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Rahel Jünger

Bildung für alle?

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Rahel Jünger

Bildung für alle?Die schulischen Logiken von ressourcenprivilegierten und -nichtprivilegierten Kindern als Ursache der bestehenden Bildungsungleichheit

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich imFrühjahrssemester 2008 auf Antrag von Prof. Dr. Reinhard Fatke und Prof. Dr. Jürgen Oelkersals Dissertation angenommen.

1. Auflage 2008

Alle Rechte vorbehalten© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008

Lektorat: Katrin Emmerich / Sabine Schöller

Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media.www.vs-verlag.de

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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, HeidelbergDruck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., MeppelGedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in the Netherlands

ISBN 978-3-531-16047-4

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DankFür Annelies

Ich danke von Herzen allen, die mich unterstützt haben, damit diese Studie möglich wurde.Zuerst gebührt der Dank Herrn Prof. Dr. Reinhard Fatke, ohne den es kaum zu dieser

Dissertation gekommen wäre. Seit längerem bestärkt er mich in meiner Arbeit, wobei auch er es war, der mich ermutigt hat, mich mit dem vorliegenden Projekt um einen Forschungs-kredit der Universität Zürich zu bewerben. Auch Herrn Prof. Dr. Jürgen Oelkers, dem zwei-ten Referenten der Arbeit, möchte ich herzlich für seine Unterstützung danken.

Insbesondere bedanke ich mich bei der Forschungs- und Nachwuchsförderungskom-mission, die das vorliegende Projekt finanziell unterstützt und so ermöglicht hat. Ich erhielt so die Gelegenheit, die Studie in einem besonderen Rahmen erstellen zu können.

Auch ohne die Schulen, Lehrkräfte und die Kinder, die sich bereit erklärten, an der Studie teilzunehmen, hätte die Arbeit nicht realisiert werden können. Ihnen bin ich dankbar verbunden.

Weiter danke ich Frau Dr. Irene Somm, Frau Dr. Bettina Grubenmann, Frau Dr. Regu-la Leemann und Frau lic.phil. Andrea Keller. Irene Somm war es, die mich zuallererst auf die Schriften von Bourdieu aufmerksam machte und mir auftrug, das bourdieusche Werk Die feinen Unterschiede ragen nachzugehen. Dieser Hin-

weis war äusserst wertvoll, weil Bourdieu mir zu einer Vielzahl von Erkenntnissen verhol-fen hat und mich seine Schriften seit längerem inspirieren bei der Beantwortung der sich mir stellenden Fragen. Bettina Grubenmann ihrerseits hat mich engagiert und mit vielen wertvollen Hinweisen bei meiner ersten empirischen Forschungsarbeit unterstützt, bei der es ebenfalls um schulische Logiken von Kindern ging. Von ihr stammt die Idee des Ge-sprächsinputs für die Gruppeninterviews: die Kinder aufzufordern, die Schule einem Aus-serirdischen zu erklären. Dieser Gesprächsanlass hat über viele Interviews hinweg sehr gut funktioniert und die Kinder zum Erzählen angeregt. Regula Leemann und Andrea Keller haben mir zu verschiedenen Zeitpunkten eine Reihe von wertvollen Hinweisen und Rück-meldungen gegeben, die bei der Überarbeitung in die Studie einflossen.

Von Herzen danke ich auch meiner Mutter, Annelies Jünger-Sutter, die im Frühling 2006, als ich bereits an der vorliegenden Studie arbeitete, verstarb. Auch ohne sie wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen. Sie war mir stets eine grosse und unersetzliche Unterstützung und hat mich immer nicht nur in der Pädagogik - ermutigt, mein Potenzial ganz zu entfalten. Sie hat alle Arbeiten, die ich an der Universität erstellte, gegengelesen und so viele Stunden mir zuliebe an Sätzen und Begriffen gefeilt. Diese Dissertation konnte sie nicht mehr lesen; ich erzählte ihr aber wenige Tage vor ihrem Tod von den eindrückli-chen Ergebnissen, die sich damals bereits abzeichneten. In der Gewissheit, dass sie lebt und bei uns ist, widme ich ihr dieses Buch.

Rahel Jünger

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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung ........................................................................................................ 171.1 Zum Ursprung der Hauptfragen ......................................................................... 171.2 Die Studie im Überblick.................................................................................... 19

1.2.1 Ausgangspunkt und Fragen der Studie...................................................... 191.2.2 Theoretischer Rahmen............................................................................. 211.2.3 Empirische Zugänge ............................................................................... 22

1.3 Aufbau der Studie............................................................................................. 242 Das Problem der Abhängigkeit des schulischen Erfolgs von der sozialen

Herkunft .......................................................................................................... 272.1 Zwei Komponenten der herkunftsabhängigen Bildungschancen und ihre

Evidenzen: Abhängigkeit des Kompetenzerwerbs von der sozialen Herkunft und Bildungsreproduktion ................................................................................. 27

2.2 Warum die Abhängigkeit der Bildungschancen von der sozialen Herkunft ein Problem darstellt............................................................................................... 32

2.2.1 Bildung als Schlüsselgrösse für Lebenschancen und wirtschaftlichen Wohlstand und die Verpflichtung der Schweiz, sich um Chancengleichheitzu bemühen ............................................................................................ 32

2.2.2 Die Verwerfung des biologischen Arguments............................................ 352.3 Der Diskursverlauf zur Abhängigkeit der Bildungschancen von der

sozioökonomischen und -kulturellen Herkunft .................................................... 443 Erklärungsansätze aus Erziehungswissenschaft und Soziologie zum

Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozioökonomischer und -kultureller Herkunft und die bestehenden Lücken ........................................ 47

3.1 Kurzüberblick über die Erklärungsansätze zum herkunftsabhängigen schulischen Erfolg ............................................................................................ 48

3.2 Das Ineinandergreifen von familiärer Herkunft und Schule bei der Entstehung der Bildungsungleichheit.................................................................. 49

3.3 Erklärungsansätze, die vom Blick der Kinder auf die Schule ausgehen.................. 513.3.1 Mack/Raab/Rademacker 2003.................................................................. 513.3.2 Annette Lareau 2002, 2003...................................................................... 54

3.4 Fazit aus den bisherigen Erklärungsansätzen: Forschungsdesiderate ..................... 584 Vorhaben und Fragestellungen ........................................................................ 624.1 Die ressourcenspezifischen schulischen Logiken der Kinder als Hintergrund

und Ursache der Bildungsreproduktion und des herkunftsabhängigen Kompetenzerwerbs und die Prüfung von Bourdieus Habitusformen...................... 62

4.1.1 Vorhaben ............................................................................................... 624.1.2 Fragestellungen ...................................................................................... 65

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4.2 Das Leiden der nichtprivilegierten Kinder an ihrer schulischen Erfolglosigkeit...... 654.2.1 Vorhaben ............................................................................................... 654.2.2 Fragestellung.......................................................................................... 66

4.3 Möglichkeiten auf Seiten der Schule, die nichtprivilegierten Kinder zu unterstützen ................................................................................................ 66

4.3.1 Vorhaben ............................................................................................... 664.3.2 Fragestellung.......................................................................................... 67

5 Theoretische Grundlagen der vorliegenden Studie........................................... 685.1 Die Seite des Kindes: Sozialer Raum und Habitus ............................................... 69

5.1.1 Die Kapitalarten nach Bourdieu ............................................................... 695.1.2 Der soziale Raum und die theoretische Klasse........................................... 715.1.3 Die Fraktion, der Konkurrenzkampf der Klassen und die

Reproduktionsstrategien.......................................................................... 725.1.4 Der Habitus und die Lebensstile............................................................... 73

Einschub I: Überlegungen zur bourdieuschen Ungleichheits-konzeption und zur methodischen Erfassung der Ressourcenlage der Beforschten ........................................................................................... 75

5.1.5 Der soziale Raum und die Klassen: eine Konfrontation mit anderen Ungleichheitskonzeptionen - warum hier Bourdieus Konzept gefolgt wird .. 75

5.1.6 Methodische Folgerungen aus den Überlegungen zur Ungleichheitsdebatte . 815.1.7 Terminologische Folgerungen und verwendete Begriffe............................. 84

Ende des Einschubs............................................................................... 865.1.8 Die Distanz zur ökonomischen Notwendigkeit als Hauptgegensatz von

Lebensstilen ........................................................................................... 865.1.9 Der Habitus der Nichtprivilegierten.......................................................... 875.1.10 Der Habitus der Mässigprivilegierten ....................................................... 895.1.11 Der Habitus der Privilegierten.................................................................. 915.1.12 Zusammenfassung: Die ressourcenbedingten Habitusformen...................... 92

.............. 935.1.13 Der Habitus als Voraussetzung für den Schulbesuch.................................. 93

5.2 Die Seite der Schule: Die Schule in der Spannung zwischen der Erzeugung und Stabilisierung von sozialer Gleichheit und sozialer Ungleichheit ......................... 97

5.2.1 Schule und soziale Gleichheit .................................................................. 975.2.2 Schule und soziale Ungleichheit............................................................. 100

6 Wissenschaftstheoretische Grundlagen .......................................................... 1037 Methoden der Datenerhebung........................................................................ 1087.1 Die Gemeinden und Schulklassen .................................................................... 108

7.1.1 Die Bestimmung der Ressourcenlage und die Wahl der Gemeinden.......... 1087.1.2 Ergänzung zu den nichtprivilegierten Gemeinden und Folgerungen für

die Ungleichheitsdimensionen und die Wahl der Gemeinden.................... 1117.1.3 Zusammenfassung: Bestimmung der Ressourcenlage der

interviewten Kinder und die Wahl der Gemeinden................................... 1157.1.4 Die Wahl der Schulklassen und geführte Interviews................................. 119

7.2 Das Gruppendiskussionsverfahren ................................................................... 123

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7.2.1 Methodologische Grundlagen und forschungspraktische Konsequenzen.... 1237.2.2 Eine Ergänzung zu den Annahmen Bohnsacks im Hinblick auf die

eigenen Fälle ........................................................................................ 1277.2.3 Die Interviews ...................................................................................... 128

8 Methoden der Datenauswertung .................................................................... 1358.1 Primat des Erkenntnisinteresses ....................................................................... 1358.2 Rekonstruktion der kollektiven schulischen Logiken von nichtprivilegierten und

privilegierten Kindern einzelner Halbklassen .................................................... 1368.2.1 Transkriptionen und Transkriptionsnotizen ............................................. 1368.2.2 Erster Auswertungsschritt: Relevanztabellen........................................... 137

8.2.2.1 Das Relevanzsystem der Gruppe: Fragen an die Texte ................ 1378.2.2.2 Das Relevanzsystem der Gruppe: Konkrete Arbeitsschritte ......... 1408.2.2.3 Diskutierte Aspekte im Zusammenhang mit der Schule: Das

Kategoriensystem .................................................................... 1448.2.3 Zweiter Auswertungsschritt: Darstellung der Aspekte .............................. 148

8.2.3.1 Füllung der Aspekte ................................................................. 1488.2.3.2 Darstellung der Aspekte: Erläuterung der Darstellung................. 151

8.2.4 Dritter Auswertungsschritt: Die Modelle schulischer Logiken .................. 1528.2.4.1 Modelle als Fallbeschreibungen ................................................ 1528.2.4.2 Das Entwickeln von Modellen .................................................. 152

8.3 Das Vorgehen in Bezug auf kollektive ressourcenabhängige schulische Logiken . 1549 Empirische Ergebnisse: Ressourcenspezifische schulische Logiken ................ 1579.1 Die schulischen Logiken von nichtprivilegierten Kindern:

Antwort auf Frage 1a und 2, S. 64.................................................................... 1579.1.1 1. Halbklasse Berta in Bendten (4. Klasse): Die Schule ist wichtig............ 1579.1.2 1. Halbklasse Zauter/Ruppert in Grassau (4. Klasse): Ohne Schule

draussen leben; in der Schule Streit erleben; bei uns zu Hause ist es Krieg; wir haben doch die Schule lieb..................................................... 180

9.1.3 1. Halbklasse Reichle/Räber in Bendten (4. Klasse): Man trägt die Verantwortung und arrangiert sich ......................................................... 209

9.1.4 1. Halbklasse Haas/Manz in Bendten (5. Klasse): Bescheidene Zukunftsträume, vorsichtige Kritiker, dem Pestalozzi und der Schweiz zu Dank verpflichtet, eifrige, willige, anspruchsvolle Lerner......................... 239

9.1.5 2. Halbklasse Jorda/Korta in Pöliz (4. Klasse): Eine Sammlung typisch nichtprivilegierter Denkweisen: Orientierungsprobleme und Regelgläubigkeit, unsichere Zukunft, Notenprobleme, fordernde und unzufriedene Eltern, Kopflüftepause, langweiliges Zuhause, Schulhausprobleme. Oder: Der unwissende, verlorene Ausserirdische....... 255

9.2 Die schulischen Logiken von ressourcenprivilegierten Kindern Antwort auf Frage 1a und 2, S. 64.................................................................... 282

9.2.1 2. Halbklasse Karrer/Matter in Allenwil (5. Klasse): Wir wissen Bescheid, n glücklichsten

Menschen der Welt ............................................................................... 282

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9.2.2 1. Halbklasse Peter in Kimmendorf (5. Klasse): Wir erklären alles ganz genau, wissen gut Bescheid und haben echten Zugang zu den schulischen Lerninhalten und zum Lernen ................................................................ 302

9.2.3 1. Halbklasse Heinze (4. Klasse): In der Schule lernt man mit Spass Wir haben ............................................................................................ 322

9.2.4 1. Halbklasse Violetti in Lindenmatt (4. Klasse): Wir wissen über die Welt Bescheid ........................................................ 339

9.2.5 2. Halbklasse Herr Limacher in Lenau (4. Klasse): Die Schule ist einfach die Schule! Wir blödeln herum und nehmen es ganz auf die leichte Schulter. Oder: Lernen ist uns zu anstrengend automatisch! , aber es geht auch ohne die Schule: Wir erben! ................. 353

9.3 Die kollektiven ressourcenspezifischen schulischen Logiken Antwort auf Frage 1b, S. 64............................................................................. 373

9.3.1 Gegenüberstellung der kollektiven ressourcenspezifischen schulischen Logiken................................................................................................ 373

9.3.2 Die schulische Logik der nichtprivilegierten Kinder ................................ 3781. Die existenzsichernde Dimension der Schule, die unsichere Zukunft

und der daraus entstehende Druck .................................................. 3782. Berufswünsche: Die Strategie des Machbaren...................................... 3803. Die Schule ist wichtig. Die ganze Welt hängt von der Schule ab. .......... 3814. Zum Selbstverständnis: Wir sind die eher Armen. Die Schule ist ein

Privileg. ....................................................................................... 3835. Die Schule ist legitim: Konformität und Unterwerfung......................... 3845a. Die (Lern-)Verantwortung liegt ganz bei uns. In der Praxis haben wir

Mühe, unsere Ideale des harten Arbeitens auch umzusetzen. ............ 3865b. Die Schule ist ein Ort von Regeln, diese sind einzuhalten, sie sind

legitim. Wir erläutern, begründen, akzeptieren sie: Sie sind wichtig.. 3875c. Anstand ist zentral. Man sollte ein anständiger Mensch sein

bzw. werden!................................................................................ 3895d. Kritiklosigkeit: Wertungen oder Meinungen sprechen wir nicht aus..... 3906. Fehlender Zugang zu schulischen Lerninhalten, wenig allgemeines

und schulisches Orientierungswissen und ausbleibende Reflexion über das Lernen ............................................................................ 393

6a. Schattendasein des schulischen Inhalts: Kein Zugang zu spezifisch schulischen Lerninhalten............................................................... 393

6b. An schulischen Lerninhalten haben wir keine grosse Freude -Zugang haben wir eher zu anderen, schulisch nicht relevanten oder berücksichtigten Themen............................................................... 395

6c. Wenig/kein schulisches Allgemeinwissen .......................................... 3966d. Wenig/kein allgemeines Orientierungswissen .................................... 3977. Funktionales Lernen: Wir lernen im Hinblick auf Lebenskompetenzen

(oder den Beruf). .......................................................................... 3988. Lernen.............................................................................................. 3988a. Plakativer Lernbegriff: Man muss es können...................................... 3988b. Lernen ist schwierig. Die Hausaufgaben sind schwierig. ..................... 3999. LehrerInnen ...................................................................................... 400

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9a. LehrerInnen sind gut, nett und schön. Sie machen ihre Sache recht und haben ihre Gründe für das, was sie tun. .................................... 400

9b. Bei Streit, Konflikten und Regelverstössen sind unsere LehrerInnen und HortnerInnen ohnmächtig und hilflos. ...................................... 401

9c. Das Verhältnis zu Erwachsenen: Sie sind auf einer höheren Stufe........ 40210. Selektion......................................................................................... 40210a. Die Selektion und die existenzielle Dimension der Schule: eine erste

Bewältigungsstrategie. Anstand und Mühe sind für den künftigen Beruf und die Zukunft ausschlaggebend. ........................................ 402

10b. Eine zweite Bewältigungsstrategie: Anstand und Mühe sind für die Noten zentral. ............................................................................... 403

10c. Es gibt unsichere Wege zu guten Noten und sichere Wege zu schlechten Noten. ......................................................................... 404

10d. Mit schlechten Noten haben wir Erfahrung gute Noten sind wichtig.40410e. Die Noten belasten einen: Wir sprechen lieber nicht darüber. ............ 40510f. Die Sek C versuchen wir zu vermeiden. ........................................... 40511. Die Eltern spielen praktisch keine Rolle für die Schule. ...................... 40611a. Die Eltern sichern unsere Existenz meistens. ................................. 40611b. In Bezug auf die Schule erhalten wir von den Eltern

keine Unterstützung. ..................................................................... 40711c. Wir bekommen keine Hilfe beim Lernen. ........................................ 40811d. Die Eltern äussern starke Forderungen............................................. 40911e. Wir haben Angst vor drohenden, schimpfenden Eltern. ..................... 40912. Freizeit ........................................................................................... 40912a. Zuhause ist es langweilig. ............................................................... 40912b. Funktionale Ruhezeiten: Die Pause, die Freizeit, die Ferien sind

für die Schule da........................................................................... 41013. Vergleichsweise kein allzu wichtiges Thema: die FreundInnen und

SchulkollegInnen.......................................................................... 41013a. Unsere FreundInnen haben einen Einfluss auf uns. ........................... 41013b. Zwischen uns Kindern gibt es Streitigkeiten, Konflikte, Gewalt......... 411

9.3.3 Die schulische Logik der privilegierten Kinder........................................ 4131. Der Sinn der Schule ist das Lernen und Gescheitwerden. Das Lernen

hat einen Sinn in sich. ................................................................... 4132. Der Spass in der Schule ..................................................................... 4142a. In der Schule wollen wir Spass haben!............................................... 4142b. Schule ist cool, wir haben Spass! ...................................................... 4142c. Wir lernen mit Spass, das Lernen gelingt. Falls Schwierigkeiten

auftauchen, können wir auf Hilfe zählen. ........................................ 416

Ausrüstungen: Sie vergrössern unseren Spass an der Schule............. 4174. Wir wissen Bescheid. ........................................................................ 4184a. Wir haben einen Zugang zu schulischen Lerninhalten. Wir wollen

Bestimmtes lernen. ....................................................................... 4184b. Wir verfügen über ein grosses Orientierungswissen und bewegen uns

kompetent in der Welt. .................................................................. 421

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4c. Wir verfügen über ein umfangreiches schulisches Allgemeinwissen. ... 4224d. Wir lernen voneinander, weil wir uns gegenseitig ergänzen und

korrigieren. .................................................................................. 4234e. Über Regeln wissen wir gut Bescheid, wir wissen mit ihnen

umzugehen. .................................................................................. 4245. Bewusstes Lernen: Wir haben Vorstellungen, wie gelernt wird und

unterrichtet werden sollte. ............................................................. 4256. Die Lehrpersonen .............................................................................. 4276a. Es gibt verschieden gute LehrerInnen wir bewerten und kritisieren

sie. Bei Bedarf äussern wir lautstark scharfe Kritik. ......................... 4276b. Wir haben Ansprüche an die LehrerInnen. ......................................... 4296c. Die Lehrperson ist mitverantwortlich dafür, wie gut das Lernen

gelingt und für den künftigen Erfolg. Darum ist ein guter Lehrer, eine gute Lehrerin wichtig. ............................................................ 430

7. Das Verhältnis zu den Erwachsenen: Wir sind tendenziell auf der gleichen Ebene wie die Lehrpersonen; wir sind ein echtes Visavis. ... 431

8. Das Selbstverständnis: Die Armen sind die Anderen. Wir haben, wir sind privilegiert mit oder ohne Bewusstsein/Dankbarkeit. Wir besitzen viele Rechte..................................................................... 432

9. Freizeit und Ferien: Der Möglichkeiten sind viele wir vermissen die Schule nicht. ................................................................................ 435

10. Die Pause macht Spass, sie ist ein Gegensatz zur Schule..................... 43611. Kritik, Wertungen und Meinungen bringen wir lautstark vor. .............. 43612. Wir sind so privilegiert, dass wir völlig unabhängig sind. Die Schule

ist nicht so wichtig. Wir nehmen es easy......................................... 43713. Eine sichere Zukunft........................................................................ 43913a. Später haben wir (sicher) einen Beruf, wir können einen

nehmen, wählen............................................................................ 43913b. Wir wählen attraktive Berufe, in denen man Spass hat und viel

Geld verdient................................................................................ 44013c. Wir stehen nicht unter Druck. ......................................................... 44114. Komfortable Situation bezüglich der Selektion .................................. 44114a. Wir erklären die Noten direkt und genau. ......................................... 44114b. Die Noten sind für den Beruf. Dadurch entsteht jedoch keine

Belastung für uns.......................................................................... 44214c. Wir haben gute Noten und hohe Aspirationen................................... 44314d. Das Gymnasium ist eine Frage des Wollens. Das Gymnasium ist

das Ziel von uns allen. Wir kennen sichere Wege dorthin................. 44415. Wir wissen um die Eltern im Hintergrund: Sie unterstützen, helfen,

motivieren, erwarten, greifen ein, sind aktiv.................................... 44515a. Wir erhalten allgemeine schulische Unterstützung von den Eltern. ..... 44515b. Wir bekommen schulische Hilfe von den Eltern und sie vermitteln

uns Wissen. .................................................................................. 44616. FreundInnen zu haben ist wichtig für den Spass in der Schule.

Viel mehr gibt es dazu nicht zu sagen............................................. 44717. Anstand ist für uns keine zentrale Kategorie. ..................................... 447

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10 Theoretische und reflexive Ergebnisse ........................................................... 44910.1 Theoretische Ergebnisse: Konfrontation der kollektiven (gemeindeüber

greifenden) schulischen Logiken mit den bourdieuschen Metastrukturen der HabitusformenAntwort auf Frage 1c, S. 64............................................................................. 449

10.1.1 Der Hauptgegensatz der Lebensstile und der kollektiven schulischen Logiken.............................................................................. 450

10.1.2 Die schulische Logik der Nichtprivilegierten konfrontiert mit Bourdieus Metastrukturen der Habitusformen ......................................... 451

10.1.2.1 Die existenzielle Funktion der Schule........................................ 45110.1.2.2 Die bescheidenen Berufswünsche.............................................. 45410.1.2.3 Das Selbstverständnis und die Unterwerfung.............................. 45510.1.2.4 Fehlender Zugang zu schulischen Lerninhalten und zum Lernen.. 45610.1.2.5 Die fehlende Unterstützung durch die Eltern .............................. 45910.1.2.6 Fazit des ersten Teils der Konfrontation..................................... 460

10.1.3 Die schulische Logik der Privilegierten konfrontiert mit Bourdieus Metastrukturen der Habitusformen ......................................................... 461

10.1.3.1 Der Spass und die Kritik an der Schule und die Sicherheit bezüglich der Zukunft .............................................................. 461

10.1.3.2 Der Zugang zu schulischen Lerninhalten.................................... 46310.1.3.3 Vorstellungen, wie die Schule sein sollte ................................... 46510.1.3.4 Demonstration von Kompetenz ................................................. 46510.1.3.5 Unbeschwerte und unbelastete Nutzung des Bildungssystems...... 46610.1.3.6 Vorhandene Alternativen zur Schule.......................................... 46710.1.3.7 Das Selbstverständnis und die Privilegiertheit ............................ 46810.1.3.8 Das Selbstverständnis und die Selbstbestimmung ....................... 46910.1.3.9 Die Unterstützung durch die Eltern............................................ 47010.1.3.10 Fazit des zweiten Teils der Konfrontation .................................. 471

10.1.4 Fazit der Konfrontation ......................................................................... 47110.1.5 Exkurs: Diskussion der Thesen aus Kapitel 5.1.13................................... 472

10.2 Reflexive Ergebnisse I: Fruchtbarmachung der Resultate für die Erklärung der Schwierigkeiten nichtprivilegierter Kinder beim Kompetenzerwerb und der Bildungsvererbung Antwort auf Frage 1d, S. 64............................................................................. 475

10.2.1 Auswirkungen der schulischen Logiken als Teil des Habitus auf den Kompetenzerwerb (oder das Lernen) und den Erwerb von Bildungsabschlüssen: Warum es nichtprivilegierte Kinder schwieriger haben als privilegierte Kinder ................................................................ 476

10.2.1.1 Auswirkungen der existenziellen Funktion der Schule ................ 47610.2.1.2 Die Lernverantwortung in der Praxis ......................................... 47710.2.1.3 Geringes Wissen über das Bildungssystem................................. 47810.2.1.4 Bescheidene Berufswünsche ..................................................... 48010.2.1.5 Unterwerfung und Kritiklosigkeit.............................................. 48010.2.1.6 Ohnmächtige Lehrpersonen bei Konflikten ................................ 48310.2.1.7 Substanz und Funktion fokussierender Habitus, Ausblendung der

Lernprozesse und fehlender Zugang zum schulischen Lerninhalt . 484

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10.2.1.8 Geringes Allgemeinwissen und sprachlicher Notstand ................ 48510.2.1.9 Funktionales Lernen als Ausdruck des Habitus........................... 48710.2.1.10 Belastende Erfahrungen mit Noten ............................................ 48810.2.1.11 Langweilige Freizeit................................................................. 48910.2.1.12 Ausbleibende Unterstützung durch die Eltern............................. 48910.2.1.13 Zusammenfassung: Die Folgen der schulischen Logik von

nichtprivilegierten Kindern auf den Kompetenzerwerb und den Erfolg im Bildungswesen.......................................................... 491

10.2.2 Auswirkungen der schulischen Logiken als Teil des Habitus auf den Kompetenzerwerb (oder das Lernen) und den Erwerb von Bildungsabschlüssen: Warum es privilegierte Kinder leichter haben als nichtprivilegierte Kinder........................................................................ 495

10.2.2.1 Auswirkungen von Sicherheit und Spass verbunden mit einer schulischen Investitionslogik .................................................... 495

10.2.2.2 Die Sicherheit und der Fokus auf Form- und Qualitätsaspekte ..... 49710.2.2.3 Konzentriertes Arbeiten: üben, lernen, knobeln .......................... 49710.2.2.4 Umfangreiches Wissen über das Bildungssystem........................ 49810.2.2.5 Hohe bildungsbezogene und berufliche Aspirationen .................. 49910.2.2.6 Kritische, aktive, selbstbewusste Haltung................................... 49910.2.2.7 Souveräne Position bezüglich der Regeln und gegenüber

Erwachsenen ........................................................................... 50110.2.2.8 Der Form fokussierende Habitus, bewusstes Lernen und der

Zugang zum schulischen Lerninhalt........................................... 50210.2.2.9 Umfangreiches Allgemeinwissen und günstige sprachliche

Voraussetzungen...................................................................... 50310.2.2.10 Der immanente Sinn des Lernens oder Lernen, um gescheit zu

werden .................................................................................... 50510.2.2.11 Komfortable Situation bezüglich der Selektion........................... 50510.2.2.12 Attraktive, anregende Freizeit ................................................... 50610.2.2.13 Unterstützung durch die Eltern.................................................. 50710.2.2.14 Zusammenfassung: Die Folgen der schulischen Logik von

privilegierten Kindern auf den Kompetenzerwerb und den Erfolg im Bildungswesen.......................................................... 510

10.2.2.15 Gesamtzusammenfassung und Fazit .......................................... 51310.3 Reflexive Ergebnisse II: Das Befinden der nichtprivilegierten Kinder:

Belastungen und Spannungen in einer prekären Lage Antwort auf die Frage 2, S. 65 ......................................................................... 518

10.3.1 Der Druck durch die Unsicherheit der künftigen Existenzsicherung .......... 51910.3.2 Allein die Verantwortung für das Lernen und das eigene Schicksal tragen. 51910.3.3 Die Wichtigkeit der Schule und der fehlende Zugang zu schulischen

Lerninhalten ......................................................................................... 52010.3.4 Die Wichtigkeit der Schule und der ausbleibende Notenerfolg ............... 52110.3.5 Die Folgen der Kritiklosigkeit................................................................ 52210.3.6 Fehlendes Wissen über schulische Strukturen und Verfahren.................... 52310.3.7 Allgegenwärtige Konflikte, ständige Regelverstösse und ohnmächtige

Lehrpersonen........................................................................................ 524

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10.3.8 Fordernde Eltern und die Schwierigkeit, gute Noten zu machen................ 52510.3.9 Keine Solidarität und Hilfe von den Eltern.............................................. 52510.3.10 Unattraktive Freizeit, welche kein Leiden kompensiert ............................ 526

10.4 Reflexive Ergebnisse III: Welche Möglichkeiten hat die Schule,

Antwort auf Frage 3, S. 66............................................................................... 52610.4.1 Folgerungen für den täglichen Unterricht und für die Schuleinheit als

Ganze .................................................................................................. 52810.4.1.1 Das Angebot eines umfassenden Hilfesystems ........................... 52810.4.1.2 Das stete Streben nach hoher Unterrichtsqualität in

nichtprivilegierten Schulen und Überlegungen zu den Möglichkeiten einzelner Lehrpersonen ...................................... 529

10.4.1.3 Das Lernen - Lerntechniken, das eigene Lernen und der Stand des Könnens - als Thema des Unterrichts................................... 534

10.4.1.4 Themen aufnehmen, die für nichtprivilegierte Kinder relevant sind ............................................................................ 535

10.4.1.5 Ausbau der aussergewöhnlichen Unternehmungen...................... 53610.4.1.6 Die formative Beurteilung praktizieren und (schriftlich)

kommunizieren........................................................................ 53710.4.1.7 Wissensvermittlung im Bereich des Bildungssystems und

der Selektion ........................................................................... 53810.4.1.8 Die Regeln als Unterrichtsschwerpunkt ..................................... 54010.4.1.9 SchülerInnen-Parlament ........................................................... 54110.4.1.10 Elternarbeit als Schwerpunkt der Schule .................................... 542

10.4.2 Folgerungen für die Schule als Institution ............................................... 54510.4.2.1 Weiterbildungen und Unterstützung für die Lehrkräfte:

Konfliktmanagement, Unterrichtsqualität, Lernen, Situation in den Hauptmigrationsländern ..................................................... 545

10.4.2.2 Vor- und ausserschulische öffentliche Betreuungs- und Förderangebote in Schulen mit vielen nichtprivilegierten Kindern................................................................................... 547

10.4.2.3 Bildungsbezogener Finanzausgleich .......................................... 54911 Rückblick und Ausblick................................................................................. 55111.1 Zusammenfassung .......................................................................................... 551

Kapitel 1 .............................................................................................. 551Kapitel 2 .............................................................................................. 552Kapitel 3 .............................................................................................. 554Kapitel 4 .............................................................................................. 555Kapitel 5 .............................................................................................. 557Kapitel 6 .............................................................................................. 559Kapitel 7 und 8 ..................................................................................... 560Kapitel 9 .............................................................................................. 566Kapitel 10 ............................................................................................ 569

11.2 Ausblick ........................................................................................................ 57312 Literatur ........................................................................................................ 577

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1 Einleitung

1.1 Zum Ursprung der Hauptfragen

Die Teilnahme am wissenschaftlichen Diskurs verlangt eine starke Abstraktion von der eigenen Person. Persönliche Erlebnisse und Erfahrungen haben kaum Platz, und wenn sie doch einbezogen werden, ergibt sich bald der Eindruck, ein fleissiger, aber doch weitge-hend dilettantischer Schüler habe die Regeln der Kunst nicht begriffen.

Sinn der Wissenschaft sollte jedoch immer die Suche nach Erkenntnis sein. Wirkliche Erkenntnis stellt sich aber oft gerade dann ein, wenn praktische Erfahrungen zu drängenden Fragen führen, die im Laufe der Zeit durch einschlägige Auseinandersetzungen beantwortetoder mindestens erhellt werden können. So ist es im Fall dieser Arbeit geschehen: Aus-gangspunkt waren meine Erfahrungen als Mittelstufenlehrerin1 im Kanton Zürich. Während acht Jahren unterrichtete ich in zwei sehr unterschiedlichen Gemeinden bzw. Quartieren, die sich im Hinblick auf die Bevölkerungszusammensetzung und den Ruf nicht deutlicher hätten voneinander abheben können. Das Engagement an diesen zwei Schulorten wurde für mich prägend.

Die eine Gemeinde ein Zürcher Vorort erhält in dieser Studi - Familien tiefer sozioökonomischer und -kultureller Lagen stark ver-

treten, der Ausländeranteil ist sehr hoch und nimmt ständig zu, ansässige Schweizer Fami-lien ziehen weg. Ein grosser Teil der Gemeinde ist Industriegebiet. Bendten leidet in der Bevölkerung unter einem schlechten Ruf, gegen den in den letzten Jahren mediale Aktionen eingeleitet worden sind2.

Als engagierte Lehrperson bemühte ich mich intensiv um eine umfassende Bildung der Kinder dieser Gemeinde in meinen Klassen. Trotz grössten Anstrengungen im und rund um den Unterricht schien mir jedoch die schulische Wirksamkeit bei diesen Kindern be-schränkt. Meine SchülerInnen, die fast ausnahmslos und unabhängig von ihrer nationalen oder ethnischen Zugehörigkeit aus nichtprivilegierten Verhältnissen stammten, erwarben trotz meiner vielfältiger Bemühungen zentrale Kompetenzen nur mühsam und letztlich ungenügend; die schulischen Leistungen blieben auf relativ tiefem Niveau. Ich vermochte als Lehrerin trotz der angestrebten (und hoffentlich gewährleisteten) hohen Unterrichtsqua-lität nicht das zu erreichen, was ich mir vornahm und erhoffte3. Hinzu kam, dass der man-gelnde Kompetenzerwerb in krassem Gegensatz stand zum problemlosen Kompetenzer-werb und umfangreichen Wissensstand der privilegierten SchülerInnen, die ich zuvor an einem anderen Ort unterrichtet hatte.

1 -6. Primarklasse, das entspricht der zweiten Hälfte der Grundschule. Die Kinder sind folgen sie dem idealen Schulverlauf 10 bis 12 Jahre alt; viele Kinder sind jedoch wegen einer Vielzahl von Gründen (Migrationshintergrund, Repetition, usw.) älter. 2 Siehe Fussnote 177.3 Gleichzeitig verwirrte mich eine immer wieder festgestellte Diskrepanz zwischen dem Ideal der Kinder, nämlich ihrem Willen, in der Schule gut zu sein und zu lernen, und meiner Wahrnehmung der harzigen Fortschritte beim Kompetenzerwerb.

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Die Frage nach den Ursachen der Schwierigkeiten von nichtprivilegierten Kindern beim Kompetenzerwerb beschäftigte mich vorerst als Lehrerin und bald auch als Studentin der Pädagogik. Sie hat mich während meines Studiums begleitet und führte zu einer Reihe von theoretischen und empirischen Arbeiten in diesem Zusammenhang, die in der vorlie-genden Studie ihren vorläufigen Abschluss finden.

An die Frage nach den Ursachen des Problems schliesst sich die hier ebenfalls ge-stellte - Frage an, welche konkreten Möglichkeiten es gibt, die Situation für die nichtprivi-legierten Kinder zu verbessern. Die Frage nach Handlungsmöglichkeiten hat bisher aller-dings nie im Zentrum meiner Arbeiten gestanden, weil zunächst das Aufdecken der Prob-lemhintergründe im Vordergrund stand.

Eine weitere Fragestellung für die vorliegende Arbeit ergab sich nicht aus der Praxis als Lehrerin, sondern bei der parallel zur Unterrichtstätigkeit erfolgten Erhellung des Phä-nomens unter erziehungswissenschaftlichen und soziologischen Gesichtspunkten im Rah-men einer theoretischen Arbeit.

Ich beschäftigte mich mit Pierre Bourdieus Werk Die feinen Unterschiede (1982) und erhielt über die unterschiedlich vorhandenen Ressourcen und den ihnen entsprechenden Habitusformen Aufschluss. Es wurde deutlich, dass der je nach Herkunft des Kindes ge-prägte Habitus die Voraussetzung des Kindes für den Schulbesuch bildet und so die Chan-cen des Kindes beim Kompetenz- und Bildungserwerb mitbestimmt.

Konfrontierte ich jedoch die Theorie Bourdieus mit der schulischen Realität, stellten sich mir bald neue Fragen. Die Strukturen der Habitusformen schienen nämlich realiter nicht wie von Bourdieu beschrieben aufzutreten: Wie erwähnt4 zeigten sich viele Kinder in Bendten bezüglich der Schule interessiert. Sie waren motiviert und bekräftigten, in der Schule lernen und sich auf einen Beruf vorbereiten zu wollen, und auch die Resultate von Prüfungen schienen ihnen wichtig zu sein. Dies machte nicht den Anschein, den Habitus von unteren Klassen zu repräsentieren, sondern klang eher nach der Investitionslogik der Mässigprivilegierten5. Somit stellte sich für mich die Frage, inwiefern die von Bourdieu beschriebenen Sachverhalte und vor allem die Strukturen der Habitusformen, die sich auf seine vier Jahrzehnte zurückliegenden Erhebungen in Frankreich stützen, auch heute noch für die Gegebenheiten in der Schweiz Gültigkeit besitzen.

Aus dieser Frage entstand die Idee, den Habitusformen der Kinder empirisch nachzu-gehen, und zwar insbesondere dem Habitus bezüglich der Schule, der hier als schulische Logik6 der Kinder bezeichnet wird. Eine solche Arbeit kann aufzeigen, ob die schulischen Logiken als Teil des Habitus - gemäss Bourdieus Theorie - je nach sozioökonomischer und -kultureller Herkunft von SchülerInnen unterschiedlich sind und ob sie den von Bourdieu beschriebenen Habitusformen der Klassen noch irgendwie gleichen. Allenfalls auffindbare,je nach Herkunft unterschiedliche, schulische Logiken können Aufschluss geben über die ursprüngliche Frage nach den Ursachen der ungleichen Bildungschancen.

Konsequenterweise führt die Umsetzung dieser Idee zu einem Vergleich: Die schuli-sche Logik von nichtprivilegierten Kindern wird mit derjenigen von privilegierten Kindern verglichen.

Im Rahmen einer früheren Arbeit erhob ich ähnlich wie bei der vorliegenden Studie - empirisches Datenmaterial, indem ich mit den Kindern über ihre Vorstellungen von der

4 Siehe Fussnote 3.5 Siehe Kap. 5.1.12.6 Zu diesem Begriff siehe S. 21 und S. 85.

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Schule sprach, um damit ihren schulbezogenen Habitus zu ergründen. Dabei ergab sich zusätzlich zu den bereits bestehenden Fragen, wie es zu den Schwierigkeiten der nichtprivi-legierten Kinder beim Kompetenzerwerb kommt, was dagegen getan werden kann und wie aktuell heute und hier Bourdieu noch ist eine vierte und letzte Fragestellung. Es wurde immer deutlicher, dass die nichtprivilegierten Kinder durch ihre Situation innerhalb und ausserhalb der Schule äusserst belastet sind. Nun wollte ich mehr und im Detail erfahren über die Situation der nichtprivilegierten Kinder in der Schule. Die vierte Frage lautet also,was es für Kinder nichtprivilegierter Herkunft bedeutet, in die Schule, die viele Chancen verspricht, zu gehen und doch im Kreislauf des Nichterfolgs gefangen zu sein.

1.2 Die Studie im Überblick

Die folgenden Abschnitte geben einen einführenden Überblick über die Studie. Was hier erwähnt wird, wird später in den einzelnen Kapiteln ausführlich entfaltet. Es wird in diesem Überblick zumeist darauf verzichtet, bei den einzelnen Gedanken auf die folgenden Kapitel mit den detaillierten Ausführungen zu verweisen. Es ist im Kapitel zum Aufbau der Studie7

und im Inhaltsverzeichnis ersichtlich, wo sich diese befinden.

1.2.1 Ausgangspunkt und Fragen der Studie

Diese Studie widmet sich vier Fragen, die aufgrund meiner Tätigkeit als Lehrerin in Ge-meinden, die bezüglich der sozioökonomischen und -kulturellen Lage der Bevölkerung äusserst unterschiedlich sind, entstanden. Durch das Engagement in diesen Gemeinden wurde ich mit den grossen Schwierigkeiten der nichtprivilegierten Kinder beim Bildungs-erwerb konfrontiert. Diese stellen das Ausgangsproblem dieser Studie dar.

1. Die erste Frage der Studie steht im Zentrum der Arbeit: Welche möglichen Ursachen liegen dem herkunftsabhängigen Bildungserwerb zugrunde? Nun existiert bereits eine Vielzahl von Arbeiten, die diesen Hintergründen nachgehen. Diese Erklärungen haben jedoch gemeinsam, dass die Sicht der Kinder auf die Schule ausser Acht gelassen wird. Daher wird hier aufgrund von Bourdieus Forschung und Theorie, welche für die vor-liegende Arbeit inspirierend wirkten durch Gruppeninterviews mit Primarschulkin-dern ergründet, wie die Auseinandersetzung von ressourcenprivilegierten und -nichtprivilegierten Kindern mit der Schule aussieht, wie sie die Schule erleben, sehen und gebrauchen wollen. Angenommen wird, dass diese schulischen Logiken Teil des ressourcenbedingten Habitus sind und so nach Ressourcenhintergrund der Kinder vari-ieren. Solche herkunftsabhängigen, kollektiven schulischen Logiken, so lautet die An-na der r-derlich oder hinderlich sein. Aus der genannten Frage und der daran anschliessenden These ergibt sich die Frage, ob je nach sozialer Lage unterschiedliche, kollektive schulische Logiken empirisch festgemacht werden können und wie diese aussehen. Konkret ist bei ressourcenprivi-legierten und -nichtprivilegierten Kindern nach ihren schulischen Logiken zu forschen;

7 Siehe Kap. 1.3.

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die Logiken sind miteinander zu vergleichen und es ist zu prüfen, ob sich klare Unter-schiede zwischen den Kindern verschiedener Ressourcenlagen abzeichnen.Können klassenspezifische schulische Logiken empirisch gefunden werden, werden sie reflektierend darauf hin untersucht, ob und inwiefern sie Aufschluss geben über Hintergründe und mögliche Ursachen des herkunftsabhängigen Kompetenzerwerbs und der Bildungsreproduktion.

2. Die herkunftsabhängigen kollektiven schulischen Logiken werden auf eine zweite Frage hin untersucht: Sind auch heute noch Habitusformen, wie sie von Bourdieu fest-gestellt wurden, auffindbar? Bourdieu hat sich in den 1960er-Jahren mit den Habitus-formen der Franzosen befasst und ihre Ausprägungen in seinem Werk Die feinen Un-terschiede (1982) dokumentiert. Diese Habitusformen der Klassen - genauer die Me-tastrukturen der Habitusformen8 - wurden im Vorfeld aus Bourdieus Werk herausge-arbeitet und hatten zur oben formulierten These geführt, dass unterschiedliche Einstel-lungen, Strategien, Geschmäcker und Praktiken sich auch bezüglich der Schule finden lassen und derart Auswirkungen auf den schulischen Erfolg zeitigen könnten. Weil sich jedoch die Kinder im Schulalltag auf den ersten Blick nicht gemäss dieser Habi-tusformen äusserten, stellte sich die Frage, ob und inwiefern auch heute in der Schweiz diese von Bourdieu gefundenen Metastrukturen der Habitusformen der Klassen noch bestehen. Wenn im Rahmen der vorliegenden Studie empirisch herkunftsabhängige schulische Logiken eruiert werden können, werden sie ebenfalls reflektierend also darauf hin untersucht.

3. Das dritte Anliegen besteht darin zu zeigen, was es für nichtprivilegierte Kinder be-deutet, im Bildungssystem erfolglos zu sein. Obwohl in den letzten Jahren enorm viel zur Abhängigkeit des Kompetenzerwerbs von der sozialen Herkunft und zur Bildungs-reproduktion geforscht und geschrieben worden ist, wird kaum je auf die Empfindun-gen und das Erleben der nichtprivilegierten Kinder eingegangen. Dies soll hier anders sein: Es soll aufgezeigt werden, was der Umstand der schulischen Erfolglosigkeit auf-grund des Nichtprivilegiertseins für die Kinder bedeutet, inwiefern die Situation für nichtprivilegierte Kinder belastend ist und sie an der Schule leiden. Zum einen sind es die schulischen Logiken selber, die aufzeigen können, worin die Belastung der nichtprivilegierten Kinder besteht, zum anderen wird dies auch noch einmal pointiert aus den Logiken herausgearbeitet.

4. Die vierte Frage der Studie schliesst sich an die erste Frage nach den Ursachen der Bildungsvererbung an. Das Problem der Abhängigkeit des schulischen Erfolgs von der sozialen Herkunft und die Feststellung möglicher Ursachen rufen nach konkreten Massnahmen, um das Problem zu entschärfen und die (schulische) Situation nichtpri-vilegierter Kinder zu verbessern. Auch hierfür sollen die kollektiven schulischen Lo-giken Denkanstösse geben: Es wird anhand der schulischen Logik der nichtprivile-gierten Kinder gefragt, welche Möglichkeiten es auf Seiten der Schule gibt, die nicht-privilegierten Kinder in ihrem Gebrauch der zu unterstützen. Das besondere Interesse dieser Studie gilt also der schulischen Situation der nichtprivilegierten Kin-der, weil ihre Schwierigkeiten beim Kompetenzerwerb Anlass der Studie waren.

8 Mit dem Begriff Metastruktur ist gemeint, dass nicht die von Bourdieu beschriebenen materialen Güter, Prakti-ken und Wertungen der Klassen, sondern die Prinzipien des Habitus aus seiner Studie heraus kristallisiert wurden.

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1.2.2 Theoretischer Rahmen

Eine Möglichkeit, die Kompetenzschwierigkeiten und den geringen Bildungserfolg der nichtprivilegierten Kinder zu erklären, liegt in den Arbeiten und der daraus resultierenden Theorie BOURDIEUS. Diesem Ansatz wird hier gefolgt.

Die Grundidee liegt darin, dass die Habitusformen und Reproduktionslogiken, welchenach Bourdieu ressourcenbedingt und klassenspezifisch sind, auch unterschiedliche Zugän-ge zu Bildung und Bildungsinstitutionen umfassen und daraus ungleiche Chancen hinsicht-lich des schulischen Erfolgs resultieren.

Diese These wird anhand von Bourdieus Forschung und Theorie hergeleitet. Vorab ist darauf hinzuweisen, dass dieser Arbeit zwei Elemente des bourdieuschen Werks zugrunde liegen: das Ungleichheitskonzept Bourdieus mit den drei verschiedenen Formen von Kapi-talien, also das Modell des sozialen Raumes, und der Raum der Lebensstile mit dem Kon-zept des ressourcenbedingten Habitus. Für die Entfaltung dieser theoretischen Bausteine stütze ich mich auf die beiden bourdieuschen Standardwerke Die feinen Unterschiede(1982) und Praktische Vernunft (1998)9.

Aus der bourdieuschen Theorie werden in dieser Studie zwei Hauptfolgerungen gezo-gen:

a. Die bourdieusche Theorie gibt zur Vermutung Anlass, dass auch das Verhältnis zur Schule als ein spezifischer Ausdruck des Habitus klassen- bzw. ressourcenspezifischsein könnte, weshalb es sich anbietet, dem empirisch nachzugehen. Diese kollektivenressourcenspezifischen Logiken bezüglich der Schule können so ausschlaggebend sein für die Möglichkeiten, die Schule zu nutzen.Wenn hier von der kollektiven ressourcenabhängigen schulischen Logik die Rede ist, so stellt dies ein von mir festgelegter Begriff dar, der den Bereich des Habitus, welcher sich auf die Schule bezieht und mit den familiären Reproduktionsstrategien verknüpft ist, bezeichnet. Der Begriff schulische Logik benennt damit den Bereich des Habitus, der die Wahrnehmung von der Schule (d.h. wie die Kinder sie wahrnehmen, erleben und empfinden), die Einstellungen bezüglich der Schule (Stellenwert, Beurteilung, Strategien, Haltungen und Nutzungsformen) und, soweit durch die Erhebungsmethode möglich, die Praktiken bezüglich der Schule umfasst10. Zuweilen wird anstelle der schulischen Logik auch was vor allem stilistische Gründe hat

Schule, der Sicht der Kinder auf die Schule oder von der Auseinandersetzung mit der Schule gesprochen.Ist vom die Rede oder wird gesagt, die Kinder würden die Schule nutzen, ist damit keine rationale Nutzung der Schule im Sinne des Rational Choice gemeint. Hier wird, was durch die theoretische Grundlage von Bourdieu sicht-bar ist, nicht von einem rationalen Kosten-Nutzen-Kalkül ausgegangen, das ein Kind bezüglich der Schule anstellt. Der Gebrauch der Schule ist, so lautet die Annahme hier, durch inkorporierte Prinzipien gesteuert, welche durch die Position im sozialen Raum zustande kommen.

9 Bei den wissenschaftstheoretischen Grundlagen hingegen sind das Buch von Bourdieu/Wacquant (vgl. Bour-dieu/Wacquant 1996) und der Aufsatz von Rieger-Ladich (vgl. Rieger-Ladich 2005) leitend. 10 Genauer umschrieben ist der Begriff im Kap. 5.1.7.

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b. Ein zweiter Bereich von Folgerungen betrifft die Frage, wie die Ressourcenlage (oder die gesellschaftliche Position) der Beforschten erfasst wird. Dabei wird das bourdieu-sche Ungleichheitskonzept des sozialen Raumes methodisch umgesetzt. Die diesbe-züglichen Überlegungen folgen im nächsten Kapitel zu den empirischen Zugängen,mit Ausnahme einer Bemerkung eher theoretischer Natur dazu, dass in dieser Arbeit von privilegierten und nichtprivilegierten Kindern gesprochen wird:Diese Begrifflichkeit wird aus zwei Gründen gewählt. Zum einen weist das Ausmass an Privilegierung auf die Kapitalausstattung (bzw. die Ressourcen) hin, die umfangrei-cher oder weniger umfangreich sein kann; sie kann im ersten Fall zu Privilegien in Form von Vorteilen oder Vorrechten führen, welche andere, deren Kapital gering ist, nicht haben. Die Begriffe passen also gut zu den bourdieuschen Konzepten. Zum an-deren ist es üblich geworden, d privilegiert und unterprivilegiert hnung an Széll wird hier jedoch der Begriff

der Nichtprivilegierung dem der Unterprivilegierung aus sprachlichen Gründen vorge-zogen, weil man entweder Privilegien hat - oder eben nicht (vgl. Széll 1972).

1.2.3 Empirische Zugänge

Ausgangspunkt für die Bestimmung der Ressourcenlage der Beforschten ist das bourdieu-sche Konzept des sozialen Raumes: Bourdieu zeigt, dass sich die Bevölkerung der entwi-ckelten Gesellschaften nach dem Gesamtvolumen und der Struktur des ökonomischen und kulturellen Kapitals im sozialen Raum verteilen, wobei die Position im sozialen Raum Aufschluss gibt über die Lebenschancen und Einflussmöglichkeiten der Akteure, aber auch über ihre Lebensgestaltung, Geschmäcker, politischen Orientierungen, usw. Diese Un-gleichheitskonzeption wird mit einer Reihe von aktuellen Studien konfrontiert, die zeigen, dass der soziale Raum sich zwar in gewisser Hinsicht geöffnet hat, es jedoch nach wie vor drei Schlüsseldimensionen sind, welche für die Lebensgestaltung und -chancen eine zentra-le Rolle spielen und daher im Hinblick auf die gesellschaftliche Position der Befragten interessieren: das ökonomische Kapital, das kulturelle Kapital und die Berufsposition, der verschiedene Aspekte des ökonomischen und kulturellen Kapitals immanent sind.

Aufgrund der Öffnung des sozialen Raumes gilt es auch zu berücksichtigen, was be-reits Bourdieu betonte: Dass es immer eine Relation braucht, damit die Verhältnisse des sozialen Raumes adäquat abgebildet werden können. Daher wird den schulischen Logiken von nichtprivilegierten und privilegierten Kindern in einem Vergleich nachgegangen, damit die Differenzen zwischen den schulbezogenen Habitusformen sichtbar werden.

Damit nichtprivilegierte und privilegierte Kinder zu ihrer schulischen Logik befragt werden können, müssen die genannten Schlüsseldimensionen gesellschaftlicher Ungleich-heit operationalisiert werden. Wie dies getan wird, wird genau hergeleitet und begründet11.Einbezogen werden letztlich das Einkommen gemessen am durchschnittlichen steuerbaren Einkommen der natürlichen Personen der Gemeinden, das Vermögen gemessen am durch-schnittlich steuerbaren Vermögen der natürlichen Personen der Gemeinden und die Bil-dungsbeteiligung gemessen an den MittelschülerInnen und Studierenden pro 1000 Einwoh-ner der Gemeinden. Damit ist bereits deutlich geworden, dass die Indikatoren über die Gemeinden (und nicht über einzelne Familien) erfasst werden. So können Schulen in privi-

11 Siehe Kap. 5.1.5 - 5.1.7 und 7.1.1 - 7.1.3.

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legierten Gemeinden (solche mit insgesamt sehr hohen Einkommens- und Vermögenswer-ten und sehr hoher Bildungsbeteiligung) und nichtprivilegierten Gemeinden (solchen mit insgesamt sehr tiefen Einkommens- und Vermögenswerten und sehr tiefer Bildungsbeteili-gung) ausgewählt und die Kinder in diesen Schulen befragt werden. Die Studie beschränkt sich auf Gemeinden, die im Kanton Zürich je die Spitzenpositionen bezüglich der drei Indi-katoren einnehmen, so dass es sich bei den sozialen Positionen der Familien in vielen Fäl-len um konsistente Lagen mit je konsistent hohen bzw. tiefen Positionen in Bildung, Be-rufsstatus und Einkommen handeln sollte.

Eine weitere Beschränkung betrifft die Wahl der nichtprivilegierten Gemeinden: Da es im Kanton Zürich aufgrund der genannten Indikatoren äusserst unterschiedliche nichtprivi-legierte Gemeinden gibt nämlich multikulturelle und urbane nichtprivilegierte Gemein-den, aber auch ländlich-bäuerliche nichtprivilegierte Gemeinden werden hier im Sinne der ursprünglichen Fragestellung, die sich auf Kinder eines multikulturellen Kontextes bezog, nur multikulturelle und urbane nichtprivilegierte Gemeinden einbezogen12.

Für die Interviews mit den Kindern werden zufällig Schulhäuser in solch privilegierten und nichtprivilegierten Gemeinden ausgewählt. Für die Studie wurden insgesamt 28 Inter-views (in Halbklassen) geführt. 18 Gruppendiskussionen wurden in multikulturellen und urbanen nichtprivilegierten Gemeinden in unmittelbarer Nähe zur Stadt Zürich und in mul-tikulturellen nichtprivilegierten Quartieren der Stadt Zürich geführt, 10 Gruppendiskussio-nen in privilegierten, stadtnahen Gemeinden. Von diesen 28 Interviews wurden 22 ausge-wertet und in die vorliegende Studie einbezogen: 12 Gruppendiskussionen aus nichtprivile-gierten Gemeinden und 10 Gruppendiskussionen aus privilegierten Gemeinden13.

Die Interviews fanden zwischen 2002 und 2005 statt14. Die Namen aller berücksichtig-ten Gemeinden wurden für die vorliegende Studie anonymisiert es existieren also keine Gemeinden namens Bendten, Pöliz, usw. in der Schweiz. Diese Anonymisierung wurde den Lehrkräften, die ihre Klassen für die Interviews zur Verfügung stellten, zugesichert.

Da die Intention der Studie in der Erfassung der kollektiven ressourcenspezifischen schulischen Logik der Kinder besteht, bietet sich als Erhebungsmethode das Gruppendis-kussionsverfahren nach BOHNSACK an (vgl. Bohnsack 2000). Interviewt werden Kinder von vierten und fünften Primarklassen15 in Halbklassengruppen, d.h. es wird mit Gruppen von je ca. acht bis zehn Kindern gesprochen. Alle Interviews sind von mir selbst durchgeführt worden. Die Lehrpersonen waren beim Interview nicht anwesend.

Die Wahl des Gruppendiskussionsverfahrens als Erhebungsmethode, die konkret ge-troffenen Arrangements der Interviews und verschiedene weitere Aspekte wie meine Rolle

12 Die Tabelle 1, S. 118 bietet eine Übersicht über die Ressourcenlage der einbezogenen Gemeinden. Die Namen der Gemeinden sind anonymisiert.13 Die anderen 6 Interviews (Interviews aus nichtprivilegierten Gemeinden) entsprachen im Laufe der Arbeit nicht mehr den Kriterien nichtprivilegierter Gruppenzusammensetzungen. Manche von ihnen wurden in einer ländlich-bäuerlichen nichtprivilegierten Gemeinde geführt und wurden daher, nachdem der Unterschied zwischen den verschiedenen nichtprivilegierten Gemeinden und ihrer Bevölkerung deutlich geworden war, ausgeschlossen. Andere Interviews fanden zwar in einer multikulturellen und urbanen nichtprivilegierten Gemeinde statt, aber es stellte sich heraus, dass die SchülerInnen aus einem mässigprivilegierten Wohnquartier innerhalb dieser Gemeinde stammten, so dass die Gespräche ebenfalls nicht mit einbezogen wurden. Eine Übersicht über alle interviewten Schulklassen findet sich in Tabelle 2, S. 122.14 Der Zeitpunkt der Interviews liegt eine Weile auseinander, weil dieser Studie bereits einschlägige Arbeiten vorangingen; siehe Kap. 1.1.15 Mit einer Ausnahme: Ein Interview fand in einer 6. Klasse statt, weil es sich bei dieser Schulklasse um eine 5./6. Doppelklasse handelte.

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als Interviewerin und spezielle Gesichtspunkte aufgrund des Umstands, dass Kinder (in der Schule) befragt werden, werden in den methodologischen Grundlagen Bohnsacks verankert und detailliert begründet.

Die hier einbezogenen 22 Interviews wurden alle vollständig transkribiert und analy-siert. Die Methoden der Datenauswertung, welche auf die kollektiven ressourcenspezifi-schen schulischen Logiken zielen, bauen auf der Dokumentarischen Interpretation nach BOHNSACK auf (vgl. Bohnsack 2000). Inspirierenden Charakter haben auch Überlegungen der Grounded Theory (vgl. Strauss/Corbin 1996) und der qualitativen Inhaltsanalyse nach MAYRING (vgl. Mayring 2003). Keiner dieser Methoden wird jedoch blindlings gefolgt,sondern die einzelnen Schritte werden stets vorrangig vom angegebenen Erkenntnisinteres-se und den theoretischen Grundlagen der Arbeit geleitet und durch sie begründet.

1.3 Aufbau der Studie

Die Studie ist wie folgt aufgebaut:Das Kapitel 1 führt in das Vorhaben der Studie ein. Im Kapitel 1.1 wird ersichtlich,

aufgrund welcher Erfahrungen und Fragen es zu dieser Studie kam. Das Kapitel 1.2 bietet einen straffen Überblick über die Studie, um Interessierten aufzuzeigen, inwiefern die Ar-beit für sie von Relevanz ist. Vorgestellt werden die vier Fragen der Studie und ihr Hinter-grund, der theoretische Rahmen und die Vorgehensweisen bei der Erhebung und Auswer-tung von Daten.

Das Kapitel 2 widmet sich dem Ausgangsproblem der Studie. Im Kapitel 2.1 wird de-tailliert beschrieben, was mit der Abhängigkeit des schulischen Erfolgs von der sozioöko-nomischen und -kulturellen Herkunft gemeint ist, indem die beiden Hauptaspekte des Prob-lems und deren Auftreten erläutert werden. Im Teilkapitel 2.2 wird dargelegt, aus welchen Gründen und unter welchen Bedingungen die Herkunftsabhängigkeit des Bildungserwerbs ein störendes Problem darstellt. Dabei wird auch das biologische Argument, das besagt, es handle sich bei Kindern tiefer sozioökonomischer und -kultureller Herkunft um weniger intelligente oder leistungsfähige Kinder, verworfen. Im Kapitel 2.3 wird aufgezeigt, wie bisher die wissenschaftliche Debatte zu den herkunftsabhängigen Bildungschancen im Schnittfeld von Pädagogik und Soziologie in groben Zügen verlaufen ist.

Im Kapitel 3 werden die gängigen Hauptargumente aufgeführt und erörtert, welche bislang die herkunftsbedingten Bildungschancen zu erklären versuchen. Dabei werden frühe und aktuelle Beiträge berücksichtigt; auch wird zwischen Argumenten, welche die Voraussetzungen des Kindes in den Blick nehmen und Ansätzen, welche die Rolle der Schule in den Vordergrund rücken, unterschieden. Zuletzt werden im Kapitel 3.3 zwei Studien vorgestellt, die bei der Erklärung ungleicher schulischer Chancen die Sicht der Kinder auf die Schule berücksichtigen. Im Anschluss daran wird im Kapitel 3.4 gezeigt, welche Lücken die bestehenden Ansätze zu Ursachen und Hintergründen offen lassen, um zu begründen, weshalb hier eine weitere Studie zur Thematik vorliegt.

Auf diesem Hintergrund wird im Kapitel 4 das Vorhaben der vorliegenden Studie ent-faltet. Für jede der vier Grundfragestellungen der Arbeit wobei die ersten beiden Fragen zusammengenommen werden - wird jeweils zuerst das Vorhaben detailliert ausgeführt, danach werden die dem Vorhaben entsprechenden, konkreten Forschungsfragen präsentiert.

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Im Kapitel 5 folgen - in Anlehnung an die beiden bourdieuschen Standardwerke Die feinen Unterschiede (1982) und Praktische Vernunft (1998) - Ausführungen zum theore-tischen Hintergrund der vorliegenden Studie. Wie oben deutlich gemacht wurde16, wird das Ungleichheitskonzept Bourdieus mit den drei verschiedenen Formen von Kapitalien - also das Modell des sozialen Raumes - als Grundlage der Studie vorgestellt. Auch wird der damit verknüpfte Raum der Lebensstile und das Konzept des ressourcenbedingten Habitus entfaltet. Da Bourdieu den ungleichheitstheoretischen Rahmen für diese Arbeit vorgibt, finden sich in einem ersten Einschub (Kapitel 5.1.5 - 5.1.7) Ausführungen dazu, wie die bourdieusche Konzeption umgesetzt wird in ein Verfahren zur Erfassung der sozioökono-mischen und -kulturellen Situation der Beforschten. Die diesbezüglichen Überlegungen werden im Kapitel 7.1 weiter geführt, wenn es um die konkrete Wahl der Gemeinden undSchulklassen geht. In einem zweiten Einschub wird vorgestellt, welche Folgerungen aus dem Habituskonzept und den von Bourdieu gefundenen Metastrukturen der Habitusfor-men17 gezogen werden im Hinblick auf die Möglichkeiten der Kinder, die Schule zu gebrauchen.

Im Kapitel 5.2 wird auch die Schule theoretisch beleuchtet - jedoch eher kurz, weil in dieser Studie der Schwerpunkt auf die Kinder und ihre schulische Logik gelegt wird. Es werden die Widersprüchlichkeiten der Schule fokussiert: Die Schule als Institution steht in einem Zusammenhang mit der sozialen Gleichheit der Menschen in der Gesellschaft, da sie auf verschiedene Weise soziale Gleichheit mit erzeugt und stabilisiert. Gleichzeitig steht sie jedoch auch in einem Zusammenhang mit der herrschenden sozialen Ungleichheit, denn auch soziale Ungleichheit zwischen den Menschen wird durch die Schule erzeugt und stabi-lisiert. Es wird gezeigt, dass beide Bezüge für die Schule konstitutiv sind.

Im Kapitel 6 finden sich die wissenschaftstheoretischen Grundlagen dieser Arbeit, die sich konsequenterweise ebenfalls an Bourdieu anlehnen. Es wird dargelegt, welches Men-schenbild der bourdieuschen Forschung und Theorie zugrunde liegt und warum diesem gefolgt wird; auch wird gezeigt, aus welchen Gründen Bourdieus Ansatz geeignet ist, um den beschriebenen Gegenstand zu untersuchen.

In den Kapiteln 7 und 8 folgen Ausführungen zu den Methoden der Datenerhebung und Datenauswertung, wobei im Kapitel 7.1 wie erwähnt die Methoden zur Erfassung der sozioökonomischen und -kulturellen Lage der Beforschten weiterentwickelt und die Erläu-terungen dazu weiter geführt werden. Im Kapitel 7.2 werden das Gruppendiskussionsver-fahren nach Bohnsack und die konkreten Interview-Arrangements vorgestellt. Das Kapitel 8 erläutert die Schritte, mit denen die schulischen Logiken von nichtprivilegierten und pri-vilegierten Kindern einzelner Halbklassen rekonstruiert werden und das Vorgehen bei der Entwicklung der kollektiven ressourcenabhängigen schulischen Logiken. Wer die Vorge-hensweisen und methodischen Aspekte dieser Studie nachvollziehen möchte, muss die Kapitel 7 und 8 gesamthaft berücksichtigen, denn die Begründungen der Datenerhebungs-und Datenauswertungsmethoden fliessen ineinander. Viele Überlegungen in den beiden Kapiteln beziehen sich daher auch auf das jeweilige andere Kapitel.

Im Kapitel 9 werden die empirischen Ergebnisse dieser Studie dargelegt. Die schuli-schen Logiken einzelner Halbklassen werden in Form von Modellen aufgezeigt. Ein Modell bietet eine zusammenfassende Darstellung der schulischen Logik einer Halbklasse, wobei

16 Siehe Kapitel 1.2.2.17 Siehe Fussnote 8.

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die Kombination von beschreibendem Text und graphisch-tabellarischer Darstellung hilft,das Verhältnis zur Schule deutlich zu machen. Die schulischen Logiken von nichtprivile-gierten Kindern einzelner Halbklassen finden sich im Kapitel 9.1, die schulischen Logiken von privilegierten Kindern einzelner Halbklassen im Kapitel 9.2. Die - offensichtlich be-stehenden kollektiven ressourcenabhängigen (d.h. halbklassen- und gemeindeübergrei-fenden) schulischen Logiken werden im Kapitel 9.3 beschrieben: Im Kapitel 9.3.1 findet sich ein Überblick über beide Logiken in Form einer Gegenüberstellung. Die kollektive schulische Logik von nichtprivilegierten Kindern findet sich im Kapitel 9.3.2, die kollekti-ve schulische Logik vn privilegierten Kindern im Kapitel 9.3.3.

Im Kapitel 10 werden die empirischen Resultate reflektiert und so noch einmal aus neuen Blickwinkeln dargestellt. Im Kapitel 10.1 werden die ressourcenspezifischen Logi-ken mit den von Bourdieu gefundenen Metastrukturen der Habitusformen konfrontiert, um zu ergründen, ob ähnliche Muster des Habitus auch heute noch bestehen. Weiter werden die kollektiven schulischen Logiken für die Frage nach den Ursachen der Bildungsreproduktion und der Schwierigkeiten nichtprivilegierter Kinder beim Kompetenzerwerb fruchtbar ge-macht. Dies wird in zwei Schritten getan: Zuerst wird reflektiert und dargelegt, inwiefern den nichtprivilegierten Kindern aus ihrer schulischen Logik Nachteile oder Schwierigkeiten erwachsen hinsichtlich des schulischen Erfolgs oder des Lernens (Kap. 10.2.1). Analog dazu wird danach erläutert, inwiefern privilegierten Kindern aus ihrer schulischen Logik Vorteile entstehen für den schulischen Erfolg und das Lernen und inwiefern sie über güns-tige Rahmenbedingungen verfügen (Kap. 10.2.2). Im Weiteren wird aufgezeigt (Kapitel10.3), woran die nichtprivilegierten Kinder aufgrund ihrer Situation leiden und wodurch sie belastet sind.

Die empirischen Resultate und die reflexiven Ergebnisse geben Denkanstösse für die eine bessere schulische Praxis. Im Kapitel 10.4 wird ausgeführt, welche Möglichkeiten die Schule hat, nichtprivilegier der rstützen.

Es folgt das Schlusskapitel mit der Zusammenfassung und einem kurzen Ausblick(Kapitel 11).

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2 Das Problem der Abhängigkeit des schulischen Erfolgsvon der sozialen Herkunft

Ausgangspunkt dieser Studie und Stein des Anstosses ist die in der schulischen Praxis ge-machte Beobachtung, dass bei nichtprivilegierten Kindern der Kompetenzzuwachs harzig verläuft. Ihre schulischen Leistungen vermögen keineswegs mit denjenigen privilegierter Kinder zu konkurrieren.

Aus erziehungswissenschaftlichem und soziologischem Blickwinkel ist diese Feststel-lung in den Diskurs über Bildung und soziale Ungleichheit einzuordnen ein Zusammen-hang, der seit einigen Jahren wieder vermehrt ins Zentrum der wissenschaftlichen, aber auch politisch-öffentlichen Diskussion gerückt ist. Dabei steht die Tatsache im Zentrum,dass der schulische Erfolg von Kindern abhängig ist von ihrer sozioökonomischen und -kulturellen Herkunft. Dieser Umstand hat zur vorliegenden Arbeit geführt, die sich u.a. damit beschäftigt, worin der Mangel an Chancengleichheit begründet liegt.

In diesem Kapitel geht es zunächst darum, dass Ausgangsproblem näher zu beleuch-ten. Was genau mit dem Umstand des herkunftsabhängigen schulischen Erfolgs gemeint ist, wird zuerst erörtert. Im Weiteren wird begründet, weshalb und unter welchen Prämissen die bestehende Abhängigkeit der Bildungschancen von der sozioökonomischen und -kulturellen Herkunft ein störendes Problem darstellt. In einem letzten Teil des zweiten Kapitels wird gezeigt, wie die seit längerem dauernde Debatte zum Problem der Bildungs-reproduktion und der Schwierigkeiten nichtprivilegierter Kinder beim Kompetenzerwerb bisher in groben Zügen verlaufen ist.

2.1 Zwei Komponenten der herkunftsabhängigen Bildungschancen und ihre Eviden-zen: Abhängigkeit des Kompetenzerwerbs von der sozialen Herkunft und Bil-dungsreproduktion

Das Problem des Zusammenhangs zwischen sozioökonomischer und -kultureller Herkunft und schulischem Erfolg besteht, differenzierter betrachtet, aus zwei Komponenten: Zum einen hängt der Kompetenzerwerb, zum anderen das Erreichen von Bildungstiteln von der Herkunft ab. Diese beiden Komponenten werden im Folgenden näher betrachtet.

Auf der einen Seite besteht das Problem im nachhinkenden oder mangelhaften Kom-petenzerwerb von Kindern nichtprivilegierter Herkunft. Es existiert ein Zusammenhang zwischen der sozioökonomischen und -kulturellen Herkunft und dem Kompetenzerwerb18.Eine Vielzahl von Studien belegen dies: RÜESCH zeigt den Zusammenhang zwischen Lese-leistung und sozioökonomischer und -kultureller Herkunft bei DrittklässlerInnen der Deutschschweiz (vgl. Rüesch 1998: 290). MOSER/RHYN finden von der sozialen Herkunft abhängige Leistungen in Mathematik und Deutsch bei SechstklässlerInnen des Kantons Zürich (vgl. Moser/Rhyn 2000: 51, 81-86). MOSER/KELLER/TRESCH stossen auf eine hohe

18 EDELSTEIN e-

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Bedeutung der sozialen Herkunft, insbesondere der Bildungsnähe des Elternhauses, auf die Schulleistungen von DrittklässlerInnen des Kantons Zürich (vgl. Moser/Keller/Tresch2002: 13). DITTON/KRÜSKEN finden bei ZweitklässlerInnen von zwei Berliner Grundschulen Zusammenhänge zwischen den Lese- und Mathematikleistungen von und ihrer sozialen Herkunft - dem höchsten Schulabschluss in der Familie, dem beruflichen Prestige der Her-kunftsfamilie und dem Buchbestand im Haushalt (vgl. Ditton/Krüsken 2006b: 141). OS-WALD/KRAPPMANN stellen bei Dritt- und FünftklässlerInnen zweier Berliner Schulen eine Abhängigkeit der Noten von der familiären Herkunft gemessen am Schulabschluss und der Berufsausbildung von Vater und Mutter und den Büchern im Haushalt fest (vgl. Os-wald/Krappmann 2004: 487), usw.

Der Zusammenhang zwischen Herkunft und Kompetenzerwerb wurde v.a. durch die internationale PISA-Studie, welche die Leistungen von Fünfzehnjährigen untersuchte, er-neut offenbar (vgl. Baumert/Schümer 2001: 360-368, 459, 462; Coradi/Wolter 2002: 90, 97-101; Coradi/Hollenweger/Nicolet/Wolter 2003; Meier 2004: 199, 211). Er zeigte sich auch bei der IGLU-Studie im Zusammenhang mit den SchülerInnenleistungen am Ende der vierten Jahrgangsstufe (vgl. Ditton/Krüsken/Schauenberg 2005 in Anlehnung an Bos et.al. 2003, 2004: 288) und bei der TIMSS-Studie (vgl. Schütz/Wössmann 2005: 17)19.

Der Zusammenhang zwischen der Kompetenzentwicklung und der sozialen Lage20 ist aktuell häufig im Anschluss an die PISA-Studie der Ausgangspunkt einer Reihe von

Studien und Schriften, die auf die entsprechenden Zusammenhänge verweisen und sich teilweise weiterführenden Fragen wie Ursachen und Hintergründen, usw. widmen (vgl. z.B. Baeriswyl et.al. 2006: 374-375; Baumert/Watermann/Schümer 2003: 52-54; Becker/Schu-bert 2006: 253-254; Brake/Büchner 2003: 619; Büchner 2003: 14; Fölling-Albers 2005: 198-199; Geissler 2004: 371; Geissler 2005: 75-76; Georg 2005: 179; Herrmann 2006: 41-42; Kaesler 2005: 148; Maaz et.al. 2006: 320; Mack et. al. 2003; Neuenschwander et.al. 2005: 31, 226; Rolff 1997: 182; Schümer 2004: 74; Schütz/Wössmann 2005; Vester 2005: 40; Watermann/Baumert 2006: 61f.).

Der nachhinkende Kompetenzerwerb bedeutet beispielsweise um dies zu konkreti-sieren -, dass Kinder tiefer sozioökonomischer und -kultureller Lagen im Durchschnitt

19 Dieser Aspekt ist der eigentliche Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit (siehe Kap. 1.1). Da hier später der Fokus auf nichtprivilegierte Kinder in einem urbanen und multikulturellen Kontext gelegt wird (siehe Kap. 7.1.3), ist zu ergänzen, dass auch Kinder mit Migrationshintergrund teilweise gemessen an der von der Unterrichts-sprache abweichenden Muttersprache von Schwierigkeiten im Kompetenzerwerb bzw. von einem Chancen-defizit betroffen sind (vgl. Baumert/Schümer 2001: 372-379, 394-397; Coradi/Hollenweger/Nicolet/Wolter 2003: 17-18, 63; Ditton/Krüsken 2006b: 141; Geissler 2005: 88f.; Kaesler 2005: 138; Krebs 2000: 10; Moser/Rhyn 2000: 47, 64f.; Müller 2001; Rüesch 1998: 290, 297f., 316; Rüesch 1999: 11; Schümer 2004; Stocker 1999: 72; van Ackeren 2006; Wagner 2005: 37-39). Dies hängt oft mit dem tiefen sozioökonomischen Hintergrund der Familien zusammen, aber nicht nur (vgl. Geissler 2005: 92-94; Moser/Rhyn 2000: 68, 77, 91). Das Beherrschen der deutschen Sprache beispielsweise ist für den Kompetenzerwerb ein weiterer entscheidender Faktor (vgl. Bau-mert/Schümer 2001: 374; zur Frage der Erstsprache für den Erwerb der Zweitsprache und für den Schulbesuch im Einwanderungsland vgl. Rüesch 1999: 53f.), und hinsichtlich der Chancen spielen auch institutionelle Diskrimi-nierungen eine Rolle (vgl. Geissler 2005: 92-94). Weiter sind kulturelle Differenzen zum Aufnahmeland, Rück-kehrpläne der Eltern und das Einreisealter Ursachen der Schwierigkeiten im Bildungssystem (vgl. Wagner 2005: 39). Beim Überblick über die Ursachen der Bildungsungleichheit (siehe Kap. 3) wird nicht separat auf die Probleme von Kindern mit Migrationshintergrund eingegangen, da im Zentrum der vorliegenden Studie nichtprivilegierte Kinder stehen, wobei häufig ein Migrationshintergrund hinzukommt. Eine separate Darstellung der Hintergründe der Bildungsprobleme von Kindern mit Migrationshintergrund würde den Rahmen der Arbeit sprengen.20 Häufig wird die Abhängigkeit der Kompetenzentwicklung von der sozialen Herkunft auch gleichzeitig mit der herkunftsabhängigen Bildungsbeteiligung untersucht.

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weniger gut lesen können als Kinder höherer sozialer Herkunft, wobei dieser Zusammen-hang je nach Land beträchtlich variiert und in Deutschland und der Schweiz beachtliche Ausmasse annimmt (vgl. Baumert/Schümer 2001: 381-393; Baumert/Watermann/Schümer2003: 53). In der Schweiz stehen sowohl der Berufsstatus des Vaters in Zusammenhang mit der Lesekompetenz (vgl. Coradi/Wolter 2002: 97f.) als auch die Ausbildung der Eltern, wobei hier die SchülerInnen von Eltern ohne nachobligatorische Ausbildung signifikant weniger Punkte bei den Tests zur Lesekompetenz erreichen (vgl. ebd.: 101). In einem Pfadmodell, das fast einen Drittel der Lesekompetenz erklärt, wird deutlich, dass neben dem Geschlecht drei Variablen, welche die Bedingungen des Elternhauses zum Ausdruck bringen, die Lesekompetenz beeinflussen: der Index Bildungsnähe (Besitz von Kulturgü-tern, Büchern, Bildungsressourcen und das Ausmass des themenbezogenen Diskutierens der Eltern mit ihren Kindern), die zu Hause gesprochene Sprache (d.h. die Frage, ob die Unterrichtssprache mit dieser übereinstimmt oder nicht) und der Berufsstatus der Mutter bzw. des Vaters21 (vgl. Coradi/Wolter 2002: 110).

Die zweite Dimension des problematischen Zusammenhangs zwischen sozioökonomi-scher und -kultureller Herkunft und schulischem Erfolg liegt in der Reproduktion der for-malen Bildungsabschlüsse. Die Bildungsvererbung ist teilweise eine Folge des diskutierten Zusammenhangs zwischen der sozialen Herkunft und dem Kompetenzerwerb, aber nicht nur. Der Zusammenhang zwischen der Bildungsbeteiligung und den Merkmalen der sozia-len Herkunft bedeutet, dass Kinder von Eltern mit einem hohen Bildungsabschluss mit viel höherer Wahrscheinlichkeit ebenfalls einen hohen Abschluss erreichen als Kinder bildungs-ferner Familien. Jedoch hängt nicht nur das elterliche Bildungsniveau, sondern der allge-meine sozioökonomische und -kulturelle Status der Eltern mit der Höhe des Bildungsab-schlusses der Kinder zusammen: SchülerInnen tiefer sozioökonomischer und -kultureller Herkunft haben deutlich geringere Chancen, einen höheren Bildungsabschluss zu erwerbenals Kinder privilegierter Herkunft (vgl. Lamprecht/Stamm 1996: 35-41; Stecher/Dröge 1996: 333-337, 346; Stocker 1999: 80; Tillmann 1997). Sie sind in höheren Bildungsgän-gen (z.B. Gymnasium, Universität) unterrepräsentiert und in tiefen Bildungsgängen (z.B. in der Sekundarschule B und C22) und hinsichtlich diverser Sondermassnahmen (z.B. Repeti-tion, Klein- oder Sonderklassen) überrepräsentiert23 (vgl. Baur 1969: 196f.; Hurrelmann 1985: 57f.; Isler 1995: 39; Lamprecht/Stamm 1996: 17; Rolff 1997: 16, 188). Es ist eben-falls die PISA-Studie, welche erneut auf die Problematik der Bildungsvererbung aufmerk-sam machte (vgl. Baumert/Schümer 2001: 355-360). Die Vielzahl von Beiträgen, welche auf die Problematik verweisen und sie aufnehmen teilweise auch im Anschluss an die PISA-Studie zeigt, wie stark diese ins Bewusstsein gerückt ist (vgl. Baumert/Water-mann/Schümer 2003: 50-52; Büchner 2003: 15-17; Fölling-Albers 2005: 198-199; Geissler 2004: 370; Georg 2005; Herrmann 2006: 41-42; Kaesler 2005: 147; Krais 2004: 115; Lamprecht/Stamm 1997; Lange 2005: 87, 92f.; Maaz et.al. 2006: 301, 317, 320; Mo-ser/Tresch 2003: 42-43; Neuenschwander et.al. 2005: 226; Oswald/Krappmann 2004: 480;Schümer 2004: 74; Stamm/Lamprecht 2005: 29; von Below 2002: 181, 184, 186; Wagner 2005: 40; usw.).

21 Die Ausbildung des Vaters bzw. der Mutter wirkt sich indirekt über den Index Bildungsnähe und über den Berufsstatus auf die Lesekompetenz aus.22 In Deutschland in der Hauptschule.23 In Anlehnung an Edelstein könnte die daraus folgende Bildungsarmut der Nichtprivilegierten oder Armen auch

i

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Die Bildungsreproduktion ist nicht nur für die Schweiz, sondern für viele westliche Länder erwiesen und stellt ein bereits lang andauerndes Problem dar (vgl. Rolff 1997: 15).Auch die Bildungsexpansion hat daran nicht viel verändern können: Zwar sind die Un-gleichheiten der Bildungsbeteiligung zwischen den Geschlechtern, den Konfessionen und zwischen Stadt und Land grösstenteils abgebaut worden, hingegen sind die Abstände zwi-schen sozioökonomischen und -kulturellen Teilgruppen bei der Bildungsbeteiligung zum grossen Teil geblieben. Dies zeigen BLOSSFELD/SHAVIT in einer Studie zur Veränderung der Bildungsungleichheit in dreizehn industrialisierten Ländern (vgl. Blossfeld/Shavit 1993: 47f.) und LAMPRECHT/STAMM für die Schweiz (vgl. Lamprecht/Stamm 1996: 7-8, 21, 49f.;1997; Stamm/Lamprecht 2005: 34, 67). Darauf verweist auch eine Vielzahl von weiteren Beiträgen24 (vgl. Barnhouse Walters 2000: 246; Baumert/Watermann/Schümer 2003: 47-48; Bornschier 1998: 250; Böttcher 2002: 38; Brake/Büchner 2003: 619; Büchner 2003: 14, 16; Ditton/Krüsken/Schauenberg 2005: 285-286; Geissler 2004: 368f.; Geissler 2005: 74f.; Grundmann et.al. 2003: 34-35; Palentien 2005: 159, 161; Rolff 1997: 19-24; Stecher 1999: 337; Stecher/Dröge 1996: 331). Die Chancen, einen höheren Bildungstitel zu erreichen, sind zwar insgesamt gestiegen, jedoch haben alle sozialen Gruppen von diesen Chancen profitiert, so dass der relative Vorsprung der oberen sozioökonomischen und -kulturellen Gruppen geblieben ist r - und Beschäftigungssystem werden auf höherem Ni1996: 20, 52; vgl. auch Büchner 2003: 6; Hurrelmann 1985: 61-63; Wagner 200525: 138).

24 Entgegen der oft geteilten Ansicht, die Bildungsungleichheit habe sich mit der Bildungsexpansion nicht sub-stanziell verändert, zeigen MÜLLER/HAUN (vgl. Müller/Haun 1994) in einer umfassenden Untersuchung, dass die Ungleichheit aufgrund der sozialen Herkunft deutlich abgenommen hat. Der Autor und die Autorin erklären ihren vielen Untersuchungen entgegenstehenden Befund durch die Grösse ihrer Stichprobe und dadurch, dass sie

sich auf einen weit zurückliegenden Zeitraum beziehen, also einen langfristigen Vergleich anstellen. Nach Mül-ler/Haun hat die Bildungsungleichheit nach der sozialen Herkunft verglichen mit der Zwischenkriegszeit und den ersten Nachkriegszeitjahren deutlich abgenommen. Ähnliche Ergebnisse wie Müller/Haun präsentieren HENZ/MAAS (vgl. Henz/Maas 1995), die ebenfalls einen Abbau der Bildungsungleichheit nach sozialer Herkunft konstatieren. Nun mag es zutreffen, dass sich in einer weiteren zeitlichen Perspektive und mit einer genug grossen Stichprobe die Ungleichheiten nach sozialer Herkunft reduziert haben. Dennoch ist wie aktuelle Studien untrüg-lich zeigen , die Abhängigkeit des Bildungserfolges von der sozioökonomischen Herkunft nach wie vor hoch. Dieser Fakt bleibt bestehen, wie PISA zeigte, auch wenn die Abhängigkeit früher noch viel höher gewesen ist;

iner hohen Stabilität der Grundstruktur sozialer

auch nicht: Sie schreiben ebenfalls, dass die Bildungsbeteiligung nach wie vor durch die ökonomischen, kulturel-len und sozialen Voraussetzungen der familiären Umwelt geprägt ist (vgl. Müller/Haun 1994: 32). MAAZ ET.AL.fassen die Debatte zusammen, indem sie zwei Phasen in den 1990er-Jahren unterscheiden: Während zu Beginn der 90er-Jahre in vielen Studien die Persistenz herkunftsabhängiger Bildungserfolge nachgewiesen wurde, machten Studien ab Mitte der 90er-Jahre darauf aufmerksam, dass die soziale Selektivität sich zwar verändert, aber die Ungleichheiten nicht verschwunden sind (vgl. Maaz et.al. 2006: 316). Sowohl bei Müller/Haun als auch bei Maaz et.al. wird deutlich, dass zwar die Ungleichheiten abgenommen haben mögen, jedoch nach wie vor bestehen. Demzufolge macht die Frage nach der Bedeutung und Bedingtheit dieser herkunftsspezifischen Ungleichheiten nach wie vor Sinn. 25 WAGNER r-

m-men heute vermehrt aus sozial benachteiligten Familien als vor rund 50 Jahren, weil die Öffnung höherer Bil-dungsgänge zu einer Abwanderung von relativ gesehen besser mit Ressourcen versehenen Jugendlichen führte

- eute die ausbildungslosen Jugendlichen eine Problemgruppe ein neues Phänomen angesichts der Bildungsexpansion (vgl. Wagner 2005: 137, 218).

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Auch die formale Bildungsvererbung soll anhand von Befunden für die Schweiz kon-kretisiert werden: TILLMANN zeigt beispielsweise, dass im Zusammenhang mit dem generel-len Ansteigen des Bildungsniveaus der Bevölkerung Kinder von Eltern ohne nachobligato-rische Ausbildung ihre Ausbildung zwar mehrheitlich auf der Sekundarstufe II abschliessen können und somit im Vergleich zu ihren Eltern aufwärts mobil sind, jedoch nach wie vor unter den Personen ohne nachobligatorische Ausbildung deutlich übervertreten sind (28%, verglichen mit einem Gesamtdurchschnitt von 13%). Hingegen sind sie auf der Tertiärstufe, insbesondere im universitären Zweig, deutlich untervertreten (3,5%, verglichen mit einem Gesamtdurchschnitt von 10%). Umgekehrt finden sich die Kinder von Eltern mit einer Tertiärausbildung am häufigsten selber auch in den höheren Ausbildungsgängen wieder. So besuchen die Hälfte der Kinder von HochschulabsolventInnen höhere Ausbildungen; in 36 Prozent der Fälle bilden sie sich auf der universitären Tertiärstufe aus und sind hier deutlich übervertreten (36%, verglichen mit einem Gesamtdurchschnitt von 10%Bevölkerung generell gesehen immer besser ausgebildet ist, orientiert sich der Bildungsver-

lmann 1997: 13). Die Bildungsreproduktion zeigt sich aber auch, wenn die weiteren institutionell gege-

benen Möglichkeiten, später eine Korrektur des eingeschlagenen Bildungswegs vorzuneh-men, mit einbezogen werden26. Dies tun HILLMERT/JACOB anhand von westdeutschen Da-ten. Sie stellen fest, dass sich die soziale Selektivität der erreichten Bildungsabschlüsse mit jeder weiteren Chance bzw. während des weiteren Lebensverlaufs erhöht und nicht etwa

nialer Bildungsunter-

HENZ gelangt in ihrer Studie, in welcher sie ebenfalls Daten der westdeutschen Lebensverlaufsstudie untersucht, zu ähnlichen Befunden: Die Teilnahme an einer zweiten Bildungsphase27 hängt ganz besonders bei Personen mit ei-nem Hauptschulabschluss von der sozialen Herkunft ab (vgl. Henz 1997: 238).

Die sozioökonomische und -kulturelle Herkunft wirkt sich jedoch nicht nur auf den Erwerb von Bildungstiteln aus, sondern auch auf die Verwertungsmöglichkeiten von Bil-dungstiteln für die Berufslaufbahn. Beispielsweise können die wirtschaftlichen Karriereer-folge von Promovierten betrachtet werden, wie SCHLÜTER dies im Anschluss an eine Studie von Hartmann tut. Diese gestalten sich je nach sozialer Herkunft unterschiedlich: Kinder des gehobenen Bürgertums und des Grossbürgertums sind erfolgreicher, was die Umset-zung ihres Bildungsabschlusses anbelangt. Sie können eher eine Führungsposition besetzen und den Doktortitel eher in Geld und Einfluss umsetzen. Bei ihren Karrieren sind sie aus-serdem schneller als die Promovierten der Arbeiterklasse und der Mittelschicht (vgl. Schlü-ter 2004 in Anlehnung an Hartmann 2002: 138, 140, auch 146; auf diesen Zusammenhang verweisen auch Bornschier 1998: 249; Büchner 2003: 16).

26 Sei es, dass während der Sekundarstufe I der Schultyp gewechselt wird, dass nach dem ersten Schulabschluss weitere Schulen besucht werden, um einen höheren Abschluss zu erwerben, oder dass später, nach dem Verlassen des Schulsystems, ein höherer Schulabschluss erworben wird.27 Mit der zweiten Bildungsphase ist hier der Erwerb allgemein bildender Schulabschlüsse an Abendschulen und Kollegs nach Beginn einer beruflichen Ausbildung oder Erwerbstätigkeit gemeint (vgl. Henz 1997: 224).

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2.2 Warum die Abhängigkeit der Bildungschancen von der sozialen Herkunft ein Problem darstellt

Im Folgenden wird aufgezeigt, weshalb die Herkunftsabhängigkeit des schulischen Erfolgs das heisst die Abhängigkeit des Kompetenzerwerbs von der sozioökonomischen und -

kulturellen Herkunft und die Bildungsvererbung - für eine Gesellschaft und ihre Individuen problematisch und störend ist. In einem zweiten Schritt wird dargelegt, dass und weshalb das biologische Argument, welches besagt, dass Kinder tiefer sozialer Herkunft weniger begabt und deshalb weniger erfolgreich seien, hier verworfen wird. Damit wird die Feststel-lung, es handle sich bei der Herkunftsabhängigkeit des Bildungserwerbs um ein Problem, aufrecht erhalten.

2.2.1 Bildung als Schlüsselgrösse für Lebenschancen und wirtschaftlichen Wohlstand und die Verpflichtung der Schweiz, sich um Chancengleichheit zu bemühen

Es sind viele verschiedene Gründe, weshalb die Herkunftsabhängigkeit von schulischem Erfolg als Problem betrachtet werden muss.

Ein erster Grund liegt darin, dass Bildung insgesamt für die Lebensqualität und -chancen von Individuen eine entscheidende Rolle spielt. Die generelle und in den letzten Jahrzehnten zunehmende Wichtigkeit von Bildung in Form von Bildungsabschlüssen, aber auch von erworbenen oder zu erwerbenden Kompetenzen, ist kaum mehr umstritten und hat zur Folge, dass nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in den Medien bald tagtäglich von Bildung die Rede ist. In der Presse werden Testresultate von internationalen Kompe-tenzerhebungen diskutiert, Disziplinprobleme in Schulen, Fragen zur Chancengleichheit, usw. Die steigende Bedeutung von Bildung kommt aber vor allem in der mächtigen Expan-sion der Bildungsinstitutionen und -angebote zum Ausdruck: Nicht nur die Volksschulen, die die Grundausrüstung an Bildung vermitteln, haben sich zeitlich immer mehr ausge-dehnt, sondern auch die weiteren schulischen Ausbildungen und die stetige Weiterbildung (bzw. das lebenslange Lernen) haben an Bedeutung gewonnen (vgl. Barnhouse Walters 2000; Henz 1997: 228; Lamprecht/Stamm 1996: 7, 19, 23f.; Stamm/Lamprecht 2005: 17f., 67; Stocker 1999: 14, 40-43; Vester 2005: 43; darauf verweisen auch Blossfeld/Shavit 1993: 20, 47; Palentien 2005: 157-159; Schlüter 2004: 136; Stecher/Dröge 1996: 331; von Below 2002: 63). Neben den Kindern und Jugendlichen, die sich hauptsächlich mit ihrer Bildung und Ausbildung beschäftigen (müssen), sind dementsprechend auch die Erwachse-nen mehr und mehr mit fortdauernden Aus- und Weiterbildungsprozessen konfrontiert (vgl. Barz/Tippelt 2003: 329; Bornschier 1998: 252; Büchter 2002: 348; Lischer 2001: 5)28.

Die hohe Bedeutung von Bildung für Individuen liegt in verschiedenen Faktoren be-gründet. Bildung ist beispielsweise ausschlaggebend für

die beruflichen Aussichten. STAMM/LAMPRECHT zeigen beispielsweise den engen Zu-sammenhang zwischen dem Bildungsstand und dem Berufsprestige bzw. dem Berufs-prestige und der sozioprofessionellen Kategorie für die Schweiz (vgl. Stamm/Lamp-

28 Zwar verlief die Bildungsexpansion in der Schweiz verglichen mit anderen hoch entwickelten Ländern v.a. seit den 1970er-Jahren relativ moderat (vgl. Lamprecht/Stamm 1996: 25), aber auch für die Schweiz ist ein deutlicher Anstieg bezüglich Bildungsnachfrage und -angebot zu konstatieren.

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recht 2005: 61-62, 65) und schliessen aufgrund ihrer Untersuchungen, dass, wer eine höhere Bildung abgeschlossen hat, nicht nur den Eintritt ins Erwerbsleben eher schafft, sondern sich auch häufiger in anspruchsvollen und angesehenen Berufen wieder findet (vgl. ebd.: 68). STOCKER belegt, dass in allen OECD-Ländern das mittlere Jahresein-kommen einer Person in engem Zusammenhang mit der höchsten abgeschlossenen Ausbildung steht (vgl. Stocker 1999: 108). Bildung ist entscheidend für das Einkom-men und die berufliche Stellung, oder, je nachdem ausgedrückt, die Chancen auf dem Arbeitsmarkt, die Verminderung von Armutsrisiken, den sozialen Aufstieg bzw. Sta-tuserhalt (vgl. Baumert/Schümer 2001: 325; Hillmert 2005: 179; Stamm/Lamprecht 2005: 10; Lange 2005: 89; Moser/Tresch 2003: 13; Müller/Shavit 1998: z.B. 524; Pa-lentien 2005: 160; Rolff 1997: 12f., 239; Solga 2004: 114; von Below 2002: 57, 58).In der modernen Gesellschaft ist Bildung im Zuge der Bildungsexpansion eine not-wendige, und doch nicht hinreichende Bedingung für die beruflichen Chancen, den Schutz gegen sozialen Abstieg oder das Herausfallen aus der Gesellschaft geworden (vgl. Bornschier 1998: 249; Büchner 2003: 9; Grundmann/Groh-Samberg/Bittling-mayer/Bauer 2003: 35; Lamprecht/Stamm 1996: 12, 20, 21; Lamprecht Stamm 1997;Palentien 2005: 161, 163; Stecher/Dröge 1996: 331; bereits Hurrelmann 1985: 61; Oe-vermann 1972: 298; Rolff 1997: 13, 239).die allgemeine Lebensführung und die gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten.

befriedigende Lebensführung in per-sönli (Büchner 2003: 9) und für die Teilhabe am kulturellen und sozialen Leben (vgl. Böttcher 2002: 39; Büchner 2003: 20; Lischer 2001: 5; Palentien 2005: 160; Stocker, 1999: 14). Bildung vermittelt Kompetenzen im Umgang mit Unsicherheiten (vgl. Hillmert 2005: 179). Der Bildungsstand hängt auch mit der körperlichen und psychischen Gesundheit zusammen (vgl. von Below 2002: 59). Sogar für die Heiratschancen, das Scheidungsrisiko und das Risiko von sehr frü-hen Geburten ist der Bildungsstand relevant, weil sich beispielsweise berufliche Per-spektivelosigkeit in verschiedener Hinsicht negativ auswirkt (vgl. Solga 2004: 114;von Below 2002: 59).die persönliche Weiterentwicklung und Sinnsuche im Leben (vgl. Lischer 2001: 5).

Bildung ist also sowohl für die berufliche als auch für die private Lebensgestaltung zentral. Wird diese Annahme geteilt, ist es problematisch, dass viele Kinder nichtprivilegierter Herkunft schulisch häufig wenig erfolgreich sind und teilweise grosse Mühe haben, grund-legende Kompetenzen zu erwerben. Sie haben dann nämlich in den verschiedensten Le-bensbereichen und, was besonders einschneidend ist, beruflich - schlechte Voraussetzun-gen; ihre Möglichkeiten sind gering, sich zu entfalten und in das gesellschaftliche Zusam-menleben einzubringen. Sie verfügen später über eine weniger attraktive Basis für die Ges-taltung ihres Lebens als Kinder privilegierter Herkunft. Dies ist stossend.

Zu ergänzen ist, dass trotz des Ausbaus von Aus- und Weiterbildungsangeboten die öf-fentliche und obligatorische Volksschule die entscheidende Grundlage für jegliche weiteren Bildungsanstrengungen bildet. Denn in der Volksschule werden die ersten Erfahrungen mit Anforderungen öffentlicher Bildungsinstitutionen bei der Aneignung von Bildung gemacht.Auch zeigt es sich, dass das schulische Qualifikationsniveau über die Aufnahme und Dauer beruflicher Ausbildung entscheidet (vgl. Wager 2005: 36). Die Grundausrüstung an Bil-dung ist ebenfalls entscheidend im Hinblick auf die Bereitschaft und das Interesse für Wei-