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Prinzipien einer Sozialethik

2. Teil: Ethische Rahmenbedingungen für das wirtschaftliche Handeln

Vorlesung 2006 Fakultät f. Informatik

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Die Aufgabe des Staates und der internationalen Staatengemeinschaft Die Aufgaben der Politik vollziehen sich auf unterschiedlichen

Ebenen, je nach der Größe der Gemeinschaften, vor allem aber auf der Ebene des Staates. Im 19. Jahrhundert, als im Zuge der ersten Industrialisierung und beim vorherrschenden Liberalismus das menschenunwürdige Elend des Proletariats entstanden ist, hat auf Grund lang andauernder Kämpfe der sich solidarisch vereinigenden Arbeiter und auch der Pioniere, die sich von christlichen Ideen leiten ließen, der Staat es allmählich verstanden, dass er soziale Rahmenbedingungen für das Wirtschaften herstellen musste – durch die sich ständig verbessernde Sozialgesetzgebung, aber auch durch Maßnahmen, welche den Wettbewerb sicherstellten, indem Kartellbindungen und Preisabsprachen verhindert wurden.

Diese Aufgabe des Staates ging in Europa auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weiter, so dass in unseren Ländern eben eine soziale Marktwirtschaft entstanden ist und auch eine Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.

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Die Aufgabe des Staates und der internationalen Staatengemeinschaft In Krisenzeiten hatte der Staat auch subsidiär ins

Wirtschaftsgeschehen eingegriffen, in dem er selber Unternehmer wurde und auch Arbeitsplätze geschaffen hat. Was aber als Konjunkturbelebung gedacht war, wurde dann leider in Zeiten der Hochkonjunktur nicht mehr zurückgefahren, so dass eben die große Staatsverschuldung eingetreten ist.

Es ist nämlich nicht primäre Aufgabe des Staates, Arbeitsplätze zu schaffen, sondern das sollen die freien Unternehmer tun, die entsprechende Investitionen tätigen. Der Staat hat bloß flankierende Hilfen zu leisten, indem die strukturellen Voraussetzungen geschaffen, indem auch die Lohnnebenkosten verringert werden.

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Die Aufgabe des Staates und der internationalen Staatengemeinschaft Ebenso muss der Staat sehr vorsichtig mit dem Instrument der

Steuern umgehen. Sie dienen zwar dazu, um die notwendigen Mittel für die strukturellen und sozialen Maßnahmen zu bekommen, auch um einen sozialen Ausgleich herzustellen, so dass Vermögensbildung möglich ist und ein Mittelstand entstehen kann, aber der Steuerdruck darf nicht so hoch werden, dass Unternehmen es nicht mehr als lohnend ansehen, ihre Produktion in diesem Land aufrecht zu erhalten, sondern lieber in Billiglohn- und Niedrigsteuerländer auswandern.

Hier zeigt sich auch die neue Situation einer radikalen Globalisierung, welche durch die neuen Kommunikationstechnologien und auch die billigen Transporte ermöglicht wurde. Die Möglichkeiten der einzelnen Staaten sind hier längst dem globalen freien Markt und der großen internationalen Unternehmen untergeordnet.

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Die Aufgabe des Staates und der internationalen Staatengemeinschaft Auch haben sich die Finanz- und Kapitalmärkte

vielleicht am vollständigsten auf die Globalisierung eingelassen, so dass der größte Teil der internationalen Transaktionen sich längst von der realen Wirtschaft, von ihrer Produktion losgekoppelt hat.

Das Kapital ist dem reinen Wettbewerb unterworfen und geht in Sekundenschnelle dorthin, wo die meisten Profite zu erwarten sind.

Die Rolle der Shareholder, also jener, die ihre Gewinne aus dem Kapitaleinsatz erwarten, braucht sich nicht um die verschiedenen Stakeholder, um die davon Betroffenen zu kümmern.

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Die Aufgabe des Staates und der internationalen Staatengemeinschaft Es zeigt sich die dringende Notwendigkeit einer internationalen

Kontrolle der Kapitalmärkte. Eine Besteuerung dieser Kapitaltransaktionen, eine so genannte Tobin-Tax, wäre sinnvoll, unter der Voraussetzung, dass sie sich durchführen und kontrollieren ließe.

Was fehlt, ist eben der politische Contrapart. Es braucht zwar keine Weltregierung, aber doch ein System von international verbindlichen Abmachungen.

Nach den verschiedenen Protesten des so genannten No-Global-People - man denke an Seattle im Jahre 1999, an das Social-Forum in Genua im Jahre 2001 - ist bei der WTO, der Welthandelsorganisation und bei der Weltbank ein gewissen Umdenken da, eine gewisse Dialogbereitschaft, aber der Weg für gerechte Handelsbedingungen, für ethische Rahmenbedingungen des Marktes auf Weltebene ist noch sehr weit.

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Globalisierung der Solidarität

Unter ethischer Rücksicht ist wiederum der Gedanke der universalen Bestimmung der Güter auf der Erde und auch der einer globalen Menschheitsfamilie einzubringen, der ja auch die künftigen Generationen mit einbezieht.

Wenn das Haus der Welt uns nicht gehört, wenn wir es nur zu Lehen bekommen haben, müssen wir auch bedenken, in welchem Zustand wir es den kommenden Generationen übergeben können.

Es werden hierzu verschiedene Überlegungen angestellt, indem z. B. verschiedene fundamentale Güter zum Patrimonium der Menschheitsfamilie erklärt werden, wie im Umweltbereich z.B. der Schutz des Meeresflora oder die Konventionen zur Biodiversität und zum Klimawandel (Weltumweltgipfel von Rio de Janiero, Protokoll von Kyoto).

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Globalisierung der Solidarität

Die moderne Gesellschaft hat zweifelsohne eine Individualisierungstendenz.

Auf der anderen Seite sind aber gerade in den vielen Vereinen und regierungsunabhängigen Organisationen (NGOs) sehr viele Formen der Solidarität entstanden.

Ein Staat lebt und steht mit der Solidarität seiner Bürger: er kann diese nicht herstellen, sondern darf dankbar auf sie zurückgreifen. Er sollte sich dessen auch stets bewusst sein und entsprechende Förderungen für den Erziehungsbereich zur Verfügung stellen.

Die Werteerziehung aber wird von den Familien und auch von religiösen und ideellen Gemeinschaften geleistet. Dabei spielen die modernen Massenmedien eine große Rolle.

Es braucht aber immer auch kleine erfolgsversprechende Projekte, in denen Solidarität eingeübt werden kann.

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Globalisierung der Solidarität

Im Kontext der Globalisierung wird Solidarität der ganzen Menschheitsfamilie eine besondere Berücksichtigung der Benachteiligten verlangen, sowohl der neuen Armut in unseren Ländern als auch der von der wirtschaftlichen Entwicklung ausgeschlossenen Länder der Dritten Welt.

Konkret kann damit der Schuldenerlass für die ärmsten Länder gemeint sein, verstärkte Entwicklungshilfe und Förderung eines regionalen, auf die jeweiligen Kulturen abgestimmten wirtschaftlichen Wachstums. Ebenso sind auch die Modelle zu überdenken, welche die Entscheidungen für die Entwicklungshilfe inspirieren, im Sinne einer “neuen Kultur der Solidarität”.

Es ist einfach ein Skandal, dass der vor Jahren vereinbarte Prozentsatz von 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, das die einzelnen Staaten für Entwicklungshilfe aufbringen sollten, bei weitem nicht erreicht wird, ja in den letzten Jahren sogar gesunken ist.

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Globalisierung der Solidarität

Vielleicht kann die weltweite Solidarität, die nach der Flutkatastrophe in Südostasien aufgebrochen ist und die riesige Spendensummen erbracht hat, bei einigen betroffenen Ländern auch einen Erlass ihrer Schulden, als ein Zeichen für ein Umdenken verstanden werden.

Angesichts solcher Erfahrungen, welche die Ohnmacht der Menschen und die Gefährdetheit allen Lebens und allen Wirtschaftens in Erinnerung gerufen haben, müssten wir als Menschheitsfamilie mehr zusammenrücken.

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Das Sozialprinzip der Subsidiarität

Dieses Prinzip ist eine Folge des Vorrangs der Person und niederer Strukturformen vor den höheren Strukturen und wurde erstmals von Papst Pius XI. in seiner Enzyklika „Quadragesimo anno“ von 1931 ausführlich formuliert.

Man kann dieses Prinzip als ethisches Korrektiv zu den totalitären Systemen, insbesondere des Nationalsozialismus im 20. Jahrhundert verstehen

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Das Sozialprinzip der Subsidiarität

In der genannten Enzyklika von Pius XI. wird das Prinzip folgendermaßen umschrieben.

Nr. 79: „Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit sei nen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung.

Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen“

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Das Sozialprinzip der Subsidiarität

Die Subsidiarität hat in der letzten Zeit neue Aktualität gewonnen, indem sie 1992 auch in den Maastrichter Vertrag zur Europäischen Einigung, in den Vertrag europäischer Grundrechhte von Nizza und in den Entwurf einer europäischen Verfassung aufgenommen wurde.

Dabei stand als Pate die Idee, dass der Wohlfahrtsstaat abgebaut werden muss, weil er die Ansprüche an ihn nicht mehr erfüllen kann.

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Das Sozialprinzip der Subsidiarität

Subsidiarität heißt „Vorfahrt für Eigenverantwortung“. Es ist das „Kompetenz- und Zuständigkeitsprinzip einer freiheitlichen Gesellschaft“.

Es ist nicht vertikal, in der Richtung von oben nach unten zu verstehen, dass also die Delegation von oben nach unten geht, indem Kompetenzen vom Staat auf niedere Strukturen übertragen werden sollen, wobei von oben her aber die Bedingungen festgelegt werden, oder der Staat mit privaten Organisationen Konventionen abschließen will, damit diese kostengünstiger gewisse Leistungen erbringen.

Umgekehrt meint Subsidiarität hingegen eine Richtung von unten nach oben oder auch horizontal eine Zusammenarbeit zwischen Personen und Institutio nen gleicher Würde.

Dabei soll jede Einheit das leisten, wozu sie imstande ist, ja sie hat sogar ein Recht, dafür von oben, von der höheren Einheit, eine Hilfe, ein „subsidium“, zu erhalten.

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Das Sozialprinzip der Subsidiarität

Dies hat Konsequenzen für die Wirtschaft, z.B. ist es nicht in erster Linie Aufgabe des Staates, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen bzw. Arbeit zu schaffen, sondern dies ist Aufgabe der Wirtschaftstreibenden selbst.

Sie haben aber ein Recht auf gewisse Rahmenbedingungen, auf gewisse korrigierende Fördermaßnahmen, damit sie ihrer Aufgabe, durch Investitionen und Innovationen Arbeitsplätze zu schaffen, nachkommen können.

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Das Sozialprinzip der Subsidiarität

Auf die Globalisierung bezogen heißt der Gedanke der Subsidiarität dann auch, dass neben der planetarischen Vernetzung es auch eine Stärkung regionaler Integrationsprozesse braucht, also der Zwischeninstitutionen wie Europa, aber auch unterhalb der Staaten der einzelnen Regionen (Bildung von länderübergreifenden Europaregionen) bis hinunter zu den Kommunen.

Dabei geht es nicht nur um verschiedene Ebenen öffentlicher Institutionen, sondern auch um alle Formen eines Zusammenwirkens in Vereinen, Initiativen, Bürgerbewegungen usw., um all das, was man Zivilgesellschaft nennt.

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Das Sozialprinzip der Nachhaltigkeit (sustainable development)

Dieses Prinzip ist die eigentliche Antwort auf die globalisierte Umweltproblematik.

Es ist entstanden durch die Einsicht in die Vernetzungen und Zusammenhänge der Welt, und zwar zuerst im ökologischen Bereich.

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Das Sozialprinzip der Nachhaltigkeit (sustainable development) Schon im 18. Jahrhundert hatte man in der

Forstwirtschaft von nachhaltiger Bewirtschaftung gesprochen. Diese ist dann gegeben, wenn im Wald nur so viel Bäume geschlägert werden, als im natürlichen Kreislauf wieder nach wachsen.

Es war dann die norwegische nachmalige Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland, die als Vorsitzende der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung (WCED – World Commission on Environment and Development) in ihrem Abschlussbericht von 1987 diesen Gedanken im Begriff der „nachhaltigen Entwicklung“ (sustainable development) einführte, der dann auch von dem UN-Summit von Rio de Janeiro im Jahre 1992 aufgenommen wurde. Seitdem wird der Begriff immer wieder verwendet und auch diskutiert.

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Das Sozialprinzip der Nachhaltigkeit (sustainable development) Nachhaltige Entwicklung klingt für manche fast als begrifflicher

Widerspruch. Denn bei der Entwicklung denkt man vor allem an Entfaltung, an quantitatives Wachstum. Aber genau diese Wachstumsideologie war eine der Ursachen für die Ausbeutung der Natur und den unverantwortlichen Verbrauch der natürlichen Ressourcen.

„Nachhaltig“ aber besagt, dass der ganze Verbrauch auch knapper Ressourcen den natürlichen Kreislauf beachten muss, dass somit auch die Zukunft sichergestellt ist. Im Deutschen wird deshalb anstelle von Nachhaltigkeit auch der Begriff „Zukunftsfähigkeit“ gebraucht, in anderen Sprachen spricht man von Dauerhaftigkeit (durable, auch im Niederländischen wird dieses Wort gebraucht).

Praktisch heißt dies: Ich muss so leben und wirtschaften, dass das vernetzte System mit seiner Vielfalt von Arten und Zusammenhängen, die wir erst allmählich erkennen, erhalten bleibt, und zwar für alle Menschen heute und für die kommenden Generationen. Mit der Zukunftsperspektive ist auch die soziale Perspektive heute verbunden, der Blick auf die Nord-Süd-Problematik.

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Das Sozialprinzip der Nachhaltigkeit (sustainable development) Gemeint ist, dass die Umwelt bzw. die globalen

Zusammenhänge nicht bloß im nachhinein repariert werden dürfen oder dass die Umweltberücksichtigung sogar als Störung des wirtschaftlichen Profitstrebens angesehen wird, sondern es wird die Überzeugung ausgedrückt, dass eine dauerhafte Entwicklung nur dann möglich ist, wenn von Anfang an die Bereiche der Wirtschaft, der Ökologie und auch der sozialen Gerechtigkeit sowie der Friedenserhaltung als miteinander verknüpft angesehen werden.

Es geht um die langfristige Perspektive, die in Kontrast steht zu kurzfristigen Gewinnmaximierungen. Auch hier muss die internationale Völkergemeinschaft jene politischen Rahmenbedingungen schaffen, damit uns die Erde erhalten bleibt, damit das Leben und das gute Leben, in dessen Dienst ja die Wirtschaft steht, langfristig garantiert werden kann.

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Konkretisierung durch das Vorsorgeprinzip (principle of precaution) In der ethischen Argumentation müsste man nun eine

Ebene weiter heruntergehen, indem für bestimmte Bereiche entsprechende mittlere Prinzipien bzw. Leitkriterien oder auch Wertvorzugsregeln formuliert werden.

Für den Bereich der Ökologie aber auch der Gesundheitspolitik wurde hier vor allem das Vorsorgeprinzip eingeführt.

Die Vorsorge oder Vorsicht ist ein uralter ethischer Begriff, der der Klugheit zugeordnet ist: wer Verantwortung für ein Haus- oder Staatswesen hat, muss für schlechtere Zeiten vorsorgen, so wie es der ägyptische Joseph getan hat oder wie es die Ameisen im Tierreich tun.

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Konkretisierung durch das Vorsorgeprinzip (principle of precaution)

Im Umweltbereich hat man im deutschen Sprachraum erstmals auf ein Vorsorgeprinzip Bezug genommen anfangs der siebziger Jahre in Zusammenhang mit der Problematik des „sauren Regens“, auch findet man seine Erwähnung schon in den Texten der von der UNO einberufenen ersten Umweltkonferenz von Stockholm (1972), ohne dass aber eine genaue Definition gegeben worden wäre.

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Konkretisierung durch das Vorsorgeprinzip (principle of precaution) Von da an kommt das Prinzip immer wieder in

internationalen Dokumenten vor, so vor allem in der Zweiten UN-Konferenz zu „Umwelt und Entwicklung“ (UNCED) von Rio de Janeiro von 1992 in der Nr. 15 der Erklärung und in den Konventionen zur Artenvielfalt und zum Klimawandel, sogar im Abkommen der WTO von 1997 über gesundheitliche und phytosanitäre Maßnahmen, und für uns Europäer vor allem in den EU-Verträgen von Maastricht (Art. 130r) und Amsterdam (Art. 174,2), in der Erklärung der EU-Minister auf dem Gipfel von Nizza (2000) und schließlich im Kapitel III des vom Europäischen Konvent angenommenen und am 18.7.2003 dem Präsidenten des Europäischen Rates in Rom überreichten Vertrags über eine Verfassung von Europa (Artikel III-129).

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Konkretisierung durch das Vorsorgeprinzip (principle of precaution)

Von der EU-Kommission gibt es schließlich zwei Erklärungen zum Vorsorgeprinzip, eine wurde von der Generaldirektion XXIV am 17.10.1998 herausgegeben mit dem Titel „Guidelines on the application of the precautionary principle“ und eine zweite mit dem Titel „Communication from the Commission on the precautionary principle“ wurde auf Grund eines Beschlusses des Ministerrats der EU vom 13.4.1999 von einer Expertengruppe verfasst und am 2.2.2000 veröffentlicht.

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Konkretisierung durch das Vorsorgeprinzip (principle of precaution)

Vorab muss aber nochmals der Begriff der Vorsorge („precaution“) im Unterschied zur Vorbeuge (Prävention, „prevention“) genauer abgeklärt werden.

Von „Vorbeugung“ (Prävention) sprechen wir, wenn es sichere Kenntnis über zu erwartende Schäden gibt, die durch eine entsprechende Strategie vermieden werden sollen,

während wir von „Vorsorge“ oder „Vorsicht“ (wie man neuerlich im Deutschen sagt) („precaution“) sprechen, wenn es auf Grund der Forschungslage zwar Hinweise auf mögliche Schäden sind, die aber nicht sicher sind, wobei allerdings die begründete Vermutung besteht, dass durch Nicht-Handeln Schäden entstehen können.

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Konkretisierung durch das Vorsorgeprinzip (principle of precaution) Die spezifische Problematik einer Vorsorge ergibt sich nicht nur auf

Grund der schwierigen Einschätzung von Forschungsergebnissen bei so komplexen Zusammenhängen wie des Einflusses von Umweltveränderungen auf die menschliche und tierische Gesundheit, sondern auch bei der möglichen Gefährdung menschlichen Lebens auf Erden schlechthin.

Man denke an Anwendungen der nuklearen Energie oder auch der Gentechnologie. Hier wird die Schwelle überschritten, in der man noch nach dem Prinzip des „trial and error“, also der fortlaufenden Korrekturen von Fehlern vorgehen kann.

Hans Jonas hat sich deshalb in seinem „Prinzip der Verantwortung“ für eine „Heuristik der Furcht“ ausgesprochen und meint, „dass in Dingen einer gewissen Größenordnung – solchen mit apokalyptischem Potential – der Unheilsprognose („worst case“) größeres Gewicht als der Heilsprognose zu geben ist

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Konkretisierung durch das Vorsorgeprinzip (principle of precaution)

Für diese neue Situation hat der deutsche Soziologe Ulrich Beck den Begriff der „Risikogesellschaft“[1] geprägt. Es geht also bei dem Vorsorgeprinzip um das verantwortliche Handeln angesichts einer unsicher bleibenden Bewertung von Risiken der Folgen moderner Technologien [1] Vgl. Ulrich BECK, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt: Suhrkamp, 1986

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Konkretisierung durch das Vorsorgeprinzip (principle of precaution)

Die erwähnte „Communication“ der EU-Kommission vom Jahre 2000 möchte informieren, wie die EU-Kommission selbst mit dem Vorsorgeprinzip umgehen will, auch um zu vermeiden, dass damit ein maskierter Protektionismus gerechtfertigt werden könnte.

Es soll nur um langfristige Risiken gehen, welche Auswirkungen auf das Wohl der künftigen Generationen haben könnten, und zwar geht es um einen strukturierten Entscheidungsprozess, der auf drei Elemente der Technikfolgen Bezug nimmt: auf die Einschätzung des Risikos selbst, auf die Wahl des Strategie, um mit dem Risiko umzugehen, und um die Information über das Risiko.

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Konkretisierung durch das Vorsorgeprinzip (principle of precaution) In der Nr. 5 wird geklärt, dass das Vorsorgeprinzip nicht bei der

Einschätzung des Risikos anzuwenden ist, sondern nur als handlungsleitendes Prinzip für den Umgangs mit dem Risiko selbst, also für die Frage, ob man handeln soll oder nicht und wie man handeln solle.

Die Unsicherheit bei der Einschätzung eines Risikos kann sich aus verschiedenen Faktoren ergeben, die der Reihe nach aufgezählt werden: aus gewählten Variablen, aus dem vorgenommenen Messungen, aus den gewählten Probanden, den verwendeten Modellen, den Kausalzusammenhängen, ebenso aus der Interpretation der Messungen und Daten.

Gerade bei der Toxikologie gilt das Level ALARA („as low as reasonably achievable“), wobei gerade über die Grenzwerte beträchtliche Unsicherheiten bestehen – man denke zum Beispiel an den Einfluss elektromagnetischer Felder oder an die Feinstaubbelastung. Für manche Bereiche gibt es schon standardisierte Klugheitselemente.

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Konkretisierung durch das Vorsorgeprinzip (principle of precaution) Das Vorsorgeprinzip verlangt, dass für jede Phase der Grad der

unsicheren Beurteilung erhoben und immer auch abgeschätzt wird, welche Konsequenzen ein Nicht-Handeln hätte. Die Entscheidung, jetzt zu handeln oder noch abzuwarten, bis genauere wissenschaftliche Daten vorliegen, verlangt die größtmögliche Transparenz, die alle möglichen Interessenten und Betroffenen in die verschiedenen Optionen miteinbeziehen will.

Eine solche Prozedur des Umgangs mit Risiken bei bleibender Unsicherheit verlangt Proportionalität (Abwägung Maßnahmen bezugnehmend auf Niveau des gewählten Schutzes, wobei die Gesundheit den absoluten Vorrang hat), Nicht-Diskriminierung (gleiche Fälle müssen gleich behandelt werden, in allen Fällen und in allen, auch den militärischen Anwendungen), Kohärenz mit anderen analogen Maßnahmen, Abwägung der Vor- und Nachteile aus dem Handeln und Nicht-Handeln (wobei auch die Akzeptanz durch die Bevölkerung eine Rolle spielt), schließlich die Berücksichtigung des wissenschaftlichen Fortschritts (andauernde Forschung und Monitorisierung der des Erfolgs der getroffenen Maßnahmen).

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Konkretisierung durch das Vorsorgeprinzip (principle of precaution) Als letztes verschiebt die „Communication“ die Beweislast,

indem also nicht der potentielle Geschädigte den möglichen Schaden nachweisen muss, sondern vor der Zulassung bestimmter Stoffe muss der Erweis gebracht werden, dass kein Schaden angerichtet wird bzw. dass der Schaden in tolerierbaren Grenzen bleibt.

Es handelt sich hier um das Verursacherprinzip, das auf die Umwelt angewandt manchmal als „Polluers Payers Principle“ genannt wird, also wer die Umwelt verschmutzt, muss für den Schaden aufkommen.

Es ist dies ein Prinzip, das in der allgemeinen Formulierung ethisch unmittelbar einsichtig erscheint, das aber gerade bei komplexen Verursacherketten in der Anwendung nicht nur sehr schwierig ist, sondern auch radikale Änderungen der Optionen in der Wirtschaftspolitik verlangen würde.

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Konkretisierung durch das Vorsorgeprinzip (principle of precaution) Gerade deswegen sind gegen das Verursacherprinzip und

auch das Vorsorgeprinzip mehrmals Einwendungen von Wissenschaftlern gemacht worden, so als ob dadurch die Forschung selbst und die Experimentation mit neuen Technologien behindert würde.

Es muss hierzu geklärt werden, dass, es sich beim Vorsorgeprinzip um eine prozedurale Regel handelt, die im weiteren Sinne konsequenzialistisch ist, die also verlangt, dass man prima facie bei bestehender Unsicherheit mit Vorsicht ans Werk geht.

Dabei muss vermieden werden, dass gewisse Stoffe oder Handlungen schon von ihrer Natur her als unnatürlich und insofern als unethisch angesehen werden, seien es nun genetisch modifizierte Organismen oder technisch invasive Methoden in der Landwirtschaft.

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Konkretisierung durch das Vorsorgeprinzip (principle of precaution) Es muss bei der Abwägung der Folgen unter Bezug auf

die in einem gesellschaftlichen Konsens gewählten Ziele bleiben.

Selbstverständlich kann man hier nicht utilitaristisch im klassischen Sinne vorgehen, so dass also die durchschnittliche Verbesserung der Gesundheit und der Lebensbedingungen der Menschheit es rechtfertigen könnte, dass einzelne Menschenleben geopfert werden.

Für eine Lösung bietet sich vielmehr das „Maximin“-Prinzip von Rawls an, nämlich dass das Risiko so verteilt sein muss, dass es jene am wenigsten treffen sollte, die am schlechtesten stehen. Eine solche Strategie bedeutet noch lange nicht, dass man im Sinne der „Heuristik der Furcht“ nun fundamentalistisch jede Forschung in bestimmten sensiblen Bereichen abblocken müsste.

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Konkretisierung durch das Vorsorgeprinzip (principle of precaution) Was aber immer deutlicher wird, das ist der

Zusammenhang zwischen dem Vorsorgeprinzip und der Debatte über die Demokratie, bzw. dass das Vorsorgeprinzip immer auf das Prinzip der Partizipation bezogen sein muss.

Es besteht eben, besonders in Europa, eine Vertrauenskrise zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und der Wissenschaft sowie den politischen Entscheidungsträgern.

Es hat sich längst herumgesprochen, dass die Wissenschaft nicht neutral ist, sondern von bestimmten, vor allem wirtschaftlichen Interessen gesteuert ist, ebenso ist man sich der vielen Fehlentscheidungen der Regierungen in Bezug auf Gesundheit und Umwelt bewusst.

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Konkretisierung durch das Vorsorgeprinzip (principle of precaution) Was also erfordert wäre, das ist eine „policy-related

science“, eine Wissenschaft, die bei allem Respekt vor dem Wissen und der Kreativität der Forschenden dennoch bereit ist, ihre Ergebnisse einem demokratischen Disput auszusetzen, wobei auch abweichende und Minderheitenpositionen berücksichtigt werden, wobei auch negative Ergebnisse und Misserfolge veröffentlicht werden.

Zum zweiten muss bei der öffentlichen Entscheidungsfindung der Abstand zwischen Wissen und Gesellschaft überwunden werden. Die Bürgerinnen und Bürger müssten viel mehr informiert werden und auch dazu erzogen werden, sich den Herausforderungen durch die neuen Möglichkeiten zu stellen.

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Konkretisierung durch das Vorsorgeprinzip (principle of precaution)

Die Art und Weise, wie aber die Kommunikation heute geschieht, vor allem über die Massenmedien, die Art und Weise, wie politische Programme der Gesellschaft vorgestellt werden, geht eher in die umgekehrte Richtung im Sinne einer Verflachung und populistischer Ausnutzung diffuser Ängste.

Die Sozialethiker, aber auch die Religionen und die anderen Sinnagenturen, sind durch diese Situation zu einer größeren Wahrnehmung ihrer gesellschaftlichen Verantwortung aufgefordert.