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Preprint, Nr. 3 Topographie pluraler Kulturen Europas in Rücksicht auf die ‚Verschiebung Europas nach Osten’ Forschungsprojekt im Rahmen der geistes-wissenschaftlichen Förderinitiative des BMBF „Geisteswissenschaften im gesellschaftlichen Dialog“ Sprecherin: Prof. Dr. Sigrid Weigel (Literatur-/ Kulturwissenschaft) Direktorin des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung [email protected] Koordinator: Dr. Martin Treml (Religionswissenschaft/ Judaistik) Forschungsdirektor des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung [email protected] Verbundpartner: Prof. Dr. Stephan Braese (Literaturwissenschaft), Institut für Literaturwissenschaft, TU Berlin [email protected] Dr. Elke Hartmann (Islamwissenschaft), Institut für Islamwissenschaft, FU Berlin [email protected] Prof. Dr. Kader Konuk (Literaturwissenschaft), University of Michigan [email protected] Prof. Dr. Magdalena Marszałek (Slavistik), Institut für Slavistik, HU Berlin [email protected] Prof. Dr. Angelika Neuwirth (Arabistik), Seminar für Semitistik und Arabistik, FU Berlin [email protected] Prof. Dr. Sylvia Sasse (Slavistik), Institut für Slavistik, HU Berlin [email protected] Dr. Franziska Thun-Hohenstein (Slavistik), ZfL [email protected] Dr. Daniel Weidner (Literaturwissenschaft), ZfL [email protected] Kooperationspartner: Arbeitskreis Moderne und Islam am Wissenschaftskolleg zu Berlin (Koordinator: Dr. Georges Khalil), seit 2002 wird hier vom ZfL in Kooperation mit der Arabistik der FU das „Berliner Seminar“ durchgeführt. Prof. Dr. Rodolphe Gasché, Comparative Literature Dept., University of Buffalo, Franz Rosenzweig-Zentrum für deutsch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte an der Hebrew University Jerusalem, Prof. Dr. Dan Diner, Simon Dubnow Institut für die Kultur und Geschichte des Judentums Leipzig, Beiratsmitglied des ZfL.

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Preprint, Nr. 3

Topographie pluraler Kulturen Europas in Rücksicht auf die ‚Verschiebung Europas nach Osten’

Forschungsprojekt im Rahmen der geistes-wissenschaftlichen Förderinitiative des BMBF

„Geisteswissenschaften im gesellschaftlichen Dialog“

Sprecherin: Prof. Dr. Sigrid Weigel (Literatur-/ Kulturwissenschaft) Direktorin des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung [email protected]

Koordinator: Dr. Martin Treml (Religionswissenschaft/ Judaistik) Forschungsdirektor des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung [email protected]

Verbundpartner: Prof. Dr. Stephan Braese (Literaturwissenschaft), Institut für Literaturwissenschaft, TU Berlin [email protected] Dr. Elke Hartmann (Islamwissenschaft), Institut für Islamwissenschaft, FU Berlin [email protected] Prof. Dr. Kader Konuk (Literaturwissenschaft), University of Michigan [email protected] Prof. Dr. Magdalena Marszałek (Slavistik), Institut für Slavistik, HU Berlin [email protected] Prof. Dr. Angelika Neuwirth (Arabistik), Seminar für Semitistik und Arabistik, FU Berlin [email protected] Prof. Dr. Sylvia Sasse (Slavistik), Institut für Slavistik, HU Berlin [email protected] Dr. Franziska Thun-Hohenstein (Slavistik), ZfL [email protected] Dr. Daniel Weidner (Literaturwissenschaft), ZfL [email protected] Kooperationspartner: Arbeitskreis Moderne und Islam am Wissenschaftskolleg zu Berlin (Koordinator: Dr. Georges

Khalil), seit 2002 wird hier vom ZfL in Kooperation mit der Arabistik der FU das „Berliner Seminar“ durchgeführt. Prof. Dr. Rodolphe Gasché, Comparative Literature Dept., University of Buffalo, Franz Rosenzweig-Zentrum für deutsch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte an der Hebrew University Jerusalem, Prof. Dr. Dan Diner, Simon Dubnow Institut für die Kultur und Geschichte des Judentums Leipzig, Beiratsmitglied des ZfL.

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Inhaltsverzeichnis

0. Kurzbeschreibung S. 2

1. Problemstellung, Fragestellungen und Zielsetzung S. 4

2. Darstellung des Forschungsstandes S. 9

3. Eigene Vorarbeiten der Antragsteller S. 13

4. Kooperationen und Arbeitsteilung im Verbund S. 18

5. Design und Methodik des Forschungsvorhabens S. 19

6. Teilprojekte S. 24

Teilprojekt 1: Berlin und der Osten. Konzepte und Bilder des Ostens

an einem Umschlagplatz europäischer Modernisierung S. 24

Teilprojekt 2: Beirut und der Westen. Perspektiven exterritorialer Europäisierung S. 30

Teilprojekt 3: Istanbul. Vom osmanischen Imperium zur türkischen Nation:

Probleme der Europäisierung und Modernisierung S. 35

Teilprojekt 4: Vilnius/ Litauen: Überdeterminierter Raum

zwischen Besatzung und nationalem Gedächtnis S. 40

Teilprojekt 5: Logiken der Freund- und Feindschaft in der Literatur des ‚Balkans’ S. 47

Teilprojekt 6: Das jüdische Odessa.

Text und Territorium, Modernisierung in der Diaspora S. 51

Teilprojekt 7: Georgien als Grenzraum und kulturelles Palimpsest S. 53

7. Erwartetes Ergebnis und Ergebnisverwertung S. 58

8. Veranstaltungen bis Ende 2007 S. 60

9. Programme der bisher gehaltenen Workshops S. 61

Literaturverzeichnis S. 64

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0. Kurzbeschreibung

Die Konflikte im Kontext der Osterweiterung, das vorläufige Scheitern des europäischen Ver-

fassungsentwurfs und die Kontroverse um den Türkeibeitritt betreffen einige Voraussetzun-

gen der Europäisierung, deren kulturgeschichtliche Dimensionen in einem interdisziplinären

Verbund kulturwissenschaftlicher und fremdsprachenphilologischer Kompetenzen am Bei-

spiel paradigmatischer topographischer Konstellationen untersucht werden sollen.

Organisierende Kriterien des Projekts sind:

- die Verschiebung Europas nach Osten und die Ungleichzeitigkeiten zwischen geo-

graphischen, politischen und kulturellen Verortungen zwischen Ost und West,

- Untersuchung der vielschichtigen Semantik des ‚Ostens’ (Ost- und Mitteleuropa,

Orient, Naher Osten, Ost-Westkonflikt etc.) und ihrer Bedeutung für das Selbstverständnis

von ‚Europa’ und ‚Modernisierung’,

- Interesse an pluralen Kulturen, die der Geschichte der Nationalstaaten vorausgegangen sind

oder sie begleitet haben und die als Schauplätze der Verhandlung kultureller Differenzen gel-

ten können,

- eine Konzentration auf die explizite und implizite Bedeutung der unterschiedlichen

Religionskulturen Europas (neben Christentum, Judentum, Islam auch die Beachtung von

West- und Ostkirche),

- eine topographische Untersuchungsanordnung mit exemplarischen Zentren und Regionen,

die Europa von den Rändern her beleuchten, welche – da Europa keine ‚natürlichen Grenzen’

hat – eine konstitutive Rolle spielen,

- Untersuchung der Wechselbeziehungen zwischen Rändern und Zentren im Hinblick auf das

Zusammenspiel zwischen den Europakonzepten/ -bildern der östlichen Kulturen und der Ost-

symbolik und -rhetorik der Metropolen,

- gemeinsame, für alle Teilprojekte geltende Untersuchungsfragen, die quer zu fachwissen-

schaftlichen Methoden und Begriffen liegen, mit folgenden Parametern: Textordnungen,

Bilderordnungen, Kleiderordnungen, Affektordnungen, Grundordnungen,

- interdisziplinärer Verbund von Teilprojekten, für die je spezifische Fachkompetenzen erfor-

derlich sind (Slavistik, Arabistik, Turkologie etc.),

Projektsprachen: Deutsch und Englisch.

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Das Projekt ist nur zu realisieren im Verbund sehr unterschiedlicher, spezifischer fachlicher

und sprachlicher Kompetenzen. Beteiligt sind die Fächer: Literatur- und Kulturwissenschaft,

Religionswissenschaft, Judaistik, Islamwissenschaft, Orientwissenschaft, Geschichte, Archäo-

logie, Philosophie, Germanistik, Arabistik, Slavistik.

Die Teilprojekte sind:

1. Berlin und der Osten. Konzepte und Bilder des Ostens an einem Umschlagplatz europäi-

scher Modernisierung

(verantwortlich: Stephan Braese/ Sigrid Weigel, Bearbeitung: Esther Kilchmann)

Die Kulturgeschichte Berlins als Transit- und Transformationsort zwischen Ost und West soll

im Hinblick auf die dort hervorgebrachte vielfältige Topographie des Ostens, die im Zusam-

menhang mit Diskursen über die ‚deutsche Kultur’, ‚Europa’ und die ‚Moderne’ steht, an ex-

emplarischen Konstellationen untersucht werden: von Königsberg-Berlin-Preußen bis Ost-

Westberlin.

2. Beirut und der Westen. Perspektiven exterritorialer Europäisierung

(verantwortlich: Angelika Neuwirth, Bearbeitung: Andreas Pflitsch)

Hier geht es um das Konzept einer anderen, gleichsam exterritorialen Europäisierung und

Modernisierung, die das Schema Orient−Okzident durchkreuzt und vom Europa-Diskurs in

der arabischen Welt einen Blick auf ‚Europa’ (zurück)wirft.

3. Istanbul. Vom osmanischen Imperium zur türkischen Nation: Probleme der Europäisierung

und Modernisierung

(verantwortlich: Kader Konuk/ Elke Hartmann, Bearbeitung: Vahé Tachjian)

Die Probleme der türkischen Modernisierung, die sich am Modell homogener europäischer

Nationalstaaten orientiert hat, sollen im Hinblick auf die Rolle zweier nicht-muslimischer

Minderheiten in diesem Prozess untersucht werden: den armenischen Entwürfen einer plura-

len Kultur und dem Beitrag deutsch-jüdischer Emigranten bei der Modernisierung der Wis-

senschaft.

4. Vilnius/ Litauen: Überdeterminierter Raum zwischen Besatzung und nationalem Gedächt-

nis

(verantwortlich: Magdalena Marszałek, Bearbeitung: Janis Augsburger)

Am Beispiel von Vilnius/ Litauen wird ein prekärer Ort in der historisch-kulturellen Karto-

graphie des 20. Jahrhunderts untersucht, an dem sich Erfahrungen politischer Raumprojektion

(der deutsche Militärstaat „Ober-Ost“ im Ersten Weltkrieg), Narrative im nationalen Ge-

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dächtnis (v.a. Polens) und Entwürfe eines „familiären Europas“ (Vilnius als ‚Sanktuarium’

einer imaginären Kartographie und als kosmopolitisches Modell) überlagern.

5. Logiken der Freund- und Feindschaft in der Literatur des ‚Balkans’

(verantwortlich: Sylvia Sasse, Bearbeitung: Miranda Jakiša)

Der Topos ‚Bosnien als Land des Hasses’ ist Ausgangpunkt für die Untersuchung einer plura-

len Kultur, die im Kontext der „Erfindung des Balkan“ (Todorova) nicht nur als Schwellen-

raum zwischen ‚Orient’ und ,Okzident’ bewertet wird, sondern auch als Kultur einer spezifi-

schen Affektökonomie: geprägt durch Rituale von Gastfreund-schaft und Verrat und Techni-

ken des Streits und der Verhandlungen.

6. Das jüdische Odessa. Text und Territorium, Modernisierung in der Diaspora

(verantwortlich: Daniel Weidner/ Martin Treml, Bearbeitung: N.N.)

Das jüdische Odessa und seine Literatur wird als kultureller Schauplatz untersucht, auf dem

zum einen das Verhältnis der religiösen Tradition des Judentums zur europäischen Moderni-

sierung verhandelt wird, zum anderen – wiederum in Anlehnung an und Absetzung gegen

Europa – ein neues utopisches Judentum im ‚Heiligen Land’ samt einer neuen Nationallitera-

tur entworfen wird.

7. Georgien als Grenzraum und kulturelles Palimpsest

(verantwortlich: Franziska Thun-Hohenstein, Bearbeitung: Zaal Andronikashvili)

Georgien wird als ein Grenzraum untersucht, in dem die Geschichte der Grenzziehung zwi-

schen ‚Osten’ und Westen’ sich als Palimpsest und Archäologie symbolischer Umbesetzun-

gen und -bewertungen darstellt: als Signatur einer heterogenen Tradition, in der Zugehörigkeit

und Genealogie im Feld von Schrift-, Bild- und Kleiderkulturen verhandelt werden.

1. Problemstellung, Fragestellungen und Zielsetzung

Das Projekt geht davon aus, dass die aktuell aufgebrochenen Konflikte – wie z.B. der

Kopftuchstreit1 oder die Kontroverse um einen möglichen Gottesbezug im europäischen Ver-

fassungsentwurf – ungeklärte Fragen des Vereinigungsprozesses an die Oberfläche gebracht

haben, die eine stärkere Berücksichtigung der (religions-)kulturellen Voraussetzungen der

Europäisierung erfordern. Wenn die programmatische Formel der EU, „aus der Vielheit zur

Einheit“, zumeist vor allem im Sinne eines Zusammenschlusses von – weitgehend monokul-

turellen – Nationalstaaten begriffen wird, dann wirft nicht nur die in Folge der Migrationsbe-

1 Aus der Fülle, oft polemischer Beiträge vor allem in der Presse ragt als kluge und systematische Übersicht heraus: Bielefeldt, Heiner: Zur aktuellen Kopftuchdebatte in Deutschland. Anmerkungen aus der Perspektive der Menschenrechte, Berlin 2004 (Policy Paper No. 3 des Deutschen Instituts für Menschenrechte).

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wegungen zunehmende Tendenz zu multikulturellen Gemeinwesen Probleme auf, sondern

auch die Tatsache, dass viele Staaten, die mit der Osterweiterung in die EU kommen, nicht

oder noch nicht als Nationalstaat verfasst sind. Und auch dort, wo einzelne Länder sich als

moderne, weitgehend monokulturelle Nationalstaaten darstellen, sind im literarischen bzw.

kulturellen Gedächtnis, in den Mythen und Bildern oft Erinnerungen an eine uneinheitliche

Vorzeit oder an eine manchmal gewaltsame Durchsetzung der Amtskultur präsent. Ohnehin

sind in der Geschichte Europas Nationalstaaten – und Nationalliteraturen – eine eher späte

Erscheinung2 und homogene Kulturen und Nationalsprachen de facto die Ausnahme,3 wes-

halb der Blick zurück und an die Ränder hilfreich erscheint für Fragen wie: Wie verhandeln

Gemeinwesen, in denen Menschen unterschiedlicher Religionen, Sprachen und Herkunft zu-

sammenleben, ihre unterschiedlichen kulturellen Normen und wie werden Differenzen ausge-

tragen? Wie werden unterschiedliche und von der Mehrheitskultur abweichende Gesetze, Kul-

te, Bekleidungs- oder Heiratsregeln praktiziert, überliefert und mit der Mehrheitskultur gere-

gelt? Aus welchen Traditionen und Grundlagen werden Gebote und Verbote legitimiert? Die

historisch und regional spezifizierten Untersuchungen zielen dabei nicht auf die Frage nach

dem wesentlich Europäischen oder nach der Geschichte Europas, sondern auf eine ‚Verviel-

fältigung der Ursprünge’, die eine neue und komplexe Einsicht in die europäische Kulturge-

schichte erlaubt.

Die „unbeantwortete Frage der Ausdehnung Europas“ wird gern damit beantwortet, dass Eu-

ropa nicht als Ort, sondern als Idee zu definieren sei,4 oder auch als Symbol. Eine solche Ver-

schiebung hilft aber insofern nicht weiter, als auch eine solche Idee beim Versuch ihrer Reali-

sierung im territorialen ‚europäischen’ Raum auf die Frage der Orte und der Verortung trifft.

Wird umgekehrt die ‚Idee Europa’ nicht als Projekt, sondern als Erbe oder Tradition verstan-

den, so steht man vor dem Problem, dass ein solcher gemeinsamer Fundus eine geteilte Über-

lieferung voraussetzt, die notgedrungen über Ein- und Ausschlüsse, über Entgegensetzungen

und Homogenisierungen funktioniert. Einige Wissenschaftler reagieren darauf mit Abstinenz

2 Das gilt auch und gerade für Deutschland, woran Heinz Schlaffer erinnert hat: Schlaffer, Heinz: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur, München 2002; vgl. auch Weigel, Sigrid: „Diesseits und jenseits des Kon-zepts der Nationalliteratur“. In: Neuland, Eva/ Ehlich, Konrad/ Roggausch, Werner (Hg.): Perspektiven der Germanistik in Europa, München 2005, S. 11–23. 3 Vgl. Geary, Patrick J.: Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen, Frankfurt a. M. 2002, S. 42: „Selbst in einem Land wie Frankreich mit seinen jahrhundertealten politischen Grenzen und einer ebenso alten Entwicklung des normativen Sprachgebrauchs sprachen im Jahr 1900 wahr-scheinlich nicht mehr als 50% französischer Männer und Frauen das Französische als Muttersprache.“ Sowie ebd., S. 33: „Im Königreich Preußen sprach man neben dem Deutschen mindestens sechs weitere Sprachen.“ In Italien bedienten sich 1860, im Jahr der Einigung, nur 2,5% der Bevölkerung der italienischen (Hoch-)Sprache, so Hobsbawn, Eric J.: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, München 1996, S. 75. 4 So mit Bezug auf Bernhard-Henri Levy bei Thiede, Carsten Peter: Europa. Werte, Wege, Perspektiven. Hg. v. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Berlin 2000, S. 23.

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gegenüber jeglichem Aktualitätsbezug, so z.B. Michael Mitterauer in seiner Wendung gegen

Jacques Le Goffs Projekt einer Buchreihe Europa bauen, mit der „Bausteine“ für den Aufbau

und Ausbau Europas geliefert werden sollen.5 Gegen ein solches Vorhaben definiert Mitterauer

den Anspruch seines Buches Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs

in folgender Entgegensetzung: „Es geht um ‚Europa erklären’, nicht um ‚Europa bauen’.“6

Das hier skizzierte Verbundprojekt versteht sein Anliegen jenseits der Gegensätze Ort – Idee,

Erbe – Projekt, bauen – erklären. Es orientiert sich nicht an der Frage, was Europa ist oder

sein soll, vielmehr gewinnt es seine Fragen aus dem ‚historischen Index’ gegenwärtiger Kon-

flikte und richtet seine Untersuchungsfragen auf deren kulturgeschichtliche Genese: gleich-

sam ein Zoom auf einzelne Schauplätze, in denen die historischen und religionskulturellen

Voraussetzungen heutiger, manchmal aporetisch erscheinender Probleme (s. Kopftuchdebatte)

erkennbar und analysierbar werden. Es folgt der Überzeugung, dass Kulturwissenschaftler

zwar keine praktischen Lösungen liefern können, wohl aber mehr vermögen als ‚erklären’,

nämlich zur komplexeren Analyse und adäquateren Betrachtung aktueller Probleme beitragen.

Im Interesse einer solchen Fragestellung ist eine Verschiebung der Perspektive gegenüber der

dominanten Historiographie Europas notwendig. Die ‚Frage nach Europa’ wurde in der Ver-

gangenheit oft im Zeichen von Umbruchs- und Krisensituationen gestellt. Sie scheint damit

nicht selten – wie auch gegenwärtig – ein Indiz der Störung zu sein, so wenn Europa sich als

Geschichte der Kriege darstellt7 oder wenn die europäische Frage als Diskurs der Krise auf-

tritt,8 ein Diskurs, der gleichsam komplementär zum Versuch erscheint, die Identität Europas

bzw. das „Erbe Europas“ zu sichern, das als universell bewertet wird. Im Unterschied zu einer

solcher Perspektive geht die hier konzipierte kulturwissenschaftliche Untersuchungsanord-

nung davon aus, dass es notwendig und hilfreich ist, sich vom Paradigma der ‚kulturellen I-

dentität’ zu lösen, dem auch und gerade der Diskurs der ‚Multikulturalität’ verhaftet ist eben-

so wie postkoloniale Theoriebildungen und die damit verbundene identity politics. Demge-

genüber wird Kultur hier vielmehr verstanden als die je spezifische Art und Weise der Her-

5 Le Goff, Jacques: „Europa bauen“. Vorwort in den Bänden der von ihm seit 1993 im Beck Verlag (München) herausgegebene Reihe Europa bauen. 6 Mitterauer, Michael: Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, München 2003, S. 8. 7 So stellt Manfred Fuhrmann fest, Europa bezeichne als politischer Begriff ursprünglich ein Katastrophengebiet, das ansonsten nichts vereinte und das auch keinen Namen hatte: Europa war das von den gotischen Horden ver-wüstete Gebiet. Fuhrmann, Manfred: Europa – Zur Geschichte einer kulturellen und politischen Idee, Konstanz 1981. 8 So weist Jacques Derrida in Das andere Kap auf den Zusammenhang zwischen einer „Bedrohlichkeit“ eines unbegrenzten, regellosen, als wild beschriebenen Gebildes und der reflexiven Geste der Selbstbesinnung hin, die seit jeher den Diskurs der „Krise Europas“ prägt. Derrida, Jacques: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, Frankfurt a. M. 1992, S. 26f.

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stellung und Darstellung, Überlieferung, Verhandlung9 von Erfahrungen und Wissen, als En-

semble von Kulturtechniken und Praktiken.

Okzidentalismus (Max Weber) – die westeuropäische Agenda der Modernisierung

Das zitierte Buch von Michael Mitterauer schließt in seinem Vorhaben, Europa zu erklären,

an Max Webers Frage an, „welche Verkettung von Umständen“ dazu geführt habe, „dass ge-

rade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch

– wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller

Bedeutung und Gültigkeit lagen“. Weber formulierte diese Frage 1920 als unvermeidliche

Fragestellung, die „der Sohn der modernen europäischen Kulturwelt“ sich im Zeichen „uni-

versalgeschichtlicher Probleme“ vorlegen müsse.10 Er hat damit die Frage nach Europa als

eine Untersuchung eingeführt, die nach den spezifischen historischen Bedingungen einer Mo-

dernisierung fragt, wie sie nur in Europa stattgefunden hat, die zugleich aber als potentiell

universell bewertet wird. Wenn Weber im folgenden argumentiert, dass die spezifischen For-

men von Wissenschaft, Kunst und Kapitalismus, wie sie in Europa existieren, „nur im Okzi-

dent“ hervorgebracht wurden, nennt er als Differenzmerkmal zu vergleichbaren Erscheinun-

gen in anderen Kulturen zumeist die Rationalität. Seine Rede von der „Sondererscheinung des

okzidentalen Kapitalismus“11 ist aber insofern irreführend, als es nicht um eine besondere,

vom Allgemeinen abweichende Entwicklung geht, sondern mit der leitmotivischen Formel

„nur im Okzident“ – „dies alles gab es nur im Okzident“ bzw. „nirgends sonst auf der Erde“ –

Europa vielmehr als singuläres Modell einer Modernisierung beschrieben wird, der damit

Modellcharakter und ein Anspruch von Universalität zukommt. In der ‚Frage nach Europa’

verbinden sich also Okzidentalismus,12 Singularität, Modernisierung und Universalität.

Während Weber die Gründe dieser einmaligen Entwicklung vor allem in der Wirtschaftsethik

des Protestantismus gesehen hat, überführt Mitterauer dessen Frage in eine weitausgreifende

sozialanthropologische Begründung der Entwicklung Europas, in dem er eine ganze Reihe

von Bedingungen nennt. Neben der Agrarrevolution, dem „Sonderweg des Feudalismus“,

9 Der Begriff der Verhandlungen schließt an Greenblatt, Stephen: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansich-ten der englischen Renaissance, Berlin 1990 an und nimmt ihn wörtlich, indem Literatur und andere kulturelle Ausdrucksformen als Schauplätze von Ver-/ Aushandlungen unterschiedlicher Traditionen, Erfahrungen und Wissensregister betrachtet werden. 10 Weber, Max: „Vorbemerkung“. In: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I (1920), Tübingen 1988, S. 1–16, hier S. 1. 11 Ebd., S. 12. 12 Wegen dieses genuinen Okzidentalismus ist es problematisch, das antieuropäische Bild des ‚Westens’ – im Gegenzug zum europäischen Orientalismus – als Okzidentalismus zu beschreiben, wie bei Margalit, Avishai/ Buruma, Ian: Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde, München 2005. Denn der Webersche Okzidentalismus ist selbst die Kehrseite des ambivalenten Bildes vom Orient, das der europäische Orientalismus entworfen hat.

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dem Buchdruck und den „gattenzentrierten“ Verwandtschaftsformen bei gelockerten Ab-

stammungsbeziehungen – auch Weber hat schon vom „Zurücktreten der Blutsverbände […]

innerhalb der okzidentalen Stadt“ gesprochen13 – spielt in Mitterauers Erklärung Europas die

Westkirche eine zentrale Rolle. Aus der Geschichte der westlichen Christenheit und der

Papstkirche, der er einen besonderen Grad an Organisiertheit zuschreibt, leitet er zentrale kul-

turelle Aspekte der europäischen Geschichte ab, die er in einer religionsvergleichenden Ar-

gumentation herausarbeitet, wobei er in diesem Zusammenhang auch die Kreuzzüge und den

Protokolonialismus des Entdeckungszeitalters als Voraussetzungen heutiger Globalisierung

analysiert. „Dass Prozesse der Globalisierung, die heute die Entwicklung der Weltgesellschaft

prägen, von Europa ihren Ausgang genommen haben, liegt auf der Hand.“14 Insofern ist es

Mitterauers Verdienst, in einer profunden, breitgefächerten Erklärung des singulären europäi-

schen Entwicklungs- und Modernisierungsprozesses gezeigt zu haben, dass diese Geschichte

eine christliche Agenda mit sich führt bzw. sich allein auf jene Entwicklungsstränge bezieht,

die dem Herrschaftsbereich der Westkirche unterlagen. Der im Anschluss an Max Weber ge-

führte Diskurs über das europäische Modell meint damit ausschließlich das römische, lateini-

sche, westliche Europa.

Pluralität von Osteuropa

Daraus erklärt sich die Tatsache, dass mit der durch das Ende des Ostblocks und die Oster-

weiterung der EU zustande gekommenen Verschiebung Europas nach Osten das bisherige

Modell ,Europa’ in Frage gestellt ist. Insofern ist es dringend geboten, eine andere Geschichte

Europas zu schreiben, die die vielfältigen Kulturen des ‚Ostens’ in den Blick nimmt, d.h. jene

Regionen, die unter der Herrschaft der Ostkirchen, im Einzugsbereich des Islams oder des

Orients standen und stehen, ebenso wie jene minoritären Kulturen, die durch die christlichen

Mehrheitskulturen dominiert wurden oder sich an sie assimiliert haben, vor allem die jüdische

Kultur. Da das dominante Konzept von Europa, das ein genuin westeuropäisches ist, aber

immer schon – in Gesten der Abgrenzung, Entgegensetzung und des Ausschlusses – Bilder

und Begriffe vom ‚Osten’ enthält (sei es von Ost- oder Mitteleuropa, von Asien, vom Nahen

Osten oder Orient), ist es nicht mit einer Untersuchung der Imagologie des Ostens getan.

Vielmehr geht es darum, die Geschichte osteuropäischer Kulturen selbst zu untersuchen, mehr

noch um die Analyse der wechselseitigen Entwürfe und Diskurse, wobei es darauf ankommt,

in der Untersuchung nicht die tradierten dichotomen Paradigmen zu wiederholen. Zielsetzung

ist vielmehr eine Vervielfältigung der Vorstellungen vom Osten, indem das Projekt sich einer 13 Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1980, S. 293. 14 Mitterauer, Michael: Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, München 2003, S. 6.

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Topographie der pluralen Kulturen zuwendet, die der – nationalstaatlichen oder sozialisti-

schen – Homogenisierung West- und Osteuropas vorausgegangen sind. Denn Vorhaben eines

‚Dialogs mit Osteuropa’, wie beispielsweise das Initiativprojekt der Bundeskulturstiftung „re-

lations“, das „Kunst- und Kulturprojekte in Ländern des östlichen Europas initiieren“ will,15

stoßen zuallererst auf die Tatsache, „dass das Gebiet des heutigen ‚Osteuropa’ keine einheitli-

che Topographie gesellschaftlicher Tatsachen repräsentiert“, sondern diese Größe, die der

Epoche der zwei Blöcke entstammt, heute in eine Pluralität und ein „geopolitisches Gefälle“

zerfallen ist.16 Dass Mitteleuropa „geographisch im Zentrum, kulturell im Westen und poli-

tisch im Osten“ liegt, wie schon Milan Kundera in den 80er Jahren bemerkte,17 macht es not-

wendig, solche Ungleichzeitigkeiten in der pluralen Semantik von Ost-West-Konzepten zu

beachten.

Eine methodische Prämisse des Verbundprojekts, um dieser Pluralität zu genügen, besteht

darin, die Genese des Ost-West-Schemas selbst zu untersuchen, und darüber hinaus, in die

Untersuchungsanordnung exterritoriale, außereuropäische Perspektiven einzubeziehen sowie

die Entgegensetzung von Osteuropa-Westeuropa durch die Vielfalt der Religionskulturen und

die Einbindung islamwissenschaftlicher bzw. arabistischer Fragen aufzubrechen. Das verbin-

det sich mit dem wissenschaftstheoretischen und -politischen Ziel des Verbunds, fachwissen-

schaftliche Kompetenzen zusammenzuführen, die im deutschen Wissenschaftsbetrieb bislang

nahezu ohne Kontakt sind. Das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung bietet sich dafür

in besonderer Weise an, da es in den vergangenen Jahren das Konzept einer breit gefächerten

interdisziplinären Kulturwissenschaft – unter Einschluss religions- und wissenschaftsge-

schichtlicher Methoden einerseits, einer Bandbreite west- und osteuropäischer Philologien

andererseits – entwickelt hat und zudem seit einigen Jahren einen intensiven Austausch mit

Kollegen aus Judaistik, Arabistik und Islamwissenschaft aufgebaut hat.

2. Darstellung des Forschungsstandes

Gegenwärtig ist eine Gleichzeitigkeit von Hervortreten und Verschwinden Europas im wis-

senschaftlichen Feld zu beobachten. Während Europa in der Geschichtswissenschaft seit ge-

raumer Zeit Konjunktur hat – sei es im Programm einer Europäisierung der Nationalge-

15 Klingan, Katrin/ Kappert, Ines/ Wellach, Peter: „Jedes Missverständnis ist ein Gottesgeschenk. Vermittlung als Wagnis und Chance. Ein Gepräch mit Thomas Krüger“. In: Read relations 2 (April 2005), S. 1–2, hier S. 1. 16 Medak, Tomislav: „Östliche Gegengeographien“. In: Read relations 2 (April 2005), S. 7. 17 Zitiert nach: Kiš, Danilo: Homo poeticus. Gespräche und Essays. Hg. v. Ilma Rakusa, Hamburg 1994, S. 58.

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schichtsschreibung,18 sei es in großräumigen Historiographien insbesondere zur Entstehung,

zur Vor- und Frühgeschichte Europas19 oder in universalgeschichtlichen Darstellungen –,

scheint Europa in den Literatur- und Kulturwissenschaften eher in den Hintergrund getreten

zu sein. Hier ist Europa in der Folge der Eurozentrismus- und Orientalismuskritik seit Edward

Said20 und der europäischen Adaption postkolonialer und multikultureller Theoriebildung der

Cultural Studies in den Schatten eines Konstrukts des ‚Westens’ getreten, das weitgehend

ohne spezifische historische Konturen bleibt – eine Art Phantombild, das zur Marginalisie-

rung von Untersuchungen spezifischer und konkreter historischer Phänomene der Kulturge-

schichte Europas geführt hat.

Dagegen nimmt die Monographie von Ute Frevert Nietzsches Stichwort vom ‚guten Europä-

er’ als transnationalem und nomadischem Denker auf, um „Euro(pa)visionen“ als Produkte

von Expansionen zu interpretieren, die entweder nach innen verlaufen wie die (freilich gera-

dezu diametralen) Exzesse Napoleons und Hitlers, oder nach außen, wie in den englischen,

französischen, aber auch iberischen und niederländischen Kolonialismen.21 Zusammengese-

hen lässt sich an ihnen auch die Frage nach den „kulturellen Grenzen in der Expansion Euro-

pas“ stellen – so der gleichnamige Aufsatz von Jürgen Osterhammel.22 Einem solchen analy-

tischen Vorhaben ist der Vorzug gegenüber einer Herangehensweise zu geben, die, ungeachtet

aller klugen Einsichten im einzelnen, die Frage nach Europa defensiv stellt und sie einzig als

eine nach dem geistigen oder kulturellen Erbe formuliert, ohne diese Prägungen aufzulösen.23

Auf welche Weise „Europa als Diskurs“ untersucht werden kann, zeigt der gute Überblick

von Bo Stråth in der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Band.24

Eine kritische Auseinandersetzung mit Konzept und Geschichte Ost- oder Mitteleuropas be-

steht erst in Ansätzen, entweder aus Anlass der gegenwärtigen Verschiebungen, wie vor allem

18 Vgl. etwa die vom MPI Geschichte durchgeführte sechzehnte Veranstaltungsreihe der Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft zur Europäisierung der deutschen Geschichte im Oktober 2001. 19 Vgl. Prinz, Friedrich: Von Konstantin zu Karl dem Großen. Entfaltung und Wandel Europas, Düsseldorf/ Zürich 2000; Brague, Rémi: Europa. Eine exzentrische Identität, Frankfurt a. M./ New York 1993; Le Goff, Jacques: Das alte Europa und die Welt der Moderne, München 1994; Bartlett, Robert: Die Geburt Europas aus dem Geiste der Gewalt. Eroberung, Kolonisierung und kultureller Wandel von 950 bis 1350, Mün-chen 1996; Duchhardt, Heinz/ Kunz, Andreas (Hg.): ‚Europäische Geschichte’ als historiographisches Problem, Mainz 1997; Schilling, Heinz: ‚Die neue Zeit’. Vom Christeneuropa zum Europa der Staaten 1250 bis 1750, Berlin 1999; Münkler, Herfried: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005. 20 Said, Edward W.: Orientalismus, Frankfurt a. M./ Berlin/ Wien 1981. 21 Frevert, Ute: Eurovisionen. Ansichten guter Europäer im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2003. 22 Osterhammel, Jürgen: „Kulturelle Grenzen in der Expansion Europas“. In: Saeculum 46 (1995), S. 101–138. 23 Vgl. Buhr, Manfred (Hg.): Das geistige Erbe Europas, Neapel 1993; Joas, Hans/ Wiegandt, Klaus (Hg.): Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt a. M. 2005. 24 Stråth, Bo (Hg.): Europe and the Other and Europe as the Other, Brüssel 2000; vgl. auch Vielhoff, Reinhold/ Segers, Rien T. (Hg.): Kultur, Identität, Europa. Über die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Konstrukti-on, Frankfurt a. M. 1999.

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bei Karl Schlögel,25 oder in historischer Untersuchungsperspektive, wie etwa bei Larry

Wolff,26 wobei die These, dass es sich bei Ost- oder Mitteleuropa um eine Konstruktion han-

delt, am radikalsten von Maria Todorova vertreten wird.27 Dabei bleibt aber unbefriedigend,

dass solche Untersuchungen als Sonderforschung und notwendige Ergänzung zu dem in der

Europaforschung dominanten westlichen Paradigma auftreten (müssen).

In der für das lateinische Europa28 ebenso wie für die gegenwärtige Renaissance der Kultur-

wissenschaft paradigmatischen Studie von Fernand Braudel zur Geschichte des Mittelmeer-

raums wird die Entstehung Europas positiv mit dem Sieg des Abendlandes bei der Eroberung

der iberischen Halbinsel verbunden, als sich eine Kultur christlicher Einheit realisierte, und

damit eigentlich als Wiederherstellung Europas durch die Reconquista beschrieben.29 Brau-

dels Darstellung zeichnet nach, wie der Name ‚Europa’ als Einheitszeichen fungiert in einer

vom Raum ausgehenden Geschichte fortschreitender Vereinheitlichung, die sich über die Stu-

fen Klima, Verkehrswege und den Sieg des Christentums vollzog. Sein Vorhaben, das Ver-

hältnis von Geschichte und Raum zu untersuchen, zeigt so auch die problematische Seite ei-

ner vom Raum ausgehenden Historiographie, die eine Ableitung von sozialen Phänomenen

und historischen Ereignissen aus den als natürlich erscheinenden spatialen Gegebenheiten

unternimmt. In dieser Komposition bilden Raum und Zeit gleichsam ein Kontinuum, in dem

die Zeit in dem Maße zunimmt, wie der Raum zurücktritt. Man könnte auch sagen, dass in

Braudels Mittelmeergeschichte die Zeit gleichsam aus dem Raum herauswächst: am Anfang

war der Raum. Dieser ist bei Braudel nämlich Anfang und Ursache anthropologischer Ge-

setzmäßigkeiten oder Regeln, die abgeleitet werden aus einer Typologie unterschiedlicher

Landschaften – Berge, Hochebenen, Ebenen etc. – die zusammen eine „Gesamtkartographie“

des Mittelmeerraumes bilden. Hiervon ausgehend folgt seine Darstellung dem Motiv einer

zunehmenden Vereinheitlichung dieses heterogenen Raums in der Geschichte, Nachahmung

einer Genese von Europa als Einheit, die über die Homogenisierung eines heterogenen Raums

entsteht. Ein Kontrastbild liefert die bereits diskutierte Studie von Mitterauer, die die Ge-

25 Schlögel, Karl: Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang, München/ Wien 2002; vgl. auch Kaser, Karl/ Gramshammer-Hohl, Dagmar/ Pichler, Robert (Hg.): Europa und die Grenzen im Kopf. Wieser Enzyklopädie des europäischen Ostens. Bd. 11, Klagenfurt 2003; Beichelt, Timm: Die Europäische Union nach der Osterweite-rung, Wiesbaden 2004. 26 Wolff, Larry: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford 1994; vgl. u.a. auch Busek, Erhard/ Wilflinger, Gerhard (Hg.): Aufbruch nach Mitteleuropa. Rekonstruktion eines versunkenen Kontinents, Wien 1986. 27 Todorova, Maria N.: Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil, Darmstadt 1999. 28 Vgl. Brague, Rémi: „Orient und Okzident. Modelle ‚römischer’ Christenheit“. In: Kallscheuer, Otto (Hg.): Das Europa der Religionen. Ein Kontinent zwischen Säkularisierung und Fundamentalismus, Frankfurt a. M. 1996, S. 46–66. 29 Braudel, Fernand: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., Bd. 2, Frankfurt a. M. 1990, S. 637.

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schichte Europas aus sozialanthropologischen Faktoren, den von Menschen gemachten Be-

dingungen erklärt. Gegenüber Braudels Einsatz des Raumes geht es in topographischen Un-

tersuchungsperspektiven darum, die kulturelle und symbolische Überlagerung geographischer

Verhältnisse zu analysieren und das Zusammenspiel von imaginärer und kulturtechnischer

Herstellung von Raum zu befragen.30

Aufgrund der prekären Liaison von Raum und nationalen Konzepten ist der philosophische

Europadiskurs31 vor allem mit dem Problem der Territorialisierung befasst, im Interesse einer

Überwindung oder Dekonstruktion territorialer Konzepte. Dafür stehen vor allem die Arbei-

ten von Massimo Cacciari und Jean-Luc Nancy. Cacciari hat den ‚Archipel’ als eine Metapher

Europas eingeführt: jede Insel ist in sich geschlossen, das Ensemble liegt insgesamt offen auf

dem Meer. Dabei wird das Archipel Europa nicht als Ursprungsmetapher, sondern als Meta-

pher der Offenheit und der Beweglichkeit gedacht, die sich gerade nicht für eine identitätsstif-

tende Figur eignet.32 Nancy beruft sich auf jenes von Carl Schmitt prolongierte Denken über

die Souveränität, in dem der Ausnahmezustand des Theologischen und Politischen zentral ist:

ein Denken, das von Alain Badiou und Giorgio Agamben weiterentwickelt wurde.33 Für Nan-

cy ist die Grenze ein Zwischenraum, Meridian im Sinn Paul Celans, von dem aus Blicke in

ganz verschiedene Richtungen getan werden können, ohne dass diese dem europäischen Di-

lemma von Autochthonie versus Entwurzelung anheimfallen.34 Doch bleiben solche philoso-

phischen oder theoretischen Ansätze solange unbefriedigend, wie es nicht gelingt, sie in histo-

riographische Projekte bzw. eine Neugier gegenüber der Geschichte zu übersetzen.

Religionswissenschaftliche Untersuchungen zu Europa sind nicht eben zahlreich: So es sie

gibt, unternehmen sie historische Längsschnitte35 oder sind am Überblick und an Systematik36

interessiert. Einen besonderen ‚europäischen‘ Sachverhalt stellt die Säkularisierung37 dar:

Gemäß der breiten und kontroversen Debatte um dieses Konzept ist das (vermutete) Ver-

schwinden der Religion in Lebens- und Wissenswelten der Kardinalgrund, warum das Chris-

30 Vgl. Weigel, Sigrid: „Zum ‚topographical turn’. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kul-turwissenschaften“. In: KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft 2.2 (2002), S. 151–165 und Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit – Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München/ Wien 2003. 31 Einen guten, sowohl systematischen als auch an Einzeldarstellungen orientierten, Überblick gibt dazu: Steg-maier, Werner (Hg.): Europa-Philosophie, Berlin/ New York 2000. 32 Cacciari, Massimo: Der Archipel Europa, Köln 1998. 33 Nancy, Jean Luc: „An der Grenze: Gestalten und Farben. Von der Vielfalt der Souveränität und der Kunst, in die Ferne zu sehen“. In: Lettre International 16 (1992), S. 12–14; ders.: „Europa: Blick in die Weite“. In: Schneider, Ulrich J./ Schütze, Jochen K. (Hg.): Philosophie und Reisen, Leipzig 1996, S.11–21. 34 In diesen Zusammenhang gehört auch das Vorhaben von Rodolphe Gasché, Kooperator des beantragten Pro-jekts, in der Linie von Husserl und Gadamer Überlegungen zu Europa anzustellen. 35 Elsas, Christoph: Religionsgeschichte Europas. Religiöses Leben von der Vorgeschichte bis zur Gegenwart, Darmstadt 2002. 36 Kallscheuer, Otto (Hg.): Das Europa der Religionen, Frankfurt a. M. 1996. 37 Lehmann, Hartmut: Säkularisierung. Der europäische Sonderweg in Sachen Religion, Göttingen 2004.

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tentum anderen Religionen (vermeintlich) als überlegen zu gelten hat. Anstatt diesen Diskurs

mit seiner immanenten Teleologie fortzuschreiben, erscheint es heute sinnvoller, die spezifi-

schen Religionskulturen auf ihren besonderen Umgang mit der Modernisierung zu untersu-

chen bzw. die spezifischen und konkreten Transfers zwischen verschiedenen Religionen ab-

seits einer normativen Annahme von dem einen okzidentalen Umgang mit Religion zu unter-

suchen, zumal dieser in den letzten Jahrzehnten gerade angesichts einer Renaissance der Reli-

gion nicht nur in der islamischen Welt, sondern auch in Afrika, beiden Amerikas, Israel und

Russland zunehmend seine Selbstverständlichkeit verloren hat.

Vor diesem Horizont geht es im beantragten Verbundprojekt darum, territoriale Ableitungen

zu unterlaufen, theoretische Konzepte zu historisieren und die gegenwärtigen Probleme im

Lichte ihrer kulturgeschichtlichen Genese zu untersuchen.

3. Eigene Vorarbeiten der Antragsteller

Die eigenen Vorarbeiten betreffen (1) die Arbeiten zur Kulturgeschichte Europas und zu is-

lamisch-arabischen Kulturen, (2) die Bemühungen um einen interdisziplinären Dialog zwi-

schen den im deutschen Universitätsbetrieb weitgehend unverbundenen Methoden der euro-

päischen Philologien und der Islamwissenschaft und (3) die Spezialforschungen zu den Un-

tersuchungsfeldern der einzelnen Teilprojekte.

(1) Einer der drei Forschungsschwerpunkte des ZfL38 ist seit 1999 der Kulturgeschichte Eu-

ropas gewidmet und zeichnet sich dadurch aus, dass hier literatur-, medien- und geschichts-

wissenschaftliche, kunst-, religions- und wissenschaftsgeschichtliche und philosophische

Kompetenzen sowie die Philologien der Germanistik, Romanistik, Slavistik und Anglistik-

Amerikanistik unter einem Dach vereint sind. Dabei wurden Methoden entwickelt, die weder

auf die Rekonstruktion einer ‚europäischen Identität’ zielen noch auf einen Vergleich starrer

Einheiten, die zuvor im Modell der ‚Nationalliteratur’ definiert wurden. Statt dessen werden

transkulturelle Perspektiven entwickelt mit Hilfe von Figuren des Europäischen39 – figurae in

der ganzen Spannbreite von rhetorischen, logischen, bildlichen Figuren über personalisierte

Figuren bis zur Figuration –, mit Hilfe topographischer Paradigmen40 und der Untersuchung

38 Nähere Informationen in der Broschüre mit dem Forschungskonzept des Zentrums, außerdem auf der Home-page: www.zfl.gwz-berlin.de. 39 Weidner, Daniel (Hg.): Figuren des Europäischen. Kulturgeschichtliche Perspektiven, München 2006; vgl. auch: Weigel, Sigrid: „Internationale Tagung. Figuren des Europäischen. Forschungsperspektiven für eine Kul-turgeschichte Europas“. In: Trajekte 3 (September 2001), S. 4–7. 40 Stockhammer, Robert (Hg.): TopoGraphien der Moderne. Medien der Repräsentation und Konstruktion von Räumen im 20. Jahrhundert, München 2005.

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von spezifischen Kulturtechniken, Schrift- und Bildkulturen.41 In diesem Zusammenhang

wurden einzelne solcher Figuren in je besonderen Workshops unter Beteiligung auswärtiger

Experten speziell untersucht: wie Bilderatlas, Übersetzung/ Übertragung, Konversion, An-

derssprachigkeit. Bei der Übersetzung ging es um die Figur der ‚doppelten Übersetzung’ zwi-

schen sakralen und profanen Texten und zwischen verschiedenen Sprachen, u.a. um Bibel-

und Koranübersetzungen. Denn die Frage der Säkularisierung, die Gegenstand eines gerade

abgeschlossenen fünfjährigen Forschungsprojekts war,42 hat für den ganzen Schwerpunkt

immer stärkere Bedeutung erhalten, nicht zuletzt auch für die Geschichte der russischen Lite-

raturgeschichte der Moderne,43 und wurde 2004 mit einer Tagung zum Thema Nachleben der

Religion(en)44 diskutiert. Dieser Frage ist auch ein in Kooperation mit dem Jerusalemer Franz

Rosenzweig Zentrum entwickeltes Forschungsprojekt gewidmet zum Thema „Transformatio-

nen von Religion in Kulturwissenschaft. Europäische Netzwerke zwischen Russland,

Deutschland und Frankreich“, an das hier unmittelbar angeschlossen werden kann.

Das methodische Konzept des ‚Nachlebens’ ist der von Aby Warburg entwickelten kulturwis-

senschaftlichen Methode entnommen.45 Denn die Arbeit an einer theoretischen Perspektive,

die die von manchen Literaturwissenschaftlern vertretene Gegenstellung von Philologie und

Kulturwissenschaft46 überwindet,47 hat im ZfL zu einer intensiven Auseinandersetzung mit

der ‚ersten Kulturwissenschaft’ von Autoren wie z.B. Aby Warburg, Walter Benjamin und

Erich Auerbach geführt, für die die Religionsgeschichte noch eine wichtige Rolle gespielt hat

– im Unterschied zur jüngst entstandenen ‚zweiten Kulturwissenschaft’, die ihre Anregungen

41 Vgl. Flach, Sabine/ Münz-Koenen, Inge/ Streisand, Marianne (Hg.): Der Bilderatlas im Wechsel der Künste und Medien, München 2005; sowie Münz-Koenen, Inge/ Fetscher, Justus: Pictogrammatica: die visuelle Orga-nisation der Sinne in den Medienavantgarden (1900–1938), Bielefeld 2006. 42 Figuren des Sakralen in der Dialektik der Säkularisierung (Leitung: Sigrid Weigel, Mitarbeiter: Martin Treml, Daniel Weidner, Ernst Müller). Von den zahlreichen Publikationen, die aus dem Projekt hervorgegangen sind, vgl. z.B. Treml, Martin/ Pircher, Wolfgang (Hg.): Tyrannis und Verführung, Wien 2000; Weidner, Daniel: „Zur Rhetorik der Säkularisierung“. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 78, 1 (2000), S. 95–132. 43 Sasse, Sylvia: Gift im Ohr. Zum Beichten und Gestehen in der russischen Literatur, Berlin (im Druck). 44 So der Titel der Jahrestagung 2004; vgl. Treml, Martin/ Weidner, Daniel (Hg.): Nachleben der Religionen. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zur Dialektik der Säkularisierung, München 2007. 45 Vgl. z.B. Weigel, Sigrid: „Aby Warburgs ‚Göttin im Exil’. Das Nymphenprojekt zwischen Brief und Taxo-nomie, gelesen mit Heinrich Heine“. In: Kemp, Wolfgang/ Mattenklott, Gert/ Wagner, Monika/ Warnke, Martin (Hg.): Vorträge aus dem Warburg- Haus. Bd. 4, Berlin 2000. S. 65–103; sowie dies.: „Der Märtyrer und der Souverän. Szenarien eines modernen Trauerspiels, gelesen mit Walter Benjamin und Carl Schmitt“. In: Trajekte 8 (April 2004), S. 32–38. 46 Gegenüber der im Schiller-Jahrbuch geführten Debatte, ob der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand verloren geht, praktiziert das ZfL eine Methode der Philologie als Kulturwissenschaft, die nicht vom Gegenstand ausgeht, sondern die epistemologischen und analytischen Möglichkeiten der Philologie für die Analyse kultur- und wis-senschaftsgeschichtlicher Fragen nutzt. 47 Vgl. Weigel, Sigrid: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Ben-jamin, München 2004.

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eher aus der Ethnologie erhalten hat.48 Sind diese kulturwissenschaftlichen Traditionen der

deutschen Wissenschaftsgeschichte, die nicht zu verwechseln sind mit den anglo-

amerikanischen Cultural Studies,49 in der Epoche von Poststrukturalismus, Dekonstruktion

und Postcolonial Studies in den Hintergrund geraten, so widmet sich das ZfL nicht zuletzt der

Wiederaneignung, u.a. auch mit Editionsvorhaben, z.B. zu Warburg und Auerbach. Zu Auer-

bach ist das Projekt einer Briefedition in Arbeit,50 mit der die wissenschafts- und kulturge-

schichtlichen Kontexte seiner Arbeit u.a. in Istanbul erkennbar werden sollen, die hier für das

Teilprojekt 3 (Istanbul) relevant sind. Ferner können die Forschungen des hier beantragten

Verbundprojekts an diejenigen zu Tradition und kulturellem Erbe anschließen, die im ZfL mit

einem gerade abgeschlossenen Projekt zum „Konzept der Generation“51 und mit einem darauf

aufbauenden Projekt zu „Erbe, Erbschaft, Vererbung. Überlieferungskonzepte zwischen Natur

und Kultur im historischen Wandel“52 erforscht werden.

Angelika Neuwirths Arbeiten zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf der Basis von For-

schungen zur klassischen, auch religiösen arabischen Schrifttradition53 – hier ist sie eine der

herausragenden Experten – die moderne arabischsprachige Literatur auf ihre Auseinanderset-

zung und Umgangsweise mit der Tradition und dem Kanon hin untersucht hat.54 Nicht zuletzt

durch ihre langjährige Tätigkeit als Leiterin des „Orient Institute of the German Oriental So-

ciety“55 in Beirut und die dadurch gewonnenen subtilen Kenntnisse der Kultur in der Region

48 Vgl. die Bestandaufnahme dieser neuen Kulturwissenschaft in Neumann, Gerhard/ Weigel, Sigrid (Hg.): Les-barkeit der Kultur. Literaturwissenschaft zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, München 2000. 49 Zur Differenz vgl. Weigel, Sigrid: „Zum ‚topographical turn’. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften“. In: KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft 2.2 (2002), S. 151–165. 50 Vialon, Martin: „Ein Exil-Brief Erich Auerbachs aus Istanbul an Freya Hobohm in Marburg, versehen mit einer Nachschrift von Marie Auerbach (1938)“. In: Trajekte 9 (Oktober 2004), S. 8–17. 51 Weigel, Sigrid/ Parnes, Ohad/ Vedder, Ulrike/ Willer, Stefan (Hg.): Generation. Zur Genealogie des Konzept – Konzepte von Genealogie, München 2005; Weigel, Sigrid: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften, München 2006; Willer, Stefan: „Die Kunst zu erben. Zur Debatte über die Flick Collection“. In: Merkur 58 (2004), S. 1125–1130; ders.: „Politik der Aneignung. Die ‚Erbtheorie’ in den Weimarer Beiträgen der siebziger Jahre“. In: Weimarer Beiträge 51 (2005), S. 44–64. 52 Forschungsprojekt in Kooperation mit B. Jussen (Bielefeld), gefördert im Rahmen der „Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften“ der VolkswagenStiftung. 53 Bauer, Thomas/ Neuwirth, Angelika (Hg.): Ghazal as World Literature I: Transformations of a literary genre, Beirut/ Würzburg 2005; Neuwirth, Angelika/ Hess, Michael/ Pfeiffer, Judith / Sagaster, Börte (Hg.): Ghazal as World Literature II: From a Literary Genre to a Great Tradition. The Ottoman Gazel in context, Beirut/ Würz-burg 2005. 54 Vgl. etwa die Beiträge von Neuwirth, Angelika: „Hebräische Bibel und Arabische Dichtung: Mahmud Dar-wish und seine Rückgewinnung Palästinas als Heimat aus Worten“. In: Neuwirth, Angelika/ Pflitsch, Andreas/ Winckler, Barbara (Hg.): Arabische Literatur, postmodern, München 2004, S. 136–157; dies.: „Traditionen und Gegentraditionen im Land der Bibel. Emil Habibis Versuch einer Entmythisierung von Geschichte“. In: ebd., S. 158–178; dies.: „From Sacrilege to Sacrifice. Observations on Violent Death in Classical and Modern Arabic Poetry“. In: Pannewick, Friederike (Hg.): Martyrdom in Literature. Visions of Death and Meaningful suffering in Europe and the Middle East from Antiquity to Modernity, Wiesbaden 2004, S. 259–282. 55 Vgl. etwa Neuwirth, Angelika/ Pflitsch, Andreas (Hg.): Crisis and Memory in Islamic Societies. Proceedings of the third Summer Academy of the working Group Modernity and Islam held at the Orient Institute of the Ger-man Oriental Society in Beirut, Beirut/ Würzburg 2001.

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konnten diese Kenntnisse und die dadurch gewonnen Kontakte sowohl in die Arbeit des „Ar-

beitskreises Moderne und Orient“ am Wissenschaftskolleg zu Berlin als auch in die Verant-

wortung mehrerer arabistischer Publikationsreihen eingebracht werden, wie Literaturen im

Kontext (hg. zus. mit Furrer, Pannewick, Wielandt, Würsch, bisher 20 Bde.), Ex Oriente Lux.

Rezeptionen und Exegesen als Traditionskritik (zus. mit Bruckstein, Kermani, Pflitsch, bisher

5 Bde.), und Diskurse der Arabistik (zus. mit Bobzin, bisher 8 Bde.). In diesem Zusammen-

hang spielt das Bemühen um einen Austausch mit der Judaistik bzw. der jüdischen Kultur

eine wichtige Rolle.

Ebenso wie im ZfL wird im Forschungskontext von Neuwirth die Nachwuchsförderung groß

geschrieben. Andreas Pflitsch, einer ihrer langjährigen Mitarbeiter und Mitherausgeber zahl-

reicher Bände,56 hat sich als Experte für die moderne libanesische Literatur hervorgetan und

dafür das Konzept der interaction entwickelt.57 Er ist damit prädestiniert für die Bearbeitung

des Teilprojekts 2 (Beirut). Elke Hartmann ist als Historikerin und Islamwissenschaftlerin mit

Arbeiten zur Geschichte der armenischen Kultur und der türkischen Armenienpolitik hervor-

getreten. Kader Konuk hat sich mit einer einschlägigen Monographie zur englisch-, deutsch-

und türkischsprachigen Literatur türkischer Autorinnen qualifiziert58 und sich auf die Erfor-

schung des deutsch-türkischen Kultur- und Literaturtransfers spezialisiert. Beide Vorarbeiten

bilden die Grundlage für die Konzeption des Teilprojekts 3 (Istanbul).

Stephan Braese hat sich als Literaturwissenschaftler auf der Basis einer breit gefächerten lite-

raturhistorischen Qualifikation der deutschen Literaturgeschichte vom 18. Jahrhundert bis zur

Gegenwart in der Erforschung der deutsch-jüdischen Literatur hervorgetan59 und sich im Zu-

sammenhang der Nachkriegskultur insbesondere auch mit den konfliktreichen Verhandlungen

unterschiedlicher Erinnerungskulturen zwischen literarischem und juristischem Diskurs be-

schäftigt.60

56 Vgl. neben den in Anm. 17 und 18 genannten Titeln z.B. Neuwirth, Angelika/ Pflitsch, Andreas: Agonie und Aufbruch. Neue libanesische Prosa, Beirut 2000. 57 Pflitsch, Andreas/ Winckler, Barbara (Hg.): Poetry’s Voice, Society`s Norms. Forms of Interaction between Middle Eastern Writers and their Societies, Wiesbaden 2006. 58 Konuk, Kader: Identitäten im Prozeß: Literatur von Autorinnen aus und in der Türkei in deutscher, englischer und türkischer Sprache, Essen 2001; Gelbin, Cathy S./ Konuk, Kader/ Piesche, Peggy (Hg.): AufBrüche: Kultu-relle Produktionen von Migrantinnen, Schwarzen und jüdischen Frauen in Deutschland, Königstein/ Taunus 1999; Konuk, Kader: „Ethnomasquerade in Ottoman-European Encounters: Re-enacting Lady Mary Wortley Montagu“. In: Criticism 46, 3 (2004), S. 393–414.59 Vgl. etwa Braese, Stephan: Die andere Erinnerung – Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegslitera-tur, Berlin 2001; Braese, Stephan (Hg.): In der Sprache der Täter. Neue Lektüren deutschsprachiger Nach-kriegs- und Gegenwartsliteratur, Opladen 1998. 60 Braese, Stephan (Hg.): Rechenschaften. Juristischer und literarischer Diskurs in der Auseinandersetzung mit den NS-Massenverbrechen, Göttingen 2000; Braese, Stephan/ Gehle, Holger/ Kiesel, Doron/ Loewy, Hanno (Hg.): Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust, Frankfurt a. M. 1998.

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(2) Aufgrund der Tatsache, dass aus der Vergleichenden Literaturwissenschaft in deutschen

Universitäten die arabistische Literatur ausgeschlossen ist und auf der anderen Seite in den

deutschen Islam- und Orientwissenschaften literatur- und kulturwissenschaftliche Methoden

nur marginal vertreten sind, wurde 2002 eine Kooperation begonnen zwischen Wissenschaft-

lern aus dem ZfL und Vertretern der Arabistik aus der FU Berlin, das Berliner Seminar, das –

geleitet 2002-2005 von Neuwirth/ Pannewick und Weigel/ Treml – seither regelmäßig am

Wissenschaftskolleg zu Berlin durchgeführt wird und für das vom Wissenschaftskolleg

Juniororfellows aus arabistischen Kontexten eingeladen werden. Ein erstes Ergebnis dieser

Kooperation sind vergleichende Studien zum Phänomen des Märtyrers in Tradition und Ge-

genwart, das durch die ‚Selbstmordattentäter’ eine erschreckende Aktualität erhalten hat.61 Im

Anschluss an zwei Tagungen zum Thema wurde nun ein DFG-Forschungsprojekt zu „Figura-

tionen von Märtyrern in nahöstlicher und europäischer Literatur“ entwickelt, in dem islami-

sche, christliche und jüdische Traditionen untersucht werden und das seit Sommer 2005 am

ZfL angesiedelt ist. Die Kooperation zwischen ZfL und Arabistik stellt eine absolute Aus-

nahme und zugleich eine unabdingbare Voraussetzung für das beantragte Verbundprojekt dar,

da ansonsten Kooperationen, die germanistische, slavistische, judaistische und arabistische

Kompetenzen wie auch Methoden der Literatur-, Kultur- und Religionswissenschaft verbin-

den, unseres Wissens nicht existieren.

(3) An Spezialforschungen werden im folgenden nur jene Arbeiten genannt, die direkte Vor-

arbeiten zur Bearbeitung der Teilprojekte darstellen:

1. Berlin und der Osten: Stephan Braese arbeitet an einem Projekt zu „Deutsch als jüdischer

Sprachkultur und als Wissenschaftssprache in Europa“; Sigrid Weigel hat Beiträge sowohl

zur Stadtgeschichte als auch zur Praxis der Säkularisierung bei Autoren wie Heine, Benjamin,

Arendt und Taubes vorgelegt; Esther Kilchmann hat im Herbst 2006 eine Dissertation zum

Thema Prekäre Einheit. Herkunftsszenarien zwischen Familien- und Nationsgeschichten bei

Heine, Droste-Hülshoff, Gotthelf und Gervinus (Betreuung: S. Weigel) abgeschlossen.

2. Beirut und der Westen: Neben den genannten Forschungen von Angelika Neuwirth und

Andreas Pflitsch ist die Dissertation Zweierlei Barbarei. Überlegungen zu Kultur, Moderne

und Authentizität im Dreieck zwischen Europa, Russland und arabischem Nahen Osten zu

nennen, die Pflitsch im Herbst 2006 abgeschlossen hat.

3. Istanbul: Neben den genannten Forschungen von Elke Hartmann ist das gegenwärtige For-

schungsprojekt von Kader Konuk zu deutsch-jüdischen Emigranten in Istanbul, insbesondere

61 Pannewick, Friederike (Hg.): Martyrdom in Literature. Visions of Death and Meaningful Suffering in Europe and the Middle East from Antiquity to Modernity, Wiesbaden 2004.

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Erich Auerbach, zu nennen, mit dem sie sich 2005 und 2007 als Gastwissenschaftlerin am

ZfL aufgehalten hat.

4. Vilnius/ Litauen: Sylvia Sasses Beitrag zur imaginären Konstruktion „Osteuropas“:

„Zagraničnost’ – Ausländigkeit“ in dem von W. St. Kissel/ Franziska Thun-Hohenstein he-

rausgegebenen Band Exklusion. Chronotopoi der Ausgrenzung in der russischen und polni-

schen Literatur des 20. Jahrhunderts 62 stellt ebenso eine Vorarbeit dar wie der Aufsatz von

Magdalena Marszałek „Imagination, Konstruktion und Mythographie: Bohdan-Ihor Antonyč

und die ukrainische Spätmoderne“ in dem von Kliems/ Zajac/ Raßloff herausgegebenen Band

Spätmoderne.63

5. Bosnien (Balkan): Vorarbeiten sind Sylvia Sasses Arbeiten zu Danilo Kiš wie etwa der Bei-

trag „Fiktive Geständnisse. Danilo Kiš konspirative Poetik und die Verhöre der Moskauer

Schauprozesse“, in: Poetica 33 (1–2), 2001, wie Miranda Jakišas Dissertation über Bosnien-

texte – Ivo Andrić, Meša Selimović, Dževad Karahasan, die sie im Frühjahr 2006 abgeschlos-

sen hat.

6. Das jüdische Odessa: Daniel Weidner hat sich im Zusammenhang seiner Forschungen zur

jüdischen Tradition, u.a. in seiner Monographie über Gershom Scholem, mit der Geschichte

des zionistischen Diskurses und der Palästina-Entwürfe beschäftigt, in denen die Station

Odessa eine zentrale Rolle spielt, während Martin Treml als Experte der Kulturgeschichte des

Judentums mit den hier in Frage kommenden Quellen vertraut ist.

7. Kaukasus: Franziska Thun-Hohenstein hat sich im Zusammenhang eines gerade abge-

schlossenen ZfL-Projekts zur russischen Erinnerungsliteratur des 20. Jahrhunderts u.a. mit

den Spuren verdrängter Religionskulturen und der Hegemonialstellung Moskaus beschäf-

tigt.64

4. Kooperationen und Arbeitsteilung im Verbund

Aus den im vorigen Abschnitt beschriebenen Vorarbeiten ist deutlich geworden, dass das

Verbundprojekt an bestehende Kooperationen anschließt, nun aber verschiedene Linien zu

einem gemeinsamen Verbund zusammenführt: die Kooperation zwischen ZfL und FU-

62 Sasse, Sylvia: „Zagraničnost’ – Ausländigkeit“. In: Thun-Hohenstein, Franziska/ Kissel Wolfgang S. (Hg.): Exklusion. Chronotopoi der Ausgrenzung in der russischen und polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts, München 2006, S. 213–231. 63 Magdalena Marszałek: „Imagination, Konstruktion und Mythographie: Bohdan-Ihor Antonyč und die ukraini-sche Spätmoderne“. In: Kliems, Alfrun/ Zajac, Peter/ Raßloff, Ute (Hg.): Spätmoderne. Lyrik des 20. Jahrhun-derts in Ost- Mittel-Europa. Eingrenzungen und Abgrenzungen, Berlin 2007, S. 211–225. 64 Thun-Hohenstein, Franziska: Gebrochene Linien. Autobiographisches Schreiben und Lagerzivilisation, Berlin 2007.

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Arabistik einerseits, die Verbindungen der Arabisten in die Region, die Verbindungen der

Slavisten am ZfL zu den osteuropäischen Regionen und nach Russland sowie die Kooperatio-

nen des ZfL mit Forschungszentren der deutsch-jüdischen Geschichte und Kultur wie Rosen-

zweig-Zentrum und Dubnow-Institut, in die bisher auch schon Stephan Braese integriert war.

Der Arbeitsort des Verbunds wird das ZfL sein; hier wird den Bearbeitern und auch der aus-

ländischen Kooperationspartnerin von der University Michigan ein Arbeitsplatz zur Verfü-

gung gestellt, und hier werden auch die Workshops organisiert und regelmäßige Arbeitstref-

fen durchgeführt. Die Koordination der Teilprojekte liegt in der Verantwortung von Martin

Treml. Die budgetäre Verantwortung und Außenvertretung übernimmt Sigrid Weigel. Die je

als Verantwortliche für die Teilprojekte Genannten sind für die fachspezifischen Forschungs-

fragen verantwortlich, während alle am Verbund Beteiligten gemeinsam an den methodischen

Parametern und den leitenden Untersuchungsfragen arbeiten. Die Arbeitsteilung im einzelnen:

1. Berlin und der Osten. Konzepte und Bilder des Ostens an einem Umschlagplatz europäi-

scher Modernisierung

(verantwortlich: Stephan Braese/ Sigrid Weigel, Bearbeitung: Esther Kilchmann)

2. Beirut und der Westen. Perspektiven exterritorialer Europäisierung

(verantwortlich: Angelika Neuwirth, Bearbeitung: Andreas Pflitsch)

3. Istanbul. Vom osmanischen Imperium zur türkischen Nation: Probleme der Europäisierung

und Modernisierung

(verantwortlich: Kader Konuk/ Elke Hartmann, Bearbeitung: Vahé Tachjian)

4. Vilnius/ Litauen: Überdeterminierter Raum zwischen Besatzung und nationalem Gedächt-

nis

(verantwortlich: Magdalena Marszałek, Bearbeitung: Janis Augsburger)

5. Logiken der Freund- und Feindschaft in der Literatur des ‚Balkans’

(verantwortlich: Sylvia Sasse, Bearbeitung: Miranda Jakiša)

6. Das jüdische Odessa. Text und Territorium, Modernisierung in der Diaspora

(verantwortlich: Daniel Weidner/ Martin Treml, Bearbeitung: N.N.)

7. Georgien als Grenzraum und kulturelles Palimpsest

(verantwortlich: Franziska Thun-Hohenstein, Bearbeitung: Zaal Andronikashvili)

5. Design und Methodik des Forschungsvorhabens

Die kulturwissenschaftliche Untersuchungsanordnung des Verbundprojekts verbindet eine

genealogische Untersuchungsperspektive – die Frage nach den Übergängen zwischen plura-

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len Kulturen und homogenen Nationalkulturen und die nach den ‚östlichen’ Aspekten in der

Entstehung des heute dominanten Europa-Modells, die als Geschichte der Marginalisierung,

Überlagerung und des Ausschlusses ebenso wie der Produktion von Begriffen und Bildern des

Ostens wie Europas und der Moderne untersucht wird (vgl. 1) – mit einer topographischen

Konzeption (vgl. in 2 die Braudel-Kritik). Im Unterschied zur Regionalforschung geht es hier

um die Wechselwirkungen zwischen geographischen und symbolisch-imaginären Bedeutun-

gen bzw. die Ungleichzeitigkeiten zwischen geographischen, kulturellen und politischen Vor-

stellungen in der vielfältigen Semantik des Ostens, die an exemplarischen topographischen

Konstellationen, Metropolen und Schwellen- und Grenzregionen, untersucht werden. Damit

wird auch eine bloße Umkehr der Wertung – z.B. die vielfach zu beobachtende Favorisierung

bis Idealisierung des Ausgegrenzten, der Minderheiten etc. gegenüber den Zentren und der

Mehrheitskultur – umgangen.

Die Methodik vermeidet ideologiekritische, vorurteilskritische und imagologische Ansätze,

weil diese – wie etwa in der Forschung zur Xenophobie, zur Mysogonie, zum Orientalismus

oder Antisemitismus zu sehen – oft dazu tendieren, die abwertenden Bilder in der Beschrei-

bung zu reproduzieren. Demgegenüber werden hier Wechselbeziehungen untersucht, indem

das Zusammenspiel der Konzepte von West und Ost im Diskurs über Europa, Modernisie-

rung, Osteuropa und den Orient untersucht wird. Leitend sind Fragen wie die nach der Logik

von Freund- und Feindschaften und nach den Praktiken und Strukturen der Herstellung von

Anders- und Selbstheit. Im Design der Teilprojekte ist ferner darauf geachtet, dass binäre Op-

positionen vermieden werden, stets mehrere Kulturen und Orte im Spiel sind. Im Unterschied

zu Ansätzen wie „Die Darstellung von Juden in …“ oder Ähnliches nutzt das Projekt theore-

tisch reflektierte Konstellationen und Figuren wie die des Transfers, der Übersetzung/ Über-

tragung, der Geopoetik, der Transkulturalität, der Verhandlung und des Tausches.

Diese theoretischen Suchkonzepte werden in dem Sinne historisiert, dass sie auf konkrete

kulturgeschichtliche Konstellationen und Orte bezogen werden. Von besonderem Interesse

sind dabei die Übergänge von Imperien zu Nationalstaaten und Fälle (ver)spät(et)er Nation-

werdung, in der die eigenen kulturell pluralen oder ‚unreinen Ursprünge’ vergessen oder

durch einheitliche Genealogien überlagert werden – ein Umstand, der u.a. als eine der Quellen

des europäischen Antisemitismus angesehen werden muss. Ähnliches gilt für die Erfindung

der je eigenen Minoritäten, die, als jahrhundertelange Feinde imaginiert, eher komplizierte

Nachbarschaften darstellen. Die vieldiskutierte ‚Toleranz der Imperien’ hat gerade in der –

wenn auch nur geduldeten – Vielfalt bestanden: durch die Tugend des abgewandten Rückens,

die sich in der Topographie der Stadtviertel und Quartiere materialisiert, in denen das Eigene

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performiert wird. Hier muss gefragt werden, in welcher Beziehung die oft beschworenen

Übersetzungskulturen (Paradebeispiele sind das sogenannte ‚Goldene Zeitalter’ in Spanien

und Kakanien) mit der Logik von Feindschaft oder dem System der Souveränität stehen.

In den Teilprojekten werden die Bewegungen zwischen verschiedenen Zentren und Periphe-

rien/ Rändern an konkreten historischen Beispielen und Quellen untersucht. Dabei interessiert

in der Hauptsache nicht das Phänomen von Provinzflucht versus Attraktion der Großstadt,

auch nicht die Idealisierung einer Landschaft als Ort des Ursprungs, der Kindheit, der Heimat

– wenngleich dergleichen in bestimmten Einzeluntersuchungen eine Rolle spielen mag. Städte

sind Konfliktzonen, aber auch Orte der Relativierung und Neutralisierung von Konflikten, die

im Hinterland oft gewaltsame Formen annehmen. Städte – seien sie am Rand oder im Zent-

rum gelegen – sind Stätten der Verhandlungen und Umschlagplätze.

Um die weit verbreitete, unbefriedigende Praxis vieler interdisziplinärer Projekte, die ihre

Grenzen oft in einer bloßen Summe einzelwissenschaftlicher Beiträge zu einem gemeinsamen

Thema findet, zu überwinden, werden in dem hier beantragten Verbundprojekt gemeinsame

Untersuchungsparameter entwickelt, die quer zu den Gegenständen der Einzelwissenschaften

stehen, nämlich Textordnungen, Bildordnungen, Kleiderordnungen, Affektordnungen und

Grundordnungen. Eine wichtige Aufgabe des Projekts wird darin bestehen, diese Parameter

zu entwickeln, zu diskutieren, zu erproben und als methodisches Instrumentarium für die kul-

turwissenschaftliche Forschung zu profilieren.

1. Unter Textordnungen werden nicht nur Fragen des Genres verstanden – etwa, dass in den

Literaturen des Osmanischen Reichs der Roman unbekannt und nur als ‚Import’ aus dem

Westen vorstellbar war. Hier geht es auch um Ein- und Mehrsprachigkeit, Übergänge zwi-

schen sowie Hierarchie vs. Parallelität verschiedener Sprachen, Schriftsysteme und Medien.

Diskutiert werden Probleme von Oralität und Literazität in ihren je verschiedenen Abstufun-

gen und Wertungen, überhaupt die ‚Nötigung zur Literatur’. Es geht um die Bedeutung religi-

öser Überlieferungen, Schrift und Sprache für die Kultur: Das Arabische und Hebräische bei-

spielsweise stellen lautliche Verbindungen zu eigenen imaginierten Ursprüngen dar, die sich

dem hermeneutischen Verstehen überlegen wissen, weil sie inkantatorische und magische

Elemente behaupten. An ihnen entlang und in Abgrenzung zu ihnen werden Gedichte und

Lieder geschrieben. Schönheit ist hier kein rein ästhetischer, sondern vor allem ein religiös-

kultischer Begriff. Noch die aktuelle Debatte über die Sprache, in der der Islamunterricht zu

erfolgen habe, zeugt von dieser umstrittenen Ordnung.

2. Bildordnungen. Die Bildkultur spielt gegenwärtig in den auf internationaler Bühne ausge-

tragenen Konflikten eine zentrale Rolle. Die kurze Filmpassage mit den zusammenstürzenden

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Twin Towers, die Photos aus den serbischen Lagern, dem Moskauer Theater, aus Abu Graib

und Guantanamo sind nicht nur ‚Ikonen’ der Zeitgeschichte. Sie werden auch zum ‚Argu-

ment’ in den politischen Auseinandersetzungen. Zugleich werden die Medien, wie die Videos

und Plakate, in denen Selbstmordattentäter als ‚Märtyrer’ präsentiert werden, zum instrumen-

tellen Bestandteil der Politik, zu „Weapons of War“ (Mitchell). Und obwohl der Film oft als

‚westlich’ bzw. ‚europäisch’ bewertet ist, ist er Bestandteil der globalen Popkultur geworden.

Bilder zirkulieren zwischen verschiedenen Registern, Sprachen und Kulturen. Doch mit der

gleichen Macht, mit der Bilder zur Inszenierung nationalen, kulturellen und religiösen Selbst-

verständnisses eingesetzt werden, findet ebenso eine Zerstörung von Bildern als Symptom

und Symbol für das abgelehnte ‚Andere’ statt, wird Ikonoklasmus zur Politik. Vor dem Hori-

zont einer solchen globalen Bilderpolitik muss danach gefragt werden, ob und wie unterhalb

dieser Oberfläche Spuren der kulturell sehr unterschiedlichen Bildtraditonen wirken: etwa die

enge Verknüpfung von Christentum und Ikonologie, Ikonoklasmus als Instrument des religiö-

sen Bilderstreits, das Porträt als „europäische Maske“ (Belting) und unterschiedliche Vorstel-

lungen von Intimität und Öffentlichkeit.

3. Letzteres spielt auch für die Kleiderordnungen eine wichtige Rolle, wird doch über die Be-

kleidung nicht nur die soziale, ethnische, religiöse oder geschlechtsspezifische Zugehörigkeit

markiert, sondern auch eine differenzierte Inszenierung zwischen Haus und Straße, Familie

und Öffentlichkeit, Tag und Nacht, Land und Stadt vorgenommen. Kleiderordnungen funkti-

onieren durch Markierungen, dienen der Verhüllung und dem Verbergen ebenso sehr wie der

Schaustellung und Entäußerung. Kleiderregeln sind aber auch Instrument von Privilegien und

Diskriminierungen. Zudem wird die Bekleidung oft als Zeichen der ‚Europäisierung’ interpre-

tiert und benutzt (vgl. Verbot des Fez in der Modernisierungsphase der Türkei). Strengen

Moden folgend, die sich auf die Anonymität des Althergebrachten oder auf Stimme/ Text der

Offenbarung berufen, sind sie nicht ins Belieben des/ der Einzelnen gestellt. Gerade in Reli-

gionen, in denen Formen äußerer Frömmigkeit: minutiöse Gesetz- und Gebotserfüllung über

(Un-)Heil der Seelen entscheiden, fungieren sie als deutliche Zeichen von Observanz und

Demut, von Ignoranz und Aufbegehren, von Vertrautheit und Camouflage. Kleiderordnungen

enthalten Zündstoff. Nicht zufällig ist im Streit sowohl von Religions- als auch Zivilkulturen

das Kopftuch/ der Schleier zum Marker geworden, der komplizierte Sachverhalte zu verein-

deutigen verspricht. Während der ‚Bilderstreit’ zum Repertoire kulturwissenschaftlicher Un-

tersuchungen gehört, ist jedoch der ‚Kleiderstreit’ erst wenig untersucht.

4. Affektordnungen betreffen die Frage ritueller, kultischer, medialer und individueller Modi

im Ausdruck von Gefühlen und Leidenschaften, sei es in der Intimität, in der sozialen Kom-

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munikation oder in der Öffentlichkeit. Die jüngsten, massenmedial verbreiteten Szenarien

öffentlicher kollektiver Trauer (um den Papst, um Prinzessin Diana) werfen die Frage danach

auf, ob es sich um Bedürfnisse handelt, die von der Logik der Selbstkontrolle und Affektregu-

lierung in der Moderne verfehlt wurden. Insofern muss das Schema kulturell spezifischer Af-

fektmodi und -zeichen befragt werden, die Vorstellung etwa vom ‚Pathos’ mediterraner und

osteuropäischer Kulturen, von der religiösen Ekstase, ebenso die These, dass es sich bei der

‚Liebe als Passion’ um eine „europäische Spezialität“ handelt (Nietzsche in Jenseits von Gut

und Böse). Verhandlungen zwischen unterschiedlichen Kulturen kommen häufig in nicht

leicht zu deutenden Affektzeichen zum Ausdruck. Affektregelungen sind empfindliche In-

strumente der Leitung des kulturellen Verkehrs und der Codierung des comme il faut in Fra-

gen des Geschlechts, Alters, Standes, der Religion, Zugehörigkeit, Profession. In Narrationen

bilden sie wichtige Bestandteile in Freund- und Feindmustern, die durch ihre Nuanciertheit

ebenso wie durch ihre Evidenz überzeugen wollen.

5. Der Begriff der Grundordnungen ist bewusst mehrdeutig und fragt sowohl nach der Bedeu-

tung des Bodens, d.h. territorialer Ableitungen und Begründungen, als auch nach der Grund-

ordnung im Sinne geschriebener und ungeschriebener Normen. Vielmehr geht es hier gerade

um den Transfer zwischen beiden Bedeutungen: um Symbolisierung und kulturelle Besetzun-

gen des Bodens bzw. Besetzungen mit Zeichen und Werten des ‚Eigenen’. Geographie und

Geschichte, Raum und Zeit werden in ihnen so eng wie möglich geführt, um den Gründungs-

ort mit seinen Filiationen, den Ursprungsmoment mit der Gegenwart in ‚mächtige’ Verbin-

dung zu bringen. Phantasmen der Autochthonie, des aus der mütterlichen Erde Geborensein,

sind ebenso stark wie die Imagination von Kolonien. Schließlich geht es um Verhandlungen

und Auseinandersetzungen über den verlorenen und wiederzugewinnenden Boden, ohne den

menschenwürdiges Leben unmöglich sei. Um mit ihm in ständiger, kraftspendender Verbin-

dung zu stehen, werden Korridore und Pässe geschlagen, die das ‚eigentliche’ Gebiet an seine

Exklaven bindet. ‚Besetzte Territorien’ haben in dieser Imagination eines ‚Heilsbodens’ eine

ebenso wichtige Funktion wie jene, die bereits ‚befreit’ wurden. Als unheimlich gelten Kultu-

ren, die zwar über ein ‚Stammland’ verfügen, ohne dieses aber nationalstaatlich geordnet zu

haben, wie bis vor kurzem die Armenier, oder heimatlose Kulturen, die in der Fremde leben –

wie die europäischen Juden vor der Gründung des Staates Israel.

Da es sich bei diesen Parametern um ein zu profilierendes Untersuchungsinstrument handelt,

kann nicht erwartet werden, dass dessen Umsetzung bereits in der Skizze der Teilprojekte

geschieht. Diese ist vielmehr Ergebnis und Ziel des Verbundprojektes.

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6. Teilprojekte

Teilprojekt 1: Berlin und der Osten. Konzepte und Bilder des Ostens an einem Umschlag-

platz europäischer Modernisierung

Die vielfältige Semantik des Ostens lässt sich aus der Perspektive Berlins besonders gut ana-

lysieren. Hier hat die Verschiebung Europas nach Osten durch die Auflösung des ‚Ostblocks’

nach 1989 sehr konkrete und die für Deutschland sichtbarsten und bemerkenswertesten Fol-

gen gezeitigt. Zum einen ist die Stadt, die zuvor als ‚Frontstadt’, als Tor zum realsozialisti-

schen Teil Europas und – aus umgekehrter Blickrichtung – als ‚Schaufenster des Westens’

galt, nach dem Fall der Mauer auf der europäischen Landkarte – im kulturellen Sinne – nach

Osten gerückt und nach der Osterweiterung der EU vom östlichen Rand EU-Europas weiter in

dessen Mitte. Zum anderen ist in Folge der nach 1989 einsetzenden Migrationsbewegungen

aus Osteuropa und Russland eine Pluralisierung der in der Metropole anwesenden ‚östlichen’

Kulturen zu verzeichnen. Neben der „Kleinen Türkei“ in Kreuzberg sind z.B. die Gemeinden

der jüdisch-russischen Emigranten, der Kosovo-Albaner und die im Stadtbild zahlreicher

werdenden Moscheen getreten.

Das Verschwinden der Mauer, Symbol nicht nur der Teilung der Stadt und Deutschlands,

sondern auch des Kalten Krieges im Zeichen des politischen Ost-West-Paradigmas, hat damit

eine vielfältige und vieldeutige Topographie östlicher Kulturen in der Stadt hervorgebracht,

teils auch erst wieder sichtbar gemacht. Diese erinnert an jene bis ins 18. Jahrhundert zurück-

reichende Kulturgeschichte Berlins, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die

Signaturen der ‚geteilten Stadt’ überlagert war. Was dadurch (wieder) zum Vorschein kam, ist

Berlin als Transformationsort und Transitstation zwischen West- und Osteuropa, als Um-

schlagplatz von Schriften, Theater- und Musikstücken, Moden, Essgewohnheiten und der All-

tagskultur westlicher und östlicher Kulturen, als Publikationsstätte, Archiv und Öffentlichkeit

für Druckerzeugnisse in anderen Sprachen, Alphabeten und für Schriften nicht-christlicher

Religionskulturen,65 – und damit auch als Produktionsstätte wechselnder Konzepte, Bilder

und Phantasmen des ‚Ostens’.

Diese Kulturgeschichte Berlins stellt sich heute als Serie einzelner Konstellationen dar, in

denen die Stadt in Beziehung zu unterschiedlichen, auf der Landkarte mehr oder weniger ent-

fernten Orten und fremden Kulturen getreten ist und zu denen je einzelne Forschungen vor-

65 Mattenklott, Gert (Hg.): BerlinTransit. Eine Stadt als Station, Hamburg 1987; Neiss, Marion: Presse im Tran-sit: Jiddische Zeitungen und Zeitschriften in Berlin von 1919 bis 1925, Berlin 2002; Marten-Finnis, Susanne/ Valencia, Heather: Sprachinseln. Jiddische Publizistik in London, Wilna und Berlin 1880–1930, Köln 1999.

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liegen. Zu diesen Konstellationen gehören z.B.: Königsberg-Berlin-Preußen,66 Berlin als ‚Tor

des Westens’ für die jüdische Emanzipation seit Ende des 18. Jhs.,67 die jüdischen Salons um

1800,68 die Verhandlungen zwischen Ost- und Westjudentum69/ das Scheunenviertel70, Berlin

– Polnischer Bahnhof71, der Orientalismus der Künste vom 18. Jh. bis zur Orientfaszination

der Berliner Avantgarden Anfang des 20. Jhs,72 der Transfer ‚Berlin-Moskau’,73 Ost-/ West-

berlin, die türkisch-deutsche Literatur und Popkultur.74 Diese Stationen berühren eine Topo-

graphie von Verkehrs-, Bildungs-, Lektüre- und Übersetzungswegen, die die Stadt mit unter-

schiedlichen inner- und außereuropäischen Orten im Osten oder Orient – wie z.B. Königs-

berg, Wilna, Moskau, Odessa, Budapest, Jerusalem, Istanbul, Sarajevo – verbindet und Berlin

zu einem der Knotenpunkte in einer Topographie pluraler Kulturen Europas macht. Eine zu-

sammenhängende Untersuchung dieser Kulturgeschichte Berlins als Stätte einer symbolischen

Topographie des Ostens und als Schauplatz der Verhandlungen über verschiedene, teils auch

als unvereinbar bewerteter Religions-, Sprach-, Wissens-, Ess-, Bekleidungs- und Verhaltens-

kulturen steht noch aus.

Das Teilprojekt konzentriert sich auf die Frage der Konzepte und Bilder vom ‚Osten’, die im

Zusammenhang der genannten Stationen hervorgebracht worden sind und die implizit oder

explizit die Diskurse und Selbstverständigung über die ‚deutsche Kultur’, über ‚Europa’ und

die ‚Modernisierung’ tangieren. Für ein solches Vorhaben stellen die genannten Stationen

66 Manthey, Jürgen: Königsberg – Geschichte einer Weltbürgerrepublik, München 2005. 67 Altmann, Alexander: „Das Menschenbild und die Bildung des Menschen nach Moses Mendelssohn“. In: Men-delssohn Studien 1 (1972), S. 11–28; Brenner, Michael (Hg.): Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, Mün-chen 2000; Sprengel, Peter: Populäres jüdisches Theater in Berlin von 1877–1933, Berlin 1997. 68 Hertz, Deborah: Die jüdischen Salons im alten Berlin, Bodenheim 2002; Wilhelmy, Petra: Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert, Berlin 1989. 69 Hagen, William H.: Germans, Poles, and Jews – The Nationality Conflict in the Prussian East. 1772–1914, Chicago 1980; Aschheim, Steven: Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German Jewish Consciousness 1800–1923, Madison 1982; Wertheimer, Jack: Unwelcomed Strangers. East European Jews in Imperial Germany, Oxford/ New York 1987; Adler-Rudel, Scholem: Ostjuden in Deutschland 1880–1940, Tübingen 1959; Maurer, Trude: Ostjuden in der Weimarer Republik, Hamburg 1987. 70 Geisel, Eike: Im Scheunenviertel. Bilder, Texte, Dokumente, Berlin 1981; Verein Stiftung Scheunenviertel (Hg.): Das Scheunenviertel. Spuren eines verlorenen Berlin, Berlin 1999; Helas, Horst: Juden in Berlin-Mitte. Biographien-Orte-Begegnungen, Berlin 2000. 71 Steinert, Oliver: „Berlin – Polnischer Bahnhof!“ Die Berliner Polen, eine Untersuchung zum Verhältnis von nationaler Selbstbehauptung und sozialem Integrationsbedürfnis einer fremdsprachigen Minderheit in der Hauptstadt des Deutschen Kaiserreichs (1871–1918), Hamburg 2003. 72 Berman, Nina: Orientalismus, Kolonialismus und Moderne. Zum Bild des Orients in der deutschsprachigen Kultur um 1900, Stuttgart 1997. 73 Mierau, Fritz (Hg.): Russen in Berlin: Literatur, Malerei, Theater, Film 1918–1933, Leipzig 1990; Burchard, Armory: Klubs der russischen Dichter in Berlin 1920–1941 – Institutionen des literarischen Lebens im Exil, München 2001; Schlögel, Karl: Berlin Ostbahnhof Europas. Russen und Deutsche in ihrem Jahrhundert, Berlin 1998. 74 Adelson, Leslie: ”The Turkish Turn in Contemporary German Literature and Memory Work“. In: The Germa-nic Review 77, 4 (2002), S. 326–338; Gelbin, Cathy S./ Konuk, Kader/ Piesche, Peggy.: AufBrüche: Kulturelle Produktionen von Migrantinnen, Schwarzen und jüdischen Frauen in Deutschland, Königstein/ Taunus 1999.

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eine Art Archäologie für die Untersuchung der symbolischen und imaginären Semantik des

Ostens im Kontext europäischer Modernisierung dar.

Das Teilprojekt geht von der Situation nach 1989 aus und wirft den Blick zurück auf die Ge-

schichte Berlins, deren plurale kulturelle Topographie durch eine lange Epoche der Homoge-

nisierung überlagert und verdeckt war: vor allem durch die deutsch-nationalistische Homoge-

nisierung der Nazizeit und durch eine dichotome politische Ost-West-Rhetorik in der Epoche

der zwei Blöcke, in der die Wahrnehmung religionskultureller Differenzen etwa weitgehend

verstellt war. So kann z.B. die Tatsache, dass Johannes Bobrowski sein Projekt eines Sarmati-

schen Divans (Gedichte, in denen nach seiner Aussage „die Ostvölker – Polen, Russen, Let-

ten, Litauer, Kuren, Pruzzen usw. – nach Geschichte, Lebensart etc.“75 vorgestellt werden

sollten) fallengelassen hat, als Symptom eines Schreibens im Einzugsbereich des realen Sozi-

alismus gedeutet werden – mit den Homogenisierungsgeboten des Ostblocks und Postulaten

wie Internationalismus, „Sozialismus in einem Land“ etc.. Das gesamte Werk von Bobrowski,

der 1917 in Tilsit geboren wurde und viele Jahre in Königsberg verbrachte, ist gleichwohl

geprägt von den Erfahrungen der ethnischen und kulturellen Vielfalt der Region des einstigen

Ostpreußen und des Memellandes und bildet damit eine Ausnahme nicht nur in der DDR,

sondern überhaupt unter jenen Autoren, die nach 1945 der ehemaligen deutschen Ostgebiete

literarisch zu gedenken versuchen. Sein Werk wirft damit Licht auf die Frage, welche Konse-

quenzen die Konditionen des Schreibens in Ost-Berlin für die Perspektive auf Ostmitteleuro-

pa hatten.76

Bobrowski eröffnet zugleich den Blick zurück auf die Konstellation Berlin-Königsberg, der

im Teilprojekt eine wichtige epistemische Bedeutung zukommt. Denn der Blick aus Berlin

Richtung Osten ist nicht zu rekonstruieren ohne den ihm vorgängigen Transfer von Königs-

berg Richtung Westen. Nicht nur war es Königsberg, wo – 1701 – der erste König in Preußen

gekrönt wurde; sondern diese Stadt machte – wesentlich, aber nicht ausschließlich wegen ih-

rer geopolitischen Lage – auch vor Berlin die Erfahrungen eines intensiven Kontaktes sowohl

mit Russen wie mit Juden. Die Berliner Perspektive auf Königsberg blieb – gerade, wenn sie

weiter Richtung Osten reichte – von dieser früheren, ‚näheren’ Erfahrung der Stadt am Pregel

mit ‚dem Osten’ geprägt: als Treffpunkt einer Vielzahl mittel- und ostmitteleuropäischer

75 Hier zit. nach: Gehle, Holger: „Verständigung und Selbstverständigung – Zur Prosa Johannes Bobrowskis“. In: Braese, Stephan (Hg.): In der Sprache der Täter. Neue Lektüren deutschsprachiger Nachkriegs- und Gegen-wartslitertatur, Opladen 1998, S. 79–102, hier S. 85. 76 Wieczorek, John P.: Between Sarmatia and Socialism – The Life and Works of Johannes Bobrowski, Amster-dam 1999; Albert, Peter: Die Deutschen und der europäische Osten – „Vergangenheitsbewältigung“ als Histo-rismuskritik im Erzählwerk Johannes Bobrowskis, Erlangen 1990.

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Ethnien, als Ort pluraler Kulturen77 und als Schauplatz eines durchaus konfliktreichen Auf-

einandertreffens unterschiedlicher Herkunftskulturen, mit Überschneidungen insbesondere

von Text- und Kleiderordnungen, wie es mit großer Genauigkeit in einigen Schriften jener

Juden beschrieben ist, die auf Königsberg von Osten (Salomon Maimon) oder von Westen her

(aus Kopenhagen: Isaak Euchel) trafen. Während Euchel als Aufklärer eine selbstbewusste

Partizipation der Juden am gesellschaftlichen Wandel in Europa entwarf und darin eine

grundlegende Neuregelung von Text- und Kleiderordnungen vorsah, protokollierte Maimon in

seiner Lebensbeschreibung den tatsächlichen Verlauf des Emanzipationsprozesses. Zwar ist

besonders das Werk Maimons gut erforscht78, doch die Untersuchung des Wirkens beider

Autoren im historischen und topographischen Kontext pluraler Kulturen ‚zwischen’ Königs-

berg und Berlin, z.B. im Hinblick auf die Praktiken von Übersetzung/ Übertragung und

Transkulturalität, steht noch aus.79 Darüber hinaus bleibt hier – wie im Kontext der Produkti-

on jüdischer Autoren allgemein – die Imagination eines ‚Heilsbodens’, wie sie sich in der

jüdischen Tradition des heiligen Landes entwickelt hatte, konstitutiv.

Maimons Zwischenstation in Berlin verweist zudem auf eine Urszene des deutschen Juden-

tums: Berlin als ‚Westen’ bzw. als ‚Tor zum Westen’ im Kontext der jüdischen Emanzipati-

on, wofür vor allem die Gestalt von Moses Mendelssohn bzw. sein Aufbruch nach Berlin

steht. Während Mendelssohn, als „jüdischer Sokrates“ und Held der Aufklärung kanonisiert

ist, ist erst jüngst die von ihm eingeführte besondere Textordnung in den Blick geraten: eine

differenzierte Praxis der Zweisprachigkeit (Deutsch-Hebräisch), zu der z.B. auch eine deut-

sche Übersetzung des Pentateuch in hebräischen Buchstaben gehört.80 Ähnliches gilt für die

jüdischen Salons im Berlin um 1800 wie für die russischen und jüdischen (sub-)kulturellen

Mi-

lieus im Berlin der 1920er Jahre. Gehören sie zu den Lieblingsthemen deutscher Kulturge-

schichte, so ist gleichwohl ihre Bedeutung für eine plurale kulturelle Öffentlichkeit Berlins

noch wenig erforscht. Zu untersuchen ist auch, in welchem Verhältnis die Homogenisie-

rungsbestrebungen Preußens in der nachnapoleonischen Ära mit der Stigmatisierung ostmit-

77 Zwar rekonstruiert Mantheys Geschichte von Königsberg die herausragende Bedeutung der Stadt für die euro-päische Geistesgeschichte, doch werden durch Kapitel wie „Königsbergs jüdische Minderheit“ die Parameter kultureller Identität festgeschrieben, die hier durch die Methoden dieses Projekts überwunden werden sollen. 78 Vgl. Freudenthal, Gideon (Hg.): Salomon Maimon: Rational Dogmatist, Empirical Sceptic, Dordrecht 2000; Schiffer, Leonhard: Untersuchungen zur Autobiographie Salomon Maimons. Ein Beitrag zur jüdischen Geistes-geschichte in der Zeit der jüdischen Aufklärung, Marburg 2000. 79 Dies hat beispielhaft gezeigt: Schatz, Andrea: „Kleider auf Reisen – ‚Nachahmung’ und Transkulturation in Isaac Euchels ‚Briefen des Meschullam’“. In: Brocke, Michael u.a. (Hg.): Zwischen Sprachen, Berlin (im Druck). 80 Hilfrich, Carola: Lebendige Schrift. Repräsentation und Idolatrie in Moses Mendelssohns Philosophie und Exegese des Judentums, München 2000.

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teleuropäischer Kulturen – neben den Juden vor allem die Polen81 – steht, eine Stigmatisie-

rung, die die ganze Region mit einschloss und ‚den Osten’ in jene prekäre, unscharf begrenzte

Projektionsfläche verwandelte, die später durch die nationalsozialistische Propaganda vielfäl-

tig ausgebeutet wurde. Doch auch für die Jahrzehnte zwischen den Gründerjahren und dem

Ende der Weimarer Republik galt, dass der ‚Osten’, auch wenn zu ihm eine Brücke oder ein

Tor errichtet wurde, immer eingehegt werden musste. Der damit verbundene kulturelle Wan-

del hat sich auf ganz besondere Weise in einem der wichtigsten Genres einer sich ausdifferen-

zierenden jüdischen Literatur in deutscher Sprache, der sogenannten Ghettoliteratur, niederge-

schlagen. Dort wird, flankiert von der „Erfindung des Ostjuden“82, auf die Herausforderung

vieler in Berlin und Preußen ansässiger Juden durch die Juden in den östlichen Anrainerstaa-

ten, eingegangen. Die Konstruktion von Bildern und Selbstbildern, die in diesen Texten häu-

fig über Zeichen von Bekleidung, Idiom und Essgewohnheiten funktioniert, stellt damit einen

wichtigen Beitrag für die Genese des Blicks aus Berlin auf ‚den Osten’ dar.83

Es ist bemerkenswert, dass gerade aus jüdischer Perspektive die Etablierung einer homogenen

deutschen Nationalliteratur – und der entsprechenden Literaturgeschichtsschreibung – beson-

ders scharf beobachtet und kritisiert wurde, so etwa wenn Heinrich Heine die zu Beginn des

19. Jahrhunderts sich formierende Nationalliteratur in seiner Romantischen Schule (1836)

polemisch als „neu-deutsch-religiös-patriotische Kunst“ charakterisiert.84 Heine war es auch,

der die kulturgeschichtliche Bedeutung des Orients für die europäische Moderne herausge-

stellt hat und Dichotomien wie deutsch-jüdisch, Orient-Okzident, Jerusalem-Athen in plurale

Konstellationen rückübersetzt hat, aus denen sie isoliert worden waren. So thematisiert eines

seiner Leitmotive das Zusammenspiel zwischen polytheistisch-antiken, jüdisch-christlichen

und volkstümlich-mythischen Traditionen oder auch das Dreieck zwischen Juden, Deutschen

und Orient, z.B. wenn er ironisch anmerkt, ihm sei „Judea immer als eine Art Deutschland“

erschienen, „ich möchte fast sagen als die Mark Brandenburg des Orients“.85 Damit stellt er

die kulturgeschichtliche Topographie des Orients jenem Orientalismus gegenüber, den er in

der zeitgenössischen Kunst beobachtet hat, wenn er z.B. in seinen Briefen aus Berlin (1822)

81 Hagen, William H.: Germans, Poles, and Jews – The Nationality Conflict in the Prussian East. 1772–1914, Chicago 1980; Aschheim, Steven: Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German Jewish Consciousness 1800–1923, Madison 1982. 82 Gilman, Sander L: Jüdischer Selbsthaß – Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden, Frankfurt a. M. 1993, bes. S. 190ff. 83 Glasenapp, Gabriele von/ Horch, Hans Otto: Ghettoliteratur. Eine Dokumentation zur deutsch-jüdischen Lite-raturgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005. 84 Heine, Heinrich: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Bd. 5. Hg. v. Klaus Briegleb, München 1976, S. 380. Vgl. dazu Weigel, Sigrid: „Diesseits und jenseits des Konzepts der Nationalliteratur“. In: Neuland, Eva/ Ehlich, Konrad/ Roggausch, Werner (Hg.): Perspektiven der Germanistik in Europa, München 2005, S. 11–23. 85 Heine, Heinrich: „Ludwig Marcus Denkworte“. In: ders.: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Bd. 9. Hg. v. Klaus Briegleb, München 1976, S. 175–191.

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berichtet, „was man in Berlin singt“, nämlich Melodien aus Opern im „Geiste blühender Ro-

mantik“ mit „anmutige[m] Kontrast vom ernsten Abendlande und dem heiteren Orient“.86

Neben solchen ironischen Kommentaren ist für das Teilprojekt besonders interessant, welche

Bedeutung ein exterritorialer Ort im Orient – sei es mit dem Titel des ‚Heiligen Landes’, Je-

rusalems, Judäas oder Palästinas – für die europäische Moderne gewinnt, wenn Heine und

Hegel deren Genese aus einem entgegengesetzten Bezug auf diesen Nicht-Ort ableiten. So

gründet für Hegel die Entstehung der ‚Subjektivität’, die Geburtsstunde des Selbstbewusst-

seins, im Verlust des ‚Heiligen Landes’, der sich mit der Enttäuschung der Christenheit ver-

bindet, dass die Kreuzfahrer, die sich mit dem Grab Christi in den „Besitz des höchsten Gu-

tes“ bringen wollten, dieses Grab leer vorfanden: „So gewinnt die Welt das Bewusstsein, dass

der Mensch das Dieses, welches göttlicher Art ist, in sich selbst suchen müsse“.87 Gegen ein

solches Konzept, in dem der Umschlagspunkt einer christlichen Säkularisierung, als Trans-

formation von Sinnlichkeit in ‚Geist’ – Hegel spricht vom „geistigen Fürsichsein der Person“

– einen Grundstein europäischer Modernisierung markiert, entwirft Heine eine positive Per-

spektive aus dem tatsächlichen historischen Verlust des Heiligen Landes, den die Juden durch

das biblische Exil erlitten haben, indem er die Juden, als ein Volk ohne Territorium, als Ver-

treter eines modernen Prinzips beschreibt: „denn die Juden trugen schon im Beginne das mo-

derne Prinzip in sich, welches sich heute erst bei den europäischen Völkern sichtbar entfal-

tet.“88 Dieses aus jüdischer Erfahrungsperspektive gewonnene alternative Säkularisierungs-

konzept setzt auf Kosmopolitismus und entwirft Alternativen für eine europäische Moderne

jenseits des Verbundes kulturell homogener Nationalstaaten auf territorialer Grundlage. Diese

entgegengesetzten Grundordnungen von Hegel und Heine sollen hier als Beispiel stehen für

die Untersuchung, welche Rolle exterritoriale Orte – auch als Negation – für die Entwürfe

nicht nur Europas, sondern einer spezifisch europäischen Modernisierung haben, insofern die

Semantik und Topographie des ‚Ostens’ und ‚Orients’ in die Geschichte der Säkularisierung

eingebunden ist.

86 Heine, Heinrich: „Briefe aus Berlin“. In: ders.: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Bd. 3. Hg. v. Klaus Brie-gleb, München 1976, S. 7–68, hier S. 33. 87 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Werke. Bd. 12, Frankfurt a. M. 1970, S. 471f. 88 Heine, Heinrich: „Shakespeares Mädchen und Frauen“. In: ders.: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Bd. 7. Hg. v. Klaus Briegleb, München 1976, S. 171–293, hier S. 258. Vgl. dazu Weigel, Sigrid: „‚Das Wort wird Fleisch. Und das Fleisch blutet.’ – Heinrich Heines Reflexion der Menschenrechte im Buch Gottes und in der Weltgeschichte“. In: Kruse, Joseph A./ Witte, Bernd/ Füllner, Karin (Hg.): Aufklärung und Skepsis. Internatio-naler Heine-Kongreß 1997 zum 200. Geburtstag, Stuttgart/ Weimar 1999, S. 507–525.

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Teilprojekt 2: Beirut und der Westen. Perspektiven exterritorialer Europäisierung

„Der Kanonendonner von Beirut findet sein Echo in der Brust aller Franzosen.“

(Heinrich Heine, Lutetia, 1840)

„Orient? Kaum eine Spur davon: in Kleidung und auch Gehabe und sogar

Gerüchen erschien Ost längst als West, so wie West als Ost, undsofort.“

(Peter Handke, Don Juan [erzählt von ihm selbst], 2004)

Das Modernisierungsparadigma, das auch die Diskussion außereuropäischer Gesellschaften

und Kulturen beherrscht, geht vom Konzept der ‚Übernahme’ aus und bewertet die ‚Moderne’

damit – explizit oder implizit – als singulär europäisch oder als Produkt der europäischen Ge-

schichte, das der übrigen Welt als Modell gereichen soll, an dem andere Kulturen teilhaben

können oder es, sei es in Gänze oder in Teilen, übernehmen.89 Damit wird vorausgesetzt, dass

das Übernommene oder zu Übernehmende der jeweiligen „übernehmenden“ Kultur grund-

sätzlich fremd sei. Der Gegensatz von miteinander ringender ‚eigener’, ‚indigener’ Tradition

und (europäischer) Moderne hat sich als idealtypische und ubiquitäre Formel im politischen

und kulturellen, aber auch im wissenschaftlichen Diskurs bis heute behauptet (im „Westen“

wie im Rest der Welt). Auf dieser Grundlage werden der Charakter und die Fortschritts- und

Entwicklungstauglichkeit einer Gesellschaft oft als spezifisches Mischverhältnis von Traditi-

on und Moderne beschrieben. Die dieser Gegensätzlichkeit entwachsenden Spannungen sind

besonders intensiv im Verhältnis zwischen Europa und der arabisch-islamischen Welt seit

dem 19. Jahrhundert zu beobachten. Da dieses Paradigma nicht nur von einem stark vereinfa-

chenden Bild der arabischen Welt (die trotz gewachsenem Problembewusstsein weiterhin von

orientalistischen Projektionen geprägt bleibt90), sondern auch von einem nicht weniger mono-

lithischen Bild von ‚Europa’ ausgeht, verspricht eine kritische Revision dieses Modells aus

der Perspektive Beiruts neue Einsichten in die kulturellen und sozialen Bestimmungen Euro-

pas und der Europäisierung. Da Beirut heute als herausragender Ort eines „exterritorialen Eu-

ropa“ in der arabischen Welt betrachtet wird, eröffnet der Blick von der ostmediterranen Peri-

pherie solche Betrachtungsweisen auf die Konstruktion ‚Europas’ und das Zusammenspiel

89 Für eine selten konzise Klärung einschlägiger Begriffe wie „Übernahme“, „Transfer“, „Rezeption“, „Aus-tausch“, „Nachahmung“, „Plünderung“, „Akkomodation“, „Aneignung“, „kulturelle Übersetzung“ siehe Burke, Peter: „Kultureller Austausch“. In: ders.: Kultureller Austausch, Frankfurt a. M. 2000, S. 9–40. 90 Die von Said, Edward: Orientalism, London 1978 ausgelöste Diskussion hat eine Fülle von Forschungslitera-tur (einschließlich von Kritik an Saids Buch), theoretischen Weiterentwicklungen und Einzeluntersuchungen historischer und literaturwissenschaftlicher Art nach sich gezogen. Unbedingt zu berücksichtigen ist das auf den Orientalismus antwortende Phänomen der Selbst-Orientalisierung und überhaupt die diskursiven Rückkopp-lungsprozesse.

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von Modernisierung und Europäisierung, wie sie aus der Binnenperspektive weniger leicht

erkennbar sind.

Vor diesem Hintergrund geht es darum, den herkömmlichen Diskurs über Kultureinflüsse,

Modernisierung, Verwestlichung und den damit verbundenen asymmetrischen Gegensatz von

Europa und Orient zu überschreiten und statt dessen die Geschichte der Modernisierung auf

das Zusammenspiel der Konzepte von Ost und West, Orient und Okzident, Europa und arabi-

scher Welt hin zu untersuchen.91 In der arabischen Welt wie in Europa wurde und wird Ver-

westlichung zumeist als Synonym für Modernisierung verwendet, und auf beiden Seiten ist

die Tendenz zu beobachten, die Werte der Moderne als ‚westliche Werte’ zu betrachten. So

stehen sich ein Europa, das seine Errungenschaften als Leitkultur reklamiert, und eine sich auf

vermeintliche Traditionen zurückziehende arabisch-islamische Welt nicht selten spiegelbild-

lich gegenüber, während de facto vieles, was heute als westlich wahrgenommen oder be-

zeichnet und entweder stolz angenommen oder feindselig abgelehnt wird, längst universelle

Gültig- und unhintergehbare Wirksamkeit erlangt hat.92 Denn europäischer Exzeptionalismus

– und das Bild des ‚Westens’ – und islamistischer Fundamentalismus entwachsen denselben

Prämissen eines ambivalenten Begriffs von ‚Moderne’93, der diese gleichermaßen mit Ver-

sprechungen wie Enttäuschungen, mit Attributen von Allmacht wie Gefahr auflädt.

Das Bewusstsein für eine gemeinsame Geschichte – und für die im doppelten Sinne geteilte

Erinnerung an diese Geschichte – kommt dagegen vor allem in der Literatur zum Ausdruck.

So knüpfen arabische Autoren der jüngeren Generation mit ihren Werken an die levantinische

Tradition an, oder genauer: sie reaktualisieren diesen Mythos oder erfinden ihn neu. Histori-

sche Romane wie Les échelles du Levant (1996) und Le périple de Baldassare (2000) von

Amin Maalouf (geb. 1949) oder Les exilés du Causcase (1995), L’Astronome (1997) und

Athina (2000) von Alexandre Najjar (geb. 1967) beschwören eine vornationalstaatliche kultu-

relle und religiöse Vielfalt im östlichen Mittelmeerraum. Indem die genannten Autoren in

ihren Werken an eine Vergangenheit des regen Handels und des auch kulturellen Austausches

anknüpfen, versuchen sie einen Kreis zu schließen und eine eigene Tradition kultureller Mo-

bilität zu begründen, die sie mit der Globalisierung verbinden und wie sie während der – in 91 Siehe dazu ausführlicher Bruckstein, Almut Sh./ Kermani, Navid/ Neuwirth, Angelika/ Pflitsch, Andreas: „Ex Oriente Lux – Rezeptionen und Exegesen als Traditionskritik. Zu dieser Reihe“. In: Sinai, Nicolai: Menschliche oder göttliche Weisheit? Zum Gegensatz von philosophischem und religiösem Lebensideal bei al-Ghazali und Yehuda ha-Levi, Würzburg 2003, S. v–ix. 92 Vgl. Arkoun, Mohammed: „‚Westliche’ Vernunft kontra ‚islamische’ Vernunft? Versuch einer kritischen Annäherung“. In: Lüders, Michael (Hg.): Der Islam im Aufbruch? Perspektiven der arabischen Welt, München 1992, S. 261–274. 93 Daß sich der Islamismus entgegen seinem Selbstbild als Bewahrer der wahren religiösen Tradition als Ideolo-gie vor allem der Moderne verdankt, ist wiederholt begründet worden; vgl. auch Kermani, Navid: Dynamit des Geistes. Martyrium, Islam und Nihilismus, Göttingen 2002; und zuletzt Margalit, Avishai/ Buruma, Ian: Okzi-dentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde, München 2005.

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der Rückschau überraschend kurz wirkenden – Epoche der Nationalstaaten vorherrschend

war, deren Homogenität heute als Mythos erkennbar ist.94 Solche Geschichtsmythen verdan-

ken sich nicht zuletzt der kulturellen Selbstbehauptung der arabischen Christen in einer mehr-

heitlich muslimischen Umgebung. Als in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschiedene

miteinander konkurrierende Nationalbewegungen im Nahen Osten entstanden, betonten vor

allem die libanesischen Maroniten ihre historische Verbindung zu Europa und insbesondere

zu Frankreich.95 Manche gingen so weit zu proklamieren, dass sie als das „wahre“ libanesi-

sche Staatsvolk Nachkommen der Phönizier und keineswegs Araber seien.96

Doch gibt es auch satirische Thematisierungen eines Europabezugs, so z.B. wenn in der frü-

hen modernen arabischen Literatur Mitte des 19. Jahrhunderts die lächerliche Figur des muta-

farnij (etwa „der sich wie ein Franke gebärdet“) auftaucht, in der eine Imitation europäischer

Kleiderordnungen karikiert wird, wie im Roman O weh, dann bin ich ja doch kein Franke

[Europäer] (1859) des libanesischen Autors Khalil al-Khury.97 Andererseits muss eine pro-

grammatische Rückkehr zum kulturellen Erbe qua Kleiderordnung, wie sie heute von man-

chen fundamentalistischen Kreisen vertreten wird, daraufhin befragt werden, ob es sich dabei

um eine invented tradition handelt. Wenn die nach der islamischen Revolution im Iran 1979

für Frauen zur Pflicht gemachten schwarzen Tschadors seit den 1980er Jahren vereinzelt auch

im Straßenbild der Metropolen der islamischen Welt von Istanbul bis Beirut auftauchten, so

blieben sie Ausnahme, da diese Kleidung hier keinerlei Tradition hat. Doch kann eine ‚tradi-

tionelle’ Kleidung heute nicht einfach im Schema von Tradition und Moderne gedeutet wer-

den, denn sie kann durchaus als Ausdruck modernen Denkens gemeint sein kann.

Auch die Bedeutung der arabischen Sprache steht im Zusammenhang einer komplexen Text-

ordnung. Anders als in der Etablierung europäischer Nationalstaaten, für die die Homogeni-

sierung und Normierung der Nationalsprache nicht selten eine wichtige Rolle spielte, hat sich

94 Siehe dazu Pflitsch, Andreas: „Literatur, grenzenlos. Aspekte transnationalen Schreibens“. In: Szyska, Christi-an/ Pannewick, Friederike (Hg.): Crossings and Passages in Genre and Culture, Wiesbaden 2003, S. 87–120, bes. S. 114–119; ders.: „Ortspolygamie“. In: Neuwirth, Angelika/ Pflitsch, Andreas/ Winckler, Barbara (Hg.): Arabische Literatur, postmodern, München 2004, S. 191–201; sowie ders.: „Literatur und Globalisierung. An-passung und Widerstand im arabischen Roman“. In: Pawelka, Peter/ Richter-Bernburg, Lutz (Hg.): Religion, Kultur und Politik im Vorderen Orient. Die islamische Welt im Zeichen der Globalisierung, Wiesbaden 2004, S. 179–190. 95 Vgl. Mouawad, Youssef: „Aux origines d’un mythe. La lettre de St. Louis aux Maronites“. In: Heyberger, Bernard/ Walbiner, Carsten (Hg.): Les Européens vus par les Libanais à l’époque ottoman, Beirut/ Würzburg 2002, S. 97–110. 96 Die libanesische Geschichte ist bis heute höchst umstritten und entlang konfessioneller Grenzen gespalten. Siehe Havemann, Axel: Geschichte und Geschichtsschreibung im Libanon des 19. und 20. Jahrhunderts. For-men und Funktionen des historischen Selbstverständnisses, Beirut/ Würzburg 2002. 97 Vgl. dazu die noch immer unübertroffene Untersuchung von Wielandt, Rotraud: Das Bild der Europäer in der modernen arabischen Erzähl- und Theaterliteratur, Beirut 1980, bes. S. 127–153. Vgl. nun auch Guth, Stephan: Brückenschläge. Eine integrierte ‚turkoarabische’ Romangeschichte. (Mitte 19. bis Mitte 20. Jahrhundert), Wiesbaden 2003, bes. S. 10–47.

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das Arabische, nicht zuletzt aufgrund seiner religiösen Bedeutung als Sprache der islamischen

Offenbarung, schon früh als einheitliche Schrift-, Dichtungs- und Gelehrtensprache von Ma-

rokko bis zum Irak durchgesetzt. Die nach dem Ende des Osmanischen Reiches entstandenen

arabischen Nationalismen (syrisch, libanesisch, ägyptisch, irakisch etc.) konnten sich also

nicht auf die Sprache berufen, wenn sie sich gegenüber ihren Nachbarn um Abgrenzung be-

mühten. Das „moderne“ Nationalismuskonzept greift also auf dieser Ebene nicht, während

das „traditionelle“ Konzept des panarabischen Nationalismus (klassische arabische Reiche,

Imperium) oder das religiöse transnationale der (muslimischen) umma (= Gemeinde) in Kon-

kurrenz dazu stehen. Andererseits haben europäische, von der Mission getragene Bildungsein-

richtungen – allen voran die beiden bis heute bestehenden Beiruter Universitäten, die „Ameri-

can University of Beirut“ (früher Syrian Protestant College) und die „Université St Joseph“,

beides Gründungen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts – dazu beigetragen, dass ‚modernes’

Wissen zunächst in europäischen Sprachen vermittelt wurde. Frankophonie und Anglophonie

haben in der arabischen Welt eine lange Tradition. Im Zusammenhang mit der Renaissance

des Levante-Paradigmas wird auch die Vielsprachigkeit, die die Region in früheren Jahrhun-

derten auszeichnete, wieder hervorgehoben.

Staatliche ebenso wie kulturelle Grenzen werden heute von Autoren der arabischen Diaspora

(deren Phänomene auf vorindustrielle Migrationsbewegungen zurückgehen)98, wie Rabih A-

lameddine (geb. 1959)99, Tony Hanania (geb. 1964)100 oder Hani Hammoud (geb. 1963) in

Frage gestellt.101 Überkommene Grenzziehungen zwischen ‚Ost’ und ‚West’, zwischen der

arabischen Welt und Europa werden von ihnen allein dadurch ausgehebelt, dass sie ihren

eigenen, diese Kriterien irritierenden kulturellen Ort in der Diaspora thematisieren.102 So hat

Hammoud mit seiner Satire L’Occidentaliste (1997) den westlichen Orientalismus und den

ethnologischen Blick in Form einer Persiflage thematisiert; Tony Hanania und Rabih Ala- 98 Vor allem die libanesische Diaspora, die heute zahlenmäßig die im Lande lebenden Libanesen um ein Vielfa-ches übertrifft, ist keine Erscheinung der im Zeitalter der Globalisierung typischen Migration allein, sondern geht bis weit ins 19. Jahrhundert zurück, als viele Bewohner des Libanongebirges aus politischen oder wirt-schaftlichen Gründen nach Ägypten und in die beiden Amerikas auswanderten. Später gab es starke Wande-rungsbewegungen u.a. nach West-Afrika, Europa und Australien. Siehe dazu: Hourani, Albert/ Shehadi, Nadim (Hg.): The Lebanese in the World. A Century of Emigration, London 1992. Vgl. auch Peleikis, Anja: Lebanese in Motion. Gender and the Making of a Translocal Village, Bielefeld 2003. 99 Zu ihm vgl. Pflitsch, Andreas: „,Peter Gabriel left Genesis in the summer of 1975’. Rabih Alameddine über unterschiedliche Unterschiede“. In: Figurationen. Gender, Literatur, Kultur 1 (2005), S. 13–22; und ders.: “To Fit or Not to Fit. Rabih Alameddine’s Novels Koolaids and I, the Divine“. In: Ette, Ottmar/ Pannewick, Fried-erike (Hg.): ArabAmericas. Literary Entanglements of the American Hemisphere and the Arab World, Frankfurt a. M./ Madrid 2006, S. 277–285. 100 Zu ihm vgl. Pflitsch, Andreas: „Britisch-libanesische Identitätstäuschungen. Tony Hanania und eine Krank-heit namens Heimweh“. In: Neuwirth, Angelika/ Pflitsch, Andreas/ Winckler, Barbara (Hg.): Arabische Litera-tur, postmodern, München 2004, S. 245–253. 101 Zu ihm vgl. Pflitsch, Andreas: „Hani Hammoud“. In: Neuwirth, Angelika/ Pflitsch, Andreas: Agonie und Aufbruch. Neue libanesische Prosa, Beirut 2000, S. 98–101. 102 Vgl. Maalouf, Amin: Les identités meurtrières, Paris 1998.

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meddine durchbrechen die stark ideologisch besetzten kulturellen Grenzziehungen mit ihren

Romanen wie Homesick (1997) und Unreal City (1999) bzw. Koolaids. The Art of War (1999)

und I, the Divine. A Novel in First Chapters (2000).

Die Vorstellung eines genuinen, aber universalisierbaren Modells ‚Europa’ – wie sie aus der

Singularität (Max Weber) oder aus dem „Sonderweg“ (Mitterauer) folgt – soll im Teilprojekt

aus der Perspektive Beiruts befragt werden, aufgrund der Phänomene eines „exterritorialen

Europas“, das sich als Werte- und Schicksalsgemeinschaft, als Gesellschaftsmodell und als

kultureller Referenzrahmen einer ‚Europäisierung’ begreift, die sich von einer territorialen

Bindung an die geographischen Grenzen Europas unabhängig gemacht hat. Die selbstbewuss-

te Einschreibung ‚außereuropäischer’ Gesellschaften und Kulturen in die ‚europäische’ Ge-

schichte geht mit einer tiefgreifenden Veränderung nicht allein dieser Gesellschaften und Kul-

turen einher, sondern betrifft auch die Konzeption ‚Europas’ von innen. Weder war noch ist

Europa ein Zustand oder eine Gegebenheit, die Genese Europas war immer ein Prozess, das

Ergebnis von Verhandlungen, in denen die imaginäre und symbolische Topographie Orient –

Okzident eine zentrale Rolle spielt, – Bewegung, Idee, Programm bzw. Projekt, an dem zu

unterschiedlichen Zeiten verschiedene Gruppen, Kulturen, Völker teilnahmen.103 In dem Teil-

projekt geht es um eine exemplarische Konstellation, an der der außereuropäische Anteil der

Europäisierung untersucht werden kann. Es geht damit um eine kulturgeschichtliche Untersu-

chung zu dem komplizierten Zusammenspiel von Singularität und Universalität, von Exklusi-

vität und Modell.

Denn Europa kann heute nicht mehr als Synonym für die (dann allein positiv besetzte)104 Mo-

derne benutzt und zugleich exklusiv verstanden werden. Statt dessen geht es darum, Prozesse

einer (produktiven, aktiven, schöpferischen) Teilhabe – oder einer exzentrischen Modernisie-

rung – zu untersuchen, und damit zugleich um die Möglichkeiten und Perspektiven eines in-

klusivistischen Begriffs von Moderne, wie er derzeit vor allem in der Literatur – und mit Hilfe

der ihr eigenen Mehrstimmigkeit – verhandelt wird. So arbeiten einige Autoren an einer inklu-

siven Unterscheidung, die der Logik des ‚Entweder-oder’ einer exklusiven Opposition ein

‚Sowohl-als-auch’ entgegensetzen, um auf diese Weise einen „kooperativen Begriff von

103 Vgl. Kermani, Navid: ”Towards Trialogue. On the Future of Islamic Studies“. In: Art & Thought 81 (2005), S. 37–40. 104 Die Schattenseiten von Moderne und Modernisierung (vor allem die in den nationalen und kulturellen Homo-genisierungs- und Begradigungsbestrebungen des 19. Jahrhunderts liegenden Gefahren als Vorbedingungen für Unterdrückung und Genozid, Totalitarismus, Faschismus, Rassismus, Fanatismus etc.) werden als zentrale Be-standteile der europäischen Moderne gerne übersehen und verschwiegen, wenn von der arabischen Welt die Bemühung um Anschluß an die Moderne gefordert wird.

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Grenze“105 als Modell zu entwickeln. Dieses ist von besonderem Belang für die seit Jahrzehn-

ten in Beirut geführten Debatten, da Beirut als ein wichtiges intellektuelles Zentrum begriffen

wird, dessen Verhandlungen auf die gesamte arabische Welt ausstrahlen. Eine Topographie

pluraler Kulturen Europas allein aus der Binnenperspektive zu untersuchen, unterläge der

Gefahr tautologischer Selbstvergewisserung im Muster des europäischen Mythos.

Teilprojekt 3: Istanbul. Vom osmanischen Imperium zur türkischen Nation: Probleme der

Europäisierung und Modernisierung

Im 19. Jahrhundert hatte sich in Europa auf politischer Ebene eine nicht institutionalisierte,

aber hinreichend verbindliche Friedensordnung herausgebildet, deren größte Herausforderung

in der sogenannten Orientalischen Frage bestand, d.h. der Unfähigkeit der europäischen

Großmächte, mit dem drohenden Zerfall des Osmanischen Reiches umzugehen und dessen

Zerfallsmasse in ihr System der Friedenssicherung zu integrieren. Die vielfältigen Probleme

der osmanischen Türkei in diesem Zusammenhang, die das Dilemma einer nachholenden

Modernisierung „von oben“ betreffen, werfen die Frage nach Begriff und Bild Europas auf.

Denn aus osmanischer Perspektive neigte man dazu, einzelne europäische Gesellschaften, wie

z.B. Frankreich, mit Europa als Ganzem gleichzusetzen, das damit eine ambivalente Bedeu-

tung bekam, sei es als Bedrohung von außen, als Übermacht, als Auslöser und Katalysator des

osmanischen Reformprozesses, sei es als Retter des Reiches, als Hoffnung für einzelne seiner

Bevölkerungsgruppen und schließlich als Modell für die eigenen Bemühungen um Moderni-

sierung. Für dieses Europa steht u.a. sinnbildlich die Stadt Berlin, Hauptstadt des noch jungen

deutschen Nationalstaates, der selbst noch um seinen Platz in Europa zu ringen hatte und

1878 zum Schauplatz des Berliner Kongresses wurde, auf dem einmal mehr eine Lösung für

die Orientalische Frage gesucht wurde.

Die Überzeugung, dass zur Wahrung des osmanischen Staates eine allein militärische und

technische Modernisierung nicht ausreichte, sondern Staat und Gesellschaft, politische

Grundordnung, Verwaltung, Rechtsordnung, Wirtschaftssystem, Bildungswesen und damit

auch kulturelle Orientierungen grundlegend erneuert werden mussten, wurde nur von einer

kleinen Elite getragen. Insbesondere die muslimische Bevölkerung nahm die Modernisie-

rungsbemühungen vor allem als Bedrohung wahr, und dies um so mehr, als die Chancen,

Aufstiegsmöglichkeiten und Potentiale kultureller Neuorientierungen durch den Austausch

mit Europa überproportional von den minderprivilegierten Christen und Juden im Reich 105 Beck, Ulrich: Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus – Antworten auf Globalisierung, Frankfurt a. M. 1998, S. 95.

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wahrgenommen wurden. Modernisierung verlangte Zentralisierung und Homogenisierung,

die von der Istanbuler Regierung auch mit militärischer Gewalt, gepaart mit einem zivilisato-

rischen Anspruch, durchgesetzt wurde. Die Durchsetzung moderner Staatlichkeit im Osmani-

schen Reich ist dementsprechend in der neueren Forschung als eine Geschichte der Kolonisie-

rung der Peripherie beschrieben worden.106

Diese Verwestlichungsbestrebungen führten also zu einem kulturellen Dualismus. Alte und

neue Moralvorstellungen, Staatsordnungen wie auch Lebensstile wurden – in einem dualisti-

schen Verständnis von ‚Osten’ und ‚Westen’ – als inkompatibel betrachtet. Dieser Gegensatz

strukturierte nicht nur die Innenpolitik des Osmanischen Reiches, sondern auch das staatliche

Projekt der neugegründeten Türkei, dessen kulturpolitisches Ziel die Europäisierung und Sä-

kularisierung der Nation war. Es bildeten sich dabei, grob formuliert, zwei Fronten heraus:

laizistische Anhänger des Westens und religiös-fundamentale Anhänger des Ostens. Eine

staatlich angeleitete Kulturpolitik sollte die Differenzen zwischen Orient und Okzident über-

brücken und religiöse Funktionäre in den Hintergrund drängen. Die Transformation des ‚mos-

lemischen Osmanen’ in den ‚europäischen Türken’ in der neugegründeten Republik der

1920er Jahre erforderte eine durchgreifende Veränderung des Habitus107 und setzte damit

konfliktreiche Verhandlungen über soziale Verhaltensmuster – über veränderte Grund-, Text-,

Bilder-, Kleider- und Affektordnungen – in Gang.

Das Resultat der Umstrukturierung war, dass die Öffentlichkeit sich fast ausschließlich aus

westlicher Perspektive wahrnahm und nach westlichen Maßstäben beurteilte.108 Die komplexe

Verkettung von ‚westlichen’ und ‚eigenen’ Repräsentationen der osmanischen und türkischen

Kultur und Geschichte lässt sich noch in Orhan Pamuks Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt

(2006) erkennen. Sein Versuch, die eigene Biographie mit der Geschichte der Stadt zu ver-

binden, zeigt nur zu deutlich, dass die Repräsentationen Istanbuls durch westliche Künstler

und Autoren heute Teil des ‚Eigenen’ sind.109 Nicht nur Europa, sondern auch Istanbul ist

damit zum Diskurs geworden, in dem die Spannungen zwischen der jahrtausendealten religiös

und kulturell vielfältigen Geschichte der Stadt, dem gescheiterten Projekt einer monokulturel-

len türkischen Moderne und der politisch äußerst dynamischen Gegenwart Ausdruck finden.

106 Vgl. dazu z.B. Hanssen, Jens u.a. (Hg.): Empire in the City: Arab Provincial Capitals in the late Ottoman Empire, Würzburg 2002. 107 Göle, Nilüfer: „Bati-disi Modernlik üzerine bir desen“. [„Eine Skizze über nicht-westliche Modernisierung“]. In: dogu-bati 2 (Februar/ April 1998), S. 55–62. 108 Hilmi Yavuz argumentiert zum Beispiel, dass die Türkei sich nicht verwestlicht, sondern orientalisiert habe. Yavuz, Hilmi: „Batililasma Degil, Oryantalistlesme”. [„Nicht Verwestlichung, sondern Orientalistisierung”]. In: dogu-bati 2 (Februar/ April 1998), S. 99–102. 109 Pamuk, Orhan: Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt, München 2006. Lothar Müller spricht in seinem Essay anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels an Pamuk von dessen „Orientalismus“. Vgl. Müller, Lothar: „Traurig ist ein Türke und selbstbewußt“. In: Süddeutsche Zeitung 142 (2005), S. 13.

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Das Teilprojekt widmet sich mit zwei signifikanten Konstellationen, deren Spuren bis in die

Gegenwart hineinreichen, dem Ort nicht-moslemischer Intellektueller beim Übergang vom

osmanischen Imperium zum türkischen Nationalstaat: (1) den armenischen Entwürfen für eine

plurale osmanische Gesellschaft im frühen 20. Jahrhundert und damit den Fragen der osmani-

schen Moderne und deren Konflikten mit religiösen Minderheiten und (2) der Rolle deutsch-

jüdischer Emigranten bei der Modernisierung und Säkularisierung der Geisteswissenschaften

nach 1933 an türkischen Universitäten und der Wirkung des durch sie verkörperten Europas.

Beide Konstellationen verbindet die Beobachtung, dass die Modernisierung des Osmanischen

Reiches im Sinne einer nationalstaatlichen Ideologie auf Kosten der ethnisch und religiös plu-

ralen Gemeinschaft ging, denn die Säkularisierung des türkischen Nationalstaats führte nicht

zur Gleichstellung von (christlichen) Armeniern, Juden und Moslems; vielmehr kam es in

deren Folge zu einer Polarisierung der Anhänger der drei Religionen. In diesem Zusammen-

hang gilt es, die vielschichtige, sich wandelnde Semantik Europas und der Moderne im aus-

gehenden Osmanischen Reich und der frühen türkischen Republik zu untersuchen.

(1) Istanbul-Bitlis-Berlin: Armenische Entwürfe einer pluralen Gesellschaft in der Moderne

(1878–1914)

Bezeichnet die „armenische Frage“ heute einen der neuralgischen Punkte der europäischen

Politik gegenüber der Türkei, so reicht die Untersuchung armenischer Reflexionen über die

Problematik pluraler Gesellschaften um 1900 in die Gegenwart hinein. Die armenische Ge-

sellschaft nahm in der beschriebenen, an Europa orientierten Modernisierung des Osmani-

schen Reiches eine Sonderstellung ein, insofern sie die einzige größere nichtmuslimische

Gruppe darstellte, für die die Herauslösung eines eigenen Staates aus dem osmanischen Terri-

torium keine realistische Option darstellte. Gleichzeitig war sie weit besser in den osmani-

schen Kontext integriert als jede andere nicht-türkische Gruppe, was sich z.B. an ihrer Rolle

beim Aufbau eines modernen Schulwesens als Lehrer zeigte.110 Mehr als jede andere Minder-

heitengemeinschaft richteten die Armenier bis zuletzt ihre Hoffnungen mehrheitlich auf Re-

formen innerhalb des Osmanischen Staates, in dem sie hofften ihren Platz als gleichberechtig-

te Bürger finden zu können. Sultan Abdülhamid II. (reg. 1876–1909) galten sie als millet-i

sadiqa („loyale [wörtl. Treue] Nation“). Die größte armenische politische Partei, die Armeni-

sche Revolutionäre Föderation (arm. Hay Heghapokhagan Tashnagtsoutiun), arbeitete eng

mit der türkischen Opposition gegen Abdülhamid II. zusammen, den sogenannten Jungtürken,

deren wichtigster Verband das Komitee für Einheit und Fortschritt (osm.-türk. İttihad ve Ter- 110 Somel, Selcuk: The Modernization of Public Education in the Ottoman Empire.1839–1908: Islamization, Autocracy and Discipline, Boston 2001.

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raki Cemiyeti) war. Sie war maßgeblich am Umsturz von 1908 beteiligt, der die Wiederein-

setzung der osmanischen Verfassung brachte. Gleichzeitig, womöglich gerade deshalb, wur-

den die Armenier seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend als „innere Feinde“ stilisiert

und antiarmenische Stereotypen kultiviert. Insbesondere in den armenisch-kurdischen Ost-

provinzen, die, ohnehin wenig entwickelt, seit dem verlorenen russisch-osmanischen Krieg

1877/ 78 verwüstet und von periodischen Hungersnöten heimgesucht waren, häuften sich Ü-

bergriffe gegen Armenier. Ängste und Unzufriedenheiten der Muslime wurden von den zent-

ralstaatlichen und religiösen Eliten gegen die armenische Bevölkerung gelenkt, was 1894–96

in reichsweiten Armeniermassakern kulminierte. Gegen sie richtete sich die Angst, nichtmus-

limische Forderungen nach staatlichem Schutz, kultureller Erneuerung und politischer Parti-

zipation könnten zu europäischer Einflussnahme und Intervention führen und im Verlust gan-

zer Provinzen und muslimischer Massenflucht münden. Nach der Loslösung der Balkanpro-

vinzen aus dem Reich konzentrierte sich die Problematik der Orientalischen Frage auf die

Armenier. Dabei kann die Provinz Bitlis (Paghesh) als repräsentativ für die Armenier im Os-

ten betrachtet werden, neben anderen armenischen Zentren wie Van, Harput (Kharpert) oder

Erzurum (Garin).

Trotz der in den Ostprovinzen oft verzweifelten Lage erlebte die armenische Literatur in Kon-

stantinopel gerade in den Jahren nach 1908 eine Blüte: als Ort, an dem die Lage der Armenier

im Osmanischen Reich, ihre Hoffnungen und ihre Entwürfe für eine plurale osmanische Ge-

sellschaft in der Moderne diskutiert wurden. Einige namhafte Literaten dieser Zeit traten

gleichzeitig als politische Vertreter ihrer Gemeinschaft auf, als Abgeordnete des Laienrates,

der seit 1869 der kirchlichen Führung an die Seite gestellt war, und als Abgeordnete des os-

manischen Parlaments. Zu den prominentesten Literaten-Politikern zählen Krikor Zohrab und

Yervant Odian. In der westarmenischen Literatur, zum Teil auch in den Schriften und Predig-

ten führender armenischer Geistlicher, die z.T. auch als Literaten hervorgetreten sind, finden

sich Klagen über die alltägliche Gewalt im Osten, neben dem Erstaunen über die Fremdheit

der eigenen Landsleute aus den Provinzen, Auseinandersetzungen mit den kurdischen Nach-

barn, Reformvorschlägen und Utopien für ein gemeinsames osmanisches Vaterland (vatan)

ebenso wie Rezeptionen europäischer Literatur und gesellschaftspolitischer Konzepte. Istan-

bul, die kosmopolite Hauptstadt des Osmanischen Reiches, wurde so nicht nur zum kulturel-

len Zentrum der osmanischen Armenier, sondern auch zu dem Ort, an dem sich – weit ent-

fernt von den Schauplätzen des Ostens – armenische Reflexionen über die Lage des eigenen

Volkes, über die Möglichkeiten von Pluralität und Moderne im Spannungsfeld zwischen Bit-

lis, Istanbul und Berlin, ostanatolischer Provinz, Reichshauptstadt und Europa abspielte.

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Der Forschungsstand ist bislang äußerst dürr: Es liegen einige Untersuchungen zur Geschich-

te der armenischen Parteien und zu einzelnen Autoren vor, eine Forschung, die die Armenier

in den Kontext des Osmanischen Reiches rückt, fehlt nahezu vollständig.

(2) Istanbul – Deutschland. Die Modernisierung der türkischen Wissenschaftslandschaft unter

Beteiligung von jüdisch-deutschen Emigranten

Mustafa Kemal Atatürks Überzeugung von der Notwendigkeit einer radikalen Neuerung der

türkischen Republik nach europäischem Muster drückte sich nicht nur in politischen Um-

strukturierungen aus, sondern auch in durchgreifenden Kleider-, Sprach-, Schrift-, und Bil-

dungsreformen. Die Reformierung des türkischen Wissenschaftsbetriebs und der damit ein-

hergehende Umbau der bedeutendsten osmanischen Bildungsinstitution „Dar-ül-fünun“ zur

„Istanbul Üniversitesi“ im August 1933 fiel zeitlich mit der Machtübernahme der Nationalso-

zialisten in Deutschland und dem Ausschluss jüdisch-deutscher Akademiker zusammen. Die-

se Koinzidenz hatte die Emigration von Hunderten von deutschen Intellektuellen in die Türkei

zur Folge, die die dortige Hochschullandschaft auf Dauer veränderten. Damit errang die deut-

sche Wissenschaft in der Türkei paradoxerweise das, was deutsche Botschafter in Istanbul

schon zu Zeiten des Kaiserreiches vergeblich versucht hatten, Vorrang gegenüber der bis da-

hin dominanten französischen Lehre. Europäisierung und Modernisierung der Wissenschaft

hieß in der Folge, Europa mit Deutschland gleichzusetzen und deutsche Wissenschaftsmetho-

den und -inhalte zu übernehmen. Untersucht werden soll hier, welche Bedeutung dieser Wan-

del für die Europäisierungsbestrebungen der Türkei in den 1930er und 40er Jahren hatte.

An der Istanbuler Universität lässt sich somit exemplarisch der Ort und die Rolle der Geis-

teswissenschaften im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne, zwischen Religions-

kulturen und Säkularisierung untersuchen. Ausgangsthese ist, dass der deutschen Philologie

damals wie heute eine identitätsstiftende Funktion für das Selbstverständnis der intellektuel-

len türkischen Elite zukommt. Im Zentrum der Untersuchung steht der Einfluss der jüdisch-

deutschen Romanisten Leo Spitzer und Erich Auerbach auf die Gründung der westeuropäi-

schen Nationalphilologien an der Istanbuler Universität. Da die Studierenden aller Fakultäten

hier zur Erlernung mindestens einer westeuropäischen Sprache verpflichtet waren, fiel den

beiden Philologen eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Ausbildung der zukünftigen

‚europäisierten’ Elite zu. Darüber hinaus verfügten sie über weitreichenden Einfluss, da sie

als Leiter der Fakultät für westliche Sprachen und Literaturen die ersten Lehrstühle für Ro-

manistik, Anglistik und Germanistik einrichteten und damit nachhaltige Strukturen für Lehre

und Forschung vorgaben.

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Untersucht werden soll, wie die Emigranten den Auftrag zur Säkularisierung und Modernisie-

rung der Geisteswissenschaften im Dienste des türkischen Nationalismus umsetzten und wel-

che Rolle dabei die Bedingungen des Exils hatten. Für Spitzer und Auerbach war Istanbul ein

Ort, den sie als Wendepunkt ihrer eigenen Arbeit nutzten. So lassen sich z.B. Auerbachs

komparatistische Methodik in Mimesis und seine Ausführungen zur Nivellierung nationaler

Unterschiede im Aufsatz „Philologie und Weltliteratur“ nicht unabhängig von seiner Rolle als

Vermittler der westeuropäischen Moderne begreifen. Insofern muss Leo Spitzers und Erich

Auerbachs Istanbuler Exil im Horizont der spezifischen kultur- und wissenschaftsgeschichtli-

chen Situation betrachtet werden. Gegenüber dem Bild von Istanbul als Ort der Isolation und

Entfremdung von Europa, das Edward Said in seinen Ausführungen zu Auerbach zeichnet,111

eröffnet sich damit ein weitaus komplexeres Bild vom Istanbul der 1930er und 1940er Jahre.

So waren Spitzer und Auerbach alles andere als isoliert, sie befanden sich in Istanbul viel-

mehr in bester Gesellschaft: Gemeinsam mit Hunderten von weiteren Emigranten aus

Deutschland standen sie im Zentrum der türkischen Öffentlichkeit, erneuerten die türkische

Universitätslandschaft und versuchten – mit mehr oder weniger Optimismus und Durchset-

zungskraft –, ihre Vision einer modernen, europäischen Wissenschaft umzusetzen, die in

Deutschland keine Zukunft mehr hatte.

Bis heute rühmt sich die Istanbuler Universität mit Auerbach und Spitzer als prominente Be-

gründer der westeuropäischen Philologie und betont die Rolle der türkischen Universität für

die Rettung deutsch-jüdischer Wissenschaftler. So erinnert u.a. eine Gedenktafel am Eingang

der „Istanbul Üniversitesi“ an den Beitrag deutscher Emigranten zur Reformierung der Hoch-

schule. Weit nachhaltiger ist ihre Rolle bei der Einführung deutscher Wissenschaftsformen

beim Umbau der türkischen Geisteswissenschaften. Insofern ist diese Konstellation ein signi-

fikantes Fallbeispiel für die Untersuchung der komplexen kulturgeschichtlichen Verhandlun-

gen zwischen Europa und Türkei, Ost und West, Orient und Okzident.

Teilprojekt 4: Vilnius/ Litauen: Überdeterminierter Raum zwischen Besatzung und nationa-

lem Gedächtnis

Eine von vielen Möglichkeiten, geographischen Raum zu symbolisieren, ist die Kartographie.

Der kartographierte Raum gibt vor, stumm zu sein. Strenggenommen handelt es sich bei ihm

auch nicht um Raum, sondern um Fläche: symbolisch markierte Erdoberfläche, Landschaft,

Stadt- und Landarchitektur, deren Strukturen in den – nur auf den ersten Blick –

111 Said, Edward W.: The World, the Text, and the Critic, London 1983, S. 6.

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geschichtsfernen Termini der Geologie, Geophysik, Geographie und in der graphischen

Sprache der Kartographie eine Form der Darstellung finden. Der geographische Raum und

seine Kartographie bilden eine „Ordnung im möglichen Beisammen“ (Leibniz). Diese

Ordnung kann, je nach Erkenntnisinteresse, noch ohne Geschichte, nämlich als Struktur und

Anordnung, verstanden werden. Doch spätestens bei der Frage nach den Grenzen eines

Territoriums und nach der Sprache, in der geographische Eigennamen verzeichnet werden,

interferiert das Feld der Kultur und Geschichte in die Unschuld des kartographischen Raums.

Indifferent gegenüber Geschichte(n) ist die Erdoberfläche nur als „Raum an sich“. Wie das

„Ding an sich“ entzieht sich dieser jeglicher Repräsentation. Oder er wäre bedeutungsleer,

undistinkt, nicht verhandelbar. Geographische Räume sind nicht identisch mit kulturellen und

nationalen, d.h. durch Erfahrung und Erinnerung „getönten“, kulturell kodierten Räumen. An

einem Ort oder in einem Gebiet können im Gegenteil verschiedenste kulturelle und nationale

Identitätsentwürfe kondensieren, miteinander konkurrieren oder koexistieren. Sie sind

gegenüber den geographischen Räumen, auf die sie sich beziehen, überdeterminiert.

Im 20. Jahrhundert war der Ausgang des Ersten Weltkriegs ein für die Kartographie

einschneidendes Ereignis. Bisher nicht existierende mittelosteuropäische Staaten mussten in

den europäischen Atlas eingefügt werden, während die sie bisher umfassenden Einheiten der

Besatzungsmächte Preußen, Russland und Österreich-Ungarn sich auf z.T. wesentlich

kleinere Territorien zurückgezogen hatten. Das Teilprojekt untersucht zum einen die

politischen Projektionen und Konstruktionen auf den prekären, überdeterminierten Raum

„Litauen/ Vilnius“ (beispielsweise anhand des von einer deutschen Militärregierung

konstruierten Militärstaats Ober-Ost); und zum anderen die mit solchen politischen

Raumentwürfen korrespondierenden ästhetischen Entwürfe und Einsprüche in deutscher und

polnischer Literatur und Publizistik der Zwischenkriegszeit.

Die historische Aufarbeitung des Ersten Weltkriegs aus deutscher Perspektive konzentrierte

sich – mit Ausnahme der Judaistik112 – erstaunlicherweise überwiegend auf die Ereignisse an

den westlichen Fronten. Lediglich zwei bedeutsame neuere Publikationen behandeln die

deutsche Besatzungspolitik im Osten.113 Das „Land Ober-Ost“, ein 1915–1918 durch eine

deutsche Militärverwaltung besetztes Gebiet östlich von Ostpreußen, umfasste die sechs

Bezirke Kurland, Wilna (Vilnius), Suwałki, Kowno (Kaunas), Grodno und Białystok. Die

deutschen Interessen in dieser Region waren langfristig kolonisatorischer, kriegsstrategischer

112 Zechlin, Egmont: Die deutsche Politik und die Juden im ersten Weltkrieg, Göttingen 1963. 113 Strazhas, Abba: Deutsche Ostpolitik im Ersten Weltkrieg. Der Fall Ober-Ost 1915–1917, Wiesbaden 1993;Liulevicius, Vejas Gabriel: Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ers-ten Weltkrieg, Hamburg 2002; Es handelt sich um Systematisierungen von Quellenmaterial, aus einer eherlitaui-schen Perspektive. Liulevicius’ Kriegsland im Osten.

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und wirtschaftlicher Art,114 wobei die Gebietsansprüche historisch durch einen Verweis auf

das Ordensland des Deutschen Ritterordens hergeleitet wurden.

Die kulturelle, sprachliche und religiöse Heterogenität litauischer, lettischer, polnischer, russi-

scher, jüdischer, weißrussischer und deutsch-baltischer Bevölkerungsgruppen im besetzten

Gebiet machte diese Region für die Militärregierung zu einer altra terra, deren bedrohliche

Andersheit durch ein umfassendes, die Zivilbevölkerung massiv einschränkendes „Verord-

nungswesen“, durch Eingrenzung der Bewegungsfreiheit, rigorose Sprach- und Zensurpolitik,

Zwangsarbeit und durch Festnahmen und Tötungen der als „Räuberbanden“ bezeichneten

litauischen und lettischen Partisanen ungefährlich gemacht werden sollte.115 Mit dieser kolo-

nialistischen Politik verbanden sich Phantasien einer deutschen kulturellen Überlegenheit ge-

genüber osteuropäischen Völkern, die sich in das Bild vom Osten eingeprägt hatten und die

Ostpolitik im Zweiten Weltkrieg mit vorbereiteten.116

Ansprüche an das litauische Gebiet wurden in und nach den Ereignissen des Ersten Welt-

kriegs auch von Polen und weiterhin von der jungen UdSSR erhoben. In der polnischen

Historiographie zu den Kriegszielen im Ersten Weltkrieg werden zwei Haltungen zu Litauen

konstatiert: eine föderalistische im Piłsudski-Lager der sozialistischen Partei (PPS) und eine

inkorporalistische im Lager der Nationaldemokraten (ND oder Endecja) unter Roman

Dmowski.117 Nachdem sich am Ende des Ersten Weltkriegs das Staatsmodell Piłsudskis in der

Polen-Frage durchgesetzt, und sich die deutsche Besatzung endgültig zurückgezogen hatte,

wurde 1918 zunächst eine litauische Unabhängigkeit ausgerufen. Zwei Jahre darauf

annektierte die polnische Armee unter Piłsudski das Gebiet um Wilna als Teil eines

föderalistischen Polens, so dass das übrige, weiterhin „unabhängige“ Litauen Kaunas zur

provisorischen Hauptstadt erklärte.

Die Auswahl der literarischen Quellen für dieses Forschungsvorhaben orientiert sich an der

Frage, wie das litauische Gebiet (z.B. als Teil des Landes Ober-Ost) und Vilnius in der

direkten historischen Nähe zu den territorialen Auseinandersetzungen im Ersten Weltkrieg

literarisch kodiert wurden. Dabei soll untersucht werden, welche Erzähltechniken und

114 Dies betrifft territorialstrategisch die litauische und estnische Ostseeküste sowie den Zugang zur„Kornkammer“ Ukraine. Bei den vorgefundenen Ressourcen waren neben der noch unter russischer Besat-zung eingefahrenen Ernte von 1915 vor allem die umfangreichen Forstgebiete interessant, die nach einem Holz-engpass in Deutschland 1917 ausgiebig gerodet wurden. Vgl. Strazhas, Abba: Deutsche Ostpolitik im Ersten Weltkrieg. Der Fall Ober-Ost 1915–1917, Wiesbaden 1993, S. 111ff. 115 Man hoffte auf eine nationale Autonomie in einem russischen Reich, zumal seit 1904 die litauische Sprache von der zaristischen Regierung anerkannt und die Herausgabe litauischer Presseorgane genehmigt wurde. Zu diesen Maßnahmen ausführlich bei Strazhas und Liulevicius a.a.0. 116 Liulevicius, Vejas Gabriel: Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg, Hamburg 2002. 117 Lewandowski, Józef: Federalism. Litwa i Bialorus w polityce obozu belwederskiego (XI 1918 – IV 1920). [Föderalismus. Litauen und Weißrußland in der Politik des Piłsudski-Lagers], Warszawa 1962.

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Darstellungsformen in literarischen, sowie essayistisch-publizistischen Textformen die

erwähnten hegemonialen, föderalistischen oder autonomistischen geopolitischen Positionen

und politischen Projektionen auf diesen Raum stützen oder unterminieren.

Arnold Zweigs Roman Einsetzung eines Königs118 ist eine literarische Verarbeitung seiner

Erfahrungen in der Militärverwaltung von Ober-Ost. Die Auseinandersetzung mit Freuds

Traumdeutung (1900) erlaubt ihm die „Einsetzungen von Techniken der Traumarbeit“, u.a.

bei der Gestaltung von „Sammel- und Mischpersonen“, „die im Ergebnis von Überlagerung

und Verdichtung entstanden sind“.119 Wie Holger Brohm feststellt, führt dieser Bezug auf

Freud zu einer „Übertragung der politischen Auseinandersetzungen […] in den psychischen

Konflikt“.120 Neben dem verdichtenden Verfahren der Traumarbeit schreibt Zweig einen Stil

der Sachlichkeit und der Diskursivität, durchmischt ihn allerdings auch mit Elementen ex-

pressionistischer Verfremdung. Seine kritische Distanz gegenüber der Politik in Ober-Ost

schreibt er dagegen in das „warme Sprechen“ der weiblichen Hauptfigur ein. Diese

polyperspektivische Narration Zweigs legt die Vermutung nahe, dass der Roman gegen die

hegemonial-inkorporierende „Utopie Ludendorffs“121 verfasst ist und (zwei Jahre vor dem

Überfall der Deutschen Wehrmacht auf Polen) ein differenzierendes, heterogenes Bild

Osteuropas zu entwerfen in der Lage ist. Allerdings gilt dies nicht uneingeschränkt für alle

Ober-Ost-Texte von Zweig:

Vor dem Hintergrund der eigenen jüdischen Herkunft arbeitete Zweig mit dem Graphiker

Hermann Struck an dem Zyklus Das ostjüdische Antlitz (1920). In seiner Einleitung kommt

eine, den jüdischen Porträtierten als Zitat in den Mund gelegte, Ablehnung Polens zum

Ausdruck, die Zweig auf polemisierende Weise teilt, wenn er dem polnischen Volk Pogrome

und assimilatorischen Zwang vorwirft.122 Dahinter steht zwar seine Vision eines friedlichen

Europas; doch die Projektion von Gewalt und Unterdrückung auf eine polnisch konnotierte

antisemitische Grausamkeit reduziert historische Komplexitität und marginalisiert die

deutschen Kriegsverbrechen in der Besatzungszeit. Zweig schreibt sich aus der Begegnung

mit dem Ostjudentum eine eigene Genealogie. Er findet in ihm eine als unverfälscht und

bewahrenswert bewertete Form eines von Arbeit und Konzentration geprägten jüdischen

Daseins, welches ihn in der Entwicklung der eigenen zionistischen Position bestärkt. 118 Zweig, Arnold: Einsetzung eines Königs. In: Humboldt-Universität zu Berlin/ Akademie der Künste (Hg.): Arnold Zweig. Berliner Ausgabe. Einsetzung eines Königs. Bd. 6, Berlin 2004, S. 9–464. 119 Brohm, Holger: „Entstehung und Wirkung“. In: Humboldt-Universität zu Berlin/ Akademie der Künste (Hg.): Arnold Zweig. Berliner Ausgabe. Einsetzung eines Königs. Bd. 6, Berlin 2004, S. 570–589, hier S. 579. 120 Ebd. S. 580. 121 Ulrich, Volker: „Ludendorffs Utopia: Wie deutsche Militärs im Ersten Weltkrieg sich ihren eigenen Staat schufen“ Rezension zu: Liulevicius, Vejas Gabriel.: Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Mili-tärherrschaft im Ersten Weltkrieg, Hamburg 2002. In: Die Zeit 51 (2002). 122 Zweig, Arnold/ Struck, Hermann: Das ostjüdische Antlitz, Berlin 1920, S. 8.

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Dass mit einem Bezug auf polnische Geschichte politische Raumphantasien auf dieses Gebiet

auch von polnischer Seite projiziert werden, wird in der offiziellen Selbstdarstellung des

Militärstaats Ober-Ost ebenso marginalisiert wie die Unabhängigkeitsbewegung der Litauer.

Im Besatzungsgebiet wurde das der Endecja nahestehende polnische Blatt Dziennik Wileński

[Wilnaer Tageblatt] unter Zensurbedingungen weiter gedruckt. Politische Äußerungen waren

für polnische Autoren allerdings nur dann möglich, wenn sie auf andere Teilungsgebiete

Polens auswichen. So publizierte der im polnischen Wilno-Gedächtnis auch heute noch

bekannte Schriftsteller Czesław Jankowski im Warschauer Tygodnik Illustrowany

[Illustriertes Wochenblatt] Artikel und Glossen, die er 1923 in einer Monographie

zusammenfasste.123 Jankowskis homogenisierendes ‚Wir’ lässt sich sowohl mit der Poly-

perspektivität in Arnold Zweigs Roman konfrontieren, als auch mit zeitgleich auftretenden

Ideen von einem ‚regionalistischen’ Wilna in der polnischen Publizistik. Es ist bei ihm ein

anderes, ein selbstverständlicheres polnisches ‚Wir’ als jenes (ost-)jüdische, in das Zweig sich

erst noch hineinschreiben musste.

Die Stadt Vilnius, die im 20. Jahrhundert dreizehn Mal von einer Hand in die andere ging,124

zählt im nationalen Gedächtnis Polens zu den wichtigsten Erinnerungsorten. Sie wird meto-

nymisch verbunden mit der Idee der polnisch-litauischen Union; und nach den Teilungen ist

Vilnius die Stadt der „Propheten und Seher“ der romantischen Dichtung: Mickiewicz und

Słowacki. Der 1918 zum polnischen Staatschef ernannte Józef Piłsudski entstammt einem

polnisch-litauischen Adelsgeschlecht und wurde in der von ihm zum Teil selbst beförderten

Legendenbildung in eine Tradition mit der polnischen messianisch-romantischen Bewegung

und der Aufständischen-Tradition gestellt.125

Nach der Besetzung von Vilnius durch Polen entstand in der polnischsprachigen Publizistik

eine Debatte um den Begriff des Regionalismus.126 Regionalistische Literatur wird in dieser

123 Jankowski, Czesław: Z dnia na dzień. Warszawa 1914–1915. [Von Tag zu Tag. Warschau 1914–1915], Wilnius 1923. Zum Werk Jankowskis hat bisher einzig die polnische Literaturwissenschaftlerin Irena Federowicz gearbeitet. Siehe dazu ihren Artikel: Federowicz, Irena: „Rola Czesława Jankowskiego w życie kulturalnym Wilna“. [Die Rolle von Czesław Jankowski im literarischen Leben von Wilnius]. In: Buynicki, Tadeusz/ Romanowski, Andrzej (Hg.): Życie literackie i literatura w Wilnie XIX–XX wieku. [Das literarische Leben im Wilnius des 19. und 20. Jahrhunderts], Krakau 2000, S. 97–111. 124 Trepte, Hans-Christian: „Auf der Suche nach der verlorenen Heimat“. In: Dmitrieva, Marina/ Petersen, Hei-demarie (Hg.): Jüdische Kultur(en) im Neuen Europa. Wilna 1918–1939, Wiesbaden 2004, S. 50–65. 125 Dargestellt u.a. Augsburger, Janis: „Ein anti-analytisches Bedürfnis. Bruno Schulz im Grenzbereich zwischen Poetik und Politik“. In: Hahn, Hans-Henning/ Hein, Heidi (Hg.): Politische Mythen im 19. und 20. Jahrhundert. Perspektiven historischer Mythenforschung, Marburg 2006. Vgl. auch Faryś, Janusz: Piłsudski i pilsudczycy. Z dziejów koncepcji polityczno-ustrojowej (1918–1939). [Piłsudski und die Piłsudskisten. Zur Geschiche eines politisch-gesellschaftlichen Konzepts], Stettin 1991, S. 42ff. 126 Kozłowska, Mirosława: „Regionalizm w życiu literackim Wilna (1922–1939)“. [„Regionalismus im literarischen Leben von Wilnius“]. In: Buynicki, Tadeusz/ Romanowski, Andrzej (Hg.): Życie literackie i literatura w Wilnie XIX–XX wieku. [Das literarische Leben im Wilnius des 19. und 20. Jahrhunderts], Krakau 2000, S. 127–139.

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Debatte entweder als „geistiger Separatismus“ [seperatyzm ducha] und Epigonismus

verworfen oder als regionalistische „Hiesigkeit“ [tutejszość] des „Herzens“ propagiert.127 Die

politische Forderung nach polnischer nationaler Einheit(lichkeit), die sich aus einer

regionalen Position lösen und Bezug zum Zentrum aufnehmen müsse, wurde dabei von der in

Vilnius lebenden Autorin Helena Römer-Ochenkowskas mit dem Konzept einer

„Konföderation kleiner Vaterländer“ [konfederacja małych ojczyzń] erwidert.128

1932, höchstwahrscheinlich als Reaktion Römer-Ochenkowskas, griff Czesław Miłosz mit

seinem Artikel Sens regionalizmu [Der Sinn des Regionalismus] in die Debatte ein und

polemisierte mit einer dritten Position gegen den Regionalismus. Für ihn ist Vilnius (pl.

Wilno) eine Art „Sanktuarium“ der polnischen imaginären Kartographie, Teil eines

„familiären Europas“, das sich aus dem jagiellonischen Erbe ergebe, welches er als Modell für

einen europäischen Kosmopolitismus begreift.129 Ein solches „familiäres Europa“ könne sich

durchaus als Europa der Regionen verstehen, werde sich dabei aber von der Idee eines

politischen Zentrums zugunsten einer Vielfalt möglicher Lebensentwürfe in regionalen

Peripherien verabschieden müssen.130

In den Positionen von Zweig und Miłosz finden sich zwei politische Konzepte von

Mitteleuropa – das eine deutsch-zentristisch und kolonialistisch, auf eine räumliche

Erweiterung bezogen und von instrumentellem politischen Denken geleitet, gegen das Zweig

sich positioniert,131 das andere utopisch, pluralistisch, Differenz zulassend und jenseits eines

konkreten Nationalstaaten-Konzepts angelegt. In beiden Positionen wird die kulturelle

Differenz der multiethnischen Region zugelassen; einmal zwar als verwaltete, wirtschaftlich

instrumentalisierte, politisch entschärft und folklorisiert; das andere Mal politische Differenz

und Konflikthaftigkeit transzendierend durch den Verweis auf die Idee einer regionalen

Einheit jenseits nationalstaatlicher Zuordnungen. – Allerdings wird in beiden Positionen die

Idee einer litauischen Souveränität ausgestrichen.

Die in den Texten kodierten Positionen zum Verhältnis nationale Identität und Differenz,

Homogenität und Heterogenität in den geopolitischen Konflikten des Ersten Weltkriegs wur-

den normativ auch in der politischen Sphäre verhandelt, deswegen zeichnet sich für die Un-

127 Ebd. 128 Ebd. S. 128. Diese Position wird bestärkt in: Römer-Ochenkowska, Helena: Tutejszy. [Die Hiesigen], Warschau 1931. 129 Vgl. zur literarischen Figuration Wilnas bei Miłosz: Trepte, Hans-Christian: „Auf der Suche nach der verlo-renen Heimat“. In: Dmitrieva, Marina/ Petersen, Heidemarie (Hg.): Jüdische Kultur(en) im Neuen Europa. Wilna 1918–1939, Wiesbaden 2004, S. 50–65. Er bezieht sich auf Miłosz, Czesław: Die Strassen von Wilna, München/ Wien 1997. 130 Ebd. S. 53. 131 Pate für eine solche Mitteleuropa-Idee steht Friedrich Naumann, vgl.: Naumann, Friedrich: Mitteleuropa, Berlin 1915, sowie ders.: Mitteleuropa und Polen, o. O. 1917.

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tersuchung eine enge Allianz zwischen politischen und literarischen Diskursen ab: Politische

Raumphantasien sind auf diskursive Vermittlung und/ oder Veranschaulichung angewiesen;

sie enthalten Vorstellungen erstrebenswerter Ordnung, sind dadurch normativ aufgeladen.

Daraus ergibt sich ihre poetologische Dimension, die sie zu einem Intertext für Literatur wer-

den lassen kann. Insofern wird die ausgewählte Literatur untersucht im Hinblick auf die

Spannung zwischen Positionierung (auf diese in der politischen Sphäre kursierenden Entwür-

fe) und Konstruktion (von differenzierenden, konkurrierenden Entwürfen).

Der formale Ausdruck der Allianz zwischen politischer und literarischer Raumphantasie liegt

für das Projekt in der Bevorzugung der kleinen literarischen Formen Essayistik, Publizistik

und dem historisch geprägten Bildungsroman. Hierbei sind die graduellen Übergänge zwi-

schen Dokumentarizität und Fiktionalität zu untersuchen, wobei der historischen Kontextuali-

sierung eine wichtige Funktion für eine Hermeneutik der Perspektivität zukommt. Das Er-

kenntnisinteresse gilt dem Verhältnis von geographischem Raum und imaginärer, mit norma-

tiven Entwürfen und mythologisierender Erinnerungen besetzter Räumlichkeit. Leitend ist

dabei die eingangs angedeutete Hypothese von einer potentiellen projektiven Vielfalt imagi-

närer Räume (Überdeterminiertheit) gegenüber neutralen, vorfindlichen geographischen

Räumen.

Nachdem die Stadt Vilnius nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen von der

polnischen Besatzung befreit, in den Nachverhandlungen des Molotow-Ribbentrop-Paktes

Litauen dann jedoch in die sowjetische Einflusssphäre verschoben wurde, erklärte Stalin Vil-

nius anfangs noch zugehörig zu einem unabhängigem Staat Litauen. Auf geheimen sowjeti-

schen Militärkarten war das Gebiet hingegen schon als „Litowskaja SSR“ verzeichnet, die

Stalin 1940 auch einrichtete. Mit dem deutschen Krieg gegen Russland wurde ganz Litauen

dann von den Nationalsozialisten besetzt. Die Erwartung der baltischen Völker, diese Besat-

zung sei lediglich eine Wiederholung der deutschen Ober-Ost Politik wurde nicht eingelöst:

SS und Gestapo überschrieben nicht nur den Stadtplan von Vilnius mit Ghettos und Räumen

des Genozids an den Juden. 95% dieses Teils der utopischen regionalen Familie wurden im

Holocaust ermordet.

Der polnische Teil dieser Familie schrieb seine Staatsgrenzen nach 1945 außerhalb des Gebie-

tes des ehemaligen polnisch-litauischen commonwealth neu. Die litauische Karte wurde da-

gegen zum Teil eines umfassenden sowjetischen Staatsgebildes, das eine sprachliche und po-

litische Sowjetisierung forciert. Die Grenze der LSSR mit den vor allem litauischen und russi-

schen Hinterbliebenen der Familie Milosz’ ist dabei schon identisch mit der Grenze eines zu-

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künftigen Mitglieds einer neuen Familien-Idee mit ererbten, aber wenig bekannten histori-

schen Konflikten – der EU.

Teilprojekt 5: Logiken der Freund- und Feindschaft in der Literatur des ‚Balkans’

Ein viel zitierter Satz Ivo Andrićs avancierte in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts zum

wohl prominentesten literarischen Beleg für den dem ‚Balkan’132 attestierten „ancient

hatred“.133 In der Erzählung Brief aus dem Jahre 1920 (Pismo iz 1920), 1945 verfasst, heißt

es: „Bosnien ist das Land des Hasses und der Angst.“134 Der in Bosnien geborene Jude Maks

Levenfeld, dessen Eltern in Sarajevo vor der Verfolgung in Wien Zuflucht gefunden haben,

spricht hier von der religiösen Vielfalt und der Stimmung im Sarajevo seiner Zeit. Nicht

Andrić selbst, dessen literarischer Text in seinem politischen Statement oft missverstanden

wird,135 sehr wohl aber zahlreiche Kommentatoren der Erzählung, begreifen mit der Figur

Levenfeld den ‚Hass in Bosnien’ als kulturelles Spezifikum, das im größeren Kontext der

‚Affektgeladenheit des Balkans’ steht.

Während im geflügelten Wort der ‚balkanischen Sitten’ diese vermeintlich affektiv geladene

Grunddisposition der Bewohner Südosteuropas eingefangen ist,136 findet in der Literatur des

‚Balkans’ selbst eine ausführliche Auseinandersetzung mit den kultureigenen Affekten statt.

Zahlreiche Texte aus unterschiedlichen Jahrhunderten verhandeln das Thema der freund-

schaftlichen und feindlichen Auseinandersetzung von Kulturen, Religionen und Völkern in

Südosteuropa. In Volks- und Kunstliedern, wie den sevdalinke, den Car Lazar-Zyklen und

der Hasanaginica, in Gundulićs, Njegošs und Mažuranićs Epen, in Ivo Andrićs Romanen bis

zu den jüngsten Erzählungen Miljenko Jergovićs finden sich literarische Verhandlungen des

kultureigenen Diversitätsthemas und des daran geknüpften überindividuellen Affekthaushaltes

der südosteuropäischen Regionen. Der Synkretismus des Kulturraums sowie seine wechsel-

volle Geschichte – folgt man darin der Literatur – gibt Prozesse des Aushandelns, des Streits

und der Versöhnung vor.

132 Zur Problematisierung des Balkanbegriffes vgl. Todorova, Maria N.: „Nomen“. In: dies.: Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil, Darmstadt 1999, S. 41–62. 133 Vgl. dazu Schwartz, Stephen: „Beyond ‚Ancient Hatreds’: What really happened to Yugoslavia“. In: Policy Review 97 (October/ November 1999), S. 39–51. 134 Andrić, Ivo: „Pismo iz 1920“. [„Brief aus dem Jahre 1920“]. In: Deca. Sabrana djela Ive Andrica. [Gesam-melte Werke von Ivo Andrić], Sarajevo 1965, S. 208–227, hier S. 220. 135 Zu Andrićs tatsächlichem politischen Statement und zur Fehllektüre des Textes vgl. Karahasan, Dževad: „Principi mehaničke metafizike“. [„Prinzipien einer mechanischen Metaphysik“]. In: Dosadna razmatranja. [Langweilige Betrachtungen], Zagreb 1997, S. 139–158. 136 Vgl. Winter, Balduin: „Balkanische Verhältnisse. Nationenbildung und Nationalismus in Südosteuropa“. In: ak – analyse + kritik – Zeitung für linke Debatte und Praxis 426 (1999), S. 15.

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Tatsächlich stellt der ‚Balkan’ durch unterschiedliche Spannungsfelder, in denen er sich be-

findet, historisch wiederholt einen prekären Raum dar. Nach und bereits während der osmani-

schen Präsenz wird er zum Schwellenraum zwischen Orient und Okzident und zum Übergang

zwischen Christentum und Islam. Die Grenze zwischen europäischem Katholizismus und öst-

licher Orthodoxie verläuft durch den ‚Balkan’ und im 20. Jahrhundert bildet er zudem den

Grenzraum zwischen dem Westen und dem ideologischen Osten.137 Über Jahrhunderte sind

zahlreiche Kulturen des ‚Balkans’ in die Vielvölkerstaaten des Osmanischen Reichs, der

Habsburger Monarchie und des sozialistischen Jugoslawiens zwangsintegriert. Auch heute

gilt der ‚Balkan’ wieder als in seinen kulturellen Identitäten desintegriert und als national-

staatlich zersplittert. Er ist politisch zum Prüfstein der europäischen Einheit und kulturell zu

einem Symbol europäischer Pluralitätsfragen erhoben worden, die nach Antworten verlangen.

Schriftsteller vom ‚Balkan’ sind entsprechend daran interessiert, auszuloten, wie ihre Kultu-

ren in diese unterschiedlichen politischen, geographischen, ökonomischen und religiösen

Spannungsfelder geraten, wie sie zu Stätten von Übergang und zu Schwellen zwischen anti-

nomischen Welten werden und wie sie sich vor allem inmitten der ihre kulturelle Ausrichtung

beeinflussenden Pole ausrichten und dabei spezifische kulturelle Stimmungslagen etablieren.

Von den bereits genannten Epen (deren Rolle im Selbstverständnis der Kulturen Südosteuro-

pas kaum überschätzt werden kann) bis in die jüngste Literatur von Drago Jančar, Dubravka

Ugrešić, Dževad Karahasan, David Albahari und Dimitré Dinev erscheint in Texten vom

‚Balkan’ die Aushandlung von Konflikten als notwendige Begleiterscheinung der eigenen

Kulturen und oft zugleich als kulturspezifische Kompetenz. Die Literatur vom ‚Balkan’

nimmt darin gewissermaßen die These Maria Todorovas aus Die Erfindung des Balkans. Eu-

ropas bequemes Vorurteil vorweg: Die Pluralität der Länder des ‚Balkans’ habe zur Heraus-

bildung einer Kultur geführt, in der Differenz verhandelbar war und Feindschaft als austrag-

bar galt. Auch der britische Historiker Noel Malcolm beschwört in seiner Geschichte Bos-

niens die lange Tradition balkanspezifischer religiöser und kultureller Toleranz138; und in ih-

rem jüngst erschienenen Buch Arhipelag atlantida präsentiert die Soziologin Janja Beč den

südosteuropäischen Raum als längst existentes, lediglich lädiertes Modell eines funktionie-

renden gemeinsamen Europas. Sie alle postulieren, dass erst der Verlust von Pluralität (durch

nationalstaatliche Europäisierung und durch totalitäre und nationalistische Monokulturen) zur

Einbuße des kulturenkonsolidierenden Vermögens führte.

137 Vgl. dazu Todorova, Maria N.: Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil, Darmstadt 1999, die in Anlehnung an Saids Orientalism die diskursive Konstruktion des dunklen Balkans als Gegenbild Europas untersucht sowie die Mitteleuropa-Diskussion der 80er Jahre. 138 Malcolm, Noel: Bosnia. A short history, London 1994.

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In vielgestaltiger Rede von kulturellen Differenzen und kulturellem Miteinander, vom Schü-

ren und vom Ausgleich von Gefühlen auf dem ‚Balkan’ korrelieren – topographisch auf den

südosteuropäischen Raum Bezug nehmend – Geographie und Affekt. Sowohl die darin ange-

legte Infragestellung kultureller Integrität als auch das Vermögen ihrer steten Wiederherstel-

lung durch eine kulturspezifische Gefühlsökonomie sollen als Balkan-topoi einer kritischen

Überprüfung unterzogen werden.

Ziel des Teilprojekts ist, die Korrelation von Geographie als Gegenstand literarischer Imagi-

nationen (Grundordnung und Affektordnung) und Geo-Graphie (Topo-Graphie) als ästheti-

sches Verfahren (Textordnung) zu untersuchen. Wie werden ästhetische Konzepte (Poetiken,

Schreibweisen, Textsorten) an lokalisierbare Orte, Räume und Territorien gekoppelt? Wie

verhalten sich literarische Narrative zu politischen und religiösen Narrativen, in denen Hete-

rogenität, Pluralität, Synkretismus und damit verbunden Feindschaft und Freundschaft eine

zentrale Rolle spielen?

Das Untersuchungsinteresse des Teilprojekts weist in zwei Richtungen: Zum einen ist zu ana-

lysieren, wie literarische Texte unterschiedliche Narrative der Feindschaft und Freundschaft

aufgreifen und kommentieren, darunter Ausrichtungen und Artikulationen von Hass und

Angst, Rituale der Gastfreundschaft, Techniken des Streitens und des Kampfes, Logiken der

Freundschaft, des Verrats und der Komplizenschaft.139 Zum anderen sind literarische Texte

selbst Ausdruck von Affektordnungen. Die Autoren verknüpfen ästhetische Konzepte mit

politischen und religiösen und machen so deutlich, dass und wie Ideologien sich unterschied-

licher Medien, Textgattungen, Schreib- und Sprechweisen zur Erzeugung und Verbreitung

von Affekten bedienen.

Das Projekt fragt daher nach der Darstellung der als kultureigen inszenierten Affekte in der

Literatur, wie auch nach der emotionalen Wirkkraft der literarischen Texte auf außerliterari-

sche Zusammenhänge. Wie sieht die Affektökonomie der ‚Balkankulturen’ in der Literatur

aus? Welche Affekte werden dargestellt und wie werden diese bewertet? Welches kulturspezi-

fische ‚Gefühlsdesign’ geben sie wieder? Ist die Balkanliteratur nicht nur an der Weitergabe,

sondern auch an der Ausbildung des dominierenden Affektdiskurses selbst beteiligt? Stellen

die literarischen Texte emotionale Verhaltensschemata für die in Rede stehenden Kulturen?140

139 Vgl. dazu Geulen, Christian/ von der Heiden, Anne/ Liebsch, Burkhard (Hg.): Vom Sinn der Feindschaft, Berlin 2002; Derrida, Jacques: Politik der Freundschaft, Frankfurt a. M. 2000; Brehl Medardus/ Platt, Kristin: Feindschaft, München 2003. 140 Jürgen Wertheimer vertritt die Ansicht, dass Literatur auf dem Balkan zur politischen Manipulation fähig ist und daher beobachtet und rechtzeitig entschärft werden müsse, vgl. Wertheimer, Jürgen: Krieg der Wörter. Die Kulturkonfliktslüge, Marburg 2003, S. 94.

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Welche Gesetzmäßigkeiten bestimmen das Affektverhältnis zwischen ästhetischer Ausfor-

mung und rezipierender Lesergemeinschaft?141

Die Untersuchung basiert auf Texten aus Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina,

Serbien, Montenegro, Mazedonien und Bulgarien, die das Schüren und den Ausgleich von

Affekten an Themen kultureller Diversität und Pluralität betreffen. In deren ‚Neuentdeckung’

alter literarischer Texte als kulturelle Grundlage des Disparaten und des Gemeinsamen ihres

Kulturraums, und insbesondere in ihren Affektverhandlungen, liegt auch ein Schlüssel zum

Verständnis aktueller Haltungen auf dem ‚Balkan’. Dabei konzentriert sich die Untersuchung

auf den südslavisch sprachigen Teil der als ‚Balkan’ bezeichneten Region.142

Dabei werden auch Narrative berücksichtigt, die sich von außerhalb des ‚Balkans’ auf den

südosteuropäischen Raum richten. Gerade die Untersuchung der Affektordnungen und Logi-

ken von Freund- und Feindschaft in den literarischen Texten aus Südosteuropa eröffnet aus

südost- und westeuropäischer Perspektive Potentiale der europäischen (Re-?)Integration des

Balkanraumes.

Samuel Huntington hat in seinem, zu einiger Erklärungsmacht gelangten Clash of Civiliza-

tions zwischen der Kultur ‚des Westens’ und der ‚des Islams’ einen Teil des ‚Balkans’ – Bos-

nien – als „nördliche Grenze der islamischen Welt“ beschrieben, geteilt von einer „line of

difference“.143 Für ihn tobt hier der Kampf der Kulturen im Kleinen. Die Texte vom ‚Balkan’

kommentieren den vermeintlichen „clash“ durch einen tatsächlichen: das Nebeneinander un-

terschiedlicher Textordnungen, in denen die Aneignung, Transformation, Okkupation oder

Usurpation von Schreibweisen deutlich wird. So verbindet die sevdalinka- und alhamijado-

Dichtung als orientalisch-slavische Literatur ästhetische Ambi- und Polyvalenz mit dem

mehrfach gespaltenen Raum. Zugleich dekonstruiert die Literatur des ‚Balkans’ aber auch

jene Narrative, die sich hinter dem „Kampf der Kulturen“ verbergen. So ist Ivo Andrićs Brü-

cke über die Drina (Na Drini ćuprija) zum Synonym geworden für den Versuch, die histori-

schen Wurzeln der Feindschaft literarisch zu überwinden. Auch Maks Levenfeld aus der ein-

gangs erwähnten Erzählung macht einen Vorschlag, wie dies zu erreichen sei: „Diesen spezi-

141 Philosophische und rhetorische Affektlehren beschreiben Prinzipien von denkbaren Affektökonomien, wie das der Metriopathie (das Auspendeln von Affekten in der Mitte) und der Homopathie (des Angleichens von Affekten, etwa zwischen Figur und Leser), auf die die Affektordnungen der ‚Balkantexte’ untersucht werden sollen. 142 Zumeist werden unter ‚Balkan’ in wechselnden Besetzungen auch Albanien, Rumänien, Ungarn und Grie-chenland verstanden. Die Untersuchung spart diese aus, da sie den Begriff des ‚Balkan’ nicht als geographisch spezifizierbaren Ort aufgreift, sondern an den in diesem Ausdruck enthaltenen Zuschreibungen interessiert ist. Als Selbstbezeichnung kommt Balkan selten und dann meist die pejorative Besetzung aufrufend zum Einsatz, vgl. Todorova, Maria: „‚Balkan’ als Eigenbezeichnung“. In: dies.: Die Erfindung des Balkan. Europas bequemes Vorurteil, Darmstadt 1999, S. 63–94. 143 Huntington, Samuel P.: „The Clash of Civilizations?“. In: Foreign Affairs 72, 3 (1993), S. 22–28. Huntington spricht hier von „Islam civilization“.

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fischen, bosnischen Hass gälte es zu untersuchen […] ich glaube, dass fremde Wissenschaft-

ler nach Bosnien kämen, um den Hass zu studieren […] wenn der Hass ein ebenso anerkann-

ter, isolierter und klassifizierter Forschungsgegenstand wäre, wie es die Lepra ist.“144

Teilprojekt 6: Das jüdische Odessa. Text und Territorium, Modernisierung in der Diaspora

Odessa war um 1900 eine dynamische Metropole, die vor allem auch für die jüdische Ge-

schichte eine herausragende Rolle spielt: Schauplatz einer Modernisierung, die vom territoria-

len Rand Europas her sich im ständigen Dialog mit Europa befand, ihre Entwürfe aber auf

Palästina bezog, auf ein Territorium, das oft als Außenstelle Europas im Orient betrachtet

wird.

Erst 1794 als Fenster zum Balkan gegründet, wird Odessa Ende des 19. Jahrhunderts zur

Heimat einer der größten jüdischen Gemeinden der Welt mit durchaus widerstreitenden Be-

deutungen: Ort des wirtschaftlichen Aufstiegs und der Akkulturation, Stätte jüdischer Urbani-

tät wie auch Zentrum der jüdischen Renaissance in Osteuropa, aber auch wichtiger Durch-

gangspunkt für die beginnende Auswanderung von Juden nach Palästina.145 In dieser jungen

Stadt, die selbst ohne eigene Tradition ist, treffen die verschiedensten nationalen, religiösen

und regionalen Kulturen auf engstem Raum aufeinander und etablieren andere Lebens- und

Verkehrsformen wie ein modernes jüdisches Vereinswesen und eine hebräischsprachige Pres-

se. Zugleich wird in den kulturzionistischen Diskussionen, die um die ‚neue’ jüdische Gesell-

schaft und Kultur in Palästina geführt werden, über eine moderne jüdische Identität verhan-

delt. Implizit oder explizit mitverhandelt wird dabei zum einen das Verhältnis zu ‚Europa’,

zur europäischen Kultur, zum Nationalstaat etc., zum anderen das zur religiösen Tradition des

Judentums, aus der der Großteil der Protagonisten dieser Debatten stammt. Schließlich wird

das jüdische Odessa schon bald – nach der Revolution 1917146 und dann noch einmal vehe-

menter nach der Vernichtung durch den NS – selbst zum Mythos des Osteuropäischen Juden-

tums, der etwa in der Literatur Isaak Babels sein Nachleben findet.147

Das Teilprojekt zu Odessa untersucht, wie diese Transfer- und Übertragungsleistungen in

literarischen, journalistischen und essayistischen Texten vorgenommen und verhandelt wer-

den. Während das jüdische Odessa in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus der histori-

schen Forschung geraten ist, die v.a. seine innere Differenzierung und seine enge Verbindung

144 Andrić, Ivo: „Pismo iz 1920“. [„Brief aus dem Jahre 1920“]. In: Deca. Sabrana djela Ive Andrica. [Gesam-melte Werke von Ivo Andrić], Sarajevo 1965, S. 208–227, hier S. 225. 145 Bechtel, Delphine: La Renaissance culturelle juive. Europe centrale et orientale 1897–1930, Paris 2001. 146 Penter, Tanja: Odessa 1917. Revolution an der Peripherie, Köln 2000. 147 Arbel, Rachel (Hg.): Homage to Odessa, Tel Aviv 2002.

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mit der russischen Umwelt betont,148 bleibt ein kulturwissenschaftlicher Zugang ein Deside-

rat, besonders wenn Sprachkompetenzen für Jiddisch, Hebräisch, Russisch vorausgesetzt

werden müssen.

In topographischer Hinsicht steht das jüdische Odessa in einer doppelten Beziehung zum

‚Hinterland’: einerseits zu den Kerngebieten der ostjüdischen Diaspora (Litauen, Galizien,

Bukowina), aus denen die Juden Odessas stammen, andererseits zu Erez Israel als der Heimat

der Juden sowohl im traditionell religiösen Sinn als auch im Sinn des zionistischen Ansied-

lungsprojektes. Beide Beziehungen sind selbst ambivalent und daher im hohen Maße bedeu-

tungsproduzierend: Die ostjüdische Tradition etwa wird von den modernen hebräischen Dich-

tern vehement verworfen, aber auch melancholisch beschworen – die Diaspora ist der Ort der

eigenen Herkunft, erscheint aber auch als die ‚unnatürliche’ Existenzform schlechthin. Das

Verhältnis des modernen Palästina zum traditionellen Israel wird Gegenstand schärfster und

ausuferndster Diskussionen – ‚Israel’ ist dabei zugleich utopischer Nicht-Ort par excellence,

zu kolonisierendes, ‚leeres’ Territorium, und sozialer Mikrokosmos, denn gerade die über-

schaubaren Dimensionen der dortigen Gesellschaft erlauben ihre genaue Beobachtung und

permanente Kritik in der Diaspora.

Beide Beziehungen werden in Odessa gerade in der Literatur verhandelt, die auf einer grund-

legenden Revision der Textordnung beruht. Denn um eine moderne hebräische Literaturspra-

che zu schaffen, greifen die Schriftsteller der osteuropäischen Renaissance des Judentums auf

die alte sakrale Textordnung zurück, die sie dabei zugleich transformieren und mit

Kontrafrakturen versehen. So bedient sich Bialiks Lyrik der verschiedenen Schichten der heb-

räischen Überlieferung (der Bibel, der Mischnah, des Mittelalters), um ein modernes lyrisches

Idiom zu schaffen – an ihr lässt sich die stets problematische ‚Säkularisierung der heiligen

Sprache’ (Scholem) genauso in actu beobachten wie an den verschiedenen Projekten der An-

thologisierung der jüdischen Überlieferung und der Modernisierung der traditionellen Päda-

gogik, die in Odessa entworfen werden. Es scheint dabei so – eine freilich zu untersuchende

Hypothese –, als sei die bildliche Repräsentation des Judentums und Palästinas, also die mo-

derne jüdische Bildordnung, eher vom westeuropäischen Zionismus geprägt worden,149 wäh-

rend der osteuropäische Zionismus sich fast ausschließlich im Feld literarischer Imagination

bewegt. Die neue Literatur entwirft eine neue Affektordnung, indem sie auch die Affektmuster

der jüdischen religiösen Tradition transformiert, etwa wenn in Bialiks Lyrik die Trauer des

148 Grundlegend sind die Beiträge in: Diner, Dan (Hg.): Jahrbuch des Simon Dubnow Instituts II, München 2003. 149 Vgl. dazu etwa die entsprechenden Kapitel von Berkowitz, Michael: Zionist Culture and West European Jewry before the First World War, Cambridge 1993.

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Exils nicht nur zur Beschwörung der verlorenen Kindheit wird, sondern sich auch in die

Hoffnung auf ein neues Judentum in Palästina verwandelt.

Die Verhandlungen über Palästina und über Aufgabe und Bedeutung der hebräischen Litera-

tur berühren dabei in fundamentaler wie zweideutiger Weise die jüdische Grundordnung,

insofern hier das ‚Volk ohne Territorium’ einen Boden beansprucht, der in unhintergehbarer

Weise als ‚eigener’ beschrieben wird, womit die ‚jüdische Nation’ in ein modernes, national-

staatliches Muster territorialer Legitimierung eintritt, das sich aber aus biblischen Überliefe-

rungen ableitet. In den Diskussionen um 1900 spiegelt sich dabei nicht nur die Spannung zwi-

schen Religion und Ökonomie, also zwischen dem mythisch-messianischen Charakter des

‚Heiligen Landes’ und seinem schwierigen Erwerb bzw. seiner mühevollen Bewirtschaftung.

Gerade in Odessa werden auch Alternativen entworfen und diskutiert, etwa Simon Dubnows

Vision einer jüdischen Geschichte mit vielen und wechselnden lokalen Zentren oder Achad

Ha’ams Forderung, in Palästina nicht primär eine subsistente Ackerbaukolonie, sondern ein

‚geistiges Zentrum’ für die gesamte Diaspora zu errichten. Gerade in der verdichteten – und

transitorischen – Konstellation von Odessa um 1900 kann somit nicht nur das Zusammentref-

fen verschiedener Kulturen und kultureller Register (Religion, Politik, Literatur) präzise un-

tersucht werden, sondern auch das Ineinanderspiel der verschiedenen Ordnungen, welche die

gemeinsamen Untersuchungsparameter des Gesamtprojekts darstellen.

Teilprojekt 7: Georgien als Grenzraum und kulturelles Palimpsest

Der Zusammenbruch der Sowjetunion, die Unabhängigkeit der Republiken Armenien, Geor-

gien und Aserbaidschan, vor allem aber der fortdauernde Krieg in Tschetschenien und andere

Konflikte (wie derjenige um die armenische Enklave Berg-Karabach in Aserbaidschan oder

der Abchasienkonflikt in Georgiern) haben den kaukasischen Raum in jüngster Zeit stärker

ins Blickfeld der internationalen wissenschaftlichen Aufmerksamkeit gerückt. Generell ist das

Interesse darauf gerichtet, das jeweilige Konfliktpotential aufzudecken und zu historisieren.

Dabei dominieren, speziell in der deutschen Forschung, historische und politikwissenschaftli-

che Untersuchungsperspektiven.150 Unzureichend aufgearbeitet ist jedoch bislang die spezifi-

sche Inter- bzw. Plurikulturalität des Kaukasus. Das Interesse dieses Teilprojekts ist daher auf

die historische und systematische Analyse und Interpretation der sich im Grenzraum Georgien

überschneidenden kulturellen Bedeutungsordnungen gerichtet.

150 Auch, Eva-Maria (Hg.): Lebens- und Konfliktraum Kaukasien. Gemeinsame Lebenswelten und politische Visionen der kaukasischen Völker in Geschichte und Gegenwart, Großbarkau 1996; Motika, Raoul/ Ursinus, Michael (Hg.): Caucasia between the Ottoman Impire and Iran 1555–1914, Wiesbaden 2000.

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Die politische und kulturelle Lage Georgiens in der Kaukasusregion ist die eines Grenzraums.

Als Grenzraum wird ein Raum aufgefasst, dessen Zugehörigkeit zu den Großräumen – etwa

zum Osten und Westen – uneindeutig ist, wenn diese in verschiedenen Diskursen behandelt

und die Grenzen dabei permanent verschoben werden. So wird im Diskurs der georgischen

politischen Theologie Georgien als eine Grenze, nicht zuletzt auch als eine schützende Grenze

für die christliche Welt (ohne Trennung in Ost- und Westkirche) wahrgenommen151, während

die Kultur Georgiens im 17./ 18. Jahrhundert Zugehörigkeit zur islamisch kodierten persi-

schen literarischen und bildlichen Kultur zugerechnet wird. Dieser Zugehörigkeitskonflikt ist

zwar präsent, aber in der Debatte über die Poetik (Kirchensprache vs. Hofsprache als Litera-

tursprache) wird er verhandelt, ohne eine der beiden Zugehörigkeiten grundsätzlich in Frage

zu stellen.

Von außen betrachtet, beruht die Bedeutung von Grenzräumen auf der wechselseitigen

Durchlässigkeit interagierender konfessioneller, politischer, wirtschaftlicher und kultureller

Großräume, für die es verschiedene, mehr oder minder selbstbestimmte Strategien der Hand-

habung und Verhandlung gibt. Traditionellerweise wurde die Beziehung zu derartigen Räu-

men entweder durch Okkupation und Annexion oder durch Verträge geregelt. In diesem Sin-

ne war Georgien militärisch, politisch, wirtschaftlich und kulturell insbesondere seit dem Mit-

telalter Objekt konkurrierender Großmachtansprüche – zunächst persischer und türkischer,

dann russischer, persischer und türkischer, schließlich sowjetischer und westeuropäischer.

Dabei spielte die autokephale Selbstpositionierung Georgiens innerhalb der Ostkirche als be-

stimmender Faktor ebenso eine Rolle, wie die sicherheitspolitischen Erwägungen und die

Anrainerschaft zu den Ölvorkommen der Region. Der georgische Raum kann daher geradezu

exemplarisch als Grenzraum im doppelten Sinne – in trennender und verbindender Rolle –

betrachtet werden: voller Begegnungs-,152 Verhandlungs-,153 aber auch Konfliktpotential154

zwischen unterschiedlichen (vor allem orientaler und okzidentaler) Herrschafts-, Lebens-,

151 Iosseliani, Platon: cxovreba mefisa giorgi mecametisa. [Das Leben des König Giorgi XIII.], Tiflis 1978. 152 Auch im Sinne der „Kontaktzone“. Vgl. Ram, Harsha: „Translating in the Contact Zone“ (Manuskript); Pschawela, Wascha: „aluda qeTelauri“. [Aluda Ketelauri]. In: TxzulebaTa sruli krebuli 10 tomad. redaqtori giorgi leoniZe. t. 3. [Gesammelte Werke in zehn Bänden. Hg. v. Giorgi Leonidze. Bd. 3.], Tiflis 1964; Margwe-laschwili, Giwi: Muzal. Ein georgischer Roman, Frankfurt a. M. 1991; dazu: Andronikashvili, Zaal: „Kollektive Integrität als Hindernis für Integration. Aluda im Spiegel von Muzal“. In: Integrität. Monatshefte für deutsch-sprachige Literatur und Kultur. 97, II (2005), S. 289–308. 153 Greenblatt, Stephen: Shakespeare Negotiations, California 1988. 154 Vgl. die sehr starke, von der Rhethorik der Glaubenskriege geprägte Literatur- und vor allem die Folkloretra-dition, die ihren Höhepunkt im 19. und im 20. Jahrhundert während der Zeit der Nationenbildung erreichte. Et-wa: Pschawela, Wascha: „baxtrioni“. [Bachtrioni]. In: TxzulebaTa sruli krebuli 10 tomad. redaqtori giorgi leoniZe. t. 3. [Gesammelte Werke in zehn Bänden. Hg. v. Giorgi Leonidze. Bd. 3.], Tiflis 1964; Zereteli, Akaki: BbaSi-aCuki. [Baschi-Atschuki]. In: TxzulebaTa sruli krebuli 15 tomad. t. 7. [Gesammelte Werke in fünf Bän-den. Bd. 7.], Tiflis 1958, S. 124–193. Dazu siehe auch Rayfield, Donald: The Georgian Literature. A history. Curzon ²2000, S. 159ff. und 245ff.

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Kultur-, Zivilisations- und Wirtschaftsformen. Das Zusammenspiel dieser einzelnen Faktoren

sorgt für Identitäts- und Integritätskrisen155, die für Grenzräume paradigmatisch sind. Für Ge-

orgien selbst führte der Grenzraumcharakter zu einer Ambivalenz von Zugehörigkeit und

Nichtzugehörigkeit156 (mit oder ohne Selbstzugehörigkeit157).

Die kulturelle Heterogenität Georgiens findet ihren Ausdruck nicht nur in ethnischen, konfes-

sionellen und sprachlichen Differenzen. Aus kulturtheoretischer Perspektive betrachtet, wird

sie auch in der Vielzahl altgriechischer, römischer, jüdischer, hellenistischer, byzantinischer,

arabischer, persischer, türkischer, russischer und westeuropäischer Sujets, Narrative und My-

then deutlich, die in einem komplizierten intertextuellen Verhältnis zueinander stehen.158 Er

erlaubte und erlaubt weiterhin – durch Aktualisierung und Überschreibung wechselnder In-

skriptionen aus dem Speicher des kulturellen Gedächtnisses – die Konstruktion von Genealo-

gien, die je nach Bedarf die politische bzw. kulturelle Zugehörigkeit zu dem einen oder dem

anderen Großraum begründen, oder die Rückkehr bzw. die Erfindung des autochthonen My-

thos im Zuge der Re-Nationalisierung legitimieren sollen. Der konzeptionelle Rahmen des

Teilprojekts hat sich daher auf einen Wechsel der topographischen und topologischen Seman-

tik im Dreieck Autochthonie-Ostzugehörigkeit-Westzugehörigkeit einzustellen. Das Teilpro-

jekt geht also zum einen der Frage nach kulturellen Modellen von Grenzräumen am Beispiel

Georgiens nach und untersucht zum anderen die Manifestierung eines spezifischen geographi-

schen Raums (eines Grenzraums) in den diskursiven und kulturellen Praktiken und Ordnun-

gen.

Um den genannten komplizierten intertextuellen Phänomenen gerecht zu werden, wird auf die

Figur des Palimpsests zurückgegriffen. Die Palimpsestmetapher159 verspricht bei der Untersu-

chung von Grenzräumen sowie Kolonialkulturen besonders fruchtbar zu sein. Als kulturwis-

senschaftliche Metapher eröffnet das Palimpsest die Möglichkeit neben dem kanonischen

bzw. offiziellen Text auch die überschriebenen, verdrängten Texte zu entziffern und die Be-

155 Zur Überführung der Identitätsfrage in die Integritätsfrage vgl.: Integrität. Monathefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 97, II (2005). 156 Boeder, Winfried: „fiqrebi qarTuli enis warsulisa da awmyos Sesaxeb“. [„Gedanken über die Vergangenheit und Gegenwart der georgischen Sprache“]. In: Kiknadze, Surab: saqarTvelo aTaswleulebis mijnaze. [Georgien in der Jahrtausendwende], Tiflis 2005, S. 53–59, hier: S. 55. 157 Im Sinne der Autochthonie. 158 Zum Bestand der kaukasischen „Poetik der Kultur“ (vgl. Baßler, Moritz (Hg.): New Historicism. Literaturge-schichte als Poetik der Kultur, Frankfurt a. M. 1995) zählen mythologische und literarische Sujets von der Arche Noah über Prometheus und das goldene Fließ bis zu Werken von Andreas Gryphius, Karlo Gozzi, Carlo Goldo-ni, Jaques Cazotte oder auch bis zu James-Bond-Filmen. In der russischen literarischen Tradition seit der Ro-mantik wird der Kaukasus hingegen als ein für russische Künstler „gelobtes Land“ (Mandelstamm) wahrge-nommen – ein Ort der Verbannung aber gleichzeitig ein herrschaftsfreier Raum –, was auf den semifiktionalen Status seiner „Fremdwahrnehmung“ hinweist. Diese Fiktionalisierung bzw. Fiktionalität des kaukasischen Rau-mes macht ihn zu einem bevorzugten Gegenstand der kulturwissenschaftlichen Analyse. 159 Die Palimpsestmetapher im kulturwissenschaftlichen Sinne suggeriert aber nicht die Suche nach einem wie auch immer verstandenen Urtext, sondern ist im Gegenteil ein Mittel der Aufdeckung der Pluralität.

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ziehungen zwischen den verschiedenen Textstufen herzustellen. Dabei erschließen sich zeitli-

che und räumliche Dimensionen: der überschriebene und der Überschreibungstext existieren

gleichzeitig nebeneinander und erzeugen auf diese Weise für die Grenzraumkultur signifikan-

te Mehrstimmigkeit. Man kann den georgischen Raum daher – und dies stellt die Leitperspek-

tive des Teilprojekts dar – als pluriregional160 und polichron verstehen, als Palimpsest aus

ethnisch, sprachlich, kulturell und auch zeitlich161 unterschiedlichen loci und topoi.162

Um die Pluralität des georgischen oder kaukasischen Grenzraums zu untersuchen, werden –

in Form von synchronen Schnitten – ausgewählte historische Konstellationen fokussiert. Die-

se betreffen Momente der „Unentschiedenheit“, die als Schwellenzeiten untersucht werden,

welche mit den Zugehörigkeitskrisen einerseits und mit politischen Wenden (wie etwa um

1800) andererseits verbunden sind und zugleich Ausgangspunkte und Ressourcen für die

Konstruktion neuer Zugehörigkeiten und Identitäten bereitstellen. Ein paradigmatisches Bild

für eine solche „Unentschiedenheit“ der Zugehörigkeit stellt ein Porträt des vorletzten georgi-

schen Königs Irakli II. dar. (Nationalmuseum Georgiens, unbekannter Maler, um 1780): Die

europäische Kleidung wird hier mit russischem Ordensband und persischem Turban kombi-

niert (Bildordnungen).163 Die gleichzeitige Präsentation dreier unterschiedlicher Kleiderord-

nungen im Bild verweist auf die kulturelle Pluralität der Stadt Tiflis im 18. Jahrhundert, wie

sie später immer wieder heraufbeschworen wurde: so in den Texten des dreisprachigen Dich-

ters Sayat-Nova im ausgehenden 18. Jahrhundert,164 in der multinationalen Künstlerszene von

Tiflis um 1920165 und auch im postmodernen georgischen Romanzyklus von Aka Mortschi-

ladze um 2000.166 „Meine Konfession ist die der Stadt“ antwortet der Maler Hafis, der Prota-

gonist im Mortschiladzes Roman „Ein Flug über die Madatowinsel und zurück“ (1999) dem

Priester Zacharias auf die Frage, welcher Konfession er zugehörig sei: „Hier sind Schia und

160 Dies ist auch im „narratologischen“ Sinne zu verstehen. 161 Boris Pasternak: одновременность и разновременность в пространстве [Über die Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit im Raum]; vgl. Pasternak, Boris: Die Unterlagen aus dem Bestand des Giorgi-Leonidze staatlichen Museums für georgische Literatur, Tiflis 1999; vgl. Ram, Harsha: „Translating in the Contact Zone“ (Manuskript). 162 Diese Polichronie des kaukasischen Raumes findet ihren Ausdruck auch in den Modernisierungsprojekten und in der Rede von der „Rückkehr in die Geschichte“. Diese Metapher ist spatial und temporal gedacht: als Rückkehr in den europäischen Raum als dem eigentlichen Raum der Geschichte und als Rückkehr in die aktuelle historische Gegenwart, wobei diese räumliche und zeitliche Zugehörigkeit nicht mit den Vorstellungen aller Gruppen übereinstimmt. 163 Die Unentschiedenheit spiegelt die politische Debatte über die Zugehörigkeit zum persischen bzw. russischen Einflussbereich und die Perspektiven des Überlebens als unabhängiges Land im letzten Viertel des 18. Jahrhun-derts wider. 164 Dazu siehe Rayfield, Donald: The Georgian Literature. A History. Curzon ²2000, S. 115ff. 165 Nikoljskaja, Tatjana: Фантастический город: Русская культурная жизнь в Тбилиси (1917–1921). [Eine fantastische Stadt. Russisches kulturelles Leben in Tiflis], Moskau 2000; Grischaschwili, Joseb: Zveli Tbilisis literaturuli bohema. [Die literarische Boheme des alten Tiflis], Tiflis 1989. 166 Mortschiladse, Aka: gadafrena madaTovze da ukan. [Ein Flug über die Madatowinsel und zurück], Tiflis 2004.

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Sunni keine Feinde, hier ist Tiflis“.167 Das „alte“ Tiflis zur Zeit des Irakli II., das Hafis he-

raufbeschwört, wird aus der Perspektive der Romanhandlung um 1900 inszeniert: Tbilissi als

Ort, der in eine obere europäische, aristokratische und in eine untere asiatische Handwerker-

stadt geteilt ist. In dieser Zweiteilung der Stadttopographie verdichtet sich seine Topologie

um 1900 als Wertbesetzung von Ost und West, wobei seit der Wende um 1800 (der Koloni-

sierung durch Russland) eine zunehmende Abwanderung ehemals hochkultureller ‚östlicher’

Kulturerscheinungen (Textordnungen, Kleiderordnungen, aber auch Affektordnungen) in die

Volkskultur zu verzeichnen ist.168 Dagegen hat das vorausgegangene gleichrangige Nebenein-

ander unterschiedlicher Kulturen in der georgischen Literatur- bzw. Kulturwissenschaft zum

Topos einer synthetischen Vereinigung von Gegensätzen als Funktion der georgischen Kultur

geführt,169 der im Teilprojekt kritisch befragt werden muss. Im Mortschiladses Roman ist Ha-

fis, der von seinem Adoptivsohn ermordet wird, eine Metapher für Tbilissi: Aus der Perspek-

tive des Romanautors ist die Stadt, sobald sie ihre plurale Ambivalenz verloren hat, dem Un-

tergang geweiht. Die Rede von Hafis macht aber auch anderes deutlich: damit „Schia und

Sunni keine Feinde“ werden, müssen die großen Homogenisierungsmaschinen, wie Konfessi-

on oder Nation ausgeschaltet bleiben.

Strategien, die die Pluralität des georgischen Grenzraumes unterminieren, sind zum einen die

russisch-imperiale Politik seit 1801, die über kulturelle Differenzen hinwegsieht und den

Kaukasus zu einem wirtschaftlich, politisch und kulturell homogenen Raum zu machen ver-

sucht, und zum anderen jene georgisch-nationale Politik, die seit der zweiten Hälfte des 19.

Jahrhunderts, dann verstärkt seit der Sowjetisierung Georgiens ab 1921 die „fremden“ Spuren

getilgt und durch ein nationales Narrativ überschrieben hat. Nach 1921 sind in Reaktion auf

die Sowjetisierung, die als eine Bedrohung für die nationale Identität wahrgenommen wurde,

nationale und autochthone Mythen reproduziert worden (Konstantine Gamsachurdia, „David

der Erbauer“,170 Grigol Robakidse, „Die Hüter des Grals“171). Damit hat sich die semantische

Besetzung der Räume ein weiteres Mal geändert: Die „positiven“ Werte werden mit dem ei-

genen Raum verbunden, der eigene Raum selbst wird sakralisiert und als sakraler Raum ge-

167 Ebd., S. 18. 168 Die Übersetzungen der persischen Nationalliteratur, die im ausgehenden 18. Jahrhundert noch hoch angese-hen werden, erscheinen Ende des 19. Jahrhunderts in billigen Prosaübersetzungen und werden meist von der Handwerkerschicht von Tiflis gelesen. Die höheren Schichten der Gesellschaft orientieren sich seit dem zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts an europäischen Textbeispielen. Aber auch in den Kleiderordnungen gilt die „euro-päische“ bzw. „asiatische“ Kleidung als ein Sozialmarker. 169 Vgl. Asatiani, Guram: saTaveebTan. [Bei den Ursprüngen], Tiflis 1982. 170 Gamsachurdia, Konstantine : daviT aRmaSenebeli. [David der Erbauer]. In: dies.: rCeuli Txzulebebi – rvatomeuli. t.2/ t.3. [Gesammelte Werke in acht Bänden. Bd 2/ Bd. 3.], Tiflis 1958/ 1962. 171 Robakidse, Grigol: Die Hüter des Grals, Jena 1937. In diesem Fall wird sogar der Gralmythos absorbiert und die Georgier zu den wahren Hütern des Grals gemacht.

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schützt. Diese Strategie bildet sich exemplarisch in Otar Tschiladses Roman „Ein Mann ging

seines Weges…“ (1973) ab,172 einem zeitgenössischen „Remake“ des Mythos über das Gol-

dene Vlies: Hier wird der idyllische Zustand von Kolchis durch die imperialen Spiele des Mi-

noischen Reiches zerstört und der „Sündenfall“ von Kolchis als Übernahme fremder Sitten

(Affektordnungen) beschrieben. Die Rückkehr zur „autochthonen“ Tradition präsentiert sich

als ein nationales Projekt für Georgien.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Teilprojekt darauf zielt, Georgien als palim-

psestartig strukturierten kulturellen Grenzraum sichtbar zu machen und jenen Wechselbezie-

hungen zwischen den konkurrierenden Zugehörigkeitssujets im Dreieck von Ostzugehörig-

keit, Westzugehörigkeit und Autochthonie nachzugehen, die die Pluralität in den „Schwellen-

zeiten“ aufzuheben versuchen. Dabei liegt der Akzent ausdrücklich auf der aktiven Präsenz

„fremder Diskurse“ (чужое слово).173 Untersucht wird ein breites kulturwissenschaftliches

Material (Literatur, Film, bildende Kunst, Architektur, Kostüm etc.), in dem Georgien in sei-

ner problematischen und problematisierten kaukasisch-europäischen Doppelzugehörigkeit

positioniert ist.

7. Erwartetes Ergebnis und Ergebnisverwertung

Die erwarteten Ergebnisse zielen einerseits auf den theoretisch-methodischen Beitrag zur Kul-

turwissenschaft durch die Entwicklung und Erprobung eines interdisziplinären, transkulturel-

len methodischen Instrumentariums, das Brücken schlägt zwischen bisher vollkommen un-

verbundenen Disziplinen.

Darüber hinaus betreffen sie Einsichten in eine angemessenere Analyse der aktuellen Proble-

me der Europäisierung im Horizont der Verschiebung Europas nach Osten.

Insofern richtet sich die Präsentation der Ergebnisse an eine wissenschaftliche, kulturelle wie

politische Öffentlichkeit.

Das ZfL hat in den letzten Jahren in dieser Hinsicht eine differenzierte Praxis von Publikatio-

nen, Veranstaltungen und Medienpräsentationen entwickelt, die sich bewährt hat.

Für das wissenschaftliche Feld:

Neben zwei eigenen Buchreihen (die Reihe Trajekte im Fink Verlag und die Reihe Literatur-

Forschung im Kadmos Verlag) gibt es für die Veröffentlichung von Ergebnissen unterhalb

fertiger Bücher das Instrument der Preprints und – mit besonderem Wirkung, auch ins Feuil- 172 Tschiladze, Otar: gzaze erTi kaci midioda. [Ein Man ging seines Weges], Tiflis 1973. 173 Bachtin, Michail M.: Probleme der Poetik Dostoevskijs, München 1971.

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leton hinein – die Zeitschrift Trajekte, in der regelmäßig aus der laufenden Arbeit im ZfL be-

richtet wird.

Für die kulturelle Öffentlichkeit:

Aufgrund der langjährigen Kooperation mit dem „Literaturhaus“ in Berlin und dem „Museum

für Gegenwart – Hamburger Bahnhof“ können Veranstaltungen für eine kulturell interessierte

Öffentlichkeit durchgeführt werden. So sollen die nächsten Literaturtage des ZfL dem Thema

östlicher literarischer Topographien gewidmet sein, mit der Beteiligung von Autoren aus Ost-

europa, Türkei und Nahem Osten. Außerdem ist an eine Ausstellung gedacht, in der im dritten

Jahr die Ergebnisse visuell und medial vorgestellt werden, unter Einbeziehung von Bild-,

Text-, Klang- und materieller Kultur. Hier bietet sich evtl. eine Kooperation mit der Bundes-

kulturstiftung an.

Für die politische und Medien-Öffentlichkeit:

Es ist geplant, die Ergebnisse des Projekts im Rundfunk, im Feuilleton und im Fernsehen zur

Diskussion zu stellen. Es bestehen gut funktionierende Kontakte zu mehreren Rundfunksen-

dern, zu mehreren Zeitungen und z.B. zu „Kulturzeit“ und zum „Nachtstudio“ des ZDF, wo

auf unsere Anregung hin kürzlich eine Sendung zur „Wiederkehr der Märtyrer“ stattgefunden

hat.

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8. Veranstaltungen bis Ende 2007

2006

27./ 28. November: Auftaktveranstaltung

BMBF Förderungsschwerpunkt: „Geisteswissenschaften im Dialog −

Rahmenthema EUROPA − Kulturelle und soziale Bestimmungen Euro-

pas und des Europäischen“ (HarnackHaus Berlin)

2007

11./ 12. Januar: 1. Workshop „Semantiken des Ostens“ (ZfL)

20./ 21. April: 2. Workshop „Europa-Konzepte“ (ZfL)

5. Juli: 3. Workshop „Bild- und Textordnungen“ (ZfL)

18. Juli: Reihe „Geisteswissenschaften im Dialog“

Wie gut kennen wir Europa? Gegenwart und Geschichte einer pluralen

Kultur. Mit D. Gosewinkel (WBZ), S. Gödde (FU),

S. Weigel (ZfL), A. Platthaus (FAZ)

(Französische Friedrichstadtkirche Berlin)

6./ 8. Dezember: Internationales Symposium „Bild- und Textordnungen im religionskul-

turellen Vergleich“ (ZfL)

Geplant sind:

weitere Workshops zu „Affekt- und Kleiderordnungen“ bzw. „Grundordnungen“ sowie eine

internationale Abschlusstagung.

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9. Programme der bisher gehaltenen Workshops

Programm des Workshops „Semantiken des Ostens“

11. und 12. Januar 2007, Schützenstrasse 18, 10117 Berlin, Raum 308–310.

Donnerstag, 11. Januar 2007

I. Die Orientalismus-Debatte nach Said

Teil 1: Zur Theorie-Debatte

Andreas Pflitsch: Das Mündel will Vormund sein. Orientalismus-Kritik und ‚Orientalismus’-

Kritik als Selbst-Orientalisierung im Orient

Teil 2: Der Orient in Film und Literatur

Zaal Andronikashvili: Der verdrängte Orient

Kader Konuk: Orient-Bilder in der deutschen Literatur

II. Das Osmanische Reich

Elke Hartmann: Das Osmanische Reich und sein Osten: mission civilisatrice, Kolonisierung,

Imperialismus und moderne Verwaltung

Vahé Tachjian: The „Inner East“: The Eastern Ottoman Provinces as seen from Istanbul

III. Israel und Judentum zwischen Europa und Orient

Teil 1: Israel

Alexandra Nocke: Zwischen Europa und der Levante – „Israel is a Mediterranean society in

the making“

Freitag, 12. Januar 2007

Teil 2: Judentum

Martin Treml: Zur Figuration des Juden als Orientale

Jörg Schulte: Die hebräische Renaissance in Odessa (1882–1922)

IV. Osteuropa/ Südosteuropa

Magdalena Marszalek/ Sylvia Sasse: Erfindung Osteuropas

Miranda Jakiša: Europas Südosten: Europa balcania vs. Balkanismus

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V. Berlin – Moskau via Vilnius und Königsberg

Teil 1: Russische Ost-Diskurse

Franziska Thun-Hohenstein: „…mit dem einen Arm auf China, mit dem anderen auf Deutsch-

land gestützt“ (P. Čaadaev). Russische Ost-Diskurse (19./ 20. Jhd.)

Teil 2: Stadt-Diskurse

Stephan Braese: Der vorgeschobene Posten: Königsberg in der Konstellation ‚Berlin und der

Osten’

Janis Augsburger: Vilnius finden, Vilnius erfinden – Stationen eines Stadtgedächtnisses

Esther Kilchmann: Zum Topos der Orts- und Geschichtslosigkeit in Berlin – Beschreibungen

um 1800

Resümee und Perspektiven

Programm des Workshops „Europa-Konzepte“

20. und 21. April 2007, Schützenstraße 18, 10117 Berlin, Raum 308–310.

Freitag, 20. April 2007

I. Ursprungsgeschichten

Sigrid Weigel: Die Zeit wächst aus dem Raum

Martin Treml: Unreine Ursprünge Europas

Jörg Schulte: Gründungsmythen in der polnischen Literatur, ihre europäischen Parallelen und

ihr Nachleben

II. Sonderweg

Daniel Weidner: Sonderweg und Universalgeschichte. Max Webers okzidentalische Ge-

schichtsschreibung

Andreas Pflitsch: Erklären, begründen, beschreiben. Der europäische Sonderweg bei Michael

Mitterauer, Ferdinand Seibt und Wolfgang Reinhard

III. Entwürfe I

Zaal Andronikashvili:Das andere Europa

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Samstag, 21. April 2007

IV. Entwürfe II

Janis Augsburger/ Miranda Jakiša: Ungleichzeitigkeiten des Europäischen. Von Gleichge-

wichtsübungen und Minderwertigkeitskomplexen

Tatjana Petzer: Bewegliches Territorium. „Der NSK Staat in der Zeit“

Vahé Tachjian: Imagining a new community: the place of Europe in the thinking of the Otto-

man Armenian elite

Esther Kilchmann: Europa als Friedensordnung. Saint-Pierres früher Entwurf eines europäi-

schen Völkerbundes

Programm des Workshops „Bild –und Textordnungen“

5. Juli 2007, Schützenstraße 18, 10117 Berlin, Raum 303.

Donnerstag: 5.7. 2007:

1. Repräsentationsbegriff

Franziska Thun-Hohenstein/ Zaal Andronikashvili: Kaiserporträt- Ikone- Königsporträt

2. Bilderverbot

Miranda Jakiša/ Martin Treml: Bilderverbot als Bilderordnung im Verhandlungsraum

3. Fotographie

Janis Augsburger/ Vahé Tachjian: Fotografische Ordnungen des Ostens

Elke Hartmann: Bildlichkeit- öffentliche Meinung und Propaganda

4. Gattungen/ Theater

Andreas Pflitsch/ Esther Kilchmann: Eine Gattung auf Wanderung. Theater zwischen Text,

Bild und Kulturen

5. Adonismythos

Jörg Schulte: Literarische und ikonographische Rezeptionen des Adonis-Mythos. Zur Vorge-

schichte von Saul Tschernichowskys Gedicht „Auf Tammuz“

63

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