Punkte, Meridiane, reaktive Areale und der Weg nach Hause · 18 Shiatsu Journal 58/2009 Paul...

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„,The map is not the territory’, soll John Franklin 1819 gesagt haben, bevor er, aus- gestattet mit den besten Land- und Seekar- ten der britischen Admiralität, die Nordwest- Passage in die Arktis verfehlte und zusam- men mit 197 Mann ums Leben kam.“ In den letzten Jahren zeigten die welt- weit bislang größten Akupunkturstudien ein verwirrendes Ergebnis. Akupunktur erwies sich in manchen Fällen tatsächlich als wir- kungsvoll, in anderen hingegen nicht: Bei chronischen Kniegelenks- und Rücken- beschwerden war Akupunktur der her- kömmlichen westlichen Standardtherapie sogar überlegen; bei Kopfschmerzen blieb sie wirkungslos. Noch irritierender aber war ein anderer Befund: Egal ob die Nadeln in den Punkten steckten, die auf den klassischen Akupunkturlehrtafeln eingezeichnet sind, oder irgendwo im Körper des Patienten, die Wirkung schien weitgehend dieselbe zu sein. Nur bei der Behandlung von Schmer- zen durch Kniegelenksarthrose machte die Wahl der gestochenen Punkte einen grund- legenden Unterschied. Je nach Interpretation bestätigen diese Studien die Kritiker, die meinen, bei Aku- punktur handle es sich um Humbug, man könne stechen wohin man will oder die Protagonisten, die sagen Akupunktur sei hochwirksam. Es stellt sich die Frage nach der realen Existenz von Akupunkturpunkten bzw. in weiterer Folge der von Energieleitbahnen (Meridianen) und deren Verläufe. Gustav Dobos (Inhaber des bislang ein- zigen deutschen Lehrstuhls für Naturheil- kunde und Integrative Medizin mit Schwer- punkt Chinesische Medizin/Universität Duisburg-Essen) meint: „Energiebahnen nach den traditionellen Vorstellungen gibt es wahrscheinlich nicht.“ Doch es käme bei der Nadelung sehr wohl auf „reaktive Area- le“ an. Das könnte erklären, warum in den Studien selbst dann eine Wirkung beob- achtet wurde, wenn neben die klassischen Akupunkturpunkte gestochen wurde. Historischer Rückblick Vieles, was im Westen als „Traditionel- le Chinesische Medizin“ („TCM“) und Aku- punktur gelehrt wird, ist keineswegs uraltes Wissen, sondern ist in Wahrheit ein Kunst- produkt, das in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden ist: „Kurz nach Gründung der Volksrepublik China gab Mao die Parole von der chinesischen Medizin als einer ,Schatzkammer’ aus, deren Schät- ze mithilfe der modernen Wissenschaft zu heben seien. Damals wurden zum Beispiel die Akupunkturpunkte und Energiebahnen festgelegt und die Unschärfe in den alten Lehrschriften wurde durch wissenschaft- lich klingende Exaktheit ersetzt“, erklärt von Oskar Peter Punkte, Meridiane, reaktive Areale und der Weg nach Hause Theorie & Praxis Shiatsu Journal 58/2009 17 3 1 2 4 5 6 7

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„,The map is not the territory’, soll JohnFranklin 1819 gesagt haben, bevor er, aus-gestattet mit den besten Land- und Seekar-ten der britischen Admiralität, die Nordwest-Passage in die Arktis verfehlte und zusam-men mit 197 Mann ums Leben kam.“

In den letzten Jahren zeigten die welt-weit bislang größten Akupunkturstudien einverwirrendes Ergebnis. Akupunktur erwiessich in manchen Fällen tatsächlich als wir-kungsvoll, in anderen hingegen nicht: Beichronischen Kniegelenks- und Rücken-beschwerden war Akupunktur der her-kömmlichen westlichen Standardtherapiesogar überlegen; bei Kopfschmerzen bliebsie wirkungslos.

Noch irritierender aber war ein andererBefund: Egal ob die Nadeln in den Punktensteckten, die auf den klassischenAkupunkturlehrtafeln eingezeichnet sind,oder irgendwo im Körper des Patienten, dieWirkung schien weitgehend dieselbe zusein. Nur bei der Behandlung von Schmer-zen durch Kniegelenksarthrose machte dieWahl der gestochenen Punkte einen grund-legenden Unterschied.

Je nach Interpretation bestätigen dieseStudien die Kritiker, die meinen, bei Aku-punktur handle es sich um Humbug, mankönne stechen wohin man will oder dieProtagonisten, die sagen Akupunktur seihochwirksam.

Es stellt sich die Frage nach der realenExistenz von Akupunkturpunkten bzw. inweiterer Folge der von Energieleitbahnen(Meridianen) und deren Verläufe.

Gustav Dobos (Inhaber des bislang ein-zigen deutschen Lehrstuhls für Naturheil-kunde und Integrative Medizin mit Schwer-

punkt Chinesische Medizin/UniversitätDuisburg-Essen) meint: „Energiebahnennach den traditionellen Vorstellungen gibtes wahrscheinlich nicht.“ Doch es käme beider Nadelung sehr wohl auf „reaktive Area-le“ an. Das könnte erklären, warum in denStudien selbst dann eine Wirkung beob-achtet wurde, wenn neben die klassischenAkupunkturpunkte gestochen wurde.

Historischer RückblickVieles, was im Westen als „Traditionel-

le Chinesische Medizin“ („TCM“) und Aku-

punktur gelehrt wird, ist keineswegs uraltesWissen, sondern ist in Wahrheit ein Kunst-produkt, das in den fünfziger Jahren des20. Jahrhunderts entstanden ist: „Kurz nachGründung der Volksrepublik China gab Maodie Parole von der chinesischen Medizinals einer ,Schatzkammer’ aus, deren Schät-ze mithilfe der modernen Wissenschaft zuheben seien. Damals wurden zum Beispieldie Akupunkturpunkte und Energiebahnenfestgelegt und die Unschärfe in den altenLehrschriften wurde durch wissenschaft-lich klingende Exaktheit ersetzt“, erklärt

von Oskar Peter

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Paul Unschuld. Der Sinologe und Histori-ker ist Direktor des 2006 gegründetenStiftungsinstituts für Chinesische Lebens-wissenschaften an der Berliner Charité undeiner der profundesten Kenner der Chine-sischen Medizin in Deutschland. „Auf demWeg in den Westen kam dann noch eineFülle von Fehlübersetzungen und geziel-ten Umdeutungen hinzu, die als echte chi-nesische Wahrheiten weiterverbreitet wer-den.“

Zu diesem Schluss kommt auch IvenTao. Der Sohn eines chinesischen Arzteshat selbst Chinesische Medizin, Sinologieund Psychologie studiert und meint: „Auf-grund der Beschreibung in den alten Tex-ten hätte man nie einen Punkt nachvoll-ziehbar finden können. Teilweise lagen diePunkte zehn Zentimeter weit auseinander -von einer Punktspezifität im heutigen Sinnekonnte damals keine Rede sein.“

Anatomische Entsprechungen2002 präsentierten die amerikanischen

Anatomen Langevin und Yandow das Er-gebnis ihrer Studien über die Beziehungzwischen Akupunkturpunkten, Meridianenund Bindegewebe: „These findings suggestthat the location of acupuncture points,determined empirically by the ancient Chi-nese, was based on palpation of discretelocations or holes where the needle canaccess greater amounts of connective tissue[...] we propose that acupuncture pointsmay correspond to sites of convergence ina network of connective tissue permeatingthe entire body, analogous to highwayintersections in a network of primary andsecondary roads.“

bewiesen zu haben. Das gleiche Experi-ment brachte an der Medizinischen Univer-sität in Graz/Österreich ein gänzlich ande-res Ergebnis: Die thermographischen Bil-der zeigten zwar diverse Strukturen. Diesewurden jedoch klar als Artefakte identifi-ziert. Anzeichen für eine biologische Korre-lation konnten nicht gefunden werden.

Aus der AkupunkturpraxisWie sieht das Problem der Lokali-

sierbarkeit von Akupunkturpunkten in dertäglichen Praxis aus? „,Ein erfahrenerAkupunkteur richtet sich ohnehin nicht ein-fach nach den Punkten, die auf denLehrtafeln eingezeichnet sind’, sagt Barba-ra Kirschbaum, Ärztin für Chinesische Me-dizin in Hamburg und Lehrbeauftragte ander Universität Witten/Herdecke, ,denn dieMenschen sind nun einmal alle unterschied-lich.’ In ihrer Praxis suche sie daher beijedem Patienten sozusagen nach reakti-ven Arealen, auch wenn sie das selbst sonicht nennen würde.

Die ursprüngliche chinesische Medizinhat ja viel mit Anfassen zu tun, man suchtnach Spannungen, Vertiefungen auf derHaut und spürt so, wo der rechte Punktsitzt.’ Ein schematisches Vorgehen [...] lie-fere da notgedrungen widersprüchlicheErgebnisse.“

Dazu auch der an den eingangs er-wähnten Akupunkturstudien beteiligte Düs-seldorfer Orthopäde Albrecht Molsberger:„Die chinesischen Punktlandkarten zeigen,mit welchen Akupunkturstellen man gutzum Ziel kommt, man kann jedoch auch-andere Wege gehen. Das Prinzip ist ent-scheidend.“

Laut Thomas W. Myers (internationalanerkannte Autorität für Strukturelle Inte-gration) ist eine „Myofaszie“ eine Einheitaus der Verknüpfung von Muskelgewebe(Myo-) und dem, dieses umgebendenbindegewebigen Netzwerk (Faszie). Diedurch eine Reihe von miteinander verbun-denen Myofaszien entstehenden„myofaszialen Meridiane“ sind für MyersZugkraftlinien („Anatomy Trains“), die Span-nung und Bewegung durch den Körperweiterleiten.Auf der Basis der klassischen westlichenAnatomie bieten myofasziale Meridiane einModell zum Verständnis von Haltungs- undBewegungsmustern. Es gibt einige Über-schneidungen zwischen myofaszialen undAkupunkturmeridianen, sie sind aber kei-nesfalls äquivalent.

Das Auflösen sogenannter „Trigger-punkte“ ist das Ziel der von Janet G. Travellund David G. Simons entwickelten„Triggerpunkttherapie“. Genau genommenzielen die dabei verwendeten Technikenauf die Behandlung einzelner myofaszialerEinheiten ab.Zwischen Trigger- und Akupunkturpunktenkonnte eine hohe Übereinstimmung gefun-den werden; und zwar sowohl bezüglichräumlicher Verteilung als auch der mit denjeweiligen Punkten assoziierten Schmerz-muster.Biophotonische Darstellung

2005 veröffentlichten diverse Fachzeit-schriften eine Studie des InternationalenInstituts für Biophysik in Neuss/Deutsch-land. Ein Team rund um Fritz-Albert Poppbehauptet, mittels Biophotonik erstmalsMeridianstruktur auf der Körperoberfläche

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Und wie ist das im Shiatsu?Laut Peter Itin (Berater der Shiatsu Ge-

sellschaft Schweiz) geht der Begriff„Shiatsu“ auf Tenkei Tamai zurück undwurde 1919 in Japan erstmals öffentlichverwendet. Tamai verband westliches Wis-sen mit traditionellen Behandlungsformenund bezog sich in seinen theoretischenAusführungen auf die westliche Anatomieund Physiologie. Zudem soll Tamai betonthaben, dass man, um mit den Händenheilen zu können, „spirituelle Kraft“ brau-che.

Auch Tokujiro Namikoshi, für viele derBegründer von Shiatsu, setzte die Reflex-punkte, auf die Druck ausgeübt wird, inBezug zur westlichen Anatomie und Phy-siologie: zu den Funktionen von Gelenken,Haut, Muskeln, Knochen, Nervensystem,Blutkreislauf, Verdauungsapparat und Hor-monsystem.

Hingegen bezieht sich das Shiatsu desgroßen Revolutionärs Shizuto Masunaganicht auf anatomische Gegebenheiten, son-dern auf das energetische System. Masu-naga verankerte Shiatsu somit in der fern-östlichen Philosophie und Tradition undverband diese mit westlichen Erkenntnis-sen und Techniken. Die Behandlung richtetsich auf Energieleitbahnen (Meridiane) inihrem - von Masunaga erweiterten - Verlaufund nicht auf isolierte Reflex- oder Akupunk-turpunkte.

„In Japan ist das westlich-medizinischeShiatsu von Namikoshi auch heute nochweitaus stärker verbreitet als das an derfernöstlichen Philosophie orientierte vonMasunaga. Die Situation im Westen istgenau umgekehrt.“

Neben dem traditionellen Meridian-system und dem erweiterten System nachMasunaga gibt es seit dessen Tod 1981eine unübersichtliche Vielfalt von diversenEntwicklungen und Konzepten: So arbeitetman z.B. im „Tao-Shiatsu“ von RyokyuEndo mit „Supervessels, Ring- und Spiral-meridianen“ oder im „Shin So MeridianShiatsu“ von Tetsuro Saito mit „tieferenMeridianen“. Andere, wie der internationalanerkannte Meister Akinobu Kishi, propa-gieren ein Arbeiten ohne vorgefasste Kon-zepte.

Darstellungen und Beschreibungen vonMeridianverläufen

Das traditionelle Meridiansystem imShiatsu entspricht dem Konstrukt für Aku-punktur aus der Chinesischen Medizin(zwölf Hauptmeridiane und ein Konzept-ions- und ein Lenkergefäß). Als Standard-werke im deutschsprachigen Raum bzgl.Darstellung und Beschreibung der Meridi-anverläufe gelten das Taschenbuch „AtlasAkupunktur“ sowie das von WilfriedRappenecker (deutscher Arzt und Shiatsu-Lehrer) 1990 verfaßte „Yu Sen - Sprudeln-der Quell - Shiatsu für Anfänger“.

Während sich im traditionellen Systemdie Hauptmeridiane in je sechs Arm- undBeinmeridiane aufteilen, finden sich im er-weiterten Meridiansystem nach Masunagaalle Leitbahnen sowohl in Armen und Bei-nen. Einige Meridiane verändern bei dieserGelegenheit auch ihren traditionellen Ver-lauf.

Masunaga lieferte 1970 gleich eineMeridiankarte dazu: Relativ dicke Strichebieten dem Shiatsu-Praktiker eine mehr

oder minder genaue Orientierung. Der ab-strakte Charakter der Darstellung ist nichtzu übersehen. Hier geht es nicht um anato-mische Exaktheit sondern um ein energeti-sches Konzept. Masunaga selbst hat sichzum Verlauf „seiner“ Meridiane nicht schrift-lich geäußert. Es ist wohl anzunehmen,dass er sich deren veränderlicher Naturbewusst war und er eine schematischevisuelle Darstellung bevorzugte, da jedeexakte anatomische Beschreibung bzgl. derenergetischen Natur zu einer Kontradiktionper se führen muss.

Dessen ungeachtet gibt es seit 2007einen „Atlas Shiatsu - Die Meridiane desZen-Shiatsu“. Der Versuch von MeikeKockrick (Heilpraktikerin und Shiatsu-Leh-rerin in Hamburg) und Wilfried Rappenecker(siehe oben) die Meridiane anatomischgenau zu beschreiben, ruft Erinnerungenwach, wie unter Mao in China die Akupunkt-urpunkte und Energiebahnen festgelegtwurden: Hier wird jetzt die Unschärfe derMeridiankarte Masunagas durch feine, ana-tomisch exakt beschriebene Linien ersetzt.Rappenecker konterkariert selbst denHauptteil des Werks in seiner Einleitung mitder Betonung, dass es „keine festen Liniengäbe“ und er es „vorziehe, Meridiane als,schwingende’ Räume anzusehen.“

Pauline Sasaki (langjährige Mitarbeite-rin und Assistentin von Masunaga) beziehtsich in dem von ihr entwickelten „QuantumShiatsu“ auf Erkenntnisse der Quanten-physik und postuliert, dass im Shiatsu so-wohl auf der Teilchen- als auch auf derWellenebene gearbeitet wird.Ihr ehemaliger Schüler Cliff Andrews (Lei-ter des Shiatsu-Zentrums in Norwich/Groß-

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britannien) spricht von sieben Stufen derenergetischen Wahrnehmung. Er beruftsich auf neueste wissenschaftliche Erkennt-nisse und meint, dass Bindegewebe, Meri-diane und Chakren über das biomag-netische Feld miteinander verbunden sei-en.

Der Naturheilpraktiker Peter von Blarerzeigte am Shiatsu Kongress im Kiental/Schweiz 2007 Infrarotaufnahmen, aufGrund deren er vermutet, Meridiane seieneine Art von Lichtleitern. (Bei den Bildernhandelt es sich um die umstrittenenbiophotonischen Darstellungen von Popp.)(s. Shiatsu-Journal No. 50/2008 P. v. Blarer)

Die Verläufe der Meridianesind nicht konstant

Tetsuro Saito behandelt, unterrichtetund forscht seit rund 30 Jahren in Toronto/Kanada und hat festgestellt, dass sich dieLage der Hauptmeridiane je nach energe-tischem Zustand verändern kann. Energiefließt demnach nicht in festen Bahnen, son-dern bahnt sich in einem unregulierten Bettihren Weg. Wie die TCM unterscheidetauch Saito drei verschiedene Grade vonenergetischem Ungleichgewicht. Laut Saitozeigen die klassischen Akupunkturtafelndie Meridiane im Grossen und Ganzen imersten Grad des Energieungleichgewichts,während Masunagas Karte meistens einengrossen Teil des Meridianverlaufs im drit-ten Grad darstellt.

Die Lebensenergie Qi„Das chinesische Schriftzeichen für Ki

beinhaltet sowohl den Wortstamm von,Dampf’ als auch von ,Reis’. In seiner feine-ren Erscheinungsform bewegt sich das Kigenau wie Dampf nahezu unsichtbar. Inseinen dichteren Aspekten fließt es langsa-mer oder nimmt Gestalt an, z.B. die vonReis.“

Dazu Iven Tao: „In vielen alten Kultu-ren, beispielsweise Griechenland und Indi-en, hat es die Suche nach einer so genann-ten Lebensenergie gegeben. Zahllose Konzepte wurden entwickelt, umzu erklären, was es genau mit dieser Ener-gie auf sich hat. [...] Trotzdem ist die - wennauch gut gemeinte - Begriffserklärung von,Qi’ als ,Lebensenergie’ wieder keine kor-rekte Übersetzung, sondern nur eine An-passung an unsere moderne Zeit.Vor 2000 Jahren gab es den Begriff ,Ener-gie’ überhaupt nicht! Trotzdem ist dieseÜbersetzung nicht schlecht, denn so kön-nen sich viel mehr Menschen darunter et-was vorstellen. In der klassischen Literaturjedoch ist das Qi viel komplexer.Der Begriff oszilliert dort zwischen einemfeinenergetischen Etwas bis hin zu tast-und sichtbarer Materie.“ Und Tao weiter aufdie Frage, ob „es also nur ein philosophi-scher Begriff sei?“: „Nein, das Gefühl desDurchströmtwerdens ist ja auf jeden Fallreal. Zumindest kann es jeder, der Tai Chimacht oder meditiert, spüren. Irgendetwasfließt da in unseren Körpern - das könnenwir von mir aus gerne Qi nennen.“

FazitEin zentrales Element im Shiatsu ist

das Konzept der Meridiane. Die Behand-lung verläuft im Normalfall entlang dieserLeitbahnen, in denen sich die Lebens-energie Qi ausdrücken soll. Zwar gibt esandere Formen von Shiatsu, doch ist Meri-dian-Shiatsu („Masunaga-Shiatsu“, „Zen-Shiatsu“) die verbreitetste in der westlichenPraxis.

Die Frage nach dem „Wo?“ eines Punk-tes oder eines Meridianes wird ergänztdurch die Frage nach dem „Was?“. Bei derBeantwortung davon verknüpft man mitdem Objekt (Punkt, Meridian) bestimmteMerkmale, die durch die persönliche Sicht-weise bzw. durch das individuelleBewusstsein vorgegeben - also subjektiv -sind. Die Entscheidung für ein Modell de-terminiert somit das gesamte Konzept derArbeits- und Wirkungsweise des jeweiligenShiatsu.

Punkt- und Meridiansysteme sind Kon-zepte, um im Shiatsu einen Zugang zumMenschen (Patienten, Klienten) in seinerGesamtheit aus Körper, Geist und Seelezu finden. Es sind Konstrukte, die sich zumTeil aus der Beschaffenheit des Menschenableiten. Darüber hinaus dienen diese Sy-steme im Shiatsu-Alltag dem Shiatsu-Prak-tiker als topologische Krücken zur persön-lichen Orientierung (bzw. Shiatsu-Schulenund -Lehrern als tragende Säule ihres di-daktischen Konzepts). Nicht zuletzt bezie-hen sie ihren Wert durch Bedeutungser-teilung im Shiatsu als Ritual.

Ob die Sichtweise von Meridianen alsquanten-physikalische bzw. biomagneti-sche Phänomene oder als Lichtleiter zur

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sinnvollen Entwicklung von Shiatsu beiträgt sei dahin gestellt.Jedenfalls wird dadurch eine Auffassung von Ganzheitlichkeit, wiesie charakteristisch für die New-Age-Bewegung im Westen ist,reflektiert; weit von dem Glauben mancher Shiatsu-Praktiker ent-fernt, dass diese japanisch, historisch oder von zeitloser Gültigkeitsei.Für mich stellt der Mangel an wissenschaftlichen Nachweisen fürdie Existenz von Meridianen die Brauchbarkeit des Modells in derPraxis nicht in Frage. Meine Sichtweise ist nicht die eines Physi-kers. Um ehrlich zu sein: Sie ist weder natur- noch sonst irgendwiewissenschaftlich. Und ich komme in meinem Shiatsu sehr gut ohneBezug zu Quanten-Physik oder zu biomagnetischen Feldern aus.

In Ludwig Wittgensteins berühmten Traktat heißt es: „Wirfühlen, daß selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fra-gen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nichtberührt sind.“ Was aber sind unsere Lebensprobleme? Ichdenke, dass diese mit der Spannung zwischen kognitivem undemotionalem Erleben zu tun haben, zwischen einem Innen undeinem Außen, zwischen subjektiv und objektiv. Dianne Connelly(Expertin für fernöstliche Heilweisen in Laurel/USA) meint dazu:„Heimweh ist die Sehnsucht, in sich selber zu Hause zu sein. AlleHeilung ist Heimkehr [...] Alles Weh ist Heimweh.“

Dieses zu Hause ist unsere individuelle, subjektive Wirklich-keit. Es ist unsere persönliche Welt, wie wir sie über unsereSinnesorgane erfahren und wahrnehmen. Dieses zu Hause istkeine objektive Wahrheit und hat nichts zu tun mit einem Funktio-nieren(-Müssen?) in einem dualistischen Lebenskonzept mit ei-nem Richtig und Falsch. Es ist ein Heim frei von Dissoziationen.

Shiatsu ist für mich Begegnung und Begleitung auf diesemWeg nach Hause. Geht der Shiatsu-Praktiker selbst diesen Weg,so lernt er, seinen Sinneseindrücken mehr zu vertrauen als jegli-chen Konzepten. Die Sehnsucht „in sich selber zu Hause zu sein“erfüllt sich in der Transzendenz. Die Frage, ob es Punkte undMeridiane gibt, stellt sich dort nicht.

EpilogMeister Akinobu Kishi: „All nature is active; in movement - and

the movement of energy in a human is no more, no less than theshifting of clouds in the sky.“

Oskar PeterShiatsu-Praktiker in [email protected]

1. „Die Landkarte ist nicht das Gebiet.“ (Deutsch: O.P.) - Hontschik, Bernd: Körper, Seele, Mensch.Versuch über die Kunst des Heilens. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, S.135.2. Gerac (German Acupuncture Trials), online unter www.gerac.de (31.7.2009)3. Vgl. Schnabel, Ulrich: Hauen ums Stechen. In: Die Zeit 51/2008, Hamburg, online unter http://www.zeit.de/2008/51/M-Akupunktur (31.7.2009)4. Vgl. ebd.5. Witt, Claudia M.; Brinkhaus, Benno; Jena, Susanne; Selim, Dagmar; Straub, Christoph; Willich,Stefan N.: Wirksamkeit, Sicherheit und Wirtschaftlichkeit der Akupunktur. Ein Modellvorhaben mitder Techniker Krankenkasse. In: Deutsches Ärzteblatt 103/2006, Deutscher Ärzte-Verlag, Köln,S.196ff.6. Vgl. Schnabel, Hauen ums Stechen.7. Ebd.8. Hackenbroch, Veronika: Sehnsucht nach Yin und Yang. In: Spiegel special 4/2006, Hamburg,S.128f.9. Schnabel, Hauen ums Stechen.10. „Diese Entdeckungen lassen vermuten, dass sich die Lage der von den Chinesen im Altertumempirisch bestimmten Akupunkturpunkte aus dem Ertasten von eigenständigen Stellen oderÖffnungen ergab, an denen eine Nadel Zugang zu größeren Mengen an Bindegewebe finden kann[...] Wir bringen ein, dass Akupunkturpunkte in einem Netzwerk von Bindegewebe, das den ganzenKörper durchzieht, Schnittstellen entsprechen können - analog zu Autobahn-Knotenpunkten ineinem Straßennetz von Haupt- und Nebenstraßen.“ (Deutsch: O.P.) - Langevin, Helene M. undYandow, Jason A.: Relationship of Acupuncture Points and Meridians to Connective Tissue Planes.

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In: The Anatomical Record 269/6/2002, Maryland USA, S.264.11. Vgl. Myers, Thomas W. (Autor), Kathmann, Wiebke (Übersetzer): Anatomy Trains. MyofaszialeMeridiane. Urban & Fischer Verlag, München 2004, S.4f.12. Vgl. Melzack, R., Stilwell, D. M., Fox, E. J.: Trigger points and acupuncture points for pain.Correlations and implications.In: Pain 3/23/1977, Toronto Canada, online unter: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/69288(31.7.2009).13. Siehe z.B.: Schlebusch, Klaus Peter, Maric-Öhler, Walburg und Popp, Fritz-Albert: Biophotonicsin the Infrared Spectral Range Reveal Acupuncture Meridian Structure of the Body. In: The Journalof Alternative and Complementary Medicine 1/2005, New York USA, S.171.14. Schlebusch, Klaus Peter, Maric-Öhler, Walburg und Popp, Fritz-Albert: Biophotonik beweisterstmals Meridianstruktur (Leitbahnen-Struktur der Akupunktur) auf der Körperoberfläche. Interna-tional Institute of Biophysics, Neuss, online unter: www.med.biophotonik.de/meridians.pdf (31.7.2009).15. Vgl. Litscher, Gerhard: Infrared thermography fails to visualize stimulation-induced meridian-likestructures. In: BioMedical Engineering OnLine 15.6.2005, Medizinische Universität Graz A, onlineunter www.biomedical-engineering-online.com/content/4/1/38 (31.7.2009).16. Schnabel, Hauen ums Stechen.17. Müller-Lissner, Adelheid: Die Nadelprobe. In: Tagesspiegel 11.11.2008, Berlin.18. Vgl. Itin, Peter: Shiatsu als Therapie. Books on Demand GmbH, Norderstedt 2007, S.17.19. Vgl. ebd., S.19f.20. Vgl. ebd., S.23f.21. Ebd., S.27.22. Vgl. ebd., S.29.23. Hempen, Carl Hermann (Autor) und Brugger, Ulrike (Illustrator): dtv-Atlas Akupunktur. Deut-scher Taschenbuch Verlag, München 1995.24. Rappenecker, Wilfried: Yu Sen. Sprudelnder Quell. Shiatsu für Anfänger. Felicitas HübnerVerlag, Waldeck 1990.25. Rappenecker, Wilfried und Kockrick, Meike: Atlas Shiatsu. Die Meridiane des Zen-Shiatsu.Urban & Fischer Verlag, München 2007.26. Vgl. Itin, Shiatsu, S.30f.27. Andrews, Cliff (Autor): Die Entwicklung der sieben Stufen energetischer Wahrnehmung.In: Greinus, Holger (Herausgeber): Shiatsu Grundlagen 2. Kyo & Jitsu. Edition Vitalis, Aachen 2001,S.66ff.28. Vgl. Das biomagnetische Feld. Prioritäten in der Shiatsu-Behandlung. Online unter: Europäi-sches Shiatsu Institut, Schweiz, Fortbildung. www.shiatsu-institut.ch/fortbildungen.php?p1=Diplomiertenfortbildung&id=432 (31.7.2009).29. Vgl. Seemann, Frank: Was sind Meridiane. In: Shiatsu Journal 51/2007, GSD, Lindow, S.6.30. Vgl. Shinso Shiatsu Zürich. Online unter: www.zsi.ch/web/de/content/C7 (31.7.2009).31. Beresford-Cooke, Carola (Übersetzung: Köhler, Kristin Ting): Shiatsu. Grundlagen und Praxis.Urban & Fischer Verlag, München 2001, S.77.32. Kersebaum, Sabine: Akupunktur darf nicht zum Fließbandverfahren verkommen! Interview mitIven Tao. In: Gehirn & Geist 7-8/2005, Spektrum der Wissenschaft Verlag, Heidelberg. S.39.33. Vgl. Adams, Glyn: Shiatsu in Britain and Japan. Personhood, holism and embodied aesthetics.In: Anthropology & Medicine 9/3/2002, Routledge, Oxon UK, S.245ff.34. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main1963, S.110f. (Erstmals als: Logisch-philosophische Abhandlung. In: Ostwald, Wilhelm [Herausge-ber]: Annalen der Naturphilosophie 14/1921, Leipzig, S.185ff.)35. Connelly, Dianne (Übersetzung: Endrich, Bruno): Alles Weh ist Heimweh. Verlag Bruno Endrich,Heidelberg 1992. S.U4.36. „Die ganze Natur ist aktiv; in Bewegung - und die Bewegung der Energie in einem Menschen istnicht mehr, nicht weniger, als das Ziehen der Wolken am Himmel.“ (Deutsch: O.P.) - Palmer, Bill:Watching Clouds Shift in the Sky. Akinobu Shinmei Kishi talks. In: Journal of Shiatsu & Oriental Body

Therapy 3/1995, Bath UK, S.9f.

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