Psyche Ist Ausgedehnt Vortrag Akademie Der Bildenden K Nste Tagung Ich Bin Die Vielen

20
Univ.Doz.Mag.Dr. Arno Böhler Institut Philosophie der Universität Wien Universitätsstraße 7 A-1010 Wien Tel./Fax: +43/(0)1/408 49 58 [email protected] http://homepage.univie.ac.at/arno.boehler 1 Arno Böhler Psyche ist ausgedehnt, weiß nichts davon „Der ontologische Körper ist noch nicht gedacht worden. Die Ontologie ist noch nicht gedacht worden, insofern sie fundamental Ontologie des Körpers = der Existenz-Stätte, oder Stätte der lokalen Existenz ist.Jean-Luc Nancy, Corpus S. 19. Im Folgenden geht es mir darum, Subjektivität als ein Moment zu denken, das im Zuge der kontinuierlichen Ausdehnung von Substanzen allererst entfaltet wird. Um an die substantielle Verfassung von Subjektivität zu erinnern, werde ich mich zunächst kurz der Aristotelischen Physik zuwenden. In ihr zeigt Aristoteles auf, dass der Gedanke des Kontinuums den Gedanken der fragmentierten Vielheit nicht verunmöglicht, sondern geradezu bedingt. 1 Besteht der operative Aspekt eines Kontinuums nämlich darin, dass es waltet, indem es sich selbst kontinuierlich teilt und damit neue Körper inmitten des Kontinuums gebiert, dann eröffnet der Gedanke eines operativen Kontinuums gerade die Möglichkeit, Körper als Bruch- Teile einer kontinuierlichen Auf-Teilung des Raumkontinuums zu denken. 2 Dieses fragmentarische Bild von Raum, Kontinuum und Körperlichkeit werde ich im zweiten Teil meines Aufsatzes mit dem Denken von Jean-Luc Nancy in Beziehung setzen. Sein Text Corpus nimmt den Gedanken des Körpers als singular plurales Fragment weltweiter Bezüge noch einmal auf, radikalisiert das aristotelische Substanzverständnis jedoch dahingehend, dass er die Aus-Dehnung einer Substanz als Immanenzraum ihrer psychischen Konstitution denkt. 1 Die aristotelische Physik wird im Folgenden zitiert nach: Aristoteles’ Physik, Hg. von Hans Günter Zekl; 2 Bücher, Griechisch-Deutsch. Übers., mit einer Einleitung und mit Anmerkungen. Meiner Verlag: Hamburg 1988. 2 Aristoteles definiert das Kontinuum (συνεχές) in der Physik als teilbar in immer wieder Teilbares (Physik, 231b 16), wobei das operative Moment der Teilung entscheidend ist. Zum (operativen) Verständnis des Kontinuums bei Aristoteles vgl. Wolfgang Wieland, Die aristotelische Physik, Göttingen 1962, 278-316.

description

Vortrag in der Charim Galerie, Dorotheergasse 12. 1010 Wien: Neue Wiener Gruppe Lacan-Schule, Sektion Ästhetik, 30. November 2009, 19.30.

Transcript of Psyche Ist Ausgedehnt Vortrag Akademie Der Bildenden K Nste Tagung Ich Bin Die Vielen

  • Univ.Doz.Mag.Dr. Arno Bhler Institut Philosophie der Universitt Wien Universittsstrae 7 A-1010 Wien Tel./Fax: +43/(0)1/408 49 58 [email protected] http://homepage.univie.ac.at/arno.boehler

    1

    Arno Bhler

    Psyche ist ausgedehnt, wei nichts davon

    Der ontologische Krper ist noch nicht gedacht worden.

    Die Ontologie ist noch nicht gedacht worden,

    insofern sie fundamental Ontologie des Krpers =

    der Existenz-Sttte, oder Sttte der lokalen Existenz ist.

    Jean-Luc Nancy, Corpus S. 19.

    Im Folgenden geht es mir darum, Subjektivitt als ein Moment zu denken, das im Zuge der

    kontinuierlichen Ausdehnung von Substanzen allererst entfaltet wird.

    Um an die substantielle Verfassung von Subjektivitt zu erinnern, werde ich mich zunchst kurz

    der Aristotelischen Physik zuwenden. In ihr zeigt Aristoteles auf, dass der Gedanke des

    Kontinuums den Gedanken der fragmentierten Vielheit nicht verunmglicht, sondern geradezu

    bedingt.1 Besteht der operative Aspekt eines Kontinuums nmlich darin, dass es waltet, indem es

    sich selbst kontinuierlich teilt und damit neue Krper inmitten des Kontinuums gebiert, dann

    erffnet der Gedanke eines operativen Kontinuums gerade die Mglichkeit, Krper als Bruch-

    Teile einer kontinuierlichen Auf-Teilung des Raumkontinuums zu denken.2

    Dieses fragmentarische Bild von Raum, Kontinuum und Krperlichkeit werde ich im zweiten

    Teil meines Aufsatzes mit dem Denken von Jean-Luc Nancy in Beziehung setzen. Sein Text

    Corpus nimmt den Gedanken des Krpers als singular plurales Fragment weltweiter Bezge noch

    einmal auf, radikalisiert das aristotelische Substanzverstndnis jedoch dahingehend, dass er die

    Aus-Dehnung einer Substanz als Immanenzraum ihrer psychischen Konstitution denkt.

    1 Die aristotelische Physik wird im Folgenden zitiert nach: Aristoteles Physik, Hg. von Hans Gnter Zekl; 2 Bcher, Griechisch-Deutsch. bers., mit einer Einleitung und mit Anmerkungen. Meiner Verlag: Hamburg 1988. 2 Aristoteles definiert das Kontinuum () in der Physik als teilbar in immer wieder Teilbares (Physik, 231b 16), wobei das operative Moment der Teilung entscheidend ist. Zum (operativen) Verstndnis des Kontinuums bei Aristoteles vgl. Wolfgang Wieland, Die aristotelische Physik, Gttingen 1962, 278-316.

  • Univ.Doz.Mag.Dr. Arno Bhler Institut Philosophie der Universitt Wien Universittsstrae 7 A-1010 Wien Tel./Fax: +43/(0)1/408 49 58 [email protected] http://homepage.univie.ac.at/arno.boehler

    2

    Zitat Nancy:

    Psyche ist ausgedehnt, wei nichts davon.3 Diese spte Notiz von Sigmund Freud

    charakterisiert Nancy als das faszinierendste und vielleicht (ohne bertreiben zu wollen)

    entscheidendste Wort Freuds.4

    Es bezeichnet nicht nur den Problemhorizont, dem Nancy in Corpus nachgegangen ist. Es bringt

    auch die Problematik auf den Punkt, die in diesem Text zur Sprache gebracht werden soll.

    1. Eine kurze Erinnerung an die aristotelische Physik des Raumes.

    Wie in vielen seiner Schriften geht Aristoteles auch in seiner Physik zunchst einmal auf die

    Ansichten seiner Vorgnger ein, um den Gegenstand der Wissenschaft von der Physis, die Physik

    zu bestimmen. In Bezug auf die Naturphilosophen, die , stellt er dabei zunchst einmal

    lapidar fest, dass sie, die , bei der Frage nach dem Anfangsgrund (), aus dem alles

    entstanden sei, explizit nach einem Urelement gefragt htten. Wren sie doch von der Annahme

    ausgegangen, dass die Entstehung der Dinge durch Vernderung eines einfachen, unbegrenzten

    Krpers hervorgerufen wrde. 5

    So spricht etwa Heraklit im Fragment 31 von den , den Umwendungen des Feuers,

    durch die es allmhlich in Meer, das Meer zur Hlfe in Erde, zur andern Hlfte in Gluthauch

    bergegangen sei.6 Das Wort Trope, Wendung, hat hier offenkundig noch nicht die Bedeutung

    eines rhetorischen, sprachlichen Verfahrens zur Verfassung einer poetischen Rede, in der Worte

    unorthodox gebraucht und queer gelesen werden, um ihnen eine berraschende Redewendung

    3 Jean-Luc Nancy, Corpus, Berlin-Zrich 2003, S. 23. 4 Nancy (2003), S. 23. 5 Vgl. Arist. Phys., I. 184b 15-25. 6 Diels (DK 22 B 31) bersetzt das Fragment 31 wie folgt: Feuers Umwende: erstens Meer, vom Meere aber die eine Hlfe Erde, die andere Hlfte Gluthauch. Die Erde zerfliet als Meer und dieses erhlt sein Ma nach demselben Sinn (Verhltnis) wie er galt, ehe denn es Erde ward. Vgl. auch die Interpretationen von Heidegger und Fink zu diesem Fragment in: Martin Heidegger/Eugen Fink, Heraklit. Seminar Wintersemester 1966/1967, Frankfurt am Main1970, S. 114-116.

  • Univ.Doz.Mag.Dr. Arno Bhler Institut Philosophie der Universitt Wien Universittsstrae 7 A-1010 Wien Tel./Fax: +43/(0)1/408 49 58 [email protected] http://homepage.univie.ac.at/arno.boehler

    3

    abzuringen und damit einen artistischen Kick zu verleihen. meint in diesem Fall

    vielmehr die elementare Performance eines Stoffwechselprozesses, in dem ein Grundstoff

    () seinen Aggregatzustand verndert. Das Element Feuer verwandelt sich in Wasser,

    Wasser in Erde und Luft, und die Mischung dieser vier Grundelemente bringt schlielich eine

    Vielzahl endlicher Substanzen hervor: Die Gestirne am Himmel, den Globus Erde samt seinen

    irdischen Lebewesen: Pflanzen, Tiere, Menschen. Ja selbst die Gtter unterliegen nach antiker

    Vorstellung dem Walten der Natur (), insofern das kosmische Aufgehen der den

    Gttern die Zeiten ihres An- und Abwesens gewhrt und folglich ber ihr Sein bzw. Nichtsein

    entscheidet.

    Aus der Kenntnis dieses Problemhorizonts stellt Aristoteles in seiner Physik pltzlich unvermutet

    die Frage, ob die Annahme eines unbegrenzten Krpers ( 7), nach dem die

    Naturphilosophen suchten, um das Prinzip der Entstehung aller Dinge zu erklren, denn nicht in

    sich widersinnig sei? Diese Frage drfe nicht einfach bergangen werden, da die Definition eines

    Krpers () den Begriff der Grenze offensichtlich impliziere und mit dem Begriff des

    Unbegrenzten () daher nicht ohne weiteres in Einklang zu bringen sei.8

    Die Aporie, dass Krper nur so gedacht werden knnen, dass sie einerseits notwendig eine

    physische Grenze besitzen, andererseits von einem unbegrenzten Raum umgeben werden, kann

    nach Aristoteles vermieden werden, wenn man das Unbegrenzte nicht als etwas an und fr sich

    selbst Bestehendes denkt, sondern als Prdikat nimmt, das nur an etwas, das schon vorliegt, als

    Eigenschaft (symbbeks) angetroffen wird. Das Unbegrenzte muss dann als etwas an einem

    Begrenzten, das Unendliche als etwas an einem Endlichen, das Unteilbare als etwas an einem

    Teil verstanden werden: Aber wenn man das annimmt, so folgert Aristoteles schlielich, so ist

    7 Vgl. Arist. Phys., 203b 26. Davor, 203b 1, spricht Aristoteles vom , dem gemeinsamen (All)-Krper. Vgl. dazu auch Wieland (1962), S. 292. 8 Zur Entfaltung dieser Argumentation vgl. vor allem das 4. Kapitel im 3. Buch der Aristotelischen Physik. Besondere Aufgabe des Natur-Forschers ist es zu untersuchen, ob es eine sinnlich wahrnehmbare Gre von unbegrenzter Ausdehnung gibt. Ebd., 203b 34- 204a 2.

  • Univ.Doz.Mag.Dr. Arno Bhler Institut Philosophie der Universitt Wien Universittsstrae 7 A-1010 Wien Tel./Fax: +43/(0)1/408 49 58 [email protected] http://homepage.univie.ac.at/arno.boehler

    4

    ja schon gesagt, dass man es [ ] dann nicht mehr als Anfangsgrund [] ansprechen

    kann []9.

    Im Lichte dieser spekulativen Stze ist das Unbegrenzte fr Aristoteles also kein Ding-an-sich

    mehr, sondern etwas, das Dinge ganz wrtlich an sich haben. Es besteht nur noch in Relation zu

    seienden Dingen und darf daher auch nur noch als akzidentielle Bestimmung endlicher

    Substanzen aufgefasst werden und nicht mehr als selbstexistenter Urgrund () aller Dinge.

    Was Aristoteles mit diesem An-sich-haben-des-Unbegrenzten-an-einem-Begrenzten meint, macht

    er selbst in seiner Physik anhand der pythagoreischen Bestimmung des unbegrenzten Raumes

    anschaulich. Da die Pythagorer nmlich lehrten, dass das Unendliche im Bereich der sinnlich

    wahrnehmbaren Dinge10 angesiedelt sei, nahmen sie folgerichtig an, dass der Raum auerhalb

    des Himmelsgewlbes unendlich sei .11 Die Pointe, auf die

    Aristoteles Argumentation im Folgenden hinausluft, liegt darin, dass auch dieser auerhalb des

    Seienden im Ganzen ( ) liegende Raum an sich betrachtet12 zwar unbegrenzt sein mag.

    Insoweit er aber als Auenraum des Himmelsgewlbes fungiere, notwendigerweise schon als

    spezifischer Raum gedacht werden msse und daher nur relativ, in Hinblick auf ein schon

    Seiendes, bestimmbar wre. Der Raum, im begrifflichen Sinne, ist damit unterwegs, blo noch

    eine abstrakte Bestimmung der vielen Rume, die es im Raum gibt, zu werden. Rumlich sind

    von nun an vor allem die Krper, die sich auf mannigfaltige Art und Weise im Raum befinden

    und dabei wechselseitig aufeinander beziehen, indem sie Myriaden von Beziehungsgeflechte

    untereinander ausbilden, die jeweils einen singulren Corpus von Krpern im Plural bilden: Ein

    Netzwerk von Krpern, deren relationales Mit-ein-ander-sein mehr oder weniger stabile Formen

    annimmt, die in der Tat Konfigurationen von Krperensembles ergeben.

    9 Arist. Phys., 204a 30-31. 10 , Arist. Phys., 203a 6. 11 Arist. Phys., 203a 6-8. Vgl. auch 203b 25. 12 Alle, die in dem Ruf stehen, dieses Denkgebiet mit nennenswertem Erfolg bearbeitet zu haben, haben sich ausdrcklich mit dem Unendlichen auseinandergesetzt, und alle setzen es als einen Seinsgrund an: Die einen, so die Pythagoreer und Platon, nehmen es rein fr sich, nicht als etwas, das an einem anderen vorkommt, sondern so, als ob die Bestimmung unbegrenzt selbst einen Sinn htte. Arist. Phys., 203a 1-4.

  • Univ.Doz.Mag.Dr. Arno Bhler Institut Philosophie der Universitt Wien Universittsstrae 7 A-1010 Wien Tel./Fax: +43/(0)1/408 49 58 [email protected] http://homepage.univie.ac.at/arno.boehler

    5

    Die Eigentmlichkeit der aristotelischen Dialektik der Verschrnkung von begrenztem und

    unbegrenztem Raum besteht nun aber nicht einfach im Vorausdenken von Hegels Diktum, dass

    jede Negation bestimmte Negation sei, sondern in der Annahme, dass Krper, etwa das

    Himmelsgewlbe, im eigentlichsten Sinne selbst als unbegrenzt bezeichnet werden msse, weil

    es an seinen uersten Rndern notwendigerweise an das Unbegrenzte angrenze, es also

    berhre. Insofern ein Krper also per Definition an ein Auen angrenzt, mit dem er an seiner

    Krperoberflche per se hautnah in Verbindung steht, sind Krper schon fr Aristoteles offene,

    uerlich ent-grenzte Entitten.

    Das Resmee der aristotelischen Reflexionen ber die Mglichkeit bzw. Unmglichkeit des

    wirklichen Da-seins unbegrenzter Krper mndet daher in den, nur dem ersten Anschein nach

    befremdlichen Satz: Es ergibt sich so, dass unbegrenzt das Gegenteil von dem bedeutet, was

    man dafr erklrt: Nicht was nichts auerhalb seiner hat, sondern wozu es immer ein ueres

    gibt, das ist unbegrenzt [ , toto ].13

    Seit Aristoteles darf der Auenraum eines Krpers also nicht mehr losgelst von den Krpern,

    die sich in ihm befinden, gedacht werden. So, als wre der Raum um einen Krper herum blo

    ein von ihm isolierter Behlter, der auch ohne Inhalt, ohne die Krper in ihm existent wre.

    Der Raum ist aber auch nicht blo eine Anschauungsform im Kantschen Sinne. So, als wrde er

    den Erscheinungen im Raum blo uerlich und nachtrglich, im Zuge ihrer aktuellen

    Vergegenstndlichung hinzugedacht. Er ist, und damit komme ich auf Nancy zu sprechen,

    vielmehr als Ort der Ex-position, der Aussetzung eines Krpers in ein Auen zu verstehen, das

    Krper zur Ek-stasis bewegt.

    13 Arist. Phys., 206b 33-207a 2. Vgl. auch die zuvor angefhrte Stelle: so sagen ja die Natur-Denkern, der Auen-Krper der Welt [t to ], dessen Bestand Luft oder etwas anderes dergleichen sei, sei unbegrenzt gro. Arist. Phys., 206b 23.

  • Univ.Doz.Mag.Dr. Arno Bhler Institut Philosophie der Universitt Wien Universittsstrae 7 A-1010 Wien Tel./Fax: +43/(0)1/408 49 58 [email protected] http://homepage.univie.ac.at/arno.boehler

    6

    2. Jean-Luc Nancy, Corpus.

    2.1. Krper als Orte einer weltweiten Ex-position.

    Gerade weil Krper sptestens seit Aristoteles also als Bruchteile eines Kontinuums gedacht

    wurden, waren sie schon fr Aristoteles keine Dinge-an-sich mehr, sondern weltoffene Wesen.

    Eine, Zitat Nancy vielfltig gefaltete, nochmals gefaltete, entfaltete, vervielfltigte, eingestlpte,

    exogastrule, mit Mndungen versehene, flchtige, eingedrungene, angespannte, losgelassene,

    erregte, verwunderte, verbundene, losgebundene Haut.14

    Die Ausgesetztheit in ein angrenzendes Auen wird fr Krper also in dem Moment auf

    empfindliche Weise sprbar, in dem sie am eigenen Krper Organe ausbilden, die sie ihrer

    eigenen Peripherie gegenber sensibel machen. Solche, zur Haut gewordene Krper sind per se

    niemals ganz, vollstndig, vollendet, fertig, insofern sie zeitlebens Fraktal ihrer weltweiten

    Umgebung bleiben:

    unvollendet,

    unfertig

    unganz,

    nichts Volles,

    kein gefllter Raum,

    sondern offener Raum.

    in gewisser Hinsicht, wie Nancy schreibt, eigentlich rumlicher Raum, viel mehr als

    gerumiger Raum.15 Hohlkrper weit mehr als eine in-sich-verschlossene Masse.

    14 Nancy (2003), S. 18. 15 Nancy (2003), S. 18. Nancy folgt auch hier Aristoteles. Es ist also offensichtlich, dass unbegrenzt () eher im Begriff des Teils (u) als dem des Ganzen (aufzusuchen ist). Arist. Phys., 207a 26-27.

  • Univ.Doz.Mag.Dr. Arno Bhler Institut Philosophie der Universitt Wien Universittsstrae 7 A-1010 Wien Tel./Fax: +43/(0)1/408 49 58 [email protected] http://homepage.univie.ac.at/arno.boehler

    7

    Als wunde, mit anderen Krpern stets schon weltweit verbundene Entitten sind Krper demnach

    auf singulre Art und Weise lokal vernetzte Sttten einer weltweiten Vielheit, deren Multitude

    den Corpus eines Krpers bildet, der sich im wechselseitigen Berhren der Krper unter-ein-

    ander singular plural zur Entfaltung bringt:

    in Modi der wechselseitigen Anziehung,

    Abstoung,

    des Fr-ein-ander,

    des Gegen-ein-ander,

    des Mit-ein-ander, in dem ber die wechselseitige Betroffenheit der Krper unter-ein-ander

    jeweils singular plural entschieden worden sein wird. Auch im aktiven Sinne der singular-

    pluralen Beteiligung der Krper, die in den Corpus einer solchen Multitude aktiv involviert sind,

    insofern sie sich an seiner Formung aktiv engagieren.

    Nancy fordert in Corpus daher vllig zu Recht, dass die gesamte Naturphilosophie neu

    berarbeitet werden msse, wenn die Natur erst einmal als Exposition der Krper gedacht

    werde.16

    Die antike griechische Philosophie nannte diese Ausgesetztheit der Krper gegenber dem Raum,

    den sie um sich herum haben (-), brigens pathos (). Pathos, weil es sich beim

    Auenraum eines Krpers eben um einen Raum handelt, von dem Krper in der Tat faktisch

    betroffen sind und zeitlebens betroffen sein werden. Im , im Erleiden der Welt beginnt ein

    Krper am eigenen Leib zu spren, was sich in seiner Peripherie um ihn herum tut und abspielt.

    Von seiner Peripherie stndig angegangen, getroffen, betroffen, berhrt, gerhrt, gestoen,

    zerbrochen, entzckt, angezogen, abgestoen, aufgebrochen, touchiert,17 verndert, verwandelt,

    16 Vg. Nancy (2003), S. 35. 17 Vgl. dazu: Jacques Derrida (2000), Berhren, Jean-Luc Nancy, Berlin 2007.

  • Univ.Doz.Mag.Dr. Arno Bhler Institut Philosophie der Universitt Wien Universittsstrae 7 A-1010 Wien Tel./Fax: +43/(0)1/408 49 58 [email protected] http://homepage.univie.ac.at/arno.boehler

    8

    sind Krper ihrer eigenen Auenwelt pathisch so ausgesetzt, dass sie von ihr hautnah berhrt

    werden. Im pathetischen Sinne rckt die Welt, die sich auerhalb eines Krpers befindet, dem

    Krper also direkt auf den Leib. Und zwar so, dass er dadurch selbst ek-statisch wird, d. h.

    auerhalb von sich zu stehen kommt, indem er seine eigene Umwelt an seiner eigenen

    Krperoberflche eben aisthetisch wahrzunehmen beginnt.

    Wenn Martin Heidegger in Sein und Zeit das Wort Da-sein mit einem Bindestrich schreibt, dann

    darum, weil er dadurch die Lichtung und Offenheit des Seienden, die der Mensch aussteht18, im

    Schriftbild unserer Sprache sichtbar markieren wollte.

    Diese Offenstndigkeit, Zitat Heidegger,

    ist nicht so etwas wie ein offenes Fenster oder wie ein Durchgang. Die Offenstndigkeit des

    Menschen zu den Dingen meint nicht, dass da ein Loch ist, durch das der Mensch hin durch sieht,

    sondern die Offenstndigkeit fr... ist das Angegangensein von den Dingen. 19

    2.2. Partes extra partes.

    Wren Krper in-sich-verschlossene Dinge, die ihrer Peripherie gegenber vllig indifferent

    wren, dann bliebe ihnen der Andrang anderer Krper inmitten der Welt nicht einmal

    gleichgltig: sie wren anderen Krpern gegenber vllig unempfindlich und blind. Die

    Erfahrung von Andersheit die schon Aristoteles als das intime Gesetz jeder Berhrung erkannt

    hatte, insofern jede Berhrung eine Form des Rhrens von Einem an ein Anderes darstellt , die

    Unterscheidung von Ich und Anderem bliebe Krpern gnzlich verschlossen wenn nicht ein

    Krper an andere rhren wrde.

    18 Martin Heidegger/Eugen Fink (1970), S. 202. 19 Martin Heidegger/Eugen Fink (1970), S. 200.

  • Univ.Doz.Mag.Dr. Arno Bhler Institut Philosophie der Universitt Wien Universittsstrae 7 A-1010 Wien Tel./Fax: +43/(0)1/408 49 58 [email protected] http://homepage.univie.ac.at/arno.boehler

    9

    Wrden wir fr einem Moment, in einem Gedankenexperiment, annehmen, es gbe in der Tat in

    sich verschlossene Atome, also Krper, die keinerlei Ek-statis ausgesetzt wren, die von ihrem

    eigenen Auen also auf keinerlei Art und Weise affiziert werden knnten, dann, so Nancy,

    dann wrde ich sagen: das ist kein Krper, das ist eine Masse, wie geistig auch immer diese

    Masse sein mag [].20

    In atomaren, in sich-verschlossenen, unteilbaren Krpern, in denen die Krper zur reinen Masse

    degradiert worden wren, htte sich die ffnung des Krpers gegenber der Welt, die ihn umgibt,

    also in der Tat in eine apathische Abwendung von ihr verkehrt. Vermasste Krper, Nancy

    vergleicht sie explizit mit den schwarzen Lchern der Astrophysik, wrden sich folglich so zur

    Welt verhalten, als wren sie selbst kein Teil mehr von ihr, der von ihr betroffen werden knnte.

    Offenbar realisiert sich in der Vermassung eines Krpers exakt die gegenteilige Bewegung zu

    der, die in der sensiblen Zuwendung eines Krpers gegenber seine Umgebung Ereignis wird, in

    der er sich selbst der Welt um ihn herum auf empfindliche Art und Weise ffnet.

    Nicht im Beharren und In-sich-Vergraben im eigenen Gewicht eines Krpers ist ein Krper fr

    Nancy daher ganz bei sich selbst. Es ist vielmehr der Akt der ffnung, in der er sich in der Tat

    auf das zu bewegt, was ihn umgibt, in dem er ganz wird was er ist.

    Es klingt fast wie eine Definition von dem, was Krpersein fr Nancy im eigentlichsten Sinne

    besagt, wenn er schreibt, das ein Krper eben exakt dort bei sich sei, wo er sich selbst flieht. Wo

    er in der Tat auf-bricht, um im Sich-von-sich-selbst-entfernen zu sich selbst zu kommen. Der

    Krper sei daher nichts anderes als

    Zitat,

    dieser Aufbruch von sich, zu sich21.

    20 Nancy (2003), S. 106. Ein Rckzug der Krper aus der Welt, der in den Massengrbern dieser Welt fr Nancy sein finales Ende findet. Vgl. Nancy (2003), S. 68-69.

  • Univ.Doz.Mag.Dr. Arno Bhler Institut Philosophie der Universitt Wien Universittsstrae 7 A-1010 Wien Tel./Fax: +43/(0)1/408 49 58 [email protected] http://homepage.univie.ac.at/arno.boehler

    10

    Und diese Bewegung,

    dieser Auf- und Ausbruch eines Krpers,

    diese Bewegung des Weg-von-sich

    mitten hinein in das Weltweite der Welt, das einen Krper umgibt,

    ist eine Fluchtbewegung,

    in der er Teile seiner gebundenen Masse energetisch von sich abzuspalten beginnt, um sich im

    Zuge der Ausdehnung derselben ber das Weltweite der Welt hinauszuwagen,

    auszuweiten,

    auszudehnen,

    auszubreiten,

    diese Fluchtbewegung des Krpers ber sich selbst hinaus ist exakt das, was im Nancyschen

    Sinne die Seele eines Krpers genannt werden muss:

    Die Auf- und Ausspannung eines Krpers ber sich hinaus, in der er jene Krperspannung und

    weltweite Spannweite zur Entfaltung bringt, die ihn selbst schlielich am eigenen Krper mit

    einem Sinn fr seine Umgebung ausgestattet haben wird.

    Die Seele ist ein Begriff fr die Erfahrung, schreibt Nancy, die der Krper ist. Experiri, das

    bedeutet im Lateinischen gerade nach drauen gehen, ausziehen ins Abenteuer, eine berfahrt

    machen, ohne wirklich zu wissen, ob man [je] zurckkehren wird.22 Und wie.

    Im ek-statischen Aufbruch eines Krpers, in dem er von sich aus kontinuierlich in die Welt

    aufbricht, um das, was sich um ihn herum befindet, zu erkunden, entfaltet ein Krper fr Nancy

    erst jenen seelischen Innen-Raum im Auenraum um sich herum, den er in der Folge psychisch

    durchdringt und als partes extra partes am eigenen Leib hautnah empfindet.

    21 Nancy (2003), S. 33. 22 Nancy (2003), S. 124.

  • Univ.Doz.Mag.Dr. Arno Bhler Institut Philosophie der Universitt Wien Universittsstrae 7 A-1010 Wien Tel./Fax: +43/(0)1/408 49 58 [email protected] http://homepage.univie.ac.at/arno.boehler

    11

    Kraft dieser Bewegung nimmt ein Krper in der Tat also selbst erst subjektive Zge an. Wird er

    zu dem, was die deutsche Sprache Leib, die griechische Psyche im Sinne des Tonos einer

    Krperspannung nennt.23

    [nicht gelesen: Zitat Nancy evtl. aber als Funote einfgen]

    [...] die griechische Wurzel des Wortes [tensio] ist tonos, der Ton. Ein Krper ist ein Ton []

    ein Tonus. [] ein Krper sein, heit ein bestimmter Ton sein, eine bestimmte Spannung. Ich

    wrde sogar sagen, dass eine Spannung auch eine Haltung [tenue] ist. Das birgt Mglichkeiten

    fr ethische Ausfhrungen, die man auf den ersten Blick vielleicht nicht vermuten wrde.24

    Fluchtkrper

    So verstanden ist die Seele eines Krpers also gerade kein immaterieller Gegenstand, der als

    Gespenst in einem Krper wohnen wrde. Eher ist Seele ein Name fr den Fluchtkrper, der sich

    kontinuierlich von seinem Festkrper wegbewegt, indem ein Bruchteil der in einem Festkrper

    gebundenen Energie freigesetzt wird und sich energetisch, als freigesetztes Soma, ber den

    Festkrper hinaus auszudehnen beginnt.

    Psyche ist ausgedehnt, wei nichts davon.25

    Die Rezitation dieses Satzes ist daher nicht einfach eine Proposition ber einen bestehenden

    Sachverhalt, sondern Andeutung eines somatischen Geschehens, das in der res extensa, im Akt

    der Ausbreitung von Materie Ereignis wird:

    ein Geschehen,

    23 Wir neigen oftmals dazu, zu denken, dass der Krper eine Substanz ist, dass Krper Substanz ist. Und ihm gegenber, oder woanders, in einer anderen Ordnung, gbe es noch etwas anderes, zum Beispiel Subjekt, was keine Substanz ist. Was ich zeigen mchte, ist, dass der Krper, wenn es so etwas wie den Krper gibt, keine Substanz ist, sondern eben genau Subjekt. Nancy (2003), S. 107. 24 Nancy, Corpus, 124. 25 Nancy (2003), S. 23.

  • Univ.Doz.Mag.Dr. Arno Bhler Institut Philosophie der Universitt Wien Universittsstrae 7 A-1010 Wien Tel./Fax: +43/(0)1/408 49 58 [email protected] http://homepage.univie.ac.at/arno.boehler

    12

    eine somatische Bewegung,

    eine Bewegung des Fort-von-sich,

    des Auf-Brechens eines Krpers,

    des Perforierens der eigenen Krperoberflche,

    der es einem Krper schlielich erlaubt,

    sich selbst ber seine eigene Umgebung hinaus zu ergieen.

    Und dieser Soma-Fluss,

    dieser Ausfluss eines Krpers aus sich selbst heraus ist haargenau das, was exponiert wird, wenn

    Krper im Raum als Erscheinungen zum Vorschein kommen, um ihre Seele auszubilden.26

    Walter Benjamin hat diese Strahl-, Leucht-, Flug- und Fliehkraft der Krper bekanntlich die Aura

    eines Krpers genannt: die einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie [auch] sein mag27. In

    ihre entfernt sich ein Krper in alle Himmelsrichtungen von seinem Lokus, um das zu ent-fernen

    sich vor- und zuzustellen , was sich auerhalb des Festkpers befindet:28

    Jene anderen Krper,

    auf die ein Krper stt,

    die er berhrt,

    mit denen er in der Tat somatisch in Kontakt tritt,

    whrend er sein eigenes Drumherum lichtet, ent-fernt, nhert, durchsichtig, intelligibel macht,

    indem er sich selbst in seiner eigenen Helle exponiert, ffentlich macht, als Erscheinung in

    seinem Erscheinen kundtut und folglich mit und fr andere bemerkbar macht und offenbar wird.

    26 Vgl. Nancy (2003), S. 33. 27 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main 19774, 15. 28 Georg Christoph Tholen sieht in der Dislokation der Medien gerade ihr irritierendes Moment. Neu oder zumindest irritierend fr eine angemessene Bestimmung der Medialitt der Medien ist also der von sich selbst als einem lokalisierbaren Raum loslsbare Spielraum der Medien: Es ist gerade seine unsichtliche Vor-Gegebenheit, die zum Fokus der Aufmerksamkeit wird, wie jngst der Performative Turn belegt, der die Eigenart der Postdramatischen Theatralitt zum Angelpunkt einer Theorie der Medialitt als Performativitt genommen hat . (Vgl. hierzu Wirth, Uwe (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2002; Krmer, Sybille, Performanz und Medialitt, Mnchen 2004). Georg Christoph Tholen, Einleitung, in: Sigrid Schade, Thomas Sieber, Georg Christoph Tholen (Hg.), SchnittStellen, Basel 2005, S. 21.

  • Univ.Doz.Mag.Dr. Arno Bhler Institut Philosophie der Universitt Wien Universittsstrae 7 A-1010 Wien Tel./Fax: +43/(0)1/408 49 58 [email protected] http://homepage.univie.ac.at/arno.boehler

    13

    Diese Operation, in der die Ausdehnung eines Krpers bis an die uerste Grenze seiner

    Spannkraft und Dehnbarkeit getrieben wird,29 bezeichnet die Sprache des Sanskrit brigens mit

    dem Wort bhat: etwas breit, weit, hell, leuchtend, froh, freudig, leicht, offen, pors,

    durchlssig, strahlend, lumins, glamours, brillant, bright machen, und zwar kraft der

    Dehnung eines Krpers.30

    2.3. Entrollte Sinne

    Wir drfen dieses Ek-sistentwerden der Krper nach Nancy folglich nicht mehr lnger als eine

    rein geistige, jeder Sinnlichkeit enthobene Ttigkeit denken. Etwa als reine Verstandesttigkeit

    im Kantschen Sinne, in der unser Verstand den Raum um uns herum geistig durchspht, um

    mgliche sinnliche Gegenstnde blo imaginr zu ersphen, die fr uns in ihrer phnomenalen

    Existenz lesbar werden, sobald wir die reinen Verstandesbegriffe auf sie anwenden, wodurch sie

    nach Kant fr uns apprehendierbar, in Hinblick auf ihre reproduzierbare Bestndigkeit

    phnomenal also registrierbar gemacht werden. Das Durchsphen des Raums Kant selbst

    verwendet dieses Wort im Zuge seiner transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe

    in der Kritik der reinen Vernunft dieses Durchsphen des Raums muss im Sinne Nancys

    vielmehr selbst als ein somatischer Akt verstanden werden. Ein schizoider Akt, in dem die

    Aufspaltung eines Krpers in einen lokalen Festkrper und einen weltweiten Strahlungskrper

    stattfindet, und der folglich als physisches Geschehen der Teilung eines Krpers gedacht werden

    muss, in der er sich mit einem Teil seiner Krperlichkeit de facto auerhalb von sich begibt, in

    der Tat also als partes extra partes existent wird und damit die Differenz zwischen Soma und

    Psyche in einem Krper aufreit.

    29 Ein Krper, das ist das, was die Grenzen bis zum uersten treibt, indem er im Dunkeln tappt, tastet, also berhrt. Nancy, Corpus, 124. 30 Vgl. dazu Arno Bhler, Open Bodies, in: Axel Michaels/Christoph Wulf (Hg.), Paragrana, Internationale Zeitschrift fr Historische Anthropologie, Band 18 Heft 2, Berlin 2008 (Im Druck).

  • Univ.Doz.Mag.Dr. Arno Bhler Institut Philosophie der Universitt Wien Universittsstrae 7 A-1010 Wien Tel./Fax: +43/(0)1/408 49 58 [email protected] http://homepage.univie.ac.at/arno.boehler

    14

    [nicht gelesen: Zitat Nancy evtl. aber als Funote einfgen]

    Die Aseitt Zitat Nancy, das An-sich, das Durch-sich des Subjekts existiert nur als der

    Abstand und der Aufbruch dieses A der Aseitt (dieses fort von sich), welches die Sttte ist, die

    eigentliche Instanz seiner Gegenwart, seiner Authentizitt, seines Sinns. Das fort-von-sich als

    Aufbruch ist das, was [dabei A. B.] exponiert wird.31

    Krper sind also per se Orte, in denen nicht nur ein lokaler Raum physisch besetzt und krperlich

    ausgefllt wird, sondern die Performance der kontinuierlichen Abspaltung, Loslsung, der ex-

    territorialen Deterritorialisierung eines Krpers. Und zwar darum, weil Krper als Raum

    einnehmende Wesen ihrer Physis gem eben immer schon auf dem Sprung sind, auch den

    Weltraum ihrer Auenwelt berhren und einsehen zu wollen. Gerade in diesem Zug, sich nach

    Auen ins Auen werfend, uert sich das tensionale, das spannungsgeladene Moment in der Ex-

    tension, der seelischen Aus-Dehnung eines Krpers.

    Die Seele, schreibt Nancy, ist die Ausdehnung oder das Ausgedehnte des Krpers. []

    nachdem wir so auf dem aus der Ausdehnung beharrt haben, mssen wir die Dehnung [tension]

    als solche denken. Was macht eine Ausdehnung aus? Es ist eine Dehnung. Aber eine Extension

    ist zugleich auch eine In-tension, im Sinne einer Intensitt.32

    Mit der Exponiertheit der Krper ist demnach nicht nur die mediale Ausgesetztheit eines Krpers

    gegenber dem Anblick und Andrang anderer Krper gemeint, sondern ursprnglicher und mehr

    noch das immanente Prinzip, das Krper selbst kontinuierlich zwingt, die Lokalitt ihres status

    quo aufgeben zu mssen, um sich ber sich selbst hinaus zu bewegen. Es ist diese expansive

    Natur der Krper, die Nietzsche in der Formulierung Wille zur Macht im Sinn hatte. Ein

    unendlicher Drang, der allen Krpern innewohnt, ihre eigene Enge und Borniertheit dionysisch

    aufsprengen zu wollen, indem sie sich dem Andrang einer Welt aussetzen, um sich von ihr

    31 Jean-Luc Nancy, Corpus, 33. 32 Nancy, Corpus, 123.

  • Univ.Doz.Mag.Dr. Arno Bhler Institut Philosophie der Universitt Wien Universittsstrae 7 A-1010 Wien Tel./Fax: +43/(0)1/408 49 58 [email protected] http://homepage.univie.ac.at/arno.boehler

    15

    betreffen, d. h. eben psycho-somatisch bewegen zu lassen. Eine Motion, die seit langem schon

    mit dem Wort Emotion bezeichnet wird. Ein Wort, von dem Nancy sagt, dass es fr uns

    inzwischen ein sehr schwaches, abgentztes geworden sei, so dass uns dessen ursprngliche

    Nennkraft zunchst einmal allererst wieder in Erinnerung gerufen werden msse.

    Denn Emotion, schreibt Nancy, das bedeutet [ursprnglich]: in Bewegung gebracht, in Gang

    gebracht, erschttert, betroffen, verwundet [werden]. Man kann hier noch ein weiteres Wort

    hinzufgen, das vielleicht zu spektakulr ist: Kommotion. Dieses Wort hat den Vorteil, dass es

    das mit (cum) einfhrt. Die Kommotion ist das In-Bewegung-versetzt-Sein-mit.33

    Von anderen Krpern stets schon elektrifiziert,34 blitzartig stimuliert, geplagt35, animiert, berhrt,

    bewegt, gestoen, verndert, aufgewhlt, verletzt, womglich sogar vernichtet, verstoen,

    zersetzt, zerstckelt, sind Krper Fraktale eines weltweiten Bezugs, dem sie sich kom-motional

    nicht und niemals entziehen knnen, solange sie selbst in der Welt da sind, da die Betroffenheit

    eines Krpers von anderen Krpern von ihm nicht negiert werden kann, ohne sich selbst dadurch

    auszulschen.

    Im Anschluss an einen frhen Text von Antonin Artaud, der den Titel trgt. Die Nervenwaage,

    Fragmente eines Hllentagebuchs,36 bezeichnet Nancy das kom-motionale Geflecht solcher

    Berhrungen in Corpus als Nervenwaage:37 Ein wiegend, wgendes Ordnungssystem, das schon

    durch Hinzufgung bzw. Wegnahme kleinster Gewichte auszuschlagen, zu wanken, zu kippen,

    aus dem Lot zu geraten scheint. Aus diesem Grund weigert sich Artaud auch, das, was er eine

    Nervenwaage nennt, als eine organische Ordnung zu denken, in der sich alle Teile funktional in

    33 Nancy (2003), S. 125. 34 Zu einer kulturantropologischen Perspektive auf das Phnomen der Elektrizitt siehe: Elisabeth von Samsonow Anti-Elektra, Berlin 2007. 35 Zum Blitz-Schlag als disseminierendem Feuer vgl. Heidegger/Fink (1970), S. 47-62. 36 Antonin Artaud, Die Nervenwaage, in: Frhe Schriften, Matthes & Seitz, Mnchen 20012, S. 77-95. 37 Vgl. Nancy (2003), S. 41.

  • Univ.Doz.Mag.Dr. Arno Bhler Institut Philosophie der Universitt Wien Universittsstrae 7 A-1010 Wien Tel./Fax: +43/(0)1/408 49 58 [email protected] http://homepage.univie.ac.at/arno.boehler

    16

    ein ganzheitliches System gliedern wrden. Denn die Nervenwaage, die er im Sinn hat, gleicht

    weniger einem Organismus, als vielmehr einem wimmelnden Haufen von Gegebenheiten.

    Ah, diese Zustnde, chzt Artaud, die man nie [bennen kann],

    diese auerordentlichen Seelenzustnde,

    ah, diese Geistesintervalle,

    ah, diese winzigen Fehlschlge, die das tgliche Brot meiner Stunden sind,

    ah, dieser wimmelnde Haufen von Gegebenheiten. []

    Und erwartet nicht, dass ich euch dieses Ganze nenne, angebe, in wie viele Teile es zerfllt, dass

    ich euch sein Gewicht verrate, dass ich mitmache, dass ich beginne, ber dieses Ganze zu

    diskutieren und dass ich mich beim Diskutieren verliere und auf diese Weise, ohne es zu wissen,

    zu denken beginne.38

    Eine Artaudsche Nervenwaage stellt offenkundig keine organische Ordnung, sondern ein

    kommotionales Chaos weltweit geteilter Empfindungen dar. Sie ist der Begriff fr etwas, das

    permanent im Begriff ist, vom Einem ins Andere zu kippen. Ein wimmelnder Haufen von

    Begebenheiten, von winzigen Fehlschlgen und Zustnden, von denen wir stndig mitgerissen,

    hin und her bewegt, kommotional also in Schach und Atem gehalten werden. Die Datenstrme

    der Sinnlichkeit werden hier, in radikaler Opposition etwa zu Kant, selbst auf empfindliche Art

    und Weise sprbar, insofern die Schemata des Verstandes die Reize auf dieser partikulren

    Mikroebene der Krper gerade nicht mehr unter die reinen Verstandesbegriffe zu subsumieren

    und damit als dieses Etwas hier zu identifizieren vermag.

    Zwar ist Kant Recht zu geben. Sobald uns Krper affizieren eine Begebenheit, die uns

    zeitlebens kontinuierlich widerfhrt , kommt unsere gesamte Nervenwaage unweigerlich sofort

    in Gang, um auf die Aura der Krper, die uns am eigenen Leib hautnah affizieren, physiologisch

    so zu reagieren, dass die affizierenden Reize zunchst und zumeist stereotyp, via passiver

    Synthesen, die eingewhnten Verhaltensmustern folgen, ausgelegt, also stereotyp ausgereizt 38 Artaud (2001), S. 92.

  • Univ.Doz.Mag.Dr. Arno Bhler Institut Philosophie der Universitt Wien Universittsstrae 7 A-1010 Wien Tel./Fax: +43/(0)1/408 49 58 [email protected] http://homepage.univie.ac.at/arno.boehler

    17

    werden. Zunchst und zumeist reagieren wir auf an- und herankommende Reize auf gewohnte

    Art und Weise stereotyp, indem wir Affekte auch affektiv konventionell beantworten.39

    Gerade weil unsere Nervenwaagen dazu tendieren, einen ankommenden Reiz vorschnell zu

    deuten, indem sie ihn sofort auf gngige Art und Weise stereotyp interpretieren und damit in eine

    alte Leier verwandeln I said it without thinking, how stupid I was40 , fordert Nietzsche in

    seiner Gtzen-Dmmerung ein Sehen, Denken, Sprechen und Schreiben, das gelernt hat, diese

    gemeine Lebensart am eigenen Leib zu verweigern.

    Man hat sehen zu lernen, man hat denken zu lernen, man hat sprechen zu lernen: das Ziel in

    allen Dreien ist eine vornehme Cultur. Sehen lernen dem Auge die Ruhe, die Geduld, das An-

    sich-herankommen-lassen angewhnen; das Urtheil hinausschieben, den Einzelfall von allen

    Seiten umgehn und umfassen lernen. Das ist die erste Vorschulung zur Geistigkeit: auf einen

    Reiz nicht sofort reagieren41

    Ein Sehen, Denken, Schreiben, Sprechen, das sich der habituellen Anwendung schnell

    verfgbarer Schemata im Akt der Wahrnehmung eines Gegenstands aktuell gerade widersetzt,

    eine solche Aisthetik des Widerstands muss nach Nietzsche von uns Menschen erst erlernt

    werden: Es ist uns nicht einfach gegeben, nicht gemein zu reagieren, indem wir auf einen Reiz

    nicht sofort mit allen affektiven Vorurteilen, die uns via passiver Synthesen zur Verfgung

    stehen, impulsiv re-agieren.

    39 Die Stimmung, die in der Befindlichkeit eines Krpers emotional offenbar wird, weist demnach auf das Schwingungsgefge der taktilen Verbindungen zurck, die den Krper selbst durch periphere Berhrungen neuronal in Bewegung versetzen, so dass die gesamte Nervenwaage aktiviert wird, sobald ein Krper mittels organischer Synthesen auf die ihn affiziernde Umwelt habilitativ reagiert. Seine Umgebung also auf gelufige, gngige Art und Weise konventionell gehorcht. 40 Avital Ronell, Stupidity, Urbana/Chicago 2002, S. 170. 41 Friedrich Nietzsche, Gtzen-Dmmerung, KSA 6, S. 108.

  • Univ.Doz.Mag.Dr. Arno Bhler Institut Philosophie der Universitt Wien Universittsstrae 7 A-1010 Wien Tel./Fax: +43/(0)1/408 49 58 [email protected] http://homepage.univie.ac.at/arno.boehler

    18

    Sehen lernen, so wie ich es verstehe, schreibt Nietzsche weiter, ist beinahe Das, was die

    unphilosophische Sprechweise den starken Willen nennt: das Wesentliche daran ist gerade, nicht

    wollen, die Entscheidung aussetzen knnen.42 Epoch ...

    Kimerer L. LaMothe hat die Figur des Freien Geistes in Nietzsches Werk daher vortrefflich

    definiert als some-body, who is, by definition unbound by convention, tradition, or habit, having

    the vitality and discernment needed to do what is necessary for her own healthone who finds in

    the death of God an occasion to love her bodily becoming.43

    In einem freien Geist findet also nicht blo die Anwendung neuronaler Verhaltensmuster im Zuge

    eines affektiven Wahrnehmungsereignisses statt, sondern das zgernde, zaudernde Zurckhalten

    und Aussetzen der simplen neuronalen Reaktion, die von einem Krper auf einen Impuls

    normalerweise sofort stattfindet und daher auch regelmig beobachtet und statistisch erwartet

    werden kann.

    Weil die prstabilisierte Harmonie einer neuronalen Disposition, um eine Redewendung von

    William Van Orman Quine am Ende dieses Textes ins Spiel zu bringen,44 in Bezug auf

    affizierende Reize, die einen Krper an seiner Peripherie angehen, immer nur eine vage,

    wahrscheinliche Reiz-Reaktions-Relation realisieren, darum bleibt die nervse Nervenwaage45,

    die im Auflesen peripherer Gegenstnde im Spiel ist, per se schwankend, vage, in ihrer Stabilitt

    gefhrdet.

    [nicht gelesen: Zitat Nancy evtl. aber als Funote einfgen]

    Gerade deshalb muss ein Denken [pense] ber den Krper sein reales Wgen [pense] sein

    (ob mit oder ohne Etymologie), und deshalb ein Berhren, gefaltet-entfaltet gem der Arealitt.

    42 Nietzsche, KSA 6, 108-109. 43 Kimerer L. LaMothe, Nietzsches Dancers, New York 2006, S. 56. 44 Vgl. Willard Van Orman Quine, Wissenschaft und Empfindung. Die Immanuel Kant Lectures, broblemata Friedrich Frommann Verlag, Stuttgart 2003. 45 Vgl. Nancy, Corpus, 41.

  • Univ.Doz.Mag.Dr. Arno Bhler Institut Philosophie der Universitt Wien Universittsstrae 7 A-1010 Wien Tel./Fax: +43/(0)1/408 49 58 [email protected] http://homepage.univie.ac.at/arno.boehler

    19

    Mysterium? Wie bereits gesagt: Das Berhren dieses Denkens diese Nervenwaage, die das

    Denken sein muss, oder es ist nichts gehrt nicht einer dem Sinn vorangehenden und auerhalb

    liegenden Unmittelbarkeit an. Es ist im Gegenteil die Grenze selbst des Sinns und die Grenze

    des Sinns [sens] in allen Richtungen [sens] aufgefasst, von denen jede den Einbruch der anderen

    bildet46

    Ein Sinnen, dass immer schon an den Krper rhrt, da es denkend den Krper gebraucht, ihn

    braucht und als bestimmendes Moment in den Akt des Denkens sinnlich einfallen lsst. Es sei

    daher der Sinn selbst, so Nancy weiter, der, am Anfang und am Ende, ber seiner Grenze

    schwebe; und diese Grenze sei der Krper, nicht als reine und einfache Exterioritt gegenber

    dem Sinn, nicht als irgendwie geartete intakte, unberhrbare Materie, also letztlich nicht als

    der Krper, sondern als DER KRPER DES SINNS. 47

    [nicht gelesen: Zitat Nancy evtl. aber als Funote einfgen]

    Gerade deshalb muss ein Denken [pense] ber den Krper sein reales Wgen [pense] sein

    (ob mit oder ohne Etymologie), und deshalb ein Berhren, gefaltet-entfaltet gem der Arealitt.

    Mysterium? Wie bereits gesagt: Das Berhren dieses Denkens diese Nervenwaage, die das

    Denken sein muss, oder es ist nichts gehrt nicht einer dem Sinn vorangehenden und auerhalb

    liegenden Unmittelbarkeit an. Es ist im Gegenteil die Grenze selbst des Sinns und die Grenze

    des Sinns [sens] in allen Richtungen [sens] aufgefasst, von denen jede den Einbruch der anderen

    bildet48

    Le poids du corps (Das Gewicht des Krpers). Man denkt den Krper nicht, wenn man ihn nicht

    als wiegend denkt. Und wenn der Krper wiegend ist, dann muss er mit all seinem Gewicht

    wiegen und sein ganzes Ma geben (denn ein Gewicht ist ein Ma), und dieses Ma ist stets das

    Ma eines Drauen, ein Ma, das sich nicht zurckfhren lsst auf das einheitliche Ma des

    46 Nancy (2003), S. 41. 47 Nancy, Corpus, 25. 48 Nancy (2003), S. 41.

  • Univ.Doz.Mag.Dr. Arno Bhler Institut Philosophie der Universitt Wien Universittsstrae 7 A-1010 Wien Tel./Fax: +43/(0)1/408 49 58 [email protected] http://homepage.univie.ac.at/arno.boehler

    20

    Drinnen oder des Innen. Das Gewicht des Krpers muss bis zu dem Punkt wiegen, an dem es

    unmglich wird, dieses Gewicht zu sublimieren, zu beleben, zu spiritualisieren kurzum, es

    seines Drauens zu entheben.49

    Ein wiegender, wgender, sinnender Krper erffnet dem ausgeschlossenen Dritten einer

    zweiwertigen Logik daher jenen vagen Freiraum des Gefhrlichen Vielleichts, der durch ein

    Denken in distinkten Oppositionen verstopft worden ist, indem es vergessen hat, dass Denken

    selbst eine Form des Tanzens, eine Form der Bewegung von Krpern, ein Denken in Bewegung

    ist.

    Danke.

    49 Nancy, Corpus, 126.