Völker (1886–1937), der den »ganz bestimmten Ge-sichtswinkel« herausgestellt hat, unter dem Praktische Theologie historischen und sys-tematischen Stoff rezipiert (VÖLKER 1921, 14).

200 SCHLEIERMACHER 1987, 24.

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Gründen des langfristigen Selbsterhalts darauf bestehen müssen: Die stets neu demonstrierte Integrationsfähigkeit philosophisch-theologischen und historisch-theologischen Wissens in die Praktische Theologie ist es erst, die die allgemeintheologische Anschlussfähigkeit der Praktischen Theologie unter Beweis stellt. Die wissenschaftlich-theologische Legitimität der Prakti-schen Theologie bemisst sich – neben der zweckmäßigen Belehnung nicht-theologischer Sozial- und Kulturwissenschaften – insbesondere danach, in welchem Maße die Praktische Theologie sich fähig zeigt, philosophisch-theologische und historisch-theologische Vorgaben zu rezipieren, in eigene Zusammenhänge zu stellen und somit in sich selbst zu integrieren. 4.3 Die gebildete Anwendung der Kunstregeln Im Blick auf die Kunstregeln, die zum unverzichtbaren Bestandteil der Praktischen Theologie gehören, wird man sich schließlich noch einmal an Schleiermachers Auffassung erinnern können, es bestehe das Spezifikum der in der Praktischen Theologie versammelten Kunstregeln – im Gegensatz zu den Regeln einer mechanischen Kunst – darin, dass sich ihre Anwendung nicht mehr auf Regeln bringen lässt, sondern ein eigenes Vermögen (»Ta-lent«) voraussetze, das weder mit der theoretischen Kenntnis der Regeln noch der eingeübten Fähigkeit zu ihrem Vollzug identisch ist.201 Es ist nicht zwingend, den individuellen Gebrauch dieses Talentes dabei in Analogie zu der Form zu sehen, in der der Künstler von seiner Intuition Gebrauch macht; es ist also nicht zwingend, die Anwendung der Kunstregeln in das Reich des schlechterdings Unverfügbaren zu verlegen. Vielmehr lässt sich die Einsicht, dass zur Anwendung der Regeln Talent vorausgesetzt werden muss, auch im Blick auf die Bildungsfähigkeit des Subjektes lesen: Der Kle-riker, der bei der Anwendung von Regeln Talent zeigt, zeigt damit auch, dass er der weitergehenden Bildung dieses Talentes fähig, würdig und be-dürftig ist (und wo dies nicht auf den ersten Blick sichtbar ist, wird man sich an die alte Weisheit erinnern wollen, dass die Sache vielleicht auch erst »da-durch wieder zu Stande [kommt], dass man sie voraussezt«202). Sind, und nur darauf kommt es hier an, die Kunstregeln der Praktischen Theologie so verfasst, dass sie sich an das bildungsfähige Subjekt richten und dessen be-gründete Selbstständigkeit bezwecken, dann werden sie notwendig auch eine äußere, nämlich: reflexive Gestalt annehmen, in der sie ihren Schrecken weitgehend verloren haben.

201 SCHLEIERMACHER 1998 (2. Auflage), § 265 mit Zusatz. 202 SCHLEIERMACHER 1834, unpag. [III–XII, das Zitat findet sich auf XI].

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MARTIN LAUBE

ZUR STELLUNG DER PRAKTISCHEN THEOLOGIE INNERHALB DER THEOLOGIE –

AUS SYSTEMATISCH-THEOLOGISCHER SICHT

1. ZUR EINFÜHRUNG »Es mag nützlich sein, die Frage nach der Achtung, in der die Disziplin der praktischen Theologie steht, einmal offen aufzuwerfen. Übersieht man die Litteratur, die sich ihr zuzählt, so sollte man meinen, sie sei die allerwichtigste. So hört mans auch in mancher Theorie und Enzyklopädie. Professoren sind schnell bereit einem zu sagen, dass der praktische Kollege die wichtigste Stelle in der Fakultät einnehme. Gleichwohl bemerkt man nicht, dass der Posten von eigentlichen Akademikern besonders begehrt würde. Und der Wahrheit gemäss muss man sagen, dass trotz Schleiermacher und Nitzsch, trotz dicker Bände, die heute unter die-sem Titel produziert werden, die praktische Theologie sich keineswegs einer rückhaltlosen Achtung erfreut, weder in den akademischen noch in den praktischen Kreisen. […] Ich habe Praktische Theologie weder jemals gehört noch studiert. Ich habe versucht, ein Kolleg dar-über zu hören bei einem Professor, der sonst Geist genug besass, aber in diesen Vorlesungen unfassbar langweilig wurde. Ich habe meine beiden Examina gemacht, ohne auch nur eine Viertelstunde mich auf die Prüfung in der praktischen Theologie vorbereitet zu haben, und es ging auch. Ich bin ein Pfarrer geworden, zehn Jahre auf dem Lande, nun drei Jahre in der Stadt, und ich bin nie in die Lage gekommen, nach einem Lehrbuch für praktische Theologie zu greifen oder meine fehlende Vertrautheit mit dieser Disziplin zu beklagen«1. Dieses Bekenntnis des Pfarrers und späteren Professors für Systematische Theologie Martin Rade aus dem Jahre 1895 stellt zunächst einen Beleg für die tief greifende Krise der Praktischen Theologie um die Wende zum 20. Jahrhundert dar;2 zugleich jedoch wirft es ein bezeichnendes Licht auf das angespannte Verhältnis zwischen Systematischer und Praktischer Theologie überhaupt. Denn die Systematische Theologie pflegt gemeinhin eine reser-viert-abschätzige Distanz zur »sogen. ›praktische[n] Theologie‹«3, indem sie deren Aufgabe auf die Belange einer bloßen Anwendungslehre beschränkt und ihr damit nicht nur den Rang einer selbstständigen theologischen Dis-ziplin, sondern zugleich den Status einer vollgültigen Wissenschaft ab-spricht. Die Praktische Theologie hat darauf lange Zeit mit einer larmoyan-ten Klage über die Rolle als ›Aschenbrödel‹ unter den theologischen Diszip-linen reagiert.4 Neuerdings jedoch setzt sie – in einigen ihrer Richtungen – zu einem übersteigerten Emanzipationsgestus an, der nun seinerseits alle Bezüge zur Systematischen Theologie aufkündigt und die eigene Disziplin

1 RADE 1895, 351. 2 Vgl. dazu die Bemerkungen von RÖSSLER 1967, 366. 3 ALTHAUS 1929, 8; vgl. DERS. 41958, 15. 4 Vgl. dazu DREHSEN 1988, Bd. 2, 28–31.

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als alleinigen Sachwalter einer der gegenwärtigen Wirklichkeit des Christen-tums verpflichteten Theologie meint präsentieren zu können. Während also der Praktischen Theologie zumeist eine kompromittierende Praxisnähe un-terstellt wird, revanchiert sich diese mit dem Vorwurf einer realitätsfremden Praxisferne an die Adresse der Systematischen Theologie.

Bei genauerem Hinsehen wird dann allerdings schnell deutlich, dass so-wohl die Systematische als auch die Praktische Theologie in ihrem Urteil über die jeweilige Nachbardisziplin deren eigene Selbstverständigungsversu-che gezielt ausblenden und übergehen. So ist auffällig, dass die weit ver-zweigt geführte Grundlagendebatte der Praktischen Theologie in der Syste-matischen Theologie nahezu ohne Resonanz bleibt. Das gilt vor allem für die Konstitutionsbemühungen der Praktischen Theologie im 19. Jahrhun-dert, erst recht für die Epoche der dialektischen Theologie und mit bezeich-nenden Ausnahmen sogar noch für die im Zuge der ›empirischen Wende‹ neu entfachten Theoriedebatten des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Umge-kehrt nimmt die Praktische Theologie kaum Bezug auf die unterschiedlichen Versuche der Systematischen Theologie, die eigene Disziplin den Heraus-forderungen von Neuzeit und Moderne entsprechend umzubilden. Stattdes-sen wird die Systematische Theologie häufig nur mehr als Relikt eines ver-gangenen dogmatischen Zeitalters wahrgenommen, vor deren Hintergrund sich die eigene Disziplin umso heller abhebt. Freilich ist dabei zugleich vor einer allzu schematischen Gegenüberstellung von Systematischer und Prak-tischer Theologie zu warnen.5 Zum einen handelt es sich bei der Isolierung beider Disziplinen um eine Abstraktion, die weder den historischen Zu-sammenhängen noch den tatsächlichen Arbeitsvollzügen gerecht wird.6 Zum anderen verbinden sich gerade in der Praktischen Theologie einige neuere Theorieprogramme mit dem Anspruch, nicht nur die Praktische Theologie, sondern zugleich die Theologie als ganze auf ein neues Funda-ment zu stellen.7

5 Vgl. zu den möglichen Missverständnissen, die mit der Aufgabe einhergehen können,

die enzyklopädische Stellung der Praktischen Theologie jeweils gesondert aus systema-tisch-theologischer und praktisch-theologischer Sicht zu betrachten, die Erwägungen von Christian Albrecht in seinem Beitrag zu diesem Band (1.).

6 Vgl. EBELING 1975, 118. 7 Mitte der 1970er Jahre notiert Wolfgang Steck im Blick auf die Grundlagendebatte der

Praktischen Theologie, »daß mitunter der Eindruck entsteht, die praktische Theologie wolle die systematische an Grundsätzlichkeit noch übertreffen, so als begnüge sie sich nicht mehr mit der Krone des theologischen Studiums, sondern erhebe nun Anspruch auf das Ganze der Theologie« (DERS. 1975, 72). Den Beleg dafür liefert ein gutes Jahr-zehnt später Volker Drehsen mit seiner monumentalen Studie ›Neuzeitliche Konstituti-onsbedingungen der Praktischen Theologie‹. Zu Beginn erklärt er zwar, nach den Grün-den und Bestimmungsmomenten fragen zu wollen, »die ganz allgemein die theologische Wissenschaft […] sich eine akademische Disziplin der Praktischen Theologie anzubilden

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Praktische Theologie und Theologie – systematisch-theologische Sicht 63

Aus diesem Grund erscheint es geboten, in einem ersten Schritt auf die Begründung der Praktischen Theologie bei Friedrich Schleiermacher zu-rückzugehen (2.). Sie steht im Zusammenhang eines umfassenden enzyklo-pädischen Programms, mit dem Schleiermacher die Konsequenzen aus den tief greifenden Umbruchprozessen der Neuzeit zieht und das Theologiever-ständnis auf eine vollkommen neuartige Grundlage stellt. Die epochale Be-deutung dieses Entwurfs wird darin sichtbar, dass Schleiermacher die Frage-stellungen und Problemkonstellationen vorgibt, innerhalb deren sich im 19. Jahrhundert nicht nur die weitere enzyklopädische Debatte, sondern auch die systematisch-theologische Besinnung auf Ort und Aufgabe der Prakti-schen Theologie vollziehen (3.). Allerdings wäre es übertrieben, im Blick auf das Verhältnis zur Praktischen Theologie von einem eigenen Diskurs zu sprechen. Das Interesse der Systematischen Theologie gilt der Verhältnisbe-stimmung zu den historischen Disziplinen einerseits, der Philosophie ande-rerseits. Die Praktische Theologie kommt eher am Rande, gleichsam der Vollständigkeit halber in den Blick. Folgerichtig geht dabei ihre formale Hochschätzung einher mit einer faktischen Abwertung zur technischen ›Kunstlehre‹8. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts beginnt sich die Sachlage zu ändern (4.). Während Karl Barth die Sichtweise des 19. Jahrhunderts nochmals zuspitzt und die Praktische Theologie zu einer kirchlichen An-wendungslehre von dogmatischen Gnaden degradiert, setzt gegen Ende der

veranlaßt hat, wodurch der Charakter der Theologie selbst nicht unwesentlich beeinflußt wurde. Problematisiert werden also sowohl Art und Weise, wie die Gesamtlage der Theologie im weitesten Sinne eine Praktische Theologie als integral-theologischen Be-standteil überhaupt hervorgebracht hat, als auch Art und Weise, wie umgekehrt die Theologie in ihrer neuzeitlichen Verfassung insgesamt durch die Herausbildung und Entwicklung der Praktischen Theologie maßgeblich mitgeprägt wurde« (DERS. 1988, Bd. 1, 1). In der Durchführung hat es dann jedoch den Anschein, als ginge es Drehsen we-niger um die Konstitutionsbedingungen der Teildisziplin Praktischer Theologie als viel-mehr um eine praktisch-theologische Neukonstitution der Theologie überhaupt. Jeden-falls nimmt er die theologische Verarbeitung der neuzeitlichen Problemlage exklusiv für die Praktische Theologie in Anspruch, so dass für eine Umbildung der Systematischen Theologie kein Platz mehr bleibt. Zudem erklärt sich daraus Drehsens Inanspruch-nahme von Richard Rothe und Ernst Troeltsch als Vertreter exemplarischer Paradigmen der Praktischen Theologie. Die von Drehsen auf Troeltsch gemünzte Feststellung scheint daher auch von seinem eigenen Programm zu gelten: »Troeltsch selbst war […] weniger an der praktisch-theologischen Disziplin interessiert als vielmehr an der Sach-dimension, die sich in ihr repräsentierte, wenn die Disziplin zu ihrer Sache fände« (a. a. O., Bd. 2, 526).

8 Aus diesem Umstand erklärt sich auch die gelegentlich etwas umständliche Ausführlich-keit des vorliegenden Beitrags. Um das jeweilige Verständnis der Praktischen Theologie in den Blick zu bekommen, erweist es sich als unumgänglich, zunächst das Theologie-verständnis überhaupt zu skizzieren, das freilich seinerseits gar nicht auf eine disziplinäre Verortung der Praktischen Theologie ausgerichtet ist.

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1960er Jahre im Zuge der ›empirischen Wende‹ der Praktischen Theologie auch in der Systematischen Theologie ein Umdenken ein. Vermittelt wird dieser Perspektivenwechsel durch eine erneute Hinwendung zu Schleierma-cher. Zum einen kommt nun die Grundspannung im Schleiermacherschen Theologieverständnis zwischen funktionaler Kirchenleitungstheorie und umfassender Christentumswissenschaft zu Bewusstsein, zum anderen rückt damit zugleich der ambivalente »Doppelcharakter«9 der Praktischen Theolo-gie als technischer Kunstlehre und theologischer Praxistheorie in den Blick. Für die systematisch-theologische Beurteilung der Praktischen Theologie bedeutet das, die Praktische Theologie aus ihrem Status einer bloßen An-wendungslehre herauszuführen und als vollgültige theologische Disziplin im Ganzen der Theologie selbst zu verankern. Die Systematische Theologie hält damit an ihrem Anspruch fest, Aufgabe und Einheit der Theologie für alle Disziplinen bestimmen zu können. Im Gegenzug verschärft sie freilich die faktischen Verselbstständigungstendenzen vor allem der Praktischen Theologie. Es wird daher abschließend zu überlegen sein, auf welche Weise es gelingen kann, im Blick auf eine angemessene Ortsbestimmung der Prak-tischen Theologie zugleich Einheit und Vielfalt der theologischen Diszipli-nen miteinander zu vermitteln (5.).

2. FRIEDRICH SCHLEIERMACHER 2.1 Die Diskussionslage zu Beginn des 19. Jahrhunderts Friedrich Schleiermacher greift mit seiner ›Kurzen Darstellung des theologi-schen Studiums‹10 in eine theologische Reformdebatte ein, die – ausgelöst durch die tief greifenden Umbrüche der Aufklärungszeit – bereits längst im Gange ist.11 Gleichwohl kommt seinem Vorschlag in mehrfacher Hinsicht epochale Bedeutung zu. Zum einen gelingt es ihm, die verschiedenen gesell-schaftskulturellen, religionsphilosophischen und wissenschaftstheoretischen Problemfäden miteinander zu verknüpfen und für ein einheitliches Gesamt-verständnis der Theologie unter neuzeitlichen Bedingungen fruchtbar zu machen. Zum anderen präsentiert er ein enzyklopädisches Modell, das sei-ner mehrdimensionalen Theorieanlage, integrativen Leistungsfähigkeit und unüberholten Problemschärfe wegen nach wie vor als maßgeblicher Be-zugspunkt theologischer Selbstverständigung zu gelten hat. Dabei lassen sich im Blick auf die neuzeitliche Problemkonstellation, die Schleiermacher vor Augen hat, im Wesentlichen fünf thematische Komplexe unterscheiden.

9 So Albrecht in seinem Beitrag zu diesem Band (2.3). 10 SCHLEIERMACHER 2002. 11 Vgl. dazu BIRKNER 1996, 286.

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2.1.1 Das Auseinandertreten von Kirche und Christentum Der Übergang des Christentums in die Neuzeit vollzieht sich im Schatten eines allgemeinen gesellschaftlichen Differenzierungsprozesses. Mit der fortschreitenden Ausbildung selbst-ständiger Funktionssysteme wird die Religion aus ihrer einstigen gesellschaftlichen Zentral-stellung verdrängt. An die Stelle des hierarchisch gegliederten und religiös dominierten Sozi-algefüges tritt ein struktureller Pluralismus, der nicht nur die gesamtgesellschaftliche Säkulari-sierung vorantreibt, sondern zugleich die inter- und innerkonfessionelle Konkurrenz im Christentum beflügelt. In der Folge kommt es zu einer umfassenden Individualisierung und Privatisierung der überkommenen Weltansichten und Deutungsmuster. Die Kirche verliert ihren religiösen Alleinvertretungsanspruch; stattdessen wird die Religion ebenso zur Sache des Einzelnen wie umgekehrt der Einzelne zur Sache der Religion.12 Unterstützung erfährt diese Entwicklung durch die aufgeklärte Kritik an der Kirche und ihrem Lehrgefüge. Hier steht das Interesse im Vordergrund, »einen eigenen Zugang zur überkommenen kirchlichen Lehre zu finden, und dies auf einem Boden, der allen Menschen zugänglich ist«13. Die Theo-logie reagiert darauf mit der begrifflichen Unterscheidung von öffentlicher und privater Religion, Kirche und Christentum. Das Christentum – so lautet die Einsicht Johann Salomo Semlers14 – geht nicht in seiner kirchlichen Gestalt auf, sondern überschreitet die Grenzen partikularer Kirchlichkeit zugunsten einer allgemeinen Realisierung im Medium individueller Selbst- und Weltgestaltung. Die Theologie steht damit vor der Aufgabe, ihren Schwerpunkt von der kirchlich-dogmatischen Traditionspflege auf eine theologische Erfassung der ge-schichtlichen Welt des Christentums zu verlagern. 2.1.2 Die Unterscheidung von Theologie und Religion Ihren Niederschlag findet diese Aufgabenverschiebung der Theologie in der – ebenfalls maß-geblich auf Johann Salomo Semler zurückgehenden15 – Unterscheidung von Theologie und Religion. Damit wird auf der einen Seite die Verselbstständigung der religiösen Praxis gegen-über den Ansprüchen von Kirche und Dogmatik ratifiziert; auf der anderen Seite obliegt nun der Theologie, die ihr vorausliegende Praxis der Religion theoretisch zu rekonstruieren. Der in den Auseinandersetzungen zwischen Orthodoxie und Pietismus auseinander gebrochene Zusammenhang von Theorie und Praxis findet so seine reflexive Vermittlung, indem beide Seiten jeweils in ihr eigenes Recht eingesetzt und zugleich aufeinander bezogen werden. Fortan gilt: »Theologie ist Theorie der religiösen Praxis und als solche zugleich auf Praxis bezogen wie von ihr distinguiert«16. Dabei liegt die Pointe dieser Unterscheidung in der Einsicht, »daß sich nicht von selbst versteht, was Praxis ist […], sondern diese erst jeweils neu für die Theorie realisiert werden muß; die Logik der religiösen Wirklichkeit wird von der Theologie erst eigentlich rekonstruiert. Ebensowenig wie die religiöse Praxis bloß Ausläufer einer theologischen Theorie sein kann, stellt die Theologie einen bloßen Reflex vorfindlicher Praxis dar; das eine ist überhaupt nicht ohne das andere«17. Mit der Unterscheidung von

12 Vgl. dazu KRECH 1999, 66–68. 13 RENDTORFF 1969, 14f. 14 Vgl. dazu neben der nach wie vor unübertroffenen Darstellung von RENDTORFF 1966,

27–61; auch LAUBE 2004. 15 Vgl. dazu AHLERS 1980, 101–130. 16 DREHSEN 1988, Bd. 1, 86. 17 A. a. O., Bd. 1, 87f.

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Theologie und Religion kommt es also zur Ausbildung eines neuartigen theologischen Inte-resses an der religiösen Praxis, das sich vom klassischen Verständnis der Theologie als ›scien-tia practica‹ ebenso unterscheidet wie vom pastoraltheologischen Modell der Praxislehre: Die Praxis bildet nicht mehr nur den Zielpunkt der Theorie, sondern stellt zugleich ihren Aus-gangspunkt dar.18 Diese Hinwendung zur religiösen Praxis betrifft allerdings die Ausrichtung der Theologie insgesamt und lässt sich nicht schon mit der Entstehung einer Disziplin Prakti-scher Theologie gleichsetzen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die mit der Unterschei-dung von Theologie und Religion anhebende Veränderung der theologischen Gesamtlage nicht unmittelbar für die disziplinäre Begründung der Praktischen Theologie in Anspruch genommen werden kann. 2.1.3 Das Aufkommen des historischen Bewusstseins Mit der Aufklärung und ihrer kritischen Distanz gegenüber dem Geltungsanspruch der Tra-dition büßt die geschichtliche Überlieferung ihre selbstverständliche Verbindlichkeit für die Gegenwart ein. In der Folge kommt es zu einem krisenhaften Auseinandertreten beider Seiten. Die Neuzeit richtet ihren Blick in die Zukunft und überantwortet das geschichtlich Gewordene der Vergangenheit: »[D]ie Welt der geschichtlichen Herkunft und die neue Zeit mit ihrer Zukunft des Fortschritts [...] treten auseinander; die geschichtliche Kontinuität zerreißt; die neue Zeit wird zum Ende der bisherigen Geschichte«19. Damit ist die Konstella-tion benannt, auf die das erwachende historische Bewusstsein reagiert. Ihm fällt die Aufgabe zu, der Differenz zwischen Tradition und Gegenwart Rechnung zu tragen, ohne doch beide Seiten auseinanderfallen zu lassen: Das Verfahren der Historisierung bedeutet eine Relativie-rung der Tradition und eröffnet so die Möglichkeit kritisch-emanzipativer Distanznahme; umgekehrt jedoch setzt ein angemessenes Verständnis der eigenen Gegenwart die Kenntnis ihres historischen Gewordenseins voraus. In der Theologie sind es zunächst die Bibelwissen-schaften, die sich dieser Herausforderung stellen und so die neuzeitliche Autonomie im Ansatz der theologischen Arbeit verankern. Im Gegenzug entsteht in Abgrenzung von der traditionellen Dogmatik »ein neues Aufgabenfeld der systematischen Theologie, das sich in den nicht abreißenden Bemühungen niederschlägt, die[] Differenz zu verarbeiten und zu überwinden«20. Der theologische Auftrag, die Einheit des christlichen Überlieferungszusam-

18 Wolfgang Steck hingegen sieht in diesem Funktionswandel der Praxis das Charakteristi-

kum vor allem der neueren Praktischen Theologie; vgl. DERS. 1975, 69f.: »Vielleicht ist an der Verschiebung des Theorie-Praxis-Verhältnisses der Wandel in der gegenwärtigen praktischen Theologie […] am deutlichsten zu erkennen. Es wäre unzutreffend, wollte man der traditionellen praktischen Theologie vorwerfen, sie hätte die Praxis nicht be-rücksichtigt, der gegenwärtigen praktischen Theologie es dagegen zurechnen, die Praxis erst entdeckt zu haben. Die Theologie bezog sich zu allen Zeiten auf kirchliche Praxis, sie verstand sich immer als praktische Wissenschaft, nicht nur in ihrer praktischen Dis-ziplin, sondern ebenso in der Exegese wie in der Historie und vor allem natürlich in der systematischen Theologie. Was sich verändert hat, ist die Funktion der Praxis innerhalb der praktisch-theologischen Theorie. Praxis wurde nicht mehr als ein Gebiet jenseits der Theorie verstanden, als ein Feld, auf das die Theorie anzuwenden und so zu erproben sei. Praxis soll nicht nur der Zielpunkt der Theorie sein, sondern auch ihr Ausgangs-punkt werden« (ohne Kursivsetzung des Originals).

19 RITTER 2003, 211. 20 RENDTORFF 1972, 30.

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menhangs zur Geltung zu bringen, gewinnt unter den Bedingungen der geschichtlichen Differenzerfahrung einen von Grund auf neuartigen Zuschnitt. Fortan geht es darum, »das Ganze der Theologie und der christlichen Religion so zu bewähren, daß der historischen Differenz keine konstitutive Bedeutung zukommt«21. Hat sich die Theologie bisher darauf beschränken können, den christlichen Lehr- und Überlieferungszusammenhang bis zur Gegenwart einfach fortzuschreiben, steht sie nun vor der Aufgabe, ihn für die Gegenwart überhaupt erst zu rekonstruieren. 2.1.4 Der Übergang von Gott zum religiösen Bewusstsein Die religionsphilosophische Problemlage ist auf der Wende zum 19. Jahrhundert durch drei markante Daten gekennzeichnet.22 Immanuel Kant zunächst schließt im Zuge seiner erkennt-nistheoretischen Destruktion der abendländischen Metaphysik den Gottesgedanken aus dem Bereich möglicher Erkenntnis aus. Als transzendentale Bedingung der Einheit allen Wissens stellt er zwar einen notwendigen Grenzbegriff der Vernunft dar, bleibt aber zugleich inhalts-leer und erlaubt vor allem keinen Übergang zur objektiven Realität des subjektiv Gedachten. Auf diese Weise wird der traditionellen Ontotheologie mit ihrem Ausgang vom Dasein Got-tes der Boden entzogen. Eine nochmalige Verschärfung der Problemlage ergibt sich im Zuge des von Johann Gottlieb Fichte ausgelösten Atheismusstreits. Im Mittelpunkt steht hier die These, dass der Gottesgedanke kein ursprüngliches Element religiöser Gewissheit darstellt, sondern sich erst einer nachträglichen Setzung des abstrahierenden Denkens verdankt. Damit ist die Vorstellung eines an sich seienden Gottes als sekundäres Resultat endlicher Reflexion erwiesen. Pointiert zugespitzt: Nachdem Kant an die Stelle Gottes den bloßen Gottesgedan-ken gesetzt hatte, bestreitet Fichte die konstitutive Funktion dieses Gedankens für die Reli-gion überhaupt. Beim dritten Datum handelt es sich um die Pantheismusdebatte im Rahmen der Spinoza-Renaissance des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Spinozas Begriff des Absoluten scheint eine attraktive Möglichkeit zu bieten, den religionsphilosophischen Einsichten Kants und Fichtes Rechnung zu tragen, ohne sich zugleich deren reduktionistischen Konsequenzen ausliefern zu müssen. Den Schlüssel dafür bietet die Überwindung der Dichotomie von Immanenz und Transzendenz durch die Vorstellung einer im Denken selbst nachvollziehba-ren Immanenz des Absoluten: »Spinozas Verklammerung von Endlichem und Unendlichem konnte dartun, daß die Anerkennung der Grenzen der Erkenntnis das menschliche Bewußt-sein nicht zwangsläufig vor das Nichts stellte, und bot zugleich die Möglichkeit einer moder-nitätsgemäßen und modernitätstüchtigen Form religiöser Erfahrung«23. 2.1.5 Die Krise der Theologie als Wissenschaft Mit der von Kant vollzogenen Destruktion der klassischen Ontotheologie gerät schließlich auch das darauf begründete Verständnis der Theologie als Wissenschaft in die Krise. Denn der Paradigmenwechsel vom metaphysischen Gottesgedanken zum religiösen Gottesbe-wusstsein hat eine entsprechende Neufassung des Offenbarungsbegriffs zur Folge; dieser kann fortan keine übernatürliche Erkenntnisquelle mehr bezeichnen. Damit aber verliert die Theologie nicht nur ihren spezifischen Gegenstand, sondern zugleich das Erkenntnisprinzip, welches ihr bisher den Status einer selbstständigen Wissenschaft gesichert hatte. Das Fest-

21 A. a. O., 30f. 22 Vgl. zum folgenden die Skizze von BARTH 2004, bes. 270–279. 23 A. a. O., 277.

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halten am Offenbarungsbegriff wird nun nachgerade zu einer Belastung für den Wissen-schaftscharakter der Theologie; im Gegenzug freilich droht mit seiner Preisgabe der Zusam-menhang der theologischen Fächer auseinanderzubrechen und die Theologie ihre disziplinäre Selbstständigkeit zu verlieren. Exemplarisch dafür steht die Forderung Fichtes, die Theologie nur unter der Voraussetzung an der Universität zu belassen, dass sie den »Anspruch auf ihr allein bekannte Geheimnisse und Zaubermittel durch eine unumwundene Erklärung aufgiebt, laut bekennend, dass der Wille Gottes ohne alle besondere Offenbarung erkannt werden könne«24. Damit zerfällt zugleich die Einheit der Theologie, und die einzelnen Fächer werden den angrenzenden Wissenschaften zugeschlagen: »Der wissenschaftliche Nachlass dieser, als einer priesterlichen Vermittlerin zwischen Gott und den Menschen mit Tode abgegangenen Theologie an die wissenschaftliche Schule würde durch eine solche Veränderung seine ganze bisherige Natur ausziehen und eine neue anlegen. Es hat derselbe zwei Theile: ein von der Philologie abgerissenes Stück, und ein Capitel der Geschichte«25. Von der Dogmatik hinge-gen ist bei Fichte keine Rede mehr, und die Praktische Theologie gehört für ihn ohnedies »nicht zur wissenschaftlichen Kunst, sondern zu der sehr verschiedenen praktischen Kunst der Anwendung im Leben«26. 2.2 Schleiermachers enzyklopädischer Entwurf In seiner ›Kurzen Darstellung des theologischen Studiums‹ entfaltet Schlei-ermacher ein enzyklopädisches Modell, das auf die skizzierten Entwick-lungen mit einer tief greifenden Umbildung des Theologieverständnisses reagiert. Dabei gelingt es Schleiermacher, die unterschiedlichen Problem-fäden so miteinander zu verknüpfen, dass im Ergebnis das Bild einer neuen theologischen Gesamtlage entsteht.27 Den Schlüssel dafür bietet ein mehrdi-mensional angelegter Theologiebegriff. Auf der einen Seite überführt Schlei-ermacher »die Frage: Was ist Theologie? in die Frage: Wozu gibt es Theolo-gie?«28. Daraus leitet er die Bestimmung der Theologie als einer positiven Wissenschaft ab, die durch den funktionalen Bezug auf eine vorfindliche religiöse Praxis konstituiert sei. Auf der anderen Seite hält Schleiermacher zugleich an der Angabe eines spezifischen Gegenstandes der Theologie fest. Die Praxis, mit der es die Theologie zu tun habe, sei die Praxis der christli-chen Religion; insofern lasse sich die Theologie zugleich als Wissenschaft vom Christentum auffassen. Entsprechend heißt es im ersten Paragraphen der ›Kurzen Darstellung‹: »Die Theologie […] ist eine positive Wissenschaft, deren Theile zu einem Ganzen nur verbunden sind durch ihre gemeinsame Beziehung auf eine bestimmte Glaubensweise, d. h. eine bestimmte Gestal- 24 FICHTE 1846, § 22, 130. 25 A. a. O., § 26, 138. 26 A. a. O., § 22, 131. 27 Vgl. zur folgenden Darstellung von Schleiermachers Theologiebegriff neben den ent-

sprechenden Ausführungen die einschlägigen Arbeiten von Christian Albrecht in diesem Band (2.1) BIRKNER 1996b; GRÄB 2000, 87–95, RÖSSLER 1994, 18–71, 133–149; sowie SCHRÖDER 1996, 100–123.

28 BIRKNER 1996b, 292.

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tung des Gottesbewußtseins; die der christlichen also durch die Beziehung auf das Christenthum«29. Schleiermacher verschränkt in seiner Theorieanlage mithin einen formal-funktionalen und einen material-substantialen Aspekt; eben darin liegt die besondere Leistungsfähigkeit und zugleich anspruchs-volle Komplexität seines Ansatzes begründet. Zum Verständnis der Pointe, die damit verbunden ist, bedarf es jedoch zuvor einer kurzen Erinnerung an die Schleiermachersche Wissenschaftssystematik.30

Schleiermacher unterscheidet grundsätzlich zwischen zwei Arten von Wissenschaften. Auf der einen Seite stehen die reinen Wissenschaften, die sich philosophisch-spekulativ herleiten lassen, auf der anderen Seite die positiven Wissenschaften, die um der Lösung einer praktischen Aufgabe willen ausgebildet werden. Für die Begründung der reinen Wissenschaften geht Schleiermacher zurück auf den Begriff des Wissens. Er enthält als höchsten Gegensatz die Differenz von Denken und Sein. Daraus gewinnt Schleiermacher zum einen die Unterscheidung zweier Gegenstandsformen (Vernunft und Natur), zum anderen die Unterscheidung zweier Erkennt-nismethoden (Spekulation und Empirie). Werden nun beide Unterscheidun-gen wechselseitig miteinander verbunden, ergibt sich ein viergliedriges Sys-tem der Wissenschaften mit spekulativer Ethik und empirischer Geschichts-kunde einerseits sowie spekulativer Physik und empirischer Naturkunde andererseits. Hinzu kommen die auf der Seite der Vernunftwissenschaften zwischen Spekulation und Empirie vermittelnden kritischen und techni-schen Disziplinen (wie etwa Religions- und Rechtsphilosophie auf der einen, Pädagogik und Hermeneutik auf der anderen Seite); über dem Wissen-schaftsgefüge steht schließlich die Wissenschaftslehre der Dialektik.

Dieses System der Wissenschaften ist allerdings nicht identisch mit dem geschichtlich gewachsenen Aufbau der Universität, sondern hat seinen Ort allein in der philosophischen Fakultät. Die übrigen Fakultäten repräsentieren einen anderen Typus von Wissenschaft. Sie entspringen nicht dem Begriff des Wissens selbst, sondern sind aus unterschiedlichen praktischen Bedürf-nissen heraus entstanden: »Alle nothwendigen Wissenschaften faßt die Philosophie zusammen wogegen die übrigen Facultäten positive Wissenschaften enthalten. So bezweckt die Medicin die Herstellung des menschlichen Körpers in seinen NormalZustand, die Jurisprudenz die Hervorbringung des Rechtes, die Theologie die Erhaltung des christlichen Glaubens in der Gemeinschaft. Alle diese Wissenschaften sind positive, weil sie nicht blos ein Seyn darstellen, sondern eines her-vorbringen wollen«31.

29 SCHLEIERMACHER 2002, § 1, 139. 30 Vgl. zum folgenden SCHLEIERMACHER 21990, 185–225; sowie die Darstellungen von

BIRKNER 1964, 30–36; und RÖSSLER 1994, 18–71. 31 SCHLEIERMACHER 1987, § 1, 1 (ohne Kursivsetzung des Originals).

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Anders als die reinen Wissenschaften sind die positiven Wissenschaften mithin durch ihren Zweckbezug gekennzeichnet. Sie verdanken ihre Entste-hung dem wissenschaftlichen Bearbeitungs- und Regulierungsbedarf einer bestimmten Praxis; umgekehrt gewinnen sie allein im Bezug auf diese Praxis ihre innere Geschlossenheit. Die positiven Wissenschaften stellen keine homogene Einheit dar, sondern bestehen aus einer Vielzahl unterschiedli-cher Disziplinen und Methoden, die ausschließlich durch den jeweiligen Zweckbezug zu einem wissenschaftlichen Ganzen verbunden sind: »Eine positive Wissenschaft überhaupt ist […] ein solcher Inbegriff wissenschaftlicher Ele-mente, welche ihre Zusammengehörigkeit nicht haben, als ob sie einen vermöge der Idee der Wissenschaft nothwendigen Bestandtheil der wissenschaftlichen Organisation bildeten, sondern nur sofern sie zur Lösung einer praktischen Aufgabe erforderlich sind«32. Für die Theologie macht Schleiermacher diese praktische Aufgabe an der Kirchenleitung fest. Darunter fasst er keineswegs nur das pfarramtliche Handeln, sondern in betonter Weite »Alles, was in Beziehung auf die christ-liche Kirche geschehen soll«33. Dennoch ist es nicht schon die Eigendyna-mik der religiösen Praxis selbst, die zur Ausbildung einer Theologie Anlass gibt: »[D]er christliche Glaube an und für sich bedarf eines solchen Appa-rates nicht«34. Vielmehr entsteht die Nötigung zur Theologie erst auf einer bestimmten Stufe der geschichtlichen Entwicklung und setzt einen entspre-chenden Komplexitätsgrad des Christentums voraus: »Der geschichtliche Organismus des Christentums braucht nach Schleiermacher bei fortge-schrittener Ausdehnung und interner Ausdifferenzierung ein systematisch entfaltetes Regel-wissen, um die komplexen innerkirchlichen Kommunikationsprozesse sowie die Wechselwir-kung der Kirche mit der ›Welt‹ steuern zu können. Der christlichen Kirche bildet sich deshalb notwendig eine wissenschaftliche Theologie an, die diese Steuerungsaufgaben strukturiert«35. Das Christentum stellt im Zuge seiner geschichtlichen Entwicklung vor eine Vielzahl anspruchsvoller Leitungsaufgaben, zu deren Bewältigung es einer entsprechenden theoretischen Unterstützung bedarf. Das bedeutet im Um-kehrschluss, dass die Theologie zwar auf die praktische Aufgabe der Kir-chenleitung bezogen ist, an der Praxis der Kirchenleitung selbst aber nicht teilnimmt. Das sie als positive Wissenschaft konstituierende Prinzip ist der Bezug auf das Kirchenregiment, nicht jedoch das Kirchenregiment selbst.36 Die Theologie vermittelt diejenigen »wissenschaftlichen Kenntnisse und 32 SCHLEIERMACHER 2002, § 1 Zs., 140. 33 SCHLEIERMACHER 1987, § 1, 1. – Zu Schleiermachers Begriff der Kirchenleitung und

seinen verschiedenen Verwendungsweisen vgl. RÖSSLER 1994, 56–60. 34 SCHLEIERMACHER 2002, § 5 Zs., 142. 35 SCHRÖDER 1996, 102. 36 Vgl. JÜNGEL 21988, 44.

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Kunstregeln, ohne deren Besiz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche, d.h. ein christliches Kirchenregiment nicht möglich ist«37. In diesem Sinne hat sie als eine im Dienst der Praxis stehende Theorie der Praxis zu gelten, die gleichwohl ihre Aufgabe nur bei einer ent-sprechenden Unterscheidung von der Praxis zu erfüllen vermag.

Mit seiner Bestimmung der Theologie als positiver Wissenschaft stellt Schleiermacher das Theologieverständnis auf eine völlig neuartige Grund-lage. Sie wird von ihm nicht mehr auf ein exklusives Erkenntnisprinzip, einen spezifischen Gegenstand oder eine besondere Methode zurückgeführt, sondern durch die Angabe ihrer Funktion definiert. Gleichwohl ist der Theologiebegriff damit noch nicht erschöpft. Vielmehr tritt dem funktiona-len nun sogleich ein substantialer Aspekt zur Seite.38 Denn der funktionale Bezug auf die Kirchenleitung setzt ein entsprechendes Wissen um die ge-schichtliche Verfasstheit des Christentums notwendig voraus.

Angesichts der neuzeitlichen Situation des Christentums ist das kirchen-leitende Handeln angewiesen auf eine umfassende Kenntnis ihres Gegen-standes, d. h. auf einen wissenschaftlich ausgearbeiteten Wesensbegriff des Christentums: »Es wäre eine Thorheit wenn sich einer anmaßen wollte eine leitende Thätigkeit ohne eine Begriff zu haben vom Gegenstande derselben, und eine noch größere, wenn er das wollte ohne zum klaren Bewußtsein was das Christenthum sei bei sich entwikkelt zu haben und sich bewußt zu sein«39.

Der Theologie kommt mithin die Aufgabe zu, eine materiale Wesensbe-stimmung des Christentums auszuarbeiten; und diese Aufgabe tritt der funk-tionalen Ausrichtung auf die Belange der Kirchenleitung gleichrangig zur Seite. So erklärt Schleiermacher nicht nur die »Beziehung auf das Kirchen-regiment«40, sondern zugleich das gemeinsame »Interesse am Christen-thum«41 zum Kriterium und Einheitsgrund der theologischen Disziplinen. Darin schlägt sich das Bemühen nieder, im Theologiebegriff die beiden »Prinzipien«42 von Wissenschaftlichkeit und Kirchlichkeit miteinander zu vermitteln. So wie »an keine wissenschaftliche Theologie zu denken [wäre] ohne ein solches Wissen um das Christenthum«43, beruht umgekehrt auf dem »Willen, zum Besten der Kirche thätig zu seyn, […] das Leben der Theologie«44. Mithin wird die Einheit der Theologie »gerade durch

37 SCHLEIERMACHER 2002, § 5, 142. 38 Vgl. zum Folgenden die Ausführungen von SCHRÖDER 1996, 100–123. 39 SCHLEIERMACHER 1850, 24. 40 SCHLEIERMACHER 2002, § 6, 142. 41 A. a. O., § 8, 143. 42 SCHLEIERMACHER 1987, 238. 43 A. a. O., 21. 44 A. a. O., 10.

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die Verbindung von praktisch-kirchenleitendem Bezug und wissenschaftlicher Kenntnis des geschichtlichen Christentums konstituiert. […] Neben dem funktionalen Praxisbezug muß das religionsphilosophisch-kategoriale Wissen um das Christentum als zweite notwendige Bedingung für die Einheit der Theologie angesehen werden«45. Diese zentrale Bedeutung des Christentumsbegriffs bestätigt sich bei einem Blick auf die innere Gliederung der Theologie. Nicht schon der funktionale Praxisbezug, sondern erst die Wesensbestimmung des Christentums bietet das Konstruktionsprinzip, welches die theologischen Disziplinen in ihrer jeweiligen Eigenart zu bestimmen und miteinander ins Verhältnis zu setzen erlaubt. Dabei weicht Schleiermacher vom üblichen Gliederungsschema ab. Während sich im Laufe des 18. Jahrhunderts die Einteilung der Theologie in vier Hauptfächer durchgesetzt hatte – exegetische, historische, systemati-sche und praktische Theologie46 –, unterscheidet Schleiermacher nur drei Disziplinen: die Philosophische, die Historische und die Praktische Theolo-gie. Sie leisten jede für sich einen spezifischen Beitrag zur Aufgabe der We-sensbestimmung des Christentums. So ist zunächst die Philosophische Theologie damit befasst, die begrifflichen Kategorien bereitzustellen, welche das Wesen des Christentums in seinen geschichtlichen Ausprägungen zu erfassen erlauben. Es geht darum, »sowol das Wesen desselben in seinem Gegensaz gegen andere Glaubensweisen und Kirchen, als auch das Wesen der Frömmigkeit und der frommen Gemeinschaften im Zusammenhang mit den übrigen Thätigkeiten des menschlichen Geistes zu verstehen«47. Der Philosophischen Theologie kommt insofern der Rang einer Fundamen-taltheologie oder theologischen Prinzipientheorie zu. Sie findet ihre »Form«48 in den beiden Disziplinen der Apologetik und Polemik: Während erstere nach außen eine »richtige[] Dar-stellung von dem Wesen des Christenthums«49 gibt, zielt letztere auf eine Kritik der »krank-haften Abweichungen«50 nach innen.

Die Historische Theologie entfaltet »die geschichtliche Kenntniß des Christenthums«51 und übernimmt dabei die Aufgabe, den in der Philosophischen Theologie erarbeiteten We-sensbegriff am historischen Material zu bewähren. Der kategorialen Grundlegung des Chris-tentumsbegriffs tritt so die materiale Darstellung der Christentumsgeschichte zur Seite. Darin schlägt sich zugleich die Pointe des Schleiermacherschen Verfahrens nieder, begriffliche Spekulation und historische Empirie in der Wesensbestimmung miteinander zu verschrän- 45 SCHRÖDER 1996, 108 (ohne Kursivsetzung des Originals). 46 Vgl. etwa PLANCK 1794/95, Bd. 1, 89: »Man ist jetzt fast allgemein übereingekommen,

alles, was zu einer gelehrten Erkenntniß der Religion gehören soll, unter vier Hauptfä-cher zu ordnen, wovon man eines der Exegese, ein zweytes der historischen, das dritte der systematischen Theologie, und das vierte denjenigen besonderen Wissenschaften widmet, die man sehr schicklich durch den Namen der angewandten Theologie, Theolo-gia applicata, oder auch, wenn man wollte, Theologia applicatrix bezeichnen könnte«.

47 SCHLEIERMACHER 2002, § 21, 148. 48 A. a. O., § 38, 154. 49 A. a. O., § 40, 155. 50 Ebd. 51 A. a. O., § 70, 67.

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ken: Auf der einen Seite setzt die historische Rekonstruktion einen entsprechenden Begriff des Gegenstandes bereits voraus, auf der anderen Seite hat dieser Begriff nur den Status einer »hypothetisch-konstruktive[n] Formel«52, welche am historischen Stoff ihre Bewährung finden muss. Vom materialen Bestand her betrachtet bildet die Historische Theologie den »eigentliche[n] Körper des theologischen Studiums«53; sie umfaßt die Exegetische Theologie, die Kirchengeschichte sowie die Dogmatik und die kirchliche Statistik. Die Einordnung der letzten beiden, »dem gegenwärtigen Zustande des Christenthums«54 verpflichteten Diszipli-nen in die Historische Theologie begründet Schleiermacher mit dem geschichtlichen Cha-rakter des Christentums, insofern dieses »nur als Ergebniß der Vergangenheit begriffen wer-den kann«55. Freilich erschöpft sich die Aufgabe der Dogmatik nicht darin, lediglich die »zu einer gegebenen Zeit«56 in einer bestimmten Kirchengemeinschaft geltenden Lehrbestände zusammenzutragen; vielmehr hat sie diese in ihrem systematischen »Zusammenhang«57 darzustellen und bedarf dazu eines geeigneten Konstruktionsprinzips. Schleiermacher sieht dieses in der Struktur des christlich-frommen Selbstbewusstseins gegeben; entsprechend re-konstruiert er die tradierten dogmatischen Gehalte als Selbstauslegungsformen der christli-chen Frömmigkeit.

Die Praktische Theologie schließlich leistet den Übergang von der Wesensbestimmung zur Wesensgestaltung des Christentums. Anders als die Philosophische und Historische Theologie vermittelt sie keine ›Kenntnisse‹ über das Christentum, sondern formuliert »Kunst-regeln«58 für die Praxis des kirchenleitenden Handelns. Sie steht damit gleichsam zwischen Theorie und Praxis. Auf der einen Seite hebt Schleiermacher deutlich heraus, dass die Prakti-sche Theologie als Theorie der Praxis von der Praxis selbst unterschieden ist.59 Ihre Aufgabe besteht in der Ausbildung einer »Methodologie der Kirchenleitung«60. Darunter versteht Schleiermacher die »Anweisung wie etwas vollbracht werden müsse«61. Insofern obliegt der Praktischen Theologie wohl das Aufstellen von Regeln, nicht aber deren Anwendung.62 Auf der anderen Seite jedoch setzt sie dabei eine kritische Analyse der gegenwärtigen Lage des Christentums bereits voraus: »Die Praktische Theologie will nicht die Aufgaben richtig fassen lehren; sondern, indem sie dieses voraussetzt, hat sie es nur zu thun mit der richtigen Verfah-rungsweise bei der Erledigung aller unter den Begriff der Kirchenleitung zu bringenden

52 SCHRÖDER 1996, 114. 53 SCHLEIERMACHER 2002, § 27, 150. 54 A. a. O., 207. 55 A. a. O., § 26, 150. 56 A. a. O., § 97, 177. 57 Ebd. 58 A. a. O., § 265, 234. – Zu Schleiermachers Unterscheidung zwischen Kenntnissen und

Kunstregeln vgl. auch DERS. 1987, 8. 59 Vgl. dazu die berühmte Formel: »[P]raktische Theologie ist nicht die Praxis, sondern die

Theorie der Praxis« (SCHLEIERMACHER 1850, 12). Entsprechend bemängelt Schleierma-cher am Namen der Praktischen Theologie, daß »der Ausdruck praktisch den Gegensatz zu theoretisch einschließt, welcher nicht existirt, da ja die praktische Theologie selbst eine theoretische ist« (DERS. 1987, 25).

60 SCHLEIERMACHER 1987, 252. 61 A. a. O., 25. 62 Diese Regeln sind ohnehin als ›Kunstregeln‹ so verfasst, dass »die Art und Weise ihrer

Anwendung auf einzelne Fälle nicht schon mit bestimmt ist« (FRIEDRICH SCHLEI-ERMACHER 2002, § 265, 234).

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Aufgaben«63. Die Praktische Theologie ist mithin nicht selbst an der Erarbeitung einer We-sensbestimmung des Christentums beteiligt. Entsprechend steht sie in einem distanzierteren Verhältnis zur Wissenschaft; in Abgrenzung von jenen beiden Disziplinen der »scientifi-sche[n] Theologie«64 kommt ihr lediglich der Status einer »Technik«65 oder »Kunstlehre«66 zu. Umgekehrt jedoch bildet der in der Philosophischen und Historischen Theologie erarbeitete Wesensbegriff das inhaltliche Kriterium für die praktisch-theologische Strukturierung des kirchenleitenden Handelns. Der Wesensbegriff ist insofern »nicht nur theoretische Grund-kategorie zum geschichtlichen Verstehen des Christentums, sondern auch praktischer Leit-begriff zum besonnenen Einwirken auf das Christentum«67. Schleiermachers Verhältnisbestimmung von Philosophischer, Historischer und Praktischer Theologie lässt also durchaus einen inneren Richtungssinn erkennen. Die drei Disziplinen bauen in systematischer Weise aufeinander auf und stehen insofern in einem Verhältnis der »gestuften Fundierung«68 zueinander: Die Philosophische Theologie bildet »die Wurzel der […] Theologie«69, die Historische Theologie den »eigentliche[n] Körper«70 und die Praktische Theologie »die Krone des theologischen Studiums«71. Allerdings handelt es sich dabei um die Baum- und nicht etwa die Königskrone: Die Prakti-sche Theologie gilt mitnichten als die höchste der theologischen Disziplinen, sondern steht allenfalls am Ende des theologischen Studiums. Trotz dieses gestuften Abhängigkeitsverhältnisses ist Schleiermacher daran gelegen, im Gegenzug die prinzipielle Gleichrangigkeit aller drei Disziplinen zum Ausdruck zu bringen.72 Sie setzen einander wechselseitig voraus, neh-men sich gegenseitig in Anspruch und beinhalten einander in vermittelter Weise: Die Historische Theologie schließt »die 2 andern auf geschichtliche Weise in sich. Werden wir nun nicht ebenso sagen müssen, daß die praktische Theologie die 2 andern enthält auf technische Weise, und daß die philosophische Theologie beyde andern in sich schließt, aber nur implicite, weil sie die Principien enthält? Dieß ist nun eben das Wesen der Theologie als eines Ganzen, daß […] kein Theil derselben absolut ausser dem anderen ist«73. Es kann also keine Disziplin den beiden anderen als die ›eigentliche‹ übergeordnet werden; vielmehr haben alle drei im gleichen Maße Anteil an der die Theologie insgesamt konstituierenden Aufgabe. 63 A. a. O., § 260, 232. 64 SCHLEIERMACHER 1850, 26. 65 SCHLEIERMACHER 1987, 25. 66 Ebd. 67 SCHRÖDER 1996, 120. 68 BIRKNER 1996b, 295. 69 SCHLEIERMACHER 2002, § 26, 67. 70 A. a. O., § 36, 68. 71 A. a. O., § 31, 67. 72 Vgl. dazu im Einzelnen die Ausführungen von RÖSSLER 1994, 133–146. 73 SCHLEIERMACHER 1987, 28.