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Prof. Dr. François Höpflinger (www.hoepflinger.com)
Wandel des Alters – neues Alter für neue Generationen
Einführung: Die zweite Lebenshälfte – dreifache Wandlungsprozesse
Die späteren Lebensphasen (50plus) unterliegen einem dreifachen Wandlungsprozess. Erstens ergibt
sich eine rasche demographische Alterung der Bevölkerung. Zweitens kommen neue Generationen
mit anderen Lebenshintergründen ins Alter, und drittens – damit verbunden – zeigen sich neue
Modelle, Formen und Interventionsmöglichkeiten zum Altern. Alle drei Wandlungsprozesse
beeinflussen sich gegenseitig, und nur der Einbezug aller Wandlungsprozesse ermöglicht ein
differenziertes Verständnis neuer Entwicklungen der zweiten Lebenshälfte. Speziell die Kombination
des Alterns sozial und kulturell mobiler Generationen mit Modellen aktiven und
kompetenzorientierten Alterns führen zu einer verstärkten Dynamik der späteren Lebensphase, die
historisch neu ist.
Demographische Alterung
Wie andere europäische Länder erfährt auch die Schweiz einen Prozess doppelter demographischer
Alterung (vgl. Höpflinger 2012, 2016): Die Altersstruktur der Bevölkerung verschiebt sich nach
oben, und der Anteil an jüngeren Menschen sinkt, primär aufgrund eines seit Jahrzehnten tiefen
Geburtenniveaus. Jugend wird zur demographischen Minderheit, wogegen Zahl und Anteil älterer
Menschen deutlich ansteigen. Seit 1972 hat die Schweiz ein Geburtenniveau, das tiefer liegt als zur
demographischen Reproduktion notwendig wäre. Ausgeprägte Familienplanung, späte Familien-
gründung und wenig Kinder sind, gekoppelt mit zunehmend mehr nichtehelichen Lebens-
gemeinschaften und erhöhten Scheidungsraten, zentrale Elemente des so genannten post-modernen
zweiten demographischen Übergangs; ein Prozess, der langfristig zu einer rückläufigen
Bevölkerungszahl führen kann.
Der Geburtenrückgang in der Schweiz wurde demographisch teilweise durch eine verstärkte
Zuwanderung junger Erwachsener kompensiert. Demographisch hat die Einwanderung auch zu einer
vermehrten Bevölkerungszunahme geführt. Gleichzeitig trägt die Einwanderung bis heute zu einer
demographischen Verjüngung der Bevölkerung bei, auch wenn zunehmend mehr Migranten der
ersten Generation das Rentenalter erreichen (vgl. www.alter-migration.ch). Gegenwärtig haben mehr
als zwei Fünftel der Generationenerneuerung der Schweiz einen Migrationshintergrund.
Ein entscheidender Einflussfaktor der unmittelbaren demographischen Zukunft der Schweiz ist das
Altern geburtenstarker Jahrgänge (Baby-Boom-Generationen), die selbst wenige Kinder zur Welt
0%
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1960 1980 2000 2010 2020 2030 2040
Verteilung der ständigen Wohnbevölkerung der Schweiz nach Altersgruppen 1960-2040
80+ J.
65-79 J.
30-64 J.
15-29 J.
0-14 J.
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brachten. Erst mit dem Absterben der geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge wird die demo-
graphische Alterung der Bevölkerung wieder rückläufig sein, wenn auch auf einem hohen Niveau.
Dank massiver Einwanderung jüngerer ausländischer Menschen erfuhr die Schweiz bisher eine
gebremste demographische Alterung. Da Einwanderung vor allem in den urbanen Regionen der
Schweiz ausgeprägt war und ist, wird damit die Verstädterung der Schweiz weiter verstärkt, wogegen
ländliche Regionen teilweise eine zusätzliche demographische Alterung durch die Abwanderung
jüngerer Personen erfahren. Die regionalen Unterschiede der demographischen Altersstrukturen
dürften aufgrund unterschiedlicher Migrationsprozesse eher zu- als abnehmen, was bei Szenarien zur
Entwicklung der regionalen Arbeitsmärkte zu berücksichtigen ist (und je kleiner eine Planungsregion
ist, desto stärker wird die demographische Zukunft durch Prozesse von Aus- und Einwanderung
bestimmt).
Zur Entwicklung des Bevölkerungsanteils älterer und alter Menschen in der Schweiz 2015-
2035
Anteil an ständiger Wohnbevölkerung der Schweiz
65-79 J. 80+ J.
Referenzszenario (A-00-2015)
2015 13.0% 5.0%
2020 13.7% 5.5%
2025 14.4% 6.3%
2030 15.6% 7.2%
2035 16.5% 7.9%
Hohes Szenario (B-00-2015) 2035 15.9% 7.7%
Tiefes Szenario (C-00-2015) 2035 17.2% 8.1%
Quelle: Bundesamt für Statistik (2015) Szenarien zur Bevölkerungsentwicklung der Schweiz 2015-
2045, Neuchâtel: BFS.
Der Anteil älterer und alter Menschen an der ständigen Wohnbevölkerung der Schweiz wird sich in
jedem Fall in den nächsten zwanzig Jahren stark erhöhen. Der Bevölkerungsanteil der 65-79-Jährigen
dürfte sich je nach Entwicklung der Geburtenraten, Zu- und Abwanderung und Lebenserwartung bis
2035 von 13% auf 16-17% erhöhen. Noch ausgeprägter ist der erwartete Anstieg bei den 80-jährigen
und älteren Menschen, wo sich altersbezogene Ernährungsfragen kumulieren können.
In absoluten Zahlen umgerechnet dürfte sich die Zahl von 65-79-Jährigen gemäss Referenzszenario
des Bundesamts für Statistik (2015) zwischen 2015 und 2035 von 1.1 Mio. auf fast 1.7 Mio. Personen
erhöhen (ein Anstieg von mehr als 50%). In der gleichen Periode dürfte die Zahl der 80-jährigen und
älteren Menschen von gut 460‘000 auf gut 840‘000 ansteigen (eine Zunahme von mehr als 80%).
Dabei werden auch immer mehr Menschen ein sehr hohes Lebensalter erreichen. Wurden 2014 noch
1‘556 hundertjährige und ältere Menschen gezählt, dürfte sich ihre Zahl bis 2035 je nach weiterer
Entwicklung der Lebenserwartung im Alter auf 8‘000 bis 10‘000 Personen erhöhen. Es zeigt sich
somit nicht nur ein Trend zu mehr älteren Menschen – ausgelöst durch das Altern geburtenstarker
Jahrgänge -, sondern auch eine Entwicklung hin zu mehr hochaltrigen und höchstaltrigen Menschen;
eine Entwicklung, die historisch völlig neue Langlebigkeitsdimensionen beinhaltet (etwa in der
Richtung, dass mehr und mehr Situationen auftreten, in denen sich zwei Familiengenerationen im
Rentenalter befinden).
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Zur Entwicklung der Lebenserwartung - hin zu einer ausgeprägten Langlebigkeit
Seit den 1970er Jahren wird die demographische Alterung durch einen Alterungsprozess von oben
her verstärkt, ausgelöst durch einen markanten – und lange Zeit unterschätzten - Anstieg der
Lebenserwartung der älteren Bevölkerung. In diesem Rahmen steigen namentlich Zahl und Anteil
hochaltriger Frauen und Männer rasch an.
Ein auffallendes Entwicklungsmerkmal der letzten Jahrzehnte war nicht allein eine starke Zunahme
der Lebenserwartung insgesamt, sondern auch der Anstieg der Lebenserwartung alter Menschen.
Dies wird in den Zahlen in folgender Tabelle verdeutlicht: Frauen und Männer leben in der Schweiz
durchschnittlich nicht nur relativ lange, sondern auch alte Menschen profitieren von einer steigenden
Lebenserwartung.
Durchschnittliche Lebenserwartung in der Schweiz
Durchschnittliche Lebenserwartung
bei im Alter von:
Geburt 60 J. 70 J. 80 J. 90 J.
A) Männer:
1889/1900 45.7 12.5 7.6 4.1 2.2
1958/63 68.7 16.2 10.0 5.5 2.8
1997/98 76.5 20.6 13.1 7.3 3.9
1999/2000 76.9 20.8 13.3 7.4 3.9
2015 80.7 23.4 15.3 8.5 3.7
B) Frauen:
1889/1900 48.5 13.0 7.7 4.2 2.4
1958/63 74.1 19.2 11.7 6.1 3.1
1997/98 82.5 25.0 16.5 9.1 4.3
1999/2000 82.6 25.0 16.5 9.1 4.3
2015 84.9 26.6 17.9 10.1 4.4
Quelle: Schweiz. Sterbetafel. Statistische Jahrbücher der Schweiz
Die Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung - auf über 80 Jahre für Männer und fast 85
Jahre für Frauen - schliesst ein, dass mehr Menschen ein hohes Alter erreichen. Während von den
1880 geborenen Menschen nur 2.5% der Männer und 4.8% der Frauen ihren 90. Geburtstag feiern
konnten, waren es bei den 1910 geborenen Männern schon 7.4% und bei den 1910 geborenen Frauen
schon 20.6%. Der Trend ist steigend, und Szenarien deuten darauf hin, dass etwa ein Fünftel der 1950
geborenen Männer und gut fünfundvierzig Prozent der 1950 geborenen Frauen im Jahre 2040 ihren
90. Geburtstag erleben werden.
Es zeigen sich somit zwei zentrale Entwicklungen: Immer mehr Frauen und Männer erreichen ein
hohes Lebensalter, und diejenigen, die alt sind, leben länger als frühere Generationen. So hat sich die
durchschnittliche Lebenserwartung 80-jähriger Männer in den letzten hundert Jahren gut verdoppelt,
von 4 Jahre auf mehr als 8 Jahre. Noch stärker war der Anstieg bei 80-jährigen Frauen; von gut 4
Jahre auf heute gut 10 Jahre. Selbst 90-jährige Personen können heute mit einer längeren
Lebenserwartung rechnen als frühere Generationen und ein Anstieg der Lebenserwartung zeigt sich
seit den 1980er Jahren sogar bei den höchstbetagten Menschen. So stieg die durchschnittliche
Lebenserwartung 99-jähriger Frauen seit 1986 bis 2010 von 1.5 auf 3.4 Jahre an, und bei den 99-
jährigen Männern von 1.9 auf 3.5 Jahre.
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Die weitere Entwicklung der Lebenserwartung wird umstritten diskutiert. Einerseits können medi-
zinische Fortschritte sowie soziale Entwicklungen - wie besseres Bildungsniveau neuer Generationen
alter Menschen - zu einer weiteren Erhöhung der Lebenserwartung beitragen. Andererseits zeigen
sich negative gesundheitliche Trends, wie vermehrtes Übergewicht (was in öffentlichen Diskussionen
zur Annahme beiträgt, dass die Lebenserwartung wieder sinken wird). Fachexperten rechnen
allerdings mit einer weiter ansteigenden Lebenserwartung im Alter. Eine neue internationale Studie,
welche die zukünftige Lebenserwartung gemäss 21 unterschiedlichen Szenarien analysierte, kommt
zum Schluss, dass in industrialisierten Ländern mit weiter ansteigender Lebenserwartung zu rechnen
ist. (Kontis et al. 2017) In jedem Fall werden Langlebigkeit und Hochaltrigkeit in Zukunft noch
weitaus bedeutsamer sein als dies schon heute der Fall ist, mit bedeutsamen Auswirkungen auf
Rentensysteme, Erbvorgänge, Demenzerkrankungen und Pflegeaufwendungen.
Geschlechtsspezifische Unterschiede in Lebensstil führen zu geschlechtsspezifischen Unterschieden
im Risikoverhalten. Männer führen häufiger ein risikoreiches und aggressives Leben, was sich in
höheren Selbsttötungsraten, höherer Unfallmortalität und höherer suchtbedingter Mortalität
ausdrückt. Frauen dagegen zeigen weniger oft ein gesundheitsschädigendes Verhalten, und sie
konsultieren Ärzte früher und regelmässiger. Daneben spielen auch biologische Differenzen eine
Rolle: Aufgrund hormonaler Unterschiede sind Frauen gegenüber kardiovaskulären Erkrankungen
(Herzinfarkt usw.) besser geschützt. Der Monatszyklus sensibilisiert Frauen stärker für körperliche
Irregularitäten. Frauen profitieren zudem generell von einem differenzierteren Immunsystem, da ein
Frauenkörper differenziert zwischen erlaubtem Zellwachstum (Schwangerschaft) und krankhaftem
Zellwachstum (Krebs) zu unterscheiden hat. Mit sozialer Gleichbehandlung und Entwicklung
moderner Medizin können solche immunologische Unterschiede zu signifikanten geschlechts-
spezifischen Mortalitätsunterschieden führen.
Seit 1990 hat sich die Differenz zwischen der durchschnittlichen Lebenserwartung der Frauen und
jener der Männer wieder verringert, von damals 6.9 Jahre auf nur noch 4.2 Jahre. Einer der Gründe
ist die Lungenkrebssterblichkeit, die bei den Frauen häufiger wurde, bei den Männern hingegen eine
abnehmende Tendenz zeigte. Gleichzeitig haben sich auch die geschlechtsspezifischen Unterschiede
in der Unfallmortalität und Suizidalität etwas reduziert, auch wenn hier Männer weiterhin deutlich
höhere Risikoraten aufweisen. Die Haupttodesursachen im Alter bei Frauen wie Männer sind heute
primär langsam verlaufende degenerative Erkrankungen. So sind 60% der Sterbefälle bei über 60-
Jährigen auf Herz-Kreislauf-Krankheiten und Krebserkrankungen zurückzuführen, und ein weiterer
Anstieg der Lebenserwartung im Alter hängt dementsprechend stark von der Entwicklung
degenerativer Krankheitsrisiken ab.
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Todesfälle nach Alter 1970-2014
1970 1990 2014
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Potenziell verlorene Lebensjahre nach Geschlecht, 1970 und 2014
Potenziell verlorene Lebensjahre zwischen
1. und 70. Lebensjahr pro 100'000 Einwohner*
Männer Frauen Quotient M/F
1970 2014 1970 2014 1970 2014
Alle Todesursachen 8157 2635 4091 1517 2.0 1.7
Unfälle 2122 343 582 126 3.6 2.7
Selbsttötung 681 327 224 129 3.0 2.5
Infektiöse Krankheiten/Aids 169 43 104 27 1.6 1.6
Krebskrankheiten 1692 785 1416 661 1.2 1.2
Kreislaufsystem/Herzkrank. 1737 438 699 148 2.5 3.0
Atmungsorgane 402 66 217 39 1.9 1.7
Alkohol. Leberzirrhose 202 57 36 23 5.6 2.5
* Altersstandardisierte Raten pro 100’000 Einwohner; Quelle: Bundesamt für Statistik.
Im Übrigen hat sich in der Schweiz nicht allein die Lebenserwartung, sondern auch die „gesunde
Lebenserwartung' ausgedehnt. Die zusätzlichen Lebensjahre sind vielfach auch gewonnene gesunde
Lebensjahre. 65-jährige Männer und Frauen in der Schweiz können heute damit rechnen, mehr als
drei Viertel der ihnen verbleibenden Lebensjahre ohne massive Behinderungen zu verleben. Damit
gehört die Schweiz zu den Ländern, in denen Menschen nicht nur lange leben, sondern auch relativ
lange gesund bleiben. Ein zentraler Pfeiler dieser Entwicklung ist eine gut ausgebaute und qualitativ
hoch stehende Alters- und Gesundheitsvorsorge.
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Ausweitung intergenerationeller Lebensspannen
Die erhöhte Lebenserwartung älterer Frauen und Männer hat zu einer Ausweitung der gemeinsamen
Lebensspanne familialer Generationen beigetragen, namentlich bezüglich weiblicher
Familienmitglieder (Haberkern, Schmid et al. 2012). Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur
um die Hälfte der 25-Jährigen noch beide Eltern besassen, sind es zu Beginn des 21. Jahrhunderts um
die neunzig Prozent. Das Absterben der Elterngeneration – häufig zuerst des Vaters – erfolgt
gegenwärtig erst im mittleren Lebensalter. Gut sechzig Prozent der 40-Jährigen haben heute noch
beide Eltern und nur gut vier Prozent keine Eltern mehr (im Gegensatz zu über vierzig Prozent
hundert Jahre früher). Der Verlust des letzten Elternteils erfolgt primär zwischen dem 45. und 60.
Lebensjahr. Auch die gemeinsame Lebensspanne von Grosseltern und Enkelkindern hat sich
ausgeweitet und heutige Kinder und Teenager erleben mehrheitlich gute Beziehungen zu oft noch
aktiven und gesunden Grosseltern).
Kombiniert mit rückläufiger Nachkommenschaft haben die Prozesse der Ausweitung
intergenerationeller Lebensspannen zu einer verstärkten Vertikalisierung der familialen
Verwandtschaftsstrukturen geführt (weniger horizontale Verwandtschaftsbeziehungen, längere
gemeinsame Lebensspanne in intergenerationeller Hinsicht). Damit wurden früher seltene und
rollentheoretisch zweideutige familiale Rollenkombinationen häufiger, etwa wenn eine 45-jährige
Frau gleichzeitig die Mutter eines heranwachsenden Sohnes und das 'Kind' betagter Eltern ist. Daraus
können sich neuartige Rollenkonflikte ergeben, wie dies in der Metapher der „Sandwichgeneration“
angesprochen wird. Dank gestiegener behinderungsfreier Lebenserwartung hat sich die Phase der
Pflegebedürftigkeit alter Eltern nach hinten verschoben, so dass eine Mehrheit der Eltern erst
pflegebedürftig werden, wenn die intensivste Phase des Familienlebens der nachkommenden
Generation abgeschlossen ist. Es verbleibt jedoch die Tatsache, dass Altern und Sterben der
Elterngeneration bedeutsame und durchaus ambivalent erlebte Lebensereignisse darstellen: Das
Altern der Eltern ist einerseits ein Ereignis, das sich der Kontrolle und Verantwortlichkeit der
inzwischen erwachsen gewordenen Töchter und Söhne weitgehend entzieht. Andererseits erzeugt es
eine hohe direkte wie indirekte persönliche Betroffenheit, weil damit das eigene Altern vorgezeichnet
wird. Das Altern der Eltern ist für die nachkommende Generation sozusagen der Schatten der eigenen
Zukunft und zwar im positiven und im negativen Sinne. Ein geglücktes und glückliches Altern der
eigenen Eltern stärkt die Hoffnung auf ein gleichermassen erfolgreiches Altern. Ein unglückliches
oder durch körperlich-geistige Pflegebedürftigkeit beschwertes Altern von Mutter oder Vater kann
Ängste vor dem eigenen Alter hervorrufen, aber auch den Wunsch und das Bestreben, sein eigenes
Alter anders vorzubereiten und zu gestalten als dies bei den eigenen Eltern beobachtet wurde. Pflege
9891
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25-34 J. 35-44 J. 45-54 J. 55-64 J. 65-74 J,
Noch lebende Vorfahren 2013
Mutter lebt Vater lebt noch Grossmutter noch Grossvater
7
alter Menschen ist häufig intergenerationell eingebettet, wobei vor allem in Stresssituationen
etablierte intergenerationelle Bindungsmuster erneut in den Vordergrund treten (Perrig-Chiello,
Höpflinger 2012: 148ff.).
Folgen der Langlebigkeit: Ausdifferenzierung der späteren Lebensphasen – drittes und viertes
Lebensalter
Die erhöhte Lebenserwartung – namentlich älterer Frauen und Männer – sowie zeitweise auch
vorzeitige Pensionierungen – haben zu einer zeitlichen Ausweitung der nachberuflichen Lebensphase
geführt. Dadurch wurde die klassische Zweiteilung in Erwerbsbevölkerung und Altersrentner zu
grob. In zunehmend mehr Diskussionen wird deshalb die ‚Altersbevölkerung’ weiter aufgegliedert,
oft mit behelfsmäßigen Begriffen wie ‚junge Alte’ (Senioren) gegenüber ‚alte Alte’ (Betagte). Oft
wird heute auch zwischen dem dritten und vierten Lebensalter differenziert, wobei das dritte
Lebensalter vor allem jüngere Altersrentner anspricht, wogegen sich das vierte Lebensalter primär
auf hochaltrige Menschen bezieht. Neben der Stellung im Arbeitsmarkt wird deshalb zunehmend
auch der funktionale Gesundheitszustand als Klassifikationsmerkmal für spätere Lebensphasen
eingesetzt. Daraus ergibt sich beispielsweise folgende Klassifikation von Phasen im Lebenslauf älter
werdender Erwachsener (vgl. Höpflinger 2017):
1. Alternsphase: Noch erwerbstätige Senioren (50+): Zwar sind Menschen in dieser Lebensphase
noch erwerbstätig, aber der Übergang in die nachberufliche Phase zeichnet sich ab. Früh-
pensionierungen führen dazu, dass viele Arbeitnehmende schon vor 65 aus dem Erwerbsleben
austreten oder ausgeschlossen werden (wobei der Trend zu Frühpensionierungen dazu beigetragen
hat, dass Mitarbeitende schon mit 50/55 zu den älteren Arbeitnehmern gezählt werden. Vielfach vor
dem Rentenalter erfolgen auch der Wegzug der Kinder sowie die Geburt erster Enkelkinder, und
damit das Erleben einer ersten familialen Altersrolle als Großmutter bzw. Großvater. Ebenfalls oft
vor 65 erfolgt die Konfrontation mit dem Altwerden, der Pflegebedürftigkeit und dem Sterben der
eigenen Eltern; alles Prozesse, die auch religiös-spirituell oft viel auslösen (die aber kirchlich kaum
thematisiert werden). Da Menschen in dieser Lebensphase oft – wegen Erwachsenwerden der Kinder,
aber auch dank Erbschaften – ein vergleichsweise hohes frei verfügbares Einkommen aufweisen, sind
die noch erwerbstätigen Senioren (50+) eine wichtige Zielgruppe für Immobilien-, Bank- und
Wellness-Angebote geworden. Umgekehrt führen Prozesse von Invalidisierung und
Langzeitarbeitslosigkeit bei einigen Gruppen älterer Erwerbstätiger aber auch zu erhöhten Risiken
gegen Berufsende, die sich negativ auf den Übergang in die nachberufliche Lebensphase auswirken.
2. Alternsphase: Gesundes Rentenalter’ (auch Drittes Lebensalter genannt): Diese – sozialhistorisch
relativ neue - Lebensphase ist durch eine Freisetzung von der Erwerbsarbeit und dank Ausbau der
Altersvorsorge auch häufiger als früher durch eine relativ gute wirtschaftliche Absicherung
gekennzeichnet. Dadurch können viele – wenn sicherlich nicht alle – Altersrentner und
Altersrentnerinnen von einem relativ langen gesunden Alter profitieren, was es ihnen erlaubt, die
erste Phase des Rentenalters autonom nach eigenen Bedürfnissen zu gestalten und zu genießen. Diese
Phase ‚später Freiheit’ dauert sachgemäß unterschiedlich lang, und die Dauer des sogenannten
‚dritten Lebensalters’ ist beispielsweise von den vorhandenen finanziellen und psychischen
Ressourcen sowie den körperlichen Belastungen in früheren Lebensphasen abhängig. Gleichzeitig ist
und bleibt das gesunde Rentenalter gesellschaftlich noch weitgehend unbestimmt und konturlos.
Allerdings wird gegenwärtig immer stärker versucht, dieser Lebensphase durch neue Modelle eines
aktiven, produktiven und kreativen Alters eine klare gesellschaftliche Kontur zu geben, auch um
gesunde ältere Menschen gezielt in die gesellschaftliche bzw. intergenerationelle Verantwortung
einzubeziehen.
3. Alternsphase: Lebensalter verstärkter Fragilisierung (frailty) (auch Viertes Lebensalter genannt):
Je nach früheren beruflich-biografischen Belastungen und familial-konstitutiven Faktoren treten
8
altersbezogene Einschränkungen und Defizite früher oder später stärker hervor. Bei
gesundheitsfördernder Lebensführung erhöhen sich die altersspezifischen Risiken, Defizite und
funktionale Einschränkungen heute im Allgemeinen vor allem nach dem 80. Altersjahr. Das
fragilisierte Alter – früher auch gebrechliches Alter genannt – ist eine Lebensphase, in der
gesundheitliche Beschwerden und funktionale Einschränkungen ein selbständiges Leben nicht
verunmöglichen, es aber erschweren. Funktionale Einschränkungen – wie Hörverluste, Seheinbussen,
Gehschwierigkeiten, erhöhtes Sturzrisiko usw. – erzwingen eine Anpassung der Alltagsaktivitäten
(wie Verzicht auf anstrengende Reisen oder Autofahren). Frauen und Männer im fragilen Lebensalter
sind besonders auf eine gute Passung von Wohnumwelt und noch vorhandenen Kompetenzen
angewiesen, ebenso wie sie vermehrt auf externe Hilfe bei ausgewählten Tätigkeiten des Alltags
angewiesen sind (z.B. beim Putzen, Einkaufen). Im fragilen Alter müssen – bei oft noch guten geistig-
kognitiven Fähigkeiten – die Grenzen und Einschränkungen eines alternden Körpers bewältigt
werden. Es ist in dieser Lebensphase, wo das psychische Wohlbefinden stark durch Faktoren der
‚mentalen Kraft’ bestimmt sind, und es ist in dieser Lebensphase, wo gerontologische Modelle der
selektiven Optimierung mit Kompensation und Resilienzmodelle besonders relevant werden.
Sachgemäß werden nicht alle alten Menschen gegen Lebensende pflegebedürftig, aber das Risiko
von Pflegebedürftigkeit – und damit elementarer Abhängigkeit von Anderen – steigt im hohen Alter
deutlich an, oft kombiniert mit Multimorbidität.
Altern im Wandel – zum Struktur- und Generationenwandel des Alters
Neuere Generationen älterer Menschen weisen andere Lebens- oder Wohnvorstellungen auf als
frühere Generationen, auch weil diese Generationen während ihrer Jugendjahre und ihrem
Erwachsenenalter andere gesellschaftliche Rahmenbedingungen vorfanden als ihre Eltern. Die ersten
Nachkriegsgenerationen (Baby-Boomers) der Schweiz wuchsen in einer einmaligen
westeuropäischen Friedens- und Wohlstandsperiode auf. Die ‘Baby-Boom-Generation’ ist eine
Generation, die stark von einer globalisierten Jugendkultur geprägt wurde. Sie waren zur Zeit ihrer
Jugend und ihres jungen Erwachsenenalters zudem mit der raschen Auflösung traditioneller
kultureller Werte konfrontiert, etwa bezüglich Sexualität, Heirat, Familiengründung und
Ehescheidung. Gleichzeitig profitierte diese Generation von einer starken Expansion des
Bildungssystems, wodurch Männer und Frauen dieser Generation weitaus häufiger eine höhere
Fachausbildung oder ein universitäres Studium absolvieren konnten als ihre Eltern oder Grosseltern.
Besser ausgebildete Generationen weisen nicht nur mehr Karrierechancen auf, sondern sie sind eher
besser in der Lage, raschen gesellschaftlichen und technologischen Wandel aktiv zu bewältigen.
Entsprechend treten mit dem Älterwerden der ersten Nachkriegsgenerationen in der zweiten
Lebenshälfte neue und aktivere Verhaltensweisen auf. Namentlich die Frauen der ersten
Nachkriegsgeneration sind deutlich selbstbewusster und eigenständiger als etwa ihre Mütter. Da
körperlich harte Arbeit - in Landwirtschaft oder Industrie - seltener wurde, leiden deutlich weniger
Frauen und Männer dieser Generation im höheren Lebensalter an vorzeitigen körperlichen
Abbauerscheinungen. Die Baby-Boomers erreichen das Rentenalter vielfach in besserer Gesundheit
als ihre Eltern. Jüngere Generationen sind auch stärker als frühere Generationen daran gewohnt, in
einer mobilen und ständig sich ändernden globalen Gesellschaft zu leben, wodurch sie häufig auch
im späteren Lebensalter innovativ und lernbereit verbleiben. Entsprechend hat sich auch der
Gebrauch neuer Technologien – wie Internet - bei neuen Generationen älterer Menschen rasch
durchgesetzt.
9
Datenquelle: European Social Survey Round 8 Data (2016). Data file edition 1.0. Norwegian Social
Science Data Services, Norway - Data Archive and Distributor of ESS data. (eigene Auswertungen,
gewichtete Daten).
10
Quelle: Samochowiec, Jakub; Kühne, Martina; Frick, Karin (2015) Digital Ageing – unterwegs in
die alterslose Gesellschaft, Rüschlikon: GDI
Der Generationenwandel des Alters wird durch die Tatsache verstärkt, dass auch spätere
Lebensphasen (späte Familien- und Berufsphasen und nachberufliche Lebensphase) einem
ausgeprägten gesellschaftlichen Wandel unterliegen; sei es, weil späte Berufsphase und Rentenalter
neu organisiert und gestaltet werden, oder sei es, weil gerontologische und geriatrische
Forschungsergebnisse neue Möglichkeiten zur aktiven Gestaltung des Alters aufzeigen. Die zuerst
bei jungen Erwachsenen festgestellten Prozesse von Individualisierung, Pluralisierung und
Dynamisierung der Lebensvorstellungen und Lebensverläufe berühren und beeinflussen immer mehr
auch mittlere und spätere Lebensphasen. Ausdruck davon sind etwa zunehmende Scheidungsraten
bei langjährigen Paaren, eine steigende Zahl über 45-jähriger Berufswechsler, eine verstärkte
räumliche Mobilität 50-jähriger und älterer Personen oder sogar über 65-jähriger Menschen
(Altersmigration) sowie eine pluralistische Gestaltung des nachberuflichen Lebensabschnitts. Auch
wenn in der zweiten Lebenshälfte - und oft auch im Übergang in die nachberufliche Lebensphase -
vielfach Kontinuität vorherrscht, führen dennoch neue Modelle aktiven und kreativen Alterns zu einer
bedeutsamen Neugestaltung später Lebensphasen. Der Lebensstil namentlich 65- bis 74-jähriger
Menschen, teilweise aber auch über 75-jähriger Menschen, hat sich vor allem seit den 1980er Jahren
eindeutig in Richtung einer mehr aktiven Lebensgestaltung. Soziale Verhaltensweisen – wie Sport,
Sexualität, Lernen usw. – die früher nur jüngeren Erwachsenen zugetraut wurden, werden immer
mehr als zentrale Voraussetzungen eines erfolgreichen Alterns definiert, und auch das Konsum- und
Verkehrsverhalten älterer Menschen unterscheidet sich immer weniger vom Verhalten jüngerer
Erwachsener.
Der rasche gesellschaftliche Wandel von Technologien, Wirtschaftsverhältnissen und Sozial-
strukturen zwingt auch ältere Menschen zu einer permanenten Auseinandersetzung mit modernen
Lebens- und Kommunikationsformen. Der Wertewandel erfasst daher immer stärker auch ältere
Menschen, und ‚Alt und innovativ’ wird zum neuen Lebensprogramm auch für spätere Lebensphasen.
Faktisch zeigt sich damit eine gewisse sozio-kulturelle Verjüngung neuer Rentnergenerationen (was
eine Gleichsetzung von demographischer Alterung und gesellschaftlicher Überalterung grundsätzlich
in Frage stellt). Die Ausdehnung einer teilweise auf jung ausgerichteten Lebensweise bis weit ins
Rentenalter führt allerdings zu zwei gegensätzlichen Trends:
Einerseits entstehen dadurch vermehrte Möglichkeiten, sich auch in der zweiten Lebenshälfte neu
auszurichten. Die Pensionierung bedeutet nicht mehr Ruhestand und Rückzug, sondern sie ist eine
Lebensphase mit vielfältigen und bunten Möglichkeiten, um sich beispielsweise auch wohnmässig
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neu einzurichten. Das Alter ist nicht eine Phase nur von Defiziten und Verlusten, sondern auch eine
Phase, wo sich neue Chancen ergeben und bisher vernachlässigte Kompetenzen – etwa bezüglich
sozialer Kontakte, Gartenarbeiten, Bildung usw. – ausgelebt werden können.
Andererseits entstehen damit neue soziale Zwänge, das sichtbare körperliche Alter zu verdrängen
oder gar zu bekämpfen. Lebenslanges Lernen, möglichst lange Aktivität, aber auch ein möglichst
langer Erhalt der körperlichen Gesundheit und Fitness werden zu neuen Normvorstellungen eines
‚erfolgreichen Alterns’. Die ‚anti-aging’-Bewegung – als Bestrebung, das körperliche Altern
aufzuhalten oder zumindest zu verzögern – verstärkt den Druck, sich möglichst lange ‚jung’ zu geben.
Gesellschaftliche Folgen des Struktur- und Generationenwandel des Alters
Der Struktur- und Generationenwandel des Alters weist gesellschaftspolitisch drei grundlegende
Konsequenzen auf:
Erstens sagen Feststellungen, die über heutige ältere und betagte Menschen gemacht werden, wenig
über die zukünftige Gestaltung des Alters aus. Entsprechend sind lineare Zukunftsszenarien zum
Alter sozialplanerisch wenig sinnvoll. Vor allem die Kombination des Alterns sozial und kulturell
mobiler Generationen mit neuen Modellen aktiven und kompetenzorientierten Alterns führt zu einer
verstärkten Dynamik der späteren Lebensphase, die historisch neu ist.
Zweitens kommt es zwar zu einer demographischen Alterung der Bevölkerung, durch tiefe
Geburtenraten einerseits (demographische Alterung von unten) und erhöhte Lebenserwartung älterer
Frauen und Männer andererseits (demographische Alterung von oben). Aber dieser demographischen
Alterung entspricht keine gesellschaftliche Alterung, sondern im Gegenteil – dank Ausdehnung eines
jugendnahen Erwachsenenalters und aktiver Lebensgestaltung auch in der nachberuflichen
Lebensphase – ergibt sich soziologisch gesehen eher eine sozio-kulturelle Verjüngung der
Gesellschaft. In diesem Rahmen wird es fragwürdiger, das Alter 65 zur Definition der
‚Altersbevölkerung’ zu verwenden (vgl. Höpflinger 2012).
Drittens wissen jüngere Generationen, dass sie in mancherlei Hinsicht anders Alt werden (müssen)
als ihre Elterngeneration. Umgekehrt wissen ältere Generationen, dass ihre Erfahrungen für nach-
kommende Generationen nicht mehr bestimmend sein können. Dies wirkt sich auf die inter-
generationellen Beziehungen zwischen erwachsenen Kindern und alternden Eltern aus, indem das
Altern der eigenen Eltern für die nachkommende Generation zwar ein Prozess ist, der oft direkte
Betroffenheit auslöst, gleichzeitig aber auch den Wunsch, anders alt zu werden.
Das vierte Lebensalter als das ‚wirkliche Alter‘?
Die Lebensgestaltung der neu pensionierten Frauen und Männer wesentlich von der Lebenssituation
hochaltriger Menschen. Ab wann das hohe Alter bzw. die Hochaltrigkeit beginnt, ist angesichts der
ausgeprägten Heterogenität von Alternsprozessen umstritten, aber im Übergang vom höheren zum
hohen Alter – vielfach zwischen dem 80. und 85. Lebensjahr – steigen die Risiken gesundheitlicher
Einschränkungen und sozialer Verluste (Partnerverlust u.a.) deutlich an. Trotz positiver persönlicher
Entwicklungsmöglichkeiten ist das hohe Lebensalter – auch in der Wahrnehmung der Menschen
selbst – durch eine vermehrt negative oder zumindest zweideutige Gesamtbilanz gekennzeichnet, vor
allem im Kontrast zu den positiven Trends bei den ‚jungen Alten‘. Die Lebenssituationen der
Hochbetagten markieren eine biographische und soziale Realität, in der die Grenzen der individuellen
wie gesellschaftlichen Plastizität des Alternsprozesses deutlich werden. Wer lange lebt, gelangt
früher oder später zwangsläufig an die Grenzen körperlichen Lebens, da sich im hohen Lebensalter
die biologischen Abbauprozesse verstärken, und zwar auch bei gesunder Lebensführung. Ein hohes
Lebensalter ist nicht zwangsläufig mit Hilfs- und Pflegebedürftigkeit gleich zu setzen, aber zentral
für das hohe Lebensalter sind reduzierte Reservekapazitäten und eine erhöhte Vulnerabilität; zwei
Prozesse, die teilweise auch mit dem Konzept der Fragilität (frailty) erfasst werden.
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Quelle: Gasser, Knöpfel, Seifert 2015
Im Gegensatz zum Rentenalter stellt Hochaltrigkeit keine rechtlich oder sozialpolitisch definierte
Lebensphase dar und sie ist damit noch kein Bestandteil eines gesellschaftlich normierten
Lebenslaufs. Sozio-kulturell ist auffallend, dass im Gegensatz zur positiven Aufwertung des dritten
Lebensalters das hohe Alter überwiegend mit negativen Attributen versehen wird. Dadurch
konzentrieren sich auch demographische Bedrohungsszenarien immer mehr auf das hohe
Lebensalter, etwa wenn von unbezahlbaren Gesundheitskosten im Alter oder Pflegenotstand die Rede
ist. „Die symbolische Aufwertung des dritten Alters erfolgt komplementär zur symbolischen
Diskreditierung des vierten Alters: Die ‚jungen Alten‘ werden als aktive selbstverantwortliche
Koproduzenten ihrer Lebensbedingungen angerufen, hochaltrige Menschen hingegen vorrangig als
zu Pflegende, zu Betreuende und zu Versorgende wahrgenommen und verbleiben damit im
Objektstatus.“ (Amrhein 2013: 13) Hochaltrigkeit wird gesellschaftlich zur negativen Utopie des
Alterns und entsprechend wird der Übergang in das hohe Alter immer auch mit Krankheit,
Pflegebedürftigkeit und Verlust der selbstbestimmten Lebensführung in Verbindung gesetzt. Deshalb
definieren sich selbst alte Menschen nicht als ‚wirklich alt‘, solange sie weiterhin in einer privaten.
Wohnform leben und über persönliche Entwicklungsspielräume verfügen.
Nicht vernachlässigt werden darf allerdings, dass auch das hohe Lebensalter einem wesentlichen
gesellschaftlichen Wandel unterworfen ist. Ein wesentlicher Wandel – der sich in Zukunft noch
verstärken wird – ist die Tatsache, dass sich der Bildungshintergrund alter Menschen verbessert hat.
Der Anteil alter Frauen und Männer ohne weiterführende berufliche Fachausbildung hat sich
wesentlich reduziert. Auch das hohe Lebensalter wird immer mehr von Frauen und Männer mit
hohem Bildungsniveau geprägt; ein Punkt, der dadurch verstärkt wird, dass Menschen mit hohem
Bildungsstatus häufiger alt werden als Menschen mit tiefem Bildungsstatus.
Wird die psychische Befindlichkeit alter Menschen untersucht, ergeben sich Unterschiede je nach
Lebensgeschichte, gesundheitlicher und wirtschaftlicher Lage, aber kein klarer Zusammenhang von
psychischer Belastung und hohem Lebensalter an sich. Trotz verschlechterter körperlicher
Verfassung gelingt es vielen alten Menschen eine hohe Lebenszufriedenheit zu erhalten.
Signifikante Einflussfaktoren für Lebenszufriedenheit im hohen Alter sind Zufriedenheit mit der
erhaltenen Unterstützung und die wahrgenommene Stärke der sozialen Netzwerke, und „auch für die
Gruppe der Hochaltrigen gilt, dass Personen mit einem stärkeren sozialen Netzwerk eine signifikant
höhere allgemeine Lebenszufriedenheit aufweisen.“ (Bennett, Riedel 2013: 25) Negativ auf die
Lebenszufriedenheit im hohen Lebensalter wirken alltägliche Schmerzen (was die Bedeutung einer
palliativen Pflege verdeutlicht). Lebenszufriedenheit und Wohlbefinden im hohen Alter ist zusätzlich
eng mit dem Wohlbefinden mit der erlebten Vergangenheit bzw. Lebensgeschichte verknüpft, was
die Relevanz biographischer Ansätze unterstreicht. Wer mit seinem bisherigen Leben zufrieden ist,
kann die Herausforderungen und Krisen des hohen Lebensalters und die Endlichkeit des Lebens eher
13
akzeptieren, als wenn noch unverarbeitete biographische Verletzungen vorliegen. Vor dem Tod
reduziert sich häufig die funktionale Gesundheit alter Menschen weiter, aber die Entwicklung der
positiven Lebensbewertung ist – mit Ausnahmen – oft erstaunlich stabil. Einige hochaltrige
Menschen zeigen als „Nestoren“ ihrer Generation ein hohes psychisches Wohlbefinden, das vom
gesundheitlichen Befinden gänzlich losgelöst ist.
Sachgemäss steigt im hohen Lebensalter der Hilfe-, Pflege- und Betreuungsbedarf zu. Im hohen
Lebensalter ist Pflegebedürftigkeit allerdings oft nicht auf eine Ursache allein zurückzuführen,
sondern sie ergibt sich aus dem Zusammenwirken verschiedener alters- und krankheitsbedingter
Faktoren. Häufig zu Pflegebedürftigkeit führen Demenz, Parkinson-Erkrankung, Harninkontinenz,
Schlaganfall, Herzinsuffizienz, Anämien sowie depressive Symptome (van den Busche et al. 2014).
Häufigkeit von Pflegebedürftigkeit im Alter in der Schweiz
Altersgruppe: 70-74 75-79 80-84 85-89 90+
Alltagsbezogen pflegebedürftig:
Schweiz 2008 3.5% 6.3% 13.3% 26.3% 54.6%
Schweiz 2014 geschätzt 3.4% 6.1% 13.0% 25.8% 53.6%
Pflegebedürftigkeit definiert als Abhängigkeit in den Aktivitäten des täglichen Lebens.
Quelle: Pflegebedürftigkeit Schweiz: Höpflinger, Bayer-Oglesby, Zumbrunn 2011,
Multimorbidität - das Zusammenwirken verschiedener Krankheiten - ist im hohen Lebensalter häufig.
Gleichzeitig hängt Pflegebedürftigkeit davon ab, welche Alltagsaktivitäten als unabdingbar erachtet
werden. Eine ältere Person im Rollstuhl kann bei geeigneter Lage und Ausrüstung ihrer Wohnung
weiterhin selbstständig haushalten. Im Allgemeinen wird deshalb das Konzept der
Pflegebedürftigkeit an elementare tägliche Verrichtungen geknüpft. Häufig werden zur Erfassung der
Pflegebedürftigkeit die ADL-Kriterien (activity-of-daily-living) verwendet: Fähigkeit bzw.
Unfähigkeit, sich selbst an- und auskleiden, zu Bett zu gehen oder das Bett zu verlassen, selbst die
Körperpflege zu übernehmen und sich zumindest innerhalb der Wohnung zu bewegen.
Während bis zur Altersgruppe 75-79 deutlich weniger als zehn Prozent pflegebedürftig sind, sind dies
schon mehr als 13% der 80-84-Jährigen und gut 34% der 85-jährigen und älteren Bevölkerung der
Schweiz. Eine Schätzung für das hohe Alter deutet darauf hin, dass im hohen Alter von 90 Jahren
und älter mit einer Pflegebedürftigkeit von über fünfzig Prozent zu rechnen ist.
Im hohen Lebensalter ist auch ein Wechsel in eine Alters- und Pflegeeinrichtung häufig (Höpflinger
et al. 2011). In der Schweiz liegt allerdings der Anteil der stationär gepflegten Pflegebedürftigen
deutlich höher als in vielen anderen europäischen Ländern, Speziell im Vergleich zu den
Nachbarländern Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich werden in der Schweiz und
namentlich in deutschsprachigen Kantonen mehr alte Menschen stationär gepflegt und betreut. Dies
trägt dazu bei, dass auch mehr alte Menschen in einem Heim als Daheim versterben als in vielen
anderen europäischen Ländern. Der Hauptgrund für die starke Stellung der stationären Pflege in der
Schweiz, und namentlich in deutschschweizerischen Kantonen liegt in einer langen sozialpolitischen
Tradition einer kommunalen Altersversorgung (zuerst: Bürgerheime, danach Altersheime, heute
Pflegeheime bzw. Pflegezentren).
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In den letzten Jahren kam es allerdings zu einer verstärkten Förderung der ambulanten Versorgung.
Dies führte zu einem Rückgang von Heimeintritten zugunsten anderer Betreuungsformen. Der Anteil
der 65-79-Jährigen, aber auch der Anteil der 80-jährigen und älteren Frauen und Männer, die stationär
gepflegt wurden, ist rückläufig. Zugenommen hat hingegen der Anteil an Kurzaufenthalten in einer
Alterseinrichtung nach einem Spitalaufenthalt oder zur Entlastung pflegender Angehöriger
(Füglister-Dousse et al. 2015). Im Rahmen dieser Entwicklung stieg der Anteil an älteren und alten
Menschen, die Spitex-Leistungen beanspruchten, deutlich, oft in Kombination mit informellen Hilfe-
und Pflegearrangements. Gleichzeitig hat sich das Angebot an intermediären Formen der Pflege im
Alter (betreutes Wohnen, Wohnen mit Service) erweitert (Höpflinger et al. 2014).
Aufgrund der steigenden demographischen Alterung ist zukünftig mit einer steigenden Zahl an
pflegebedürftigen Menschen im Alter zu rechnen, wobei das Ausmass des demographischen Effekts
stark von der weiteren Entwicklung der Lebenserwartung im Alter abhängig ist. Entscheidend für die
zukünftige Entwicklung sind auch Beginn und Dauer von Pflegebedürftigkeit im Alter. Bleiben alte
Menschen länger behinderungsfrei, wird der demographische Effekt (mehr alte Menschen)
abgeschwächt. Umgekehrt kann ein früheres Einsetzen oder eine erhöhte Dauer von Pflege-
bedürftigkeit den Effekt der demographischen Alterung verstärken.
Soziale Herausforderungen der zweiten Lebenshälfte - im Überblick
Die späteren Lebensphasen (Alter) unterliegen einem enormen Generationenwandel, da neue
Generationen älterer Frauen und Männer ihr Alter anders erleben und erfahren. Jüngere Generationen
sind auch im Alter aktiver als frühere Generationen, und sie haben entsprechend ihrer aktiven
Lebensgestaltung individuelle Ansprüche an die zweite Lebenshälfte: Sie erweisen sich zunehmend
mehr als anspruchsvolle – und oft gut informierte – Kunden und Kundinnen bzw. Patienten und
Patientinnen. In diesem Rahmen steigen auch die Ansprüche an das Gesundheitswesen.
Mehr ältere Frauen und Männer können – nach ihrer Pensionierung – von einem relativ langen
gesunden und aktiven Rentenalter profitieren (und das Wohlbefinden der 65-79-Jährigen hat sich im
Zeitverlauf verbessert). Der Anteil der wirtschaftlich gesicherten und sogar wohlhabenden
Altersrentner hat sich erhöht, auch wenn Armut und Einkommensschwäche nicht bei allen Gruppen
vollständig verschwunden sind. Armut im Alter betrifft vor allem Frauen, Ausländer und Hochaltrige.
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Im Rahmen der Entwicklung des modernen Alters ergeben sich allerdings immer stärkere
Unterschiede im Umgang mit dem Alter, wie auch bezüglich Einkommens- und Vermögenssituation.
Die älteren Menschen sind eine sehr heterogene Gruppe, und die Unterschiede in der Lebenslage und
im Befinden gleichaltriger Frauen und Männer sind ausgeprägt (und wachsend).
Angeführte Literatur
Amrhein, L. (2013) Die soziale Konstruktion von ‚Hochaltrigkeit‘ in einer jungen Altersgesellschaft,
Zeitschrift für Gerontologie + Geriatrie, 46,1: 10-15.
Bennett, J.; Riedel, M. (2013) Was beeinflusst die Lebenszufriedenheit im hohen Alter?
Repräsentative Studie zur ambulanten Altenpflege und -betreuung in der Deutschschweiz,
Zeitschrift für Gerontologie + Geriatrie, 46, 1: 21-26.
Bundesamt für Statistik (2015) Szenarien zur Bevölkerungsentwicklung der Schweiz 2015-2045,
Neuchâtel: BFS.
Füglister-Dousse, S.; Dutoit, L.; Pellegrini, S. (2015) Soins de longue durée aux personnes âgées en
Suisse. Evolutions 2006-2013, Obsan-Dossier 67, Neuchâtel : Schweizerisches Gesundheits-
observatorium.
Gasser, N.; Knöpfel, C., Seifert, K. (2015) Erst agil, dann fragil. Übergang vom ‚dritten‘ zum
‚vierten‘ Lebensalter bei vulnerablen Menschen, Zürich: Pro Senectute.
Haberkern, K.; Schmid, T.; Neuberger, F.; Grignon, M. (2012) The role of the elderly as providers
and recipients of care, in: OECD, The Future of Families to 2030, Paris: OECD Publishing: 189-
257.
Höpflinger, F.; Bayer-Oglesby, L.; Zumbrunn, A. (2011) Pflegebedürftigkeit und Langzeitpflege im
Alter. Aktualisierte Szenarien für die Schweiz, Bern: Huber.
Höpflinger, F. (2012) Bevölkerungssoziologie. Einführung in demographische Prozesse und
bevölkerungssoziologische Ansätze, Weinheim: Beltz Juventa.
Höpflinger, F. (2016) Altern und Generationen bei hoher Lebenserwartung, in: Y. Niephaus, M.
Kreyenfeld, R. Sackmann (Hrsg.) Handbuch Bevölkerungssoziologie, Wiesbaden: Springer
Fachmedien: 595-616.
Höpflinger, F. (2017) Third age and fourth age in ageing societies – divergent social and ethical
discourses, in: M. Schweda, L. Pfaller, K. Brauer, F. Adloff, S. Schicktanz (eds.) Planning Later
Life. Bioethics an Public Health in Ageing Societies, London: Routledge: 46-56.
Höpflinger, F.; Van Wezemael, J. (Hrsg.) (2014). Age Report III: Wohnen im höheren Lebensalter.
Grundlagen und Trends, Zürich: Seismo-Verlag
Kontis, V.; Bennett, J.E.; et al. (2017) Future life expectancy in 35 industrialised countries:
projections with a Bayesian model ensemble, The Lancet, Online:
http://dx.doi.org/10.1016/S0140-6736(16)32381-9.
Perrig-Chiello, P.; Höpflinger, F. (Hrsg.) (2012) Pflegende Angehörige älterer Menschen. Probleme,
Bedürfnisse, Ressourcen und Zusammenarbeit mit der ambulanten Pflege, Bern: Huber-Verlag.
Samochowiec, J.; Kühne, M.; Frick, K. (2015) Digital Ageing – unterwegs in die alterslose
Gesellschaft, Rüschlikon: GDI
Letzte Aktualisierung: 30. Nov. 2017