Projektive Beziehungen in der Charakteristikentheorie der partiellen Differentialgleichungen

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Projektive Beziehungen in der Charakteristikentheorie der partiellen Differentialgleichungen Von ROBERT SAUER in Mtinehen Herrn HEi~alCI~ TIETZE zum 70. Geburtstag am 31. August 1950 gewidmet Ebenso wie in der Statik ebener und raumlicher Kri~ftesysteme 1) und beim Problem der infinitesimalen, Fliichenverbiegung 2) ergeben sich aueh in der Charak- teristikentlleorie gewisser partieller Differentialgleiehungen projektive Beziehungen. Wir werden im folgenden diese Beziehungen aufzeigen und nachweisen, daJ3 sieh mit ihrer Hilfe aus der LSsung einer vorgegebenen Differentialgleiehung die LSsungen einer Schar ,,projektiv verkntipfter" Differentialgleichungen unmittelbar herleiten lassen. Bei Anwendung auf die Differentialgleichung der infinitesimalen Fliicben- verbiegung erhitlt man hieraus einen neuen einfachen Beweis ftir dea bekannten Satz3), da~ zu einer vorgegebenen infinitesimalen Verbiegung einer Fliiche r fiir jede zu r projektive Fl~tche eine Verbiegung dureh Quadraturen ermittelt werden kann. 1. LEaENDuE-Transformation und Charakteristikenne~ze Gegenstand der Untersuehung ist die lineare, in den zweiten Ableitungen homo- gene Differentialgleiehung y) ~ + c(x,v) ~ = o ; (1) die Koeffizienten a, b, c sind in dem in Frage stehenden x, y-Bereieh stetig differen- zierbare Funktionen von x und y. Sie wird durch die LEGE~1)RE-Transformation / ~r /(x, y) + ~(~, ~7) x ~ + y ~7, also auch (2) in die Differentialgleiehung (0~ 0~)~2~ (~ 0~) ~2~ (~ 0~) ~2~=0 (3) a ~'6g ~--2b ~,~ ~T~%+c ~-,~ O~--~. iibergefiihrt. ~) R. SAUEa: Projektive 8~tze ill der S~atik des starrell KSrpers. Math.Ann. 110, (1934), 8. 464---472. Die hier benfitzte projektjve Kr~Lftetransformation liif]t sich auch auf die Bewegungs- gleichung eines Massenpunktes allwendellund ffihrt dann zu einer yon P. A~E~ (Co'mptes Relldus, Paris, Bd. 58, 8. 224; ferner Trait6 de M6canique Rationelle, Paris 1893, S. 499, Aufgabe16) an- gegebenen Bewegungstransformatioll. 2) Math. Ann. 111 (1935), S. 71--82. a) G. DARBOUX:TMorie des surfaces IV, Paris 1925; vgl. insbesondere S. 10, G1. (11).

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Projektive Beziehungen in der Charakteristikentheorie der partiellen Differentialgleichungen

Von ROBERT SAUER in Mtinehen

Herrn HEi~alCI~ TIETZE zum 70. Geburtstag am 31. August 1950 gewidmet

Ebenso wie in der Statik ebener und raumlicher Kri~ftesysteme 1) und beim Problem der infinitesimalen, Fliichenverbiegung 2) ergeben sich aueh in der Charak- teristikentlleorie gewisser partieller Differentialgleiehungen projektive Beziehungen. Wir werden im folgenden diese Beziehungen aufzeigen und nachweisen, daJ3 sieh mit ihrer Hilfe aus der LSsung einer vorgegebenen Differentialgleiehung die LSsungen einer Schar ,,projektiv verkntipfter" Differentialgleichungen unmittelbar herleiten lassen. Bei Anwendung auf die Differentialgleichung der infinitesimalen Fliicben- verbiegung erhitlt man hieraus einen neuen einfachen Beweis ftir dea bekannten Satz3), da~ zu einer vorgegebenen infinitesimalen Verbiegung einer Fliiche r fiir jede zu r projektive Fl~tche eine Verbiegung dureh Quadraturen ermittelt werden kann.

1. LEaENDuE-Transformation und Charakteristikenne~ze

Gegenstand der Untersuehung ist die lineare, in den zweiten Ableitungen homo- gene Differentialgleiehung

y) ~ + c(x,v) ~ = o ; (1)

die Koeffizienten a, b, c sind in dem in Frage stehenden x, y-Bereieh stetig differen- zierbare Funktionen von x und y. Sie wird durch die LEGE~1)RE-Transformation

/ ~r /(x, y) + ~(~, ~7) x ~ + y ~7, also auch (2)

in die Differentialgleiehung

(0~ 0~)~2~ (~ 0~) ~2~ (~ 0~) ~2~=0 (3) a ~ ' 6 g ~ - - 2 b ~ , ~ ~T~%+c ~ - , ~ O~--~. iibergefiihrt.

~) R. SAUEa: Projektive 8~tze ill der S~atik des starrell KSrpers. Math. Ann. 110, (1934), 8. 464---472. Die hier benfitzte projektjve Kr~Lftetransformation liif]t sich auch auf die Bewegungs- gleichung eines Massenpunktes allwendell und ffihrt dann zu einer yon P. A~E~ (Co'mptes Relldus, Paris, Bd. 58, 8. 224; ferner Trait6 de M6canique Rationelle, Paris 1893, S. 499, Aufgabe 16) an- gegebenen Bewegungstransformatioll.

2) Math. Ann. 111 (1935), S. 71--82. a) G. DARBOUX: TMorie des surfaces IV, Paris 1925; vgl. insbesondere S. 10, G1. (11).

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Im hyperbolischen Bereich der x, y-Ebene (a c <: b ~) existiert ein reelles Charak- teristikennetz, das durch die gewShnliche Differentialgleichung

a (x , y ) dy 2 ~ 2 b ( x , y ) d y dx + c (x ,y ) dx 2 = 0 (4)

gegebea ist. Diesen Charakteristikea der x, y-Ebene, die ftir alle LSsungen/(x, y) der G1. (1) dieselben sind, entsprechen auf Grund der weiteren Charakteristiken: bedingung

a dy d~ -4- c dx d~] ~ 0 (5) Kurven der ~, V-Ebene.

y

Fig. 1. Zugeordnete Charakteris~ikennetze

Wit setzen voraus, dab diese Kurven ebenso wie die Charakteristikea der x, y- Ebene ein Netz bilden, und haben dann vermSge der beiden 5Tetze eiae puaktweise umkehrbar eindeutige Zuordnung eines x, y-Bereichs und eines ~:, v-Bereichs. Das ~, ~7-STetz liegt nicht wie das x, y-Netz ein ftir allemal lest, sondern hiingt yon der L6sung [ (x , y ) der G1. (1) ab_

Aus C1. (4) und (5) ergibt sich ftir die beiden Kurvenscharen der Netze

dz/1, . Y ' - - \ d x / 2 , 1 " (6)

Das heil~t: Die beiden Netze (vgl. Figur) sind orthogonal bezogen in dem Sinne, dab in entsprechenden Punkten P, P', Q, Q', usf. zweier zugeordneter Netzkurven die ,,Liingstangenten" der einen Kurve senkrecht sind zu den ,,Quertangenten" der anderen Kurve und umgekehrt.

Mit Hilfe dieser orthogonalen Beziehungen liiBt sich in gewissen Spezialfi~llen, ni~mlich wenn die Charakteristiken in der x, y-Ebene geradlinig sind oder ein TSCHEBYTSCHEFI~-Netz ( = Rtickungsnetz paralleler kongruenter Kurven) bilden, die allgemeine LSsung der Differentialgleichungen (1) und (3) geschlossen angeben4).

*) Zeitschr. angew. Math. Mech. 25/27 (1947), S. 151--153.

422 R. SAum~

2. Projektive Verkniipfung partieller Differentialgleichungen Wir bezeichnen Differentialgleichungen (1) als projektiv-v.erkntipft, wenn die

Charakteristikennetze in der x, y-Ebene zueinander projektiv sind.

Es seien nun u 1 (2, #) x 4- vl (2, #) y + w~ (2,/~) ~-- 0 , /

u2(2,# ) x + v2(2,/~ ) y + w2(2,tt ) = 0" , (7)

die Gleichungen der Tangenten der beiden Charakteristikenscharen I und 2 (2 ---- const bzw. ~t = const) einer vorgelegten Differentialgleichung (1). Far das durch eine vorgegebene LSsung/(x, y) bestimmte entsprechende Netz in der ~, v-Ebene gelten wegen der Orthogonaliti~tsbedingung(5) mit gewissen FunktionenA(2,r und B(2,•) die Beziehungen 5)

d~ = A (2,#) u~/2 4- B(2,/~) u2d/~ ,

d~ = A(2,~O v~ d2 + B(2 ,~ ) v~. d~ , (8)

- - d~o ---- A (~, ~) w~ d2 4- B(2, tO w~_ d~ ;

die letzte diescr Bcziehungen folgt vermSge drp-----x d~ 4- y d~ aus den bciden ersten.

Wir gchcn jetzt zu den projektiv verkniipften Diffcrentialglcichungen (1) iibcr und stellen die projektiven Transformationen der x, y-Ebene in den rechtwinkcligen homogenen Linienkoordinaten u, v, w dar:

~' = fin u + r ~ + ~3 w, v' = ~.2~ u + r v + fl,3 w , } (9) ~ ' = Z~ ~ + ~ . v + ~ ~,, Det. t Zi~ [ 4: 0 .

Wenn wir dann dicsetbc Lineartransformation mit denselben konstanten Koeffi- zientcn flik auf ~, ~] und (--~o) anwenden, also

~7' : fl.,~ ~ 4- fl,,2 V - - fl._,3 rf, (10) _ ~, = / ~ ~ § ~ ~ - - r ~ ,

bleiben die Beziehungen (S) ungeandert, d.h. }', ~7' und.--:rp' liefern eine LSsung /' = x' }' 4- y' ~' - - ~o' der projektiv verkntipften Gleichungen (1).

tIiermit haben wir folgenden Satz:

Die LSsungen / = x } 4- y V - - ~ der Differentialgleichungen (1) werden dutch die Lineartransformationen (9) und (10) in die LSsungen/ ' ---- x' ~:' 4- 4- y' r / - - ~' der projektiv verkniipften Differentialgleichungen fibergeftihrt.

Der Satz gilt aueh im elliptisehen Bereieh (a c > b-~), wie man bei Einftihrung konjugiert komplexer Ver/~nderlieher 2 = 1 4- i m, tt = l - - i m leieht einsieht.

5) 5Ianerh~ltn'~mlichausdenGln.(7)dY~x = __v_ Tu~ (bzw. __ ~ ) fiir).= eonst (bzw./~ = const)

d$ u-Lvt (bzw. ~"~v~/u" fiir ~ = const (bzw.). = const). und aus den Gln. (8) d~= . . .

Projektive Beziehungen in der Charakteristikentheorie 423

3. Anwendung auf die infinitesimale Fl/ichenverbiegung

Wir wenden die in Ziff. 2 hergeleitete Lineartransformation der LSsungen der Differentialgleichungen (1) auf das Problem der infinitesimalen Fli~chenverbiegung an 6) :

Die Zu einer vorgegebenen F1/~che ~ benachbarten Biegungsfliichen ~ + e~-er- geben sich bei Beschr~tnkung auf die hinsichtlich der Konstanten s linearen Glieder aus dem ,,Drehrifi '~ ~* durch die Beziehung

d ~ = ~* X d~. (11)

Bezeichnet man mit x, y, Z bzw. x, y, ~ bzw. x*, y*, z* die rechtwinkeligen Koordi- naten der Ortsvektoren #, ~, 5" und betrachtet z, x, y, z, x*, y*, z* als Funktionen der beiden unabh/~ngigen Ver/~nderlichen x, y, dann erh~lt man aus G1. (11) und der Integrabilit/~tsbedingung der G1. (11)

- - ~ , . ~ Z=--xy Z x - - , - - - - X * = - - Z y , y * = - - Z x , ~X ---- Z x x Zy , Z y = ~yy Z x - - Zxy Zy .

Hiernach lassen sich die Biegungsfl~tchen~ + s~-durch Quadratnren darstetlen, sobald die Funktion~-(x,y) ermittelt ist. Diese genfigt der ebenfalls aus der Inte- grabiliti~tsbedingung der G1. (11) sich ergebenden Differentialgleichung ~)

z ~---2z..~-.+z~.V..=O (12) yy xx

Sie ist yore Typus unserer Gleichung (1) und ihre Charakteristiken

z=, dx ~ + 2 z~,y dx dy + zyy dy " ---- 0

sind die Grundrisse des Asymptotenlinien der vorgcgebcnen Fliiche.

Wit betrachten nun eine zur Fl/iche ~ projektive Fliiche ~' und w/ihlen im x, y, z- Raum und im x', y', z'-l~aum rechtwinklige Koordinatensysteme derart, dab die uncigentlichen Punktc der z-Achse und der z'-Achse sich bei der projektiven Trans- formation entsprechen. Dana sind die Grundrisse der Asymptotenlinien in der x, y-Ebene und der x', y'-Ebene zueinander projektiv und die Differentialgleichun- gen (12)

t - - t I - - I ~ - - /

2 + = o, +. 9. z., + _- 0,

welche die Verbiegung der Fl~che ~ bzw. ~' bestimmen, sind im Sinne yon Ziff. 2 projektiv verkniipft. Die in Ziff. 2 hergeleitete Lineartransformation liefert daher zu jeder Verb iegungs funk t ion - s der gegebenen Fl~che ~ eine Verbiegungs- funktion~r der projektiven Fl~che ~'. Wenn also die infinitesimalen Ver- biegungen der F1Ache ~ bekannt sind, ergeben sich die Verbiegungen der projektiven Flachen~' durch Quadraturen.

(Eingegangen am 15. 4. 1950.)

s) Vgl. z. B. R. SAUER: Projektive Liniengeometrie, S. 145--150, Berlin 1937.