Rancière_Namen der Geschichte_Kap 23

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J acques Ranciere DIE NAMEN DER GESCHICHTE Versuch einer Poetik des Wissens Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer S. Fischer

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J acques Ranciere DIE NAMEN

DER GESCHICHTE Versuch einer Poetik

des Wissens

Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer

S. Fischer

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Die französische Originalausgabe mit dem Titel Les 110 111 5 de I'''istoire . Essai de poet iqlle dll sal/o ir

erschien 1992 bei Editions du Seuil, © 1992 Editions du Seuil

Deutsche Ausgabe: © 1994 S. Fi scher Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Alle Rechte vorbehalten Veröffentlicht mit Unterstiitzu ng der

Fondation Maison des Scienes de I' Homme, Paris, und des französischen Kulturministeriums.

Umschlagges taltung : Raphie Etga r Satz : Photosatz Reinhard Amann, Aichstetten

Druck & Bindung: O ffi zin Andersen Nexö, Leipzig Printed in Gennany 1994

ISBN 3-10-o62906-x

Gedl'll ckt allf c"lor- II l1 d sii ll refreiem Papier

44/ 13350

INHALT

Eine uralte Schlacht 7

Der tote König 21

Der Exzeß der Wörter 41

Der Gründungsbericht 67

Der Ort des Wortes 9}

Der Raum des Buchs 11}

Eine häretische Historie ? 1 } 1

Anmerkungen 151

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DER TOTE KÖNIG

Sehen wir uns also einen besonderen Bericht an, den wir dem ex-emplarischen Buch der »neuen Geschichte«, Fernand Braudels Das Mitte/meer ul1d die mediterral1e Welt il1 der Epoche Phi/ipps lI. , entnehmen. Im letzten Kapitel, vor dem Schlußwort, erzählt uns Braudei ein Ereignis, den Tod Philipps II. Er erzählt es uns, ge-nauer, er sagt uns, warum er es nicht in der normalen Ordnung des Berichts erzählt hat: »In dieser Schilderung der Ereignisse haben wir es versäumt, an seinem Platz und an seiner Stelle ein herausra-gendes Ereignis zu nennen, das die Meere übersprang und in der ganzen Welt bekannt wurde: den Tod König Philipps 11. am 13. September 1598.«1

Er erzählt uns also etwas, das er nicht an der ihm in der Ordnung des Ereignisses und der Erzählung zukommenden Stelle erzählt hat : eine Szene, die den Bericht hätte abschließen müssen, es aber nicht getan hat. Und wir verstehen leicht den Grund dafür. Die tausendundetlichen Seiten davor haben es zur Genüge erhellt: Der Abschluß hat nicht stattgefunden . Dieses Gerücht, das »die Meere übersprang und in der ganzen Welt bekannt wurde«, verweist auf kein Ereignis der Geschichte: der Geschichte der Schaukelbewe-gung, die den Gravitationspunkt der welt vom Mittelmeer zum Atlantik verlagerte.

Ist der Tod des Königs von Spanien und Portugal kein Ereignis in

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der Geschichte, die der Historiker darstellt, so scheinen sich ihm zwei Lösungen anzubieten. Die erste wäre, es nicht zu erwähnen, die zweite, es nur deshalb zu erwähnen, um zu erklären, daß kein Anlaß besteht, etwas zu erzählen, das auf dem neuen Terrain der Geschichtswissenschaft nicht mehr den Wert eines signifikanten Ereignisses hat.

Braudei wählt jedoch eine dritte Lösung, die, wie es scheint, am wenigsten logische - sowohl im Hinblick auf die Wissenschaft wie auf die Erzählung: er erzählt dieses Ereignis, das ein Nicht-Ereig-nis ist, außerhalb des Ortes und der Stelle, die ihm hätten zukom-men müssen. Zweifellos ist die Logik dieser Unlogik klar. Das Ereignis transferieren, es ans Ende setzen, an den Rand des Zwi-schenraums, der das Buch von seinem Schlußwort trennt, bedeu-tet, es in seine eigene Metapher verwandeln. Der verlagerte Tod Philipps II. metaphorisiert den Tod einer bestimmten Geschichte: der Geschichte der Ereignisse und der Könige. Das theoretische Ereignis, mit dem das Buch schließt, lautet, daß der Tod des Königs kein Ereignis mehr ist. Der Tod des Königs bedeutet, daß die Kö-nige als zentrale Gestalten und Mächte der Geschichte tot sind.

Dieses Ereignis ließe sich erklären . Der Historiker beschließt, es zu erzählen, den Tod eines Königs als den Tod der königlichen Figur der Geschichte zu erzählen . Das Prinzip des Erzählens wird es also sein, eine Erzählung durch eine andere zu ersetzen, dem Subjekt Philipp H. eine andere Reihe von Ereignissen als die seine zuzuord-nen . Von dem »neuen« Historiker erzählt, gibt sich der Tod Phi-lipps H. nicht als biologisches Schicksal, sondern als Eintritt in die Sprachlosigkeit, als Verstummen zu erkennen.

Von einem Absatz zum nächsten führt uns die Verschiebung des Berichts nämlich vom Zeremoniell der letzten königlichen Tage zum Porträt des Königs in seiner Majestät zurück. Der tote König, mit dem die Erzählung enden wird, ist nicht der König auf seinem

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Totenbett . Es ist ein König, der auf seinem Thron oder an seinem Schreibtisch sitzt. Dort wird er metaphorisch getötet, in der Über-zeugung, daß er nicht spricht, nichts zu sagen hat. Er ist tot wie der Buchstabe, stumm wie das Bild, dessen einfältiger Feierlichkeit platons Phaidros für eine Ära, die noch immer andauert, die Kraft der lebendigen Rede entgegengesetzt hat.

Hier also das Porträt des repräsentierenden Königs: »Wir Histo-riker haben einen schlechten Zugang zu ihm: wie seine Botschaf-ter empfängt er uns mit erlesener Höflichkeit, hört uns zu, antwor-tet jedoch mit leiser, oft unverständlicher Stimme und sagt uns nie etwas über sich selbst. «2 Ein stummer König also oder ein Papier-könig. Der Historiker zeigt ihn uns nun an seinem Arbeitstisch, wo er Akten liest und sie mit Notizen versieht mit seiner flüchti-gen Handschrift, als gute Platoniker könnten wir sagen : mit seiner stummen Handschrift. Was er derart annotiert, ist ohne Zweifel das Material der alten Geschichte, Depeschen über die laufenden Ereignisse und die Stimmungen des Königs. Man mag in diesem Porträt des Königs, wenn wir den Blickwinkel verändern - wie bei jenen Porträts auf Lamellen, die sich je nach dem Standort des Be-obachters verwandeln -, ebensogut das Porträt des alten Akademi-kers, des berühmten Seignobos, oder irgendeines anderen Prügel-knaben der »neuen Geschichte« vermuten: »Er ist kein Mann der großen Ideen [ ... ]. Er sieht seine Aufgabe als endlose Aneinander-reihung von Details. Keine seiner Randnotizen, die nicht ein präzi-ses kleines Faktum wäre, ein Befehl, eine Bemerkung, ja sogar die Korrektur eines orthographischen oder geographischen Fehlers. Nie fließen allgemeine Ideen oder große Pläne aus seiner Feder. Ich glaube nicht, daß ihm je das Wort Mittelmeer mit dem Inhalt in den Sinn gekommen ist, den wir ihm geben, oder daß es unsere gewohnten Bilder von Licht und blauem Wasser heraufbeschwo-ren hat. «3

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Der Tod des Königs ist also die Verabschiedung einer Person, in der man je nach Belieben den König oder seinen Historiographen erkennen mag: einen Literaten oder einen Buchhalter, einen Stummen, dessen Stummheit sich vornehmlich darin bekundet, daß er nicht weiß, was das Meer bedeutet.

Wir könnten diese Szene als Metapher einer kopernikanischen Wende der Historie lesen: einer Verlagerung der Geschichte der Könige auf die des Meeres, wobei wir unter Geschichte die Zivilisa-tionsräume, lang andauernde Phasen im Leben der Massen sowie Dynamiken der ökonomischen Entwicklung verstehen. Doch be-vor wir wissen können, was eine Metapher bedeutet, müssen wir zunächst bestimmen, was ihre wörtliche und was ihre übertragene Bedeutung ist. Hier nun beginnt die Schwierigkeit, und hier läßt uns die Besonderheit des Texts aufmerken: Was an dieser Beschrei-bung ist real und was symbolisch? Welche Ereignisse geschehen und wem? Wenn der König mit leiser Stimme spricht, so mag die-ses Merkmal die Tatsache symbolisieren, daß die Rede der Könige uns nicht viel über die Geschichte der Welt mitzuteilen hat. Aber sprach Philipp 11. mit leiser Stimme? Ist das eine Eigentümlich-keit, deren Kenntnis wir dem Zeugnis des Chronisten und der Bot-schafter verdanken? Oder den geschlossenen Lippen, die Tizian ihm verliehen hat? Oder gar der Baßstimme, die Verdi ihm gab, als er Schiller das Porträt eines lebendig in seinem Escorial einge-mauerten Königs entlieh? Der Text des Historikers erlaubt uns nicht, darüber zu befinden. Auch verrät er nicht, woran sich die Flüchtigkeit der Handschrift des Herrschers erkennen läßt. Noch weniger, was zu der Vermutung veranlaßt, daß für den König das Mittelmeer weder Sonne noch blaues Wasser heraufbeschwor. Je-der der individuellen Züge, die hier mit symbolischem Wert be-setzt sind, kann ebensogut das Kennzeichen einer vom »neuen « Historiker in der Absicht erdachten Allegorie sein, sich von der

-alten Geschichtsschreibung zu entfernen. Darin ist der Text unent-scheidbar. Der Historiker gibt uns nicht die Möglichkeit, den Sta-tus seiner Behauptungen zu definieren . Wenn er die Distanz an-zeigte, die das Zitieren von Quellen zwischen dem Historiker und seinem Gegenstand schafft, würde er die Wirkung des Textes, die gänzlich von der Überwindung dieser Distanz abhängt, zunichte machen. In der Tat ist die Stimme des Gelehrten, der die Bilanz einer Herrschaft sowie die Bilanz der Geschichte der Könige zieht, gleichzeitig die Stimme eines Gesprächspartners des Herrschers, der durch eine schwindelerregende Ambiguität in den Kreis seiner Vertrauten einbezogen ist: »Wir Historiker haben einen schlech-ten Zugang zu ihm: wie seine Botschafter empfängt er uns . .. « Gewiß verstehen wir, daß der Historiker mit dem wörtlichen und dem übertragenen Sinn von »Zugang haben « spielt. Kein Leser wird sich zu dem Gedanken versteigen, der Empfang sei real und Fernand Braudel sei Philipp 11. tatsächlich begegnet. Allerdings wird er sich fragen, was diese Anwesenheit des Historikers in dem Bild zu bedeuten hat, in derselben Weise wie die der Botschafter, der Dokumentenlieferanten der alten Historie. Was also drückt seine Beharrlichkeit aus, sich in der Szene darzustellen, den König befragend, seinen Schreibtisch umkreisend, sich über den Schrei-benden beugend und sogar, an anderen Stellen, sich ungeniert in den Sessel und vor die Papiere des Herrschers setzend?

Wird man sagen, es handele sich um eine Stilfigur ? Oder um den Atavismus des Historikers, der auch die entschlossenen Bilder-stürmer dazu verleitet, sobald ein König in Reichweite ihrer Feder gerät, Porträts, Szenen und moralistische Miniaturen in der Art Saint-Simons zu entwerfen? Aber es fragt sich, was Stil hier hei-ßen soll. Und die Berufung auf den Memoirenschreiber signali-siert genau den Unterschied. Die Chronik des Vertrauten der Kö-nige wurde in der Vergangenheit geschrieben; die überraschende

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Anwesenheit des Historikers im Arbeitszimm:er des Königs dage-gen betont die Souveränität des Präsens in der Erzählung der »neuen Geschichte«.

Die wissenschaftliche Revolution der Historie äußert sich in einer Revolution im Tempussystem der Erzählung. Alles in allem ist das wenig kommentiert worden. Paul Ric(l!ur bemühte sich nachzuweisen, daß Das Mitte/meer noch einer narrativen Fabel unterstand. Aber er scheint diesen Nachweis von der Frage nach dem grammatikalischen Gebrauch der Tempora zu trennen. 4 Wir erinnern uns an Benvenistes Analyse der Tempora der Rede und der Tempora der Erzählung. Wir wissen, wie er in einem klassisch gewordenen Text das System der Rede und das System der Erzäh-lung nach zwei grundlegenden Kriterien voneinander unter-schied: nach dem Gebrauch der Tempora und dem der Personen . Durch das persönliche Eingreifen eines Sprechenden gekennzeich-net, der denjenigen, zu dem er spricht, überzeugen will, gebraucht die Rede in freier Weise alle persönlichen Formen des Verbs, im Ge-gensatz zur Erzählung, deren bevorzugte Person, die dritte, in der Tat die Abwesenheit einer Person bekräftigt. Außer dem Aorist ge-braucht sie auch alle Verbtempora, hauptsächlich jedoch das Prä-sens, das Perfekt und das Futur, die sich auf den Augenblick der Rede stützen. Die historische Aussageweise dagegen organisiert sich um den Aorist, das Imperfekt und das Plusquamperfekt unter Ausschluß des Präsens, des Perfekt und des Futur. Die zeitliche Di-stanz und die Neutralisierung der Person verleihen dem Bericht seine unbewußte Objektivität, der das affirmative Präsens der Rede entgegensteht, ihre Kraft der Selbstbestätigung. 5 Diesem Gegensatz zufolge erscheint die gelehrte Historie als ein Verknüp-fungsexperiment - die Erzählung wird von der Rede umrahmt, die sie kommentiert und erklärt.

Die Arbeit der »neuen Geschichte« besteht nun freilich darin,

das Spiel dieses Gegensatzes durcheinanderzubringen, eine Erzäh-lung im System der Rede zu verfassen. Sogar im »ereignishaften « Teil des Mitte/me er-Buches konkurrieren die Tempora der Rede (das Präsens und das Futur) stark mit den Tempora der Erzählung. Anderswo setzen sie sich durch und verleihen der »Objektivität« der Erzählung die Kraft der Gewißheit, die ihr fehlte, um »mehr als eine Geschichte« zu sein. Das plötzliche Ereignis wird wie die Tatsache der »langen Dauer« im Präsens ausgedrückt, die Bezie-hung einer vorhergehenden Handlung zu einer nachfolgenden Handlung durch das Futur der zweiten.

Diese Neuorganisation der Erzählung läßt sich nicht auf einen »stilistischen Kunstgriff« zurückführen, der für Benveniste das »historische Präsens der Grammatiken « ist . Es handelt sich nicht um eine rhetorische Wendung, sondern um eine Poetik des Wis-sens - für den historischen Satz um die Erfindung einer neuen Wahrheitssphäre, hervorgebracht durch die Kombination der Ob-jektivität der Erzählung mit der Gewißheit der Rede. Es geht nicht mehr darum, erzählte Ereignisse in das Raster einer diskursiven Erklärung zu bannen . Indem man die Erzählung ins Präsens setzt, bewirkt man, daß ihre Mitteilungskraft der der Rede gleich wird. Das Ereignis und seine Erklärung, das Gesetz und seine Veran-schaulichung werden in ein und demselben System des Präsens dargelegt, wie es folgende Stelle aus Civilisation materielle et capi-talisme zeigt, die den regelmäßigen Verlauf der Seuchen in der »langen Dauer« anhand eines punktuellen Beispiels expliziert: » Eine weitere Regel ohne Ausnahme: die Seuchen springen schlag-artig von einer Menschengruppe auf die andere über. Alonso Mon-tecucchi, den der Großherzog von Toskana nach England schickt, wird über Bologna reisen statt über Calais, in das sich soeben die Pest eingeschlichen hat . «6 Das Tempus der Regel ist mit dem Tem-pus des Ereignisses identisch . Und diese Identität geht mit einer

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anderen einher: der Identität von wörtlichem und übertragenem Sinn - der Botschafter, der reist, und die Seuche, die überspringt, haben dieselbe Existenzmodalität. Die »neue Geschichte« will den Vorrang der Dinge vor den Wörtern gewährleisten und die Mög-lichkeiten des Tempus eingrenzen. Aber die Unterscheidung zwi-schen dem Gewicht der Dinge und der Spezifizität der Tempora kann nur auf der Grundlage eines poetischen Prinzips der Unun-terscheidbarkeit funktionieren. Die wahre Rede über den Verlauf der Seuchen und der fiktive Bericht von der Begegnung zwischen dem König und dem Historiker unterstehen demselben System und derselben Ontologie. Der wörtliche Sinn und der übertragene Sinn sind ununterscheidbar, und die Gegenwart, in der der König den Historiker empfängt, entspricht der vergangenen Zukunft der Reise des Botschafters .

Die Besonderheiten der Erzählung vom Tod des Königs scheinen sich nun im Rahmen dieser linguistischen Neuorganisation erklä-ren zu lassen. Der Tod des Königs verbildlicht einen doppelten Prozeß. Er zeigt an, daß das System der Erzählung, Merkmal der »alten Geschichte«, vom System der Rede aufgesogen wurde, wodurch sie eine Wissenschaft werden kann; aber auch, daß die Kategorien der Rede zu einer Erzählung geordnet wurden, da an-dernfalls die neue Wissenschaft keine Historie mehr wäre. Die Erzählung-ais-Allegorie, der Bericht des Ununterscheidbaren, vollzieht diese Vertauschung der Kategorien der Rede und der Ka-tegorien der Erzählung, die es ermöglicht, daß die »neue Ge-schichte« über die Tötung der königlichen Chronik geschrieben wird . Und die sonderbare Gegenüberstellung des gegenwärtigen Historikers und des toten Königs könnte sehr wohl die Umwälzung des Systems der Pronomen verbildlichen, die der Umwälzung des Systems der Tempora korrespondiert. Um ein wir, das das wissen-schaftliche Kollektiv der Historiker der königlichen Majestät ent-

lehnt, tauschen das distanzierte er der Erzählung und das gegen-wärtige ich, das die Rede hält, ihre Eigenschaften aus.

Doch der König ist natürlich mehr als eine pronominale Funk-tion, mehr als die dritte Person, die mit den vergangenen Zeiten des Berichts übereinstimmt. Der König ist, pa r excellence, auch derjenige, der berechtigt ist, in der ersten Person zu sprechen, der-jenige, der im Pluralis majestatisdie Besonderheit seines Worts mit einer Legitimitätsinstanz identifiziert, die es übersteigt. Er ist par excellence ein Eigenname und eine Signatur, die den Zusam-menhalt der sprechenden Wesen, der Legitimitätsregeln für das Wort und für den Gebrauch der Benennungen organisieren. Die Verbildlichung des Königs, seines Worts und seiner Schrift ist der Punkt, an dem sich die Poetik der Erzählung-als-Wissen mit einer Politik verbindet, an dem die Legitimation der Wissenschaft den Fi-guren der politischen Legitimität begegnet.

Offensichtlich erzeugt die Konjunktion kein Problem - der fal-sche Bericht vom Tod Philipps II. bedeutet sowohl die Absetzung der Fürsten als Gegenstände der Geschichte wie die ihrer Botschaf-ter als Quellen historischen Wissens . An ihrer Stelle wird inthro-nisiert, was dem König nicht in den Sinn kommt und was der Botschafter vermeidet: das blaue Meer, das die Geschichte der Menschen macht und aus dem diese wiederum die Geschichte ma-chen; die Massen, auf die die Seuche überspringt; die großen Re-gelmäßigkeiten der kollektiven Phänomene. Die Kenntnis dieser neuen Gegenstände erwirbt der Historiker an der Schnittstelle der Daten, die die Wissenschaften des Raums, des Verkehrs, der Popu-lation und der kollektiven Tatsachen liefern, am Knotenpunkt der Geographie, der Ökonomie, der Demographie und der Statistik. Diese wissenschaftliche Transformation entspricht der Transfor-mation einer Politik, die sich nicht mehr nach den Königen richtet, sondern nach den Massen.

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Doch etwas in dem Bild widersetzt sich dieser allzu einfachen Konsequenz der Entlegitimierung der Könige, der neuen Legiti-mität der gelehrten Historie, so etwas wie eine geheime Asymme-trie im Verhältnis des Alten zum Neuen, in dem Viereck von Kö-nig, Botschafter, Historiker und Massen: ein besonderer Status des »guten « Objekts, das durchsonnte blaue Meer, das in seiner Abwesenheit im Geiste des Königs gezeigt wird; die Massen, die auf ihre Kosten das wissenschaftliche Gesetz verifizieren, das der Botschafter umgeht; eine Beharrlichkeit des Botschafters, der ge-meinsam mit dem Historiker empfangen wird und dessen Depe-schen noch immer auf das hinweisen, was sie so lächerlich macht; ein besonderes Wohlbehagen des Historikers, sich in dem Bild dar-zustellen, im Arbeitszimmer des Königs zu verweilen und seinen Blick wie ein Detektiv bei Edgar A. Poe über dessen Papiere schwei-fen zu lassen, als wäre in ihnen, die der König mit Randnotizen ver-sieht, irgendein Geheimnis sowohl offenbart wie verborgen . Diese Papiere haben wir für Botschafterdepeschen über das Spektakel und das Geheimnis der Höfe gehalten. Aber im Vorwort des Buchs, dort, wo es sich nicht um einen allegorischen Bericht, sondern um ein methodologisches Expose handelt, unterbricht der Autor seine Anprangerung der Fallen der Ereignisgeschichte mit einem seltsa-men Einschub und unterstellt dem König merkwürdige Lektüren: »Mißtrauen wir dieser Geschichte, deren Glut noch nicht abge-kühlt ist, der Geschichte, wie sie die Zeitgenossen im Rhythmus ihres Lebens - das kurz war wie das unsere - empfunden, beschrie-ben, erlebt haben . Sie hat die Ausmaße ihres Zorns, ihrer Träume und ihrer Illusionen. Im 16. Jahrhundert wird der eigentlichen Re-naissance die Renaissance der Armen, Bescheidenen folgen, die be-gierig sind zu schreiben, von sich zu erzählen, von den anderen zu sprechen. Diese kostbaren Berge von Papier geben ein ziemlich verzerrtes Bild, verdecken ungebührlich die verlorene Zeit, stehen

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außerhalb der Wahrheit. Der Historiker, der die Papiere Philipps 11 . liest, gleichsam an seinem platz und an seiner Stelle, fühlt sich in eine bizarre, dimensions lose Welt versetzt; eine Welt heftiger Leidenschaften, gewiß; blind wie jede lebendige Welt, wie die un-sere, unbekümmert um die geschichtlichen Tiefen, um jene leb-haften Gewässer, auf denen unser Boot dahinzieht, wie das trun-kenste aller Schiffe. «7

Sowohl in der methodologischen Rede über die Ereignisge-schichte wie in der Erzählung vom Ende des Königs bringt ein und dieselbe Transformation zwei Gegenwarten in Kongruenz und führt den Historiker an den »Platz« des Königs, an einen Ort, der seine eigene Metapher ist und an dem vier Personen einander wie-derbegegnen : der König, der Historiker, die Armen - die den Platz des Botschafters einnehmen - und das Meer, das hier durchaus den Rang einer Metapher erlangt hat. In dieser Bericht-Rede über die Methode, die ein Gegenstück bildet zum Rede-Bericht über das Er-eignis, organisiert sich das Spiel des wörtlichen und des übertrage-nen Sinns um eine weitere Ambiguität, die zwar minder anstößig, dafür aber rätselhafter ist: die »Renaissance der Armen «, das heißt im übertragenen Sinn die falsche Renaissance oder die Karikatur der Renaissance, die der wahren, in ihrem Wesen begriffenen Re-naissance entgegensteht; aber auch, im wörtlichen Sinn, die Re-naissance, wie sie von den »Bescheidenen« erlebt worden ist, wie diese sie von ihrer niederen und rückständigen Position aus erfaßt, ausgedrückt und verkannt haben. Wer aber sind diese Bescheide-nen, die ein Futur unvermittelt einführt und die sofort wieder von der Bühne verschwinden? Gab es denn im 16. Jahrhundert so viele von ihnen, die ihren Zorn und ihre Leidenschaften niederschrie-ben? War es denn üblich, daß ihre Schriften den Hoheiten zur Kenntnis gelangten und sich auf ihrem Schreibtisch stapelten, so daß diese Berge von Papier den Interpretationskorpus par excel-

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lence bildeten, von dem die königlichen Archive und die Schrift der Geschichte zu reinigen die erste Aufgabe der Historiker wäre? Von diesen sperrigen Papierbergen erfahren wir nichts weiter als ihren Nicht-Ort. Was uns der Historiker hier vorzuschlagen scheint, ist eine Fabel, die den wörtlichen und den übertragenen Sinn der Am-biguität miteinander verknüpft, so etwas wie ein platonischer My-thos, in dem die Armen keinerlei bestimmte soziale Kategorie re-präsentieren, sondern vielmehr ein wesentliches Verhältnis zur Nicht-Wahrheit. Die Armen sind diejenigen, die wie Blinde spre-chen, dicht am Ereignis, weil schon die Tatsache des Sprechens für sie ein Ereignis ist. Es sind diejenigen, die »begierig sind« zu schreiben, von den anderen zu sprechen und von sich zu erzählen. Das Begierigsein ist der alltägliche Fehler derer, die tun, was zu tun sie keine Veranlassung haben. Die Armen sprechen falsch , weil sie keine Veranlassung haben zu sprechen. Die Armen stehen in der Allegorie der historischen Wissenschaft für die Kehrseite des »gu-ten « Objekts des Wissens: die Massen. Diese werden entstellt, so-bald sie sich außerhalb ihres Orts begeben, sobald sie die großen Regelmäßigkeiten ihrer Objektivierung verlassen, sich zersplit-tern, sich in Subjekte auflösen, die von sich und den anderen erzählen. Die Armen sind die Objekte der Geschichte, die behaup-ten, deren Subjekte oder deren Historiker zu sein, die Massen, insofern sie in sprechende Wesen zerfallen . Im Herzen der koper-nikanischen Wende, die die Legitimität der Geschichtswissen-schaft auf die Entlegitimierung des königlichen Worts, seine Leere zu gründen schien, führt die »Renaissance der Armen « eine an-dere Leere ein, das Trugbild »ihrer« Wende, die die Geschichte um das Wort des Erstbesten kreisen läßt . Diese Wende, diese Revolu-tion der Papiere, die sowohl den platz des Königs wie die Werkstatt des Historikers überfluten, definiert eine negative Solidarität zwi-schen beiden.

Wie ist dieses rätselhafte Verhältnis zu verstehen, das die Allego-rie der »neuen Geschichte« zwischen den Papierbergen der Armen, dem Platz des toten Königs und den Gefahren andeutet, die der Strenge der historischen Methode drohen? Vielleicht muß man einen scheinbar langen Umweg machen und sich für einen anderen königlichen Tod interessieren, der ein halbes Jahrhundert nach dem friedlichen Tod König Philipps H. von einem Philosophen vorge-stellt wurde, in zwei Büchern, die den gewaltsamen Tod Karls I. von England umrahmen: den ersten großen Königsmord der Moderne, den ersten, der dessen Legitimität politisch begründete. Ich denke an De cive und an Leviathan von Thomas Hobbes, insbesondere an die Kapitel, die sich mit den Ursachen der Aufstände befassen. Diese Kapitel verdienen unsere Aufmerksamkeit deshalb, weil Hob-bes in den traditionellen Rahmen einer Idee des Aufstands - Unaus-geglichenheiten und Krankheiten des politischen Körpers - eine Dramaturgie und ein Modell einführt, um die Zusammenhänge zwischen den Gefahren, die er für die Politik einerseits und die Wis-senschaft andererseits wittert, gedanklich fassen zu können.

Zwei Grundmerkrnale bestimmen diese neue Dramaturgie und stellen sie der von Platon und Aristoteies ererbten Tradition entge-gen. Es geht jetzt nicht mehr darum, die verschiedenen Regie-rungsformen sowie die Ursachen, die die einen in die anderen um-wandeln, zu klassifizieren. Es geht vielmehr um Leben oder Tod des politischen Körpers selbst. Es geht nicht mehr um die Gesetze, die für die Stabilität eines besonderen Regimes und für die Ursa-chen seines Niedergangs verantwortlich sind . Es geht um die Gesetze, die den politischen Körper bewahren, wie immer er be-schaffen sein mag, um die Gesetze, die auch seine Zerrüttung aus-lösen. Diese sehr viel radikaleren Auswirkungen werden nun frei-lich - und dies ist das zweite Merkmal- von scheinbar geringeren Ursachen hervorgerufen. Das antike Denken führte die Vielfalt

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der Ursachen für Aufstände auf zwei Hauptpunkte zurück : Klas -senkonflikte und Ungleichgewichte der Gewaltenteilung. Die Ur-sachen indes, die zum Zusammenbruch des modernen politischen Körpers führen, sind minder gewichtig: in erster Linie Meinun-gen, falsch gebrauchte Wörter oder unangebrachte Sätze. Der poli-tische Körper wird von Wörtern und Sätzen bedroht, die hier und dort kursieren, irgendwo, zum Beispiel: »Man soll mehr auf die Stimme seines Gewissens hören als auf die der Autorität«, oder : »Es ist richtig, die Tyrannen zu beseitigen «, Sätze von eigennüt-zigen Predigern, die nur allzu viele willige Ohren finden. Die Krankheit der Politik ist vor allem die Krankheit der Wörter. Es gibt überflüssige Wörter, Wörter, die nichts bezeichnen, es sei denn Zielscheiben, gegen die sie den Arm der Mörder bewaffnen .

Nehmen wir zum Beispiel ein Wort wie Tyrann oder Despot. Ein solcher Name ist in Wahrheit der Name keiner Klasse, keines Eigentums. Denn entweder ist der angebliche Despot, gegen den man zum Mord aufruft, ein legitimer Herrscher, oder er ist ein Usurpator. Der politische Vertrag gebietet natürlich, jenem zu ge-horchen. Aber ebensogewiß gibt es kein Recht auf Revolte gegen diesen. Denn der Usurpator ist kein schlechter Herrscher, den seine Untertanen legitimerweise züchtigen könnten. Er ist schlicht ein Feind, mit dem es keinen Vertrag gibt. Die Mitglieder des poli-tischen Körpers stehen mit ihm nicht in einem Legitimitätskon-flikt, sondern in einem Kriegsverhältnis . Despot oder Tyrann ist im einen wie im anderen Fall ein Wort ohne Referenten, ein illegi-timer Name, also selber das Ergebnis einer Usurpation.

Für Hobbes krankt die Politik an diesen Namen ohne Referen-ten, an diesen Sätzen, die zwar keine Daseinsberechtigung haben, jedoch dank zweier Komplizenschaften Gestalt annehmen. Die er-ste ist die der Männer des inkarnierten Worts, jener Prediger, die es sich bequem machen und ganz einfach solche Herrscher Despo-

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ten oder Tyrannen nennen, die sich den Übergriffen ihrer Religion widersetzen, jener »Epileptiker«, die aus dem Buch des Glaubens die Gleichnisse oder Prophezeiungen ziehen, die geeignet sind, die Einfältigen zu umgarnen. Die zweite ist die der Schriften, die der Gestalt des Despoten Leben und Konsistenz geben: solcher Texte der Alten und ihrer Nachahmer, die voll sind von Geschichten und Despoten, von Theorien über die Tyrannei und ihr Unheil, von Ge-schichten und Gedichten zum Ruhm der Tyrannenmorde . Damit wird die zweite große Krankheit des politischen Körpers genährt: die literarische und altertümelnde Tollwut, die sich der religiösen Epilepsie hinzugesellt, um mit Wörtern und Sätzen den Körper der Souveränität zu zerstören. 8

Hobbes markiert so eine »Renaissance« oder einen »Papierberg« der Armen mit radikalerem theoretischen und dramatischen Sta-tus. Was sie konstituiert, sind jene parasitären Schriften, die nicht nur den Schreibtisch des Herrschers bedecken, sondern seinen Körper (den wahren Körper des Volkes) mit einem Phantom aus körperlosen Wörtern überziehen (dem Phantom eines zu tötenden Wesens) und damit der verstreuten Menge der x-beliebigen die Attribute des politischen Körpers verleihen .

Ein und dieselbe Illusion nämlich weist dem Körper des Königs einen leeren Namen zu (Despot) und gibt der Menge einen Na-men, der nur dem souveränen Körper zukommt, den Namen Volk. Auf diese Weise entsteht die extravagante Szene einer fiktiven Politik, die den Erstbesten in die Position des legitimen Urhebers oder Adressaten einer Rede des Volks erhebt, einer Rede, die aus biblischen Prophezeiungen oder Ansprachen antiker Herkunft oder auch einer Mischung aus beiden, aus Nachahmungen beider gesponnen ist. Die moderne Revolution, die Hobbes heraufdäm-mern sieht, ließe sich wie folgt beschreiben: Revolution der Kinder des Buchs, der Armen, »die begierig sind zu schreiben, von sich

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zu erzählen, von den anderen zu sprechen «, Mehrung der außer-halb ihres Orts und außerhalb der Wahrheit Sprechenden, die die Eigenschaften der beiden in ihrer Reichweite befindlichen großen Schriftkörper kumulieren: der prophetischen Epilepsie und der mimetischen Tollwut; Revolution der Papierberge, durch die die königliche Legitimität und das Prinzip der politischen Legitimität vernichtet, in der Vervielfältigung der Worte und der Sprechenden zerfallen sind, die eine andere Legitimität aktualisieren, nämlich die phantastische Legitimität eines Volkes, das aus den Zeilen der antiken Historie und der testamentarischen Schrift emporgetaucht ist. Dies sind zur Zeit Philipps 11. und Hobbes' die Papierberge der Monarchomachen, der Soldaten Gottes und der Liebhaber der An-tike, wodurch sich die Zentren des »legitimen« Worts und gleich-zeitig die Register vervielfachen, die es ermöglichen, die Namen auszuwechseln und Figurationen und Argumentationen zu kon-struieren, die an diesem oder jenem Platz, unter diesen oder jenen Vorzeichen den Despotismus oder die Freiheit in Erscheinung tre-ten lassen. Der Effekt dieser Papierberge besteht nicht einfach darin, Verwirrung in den Köpfen zu stiften, um dem königsmörde-rischen Beil den Weg zu weisen. Im Grunde bezeichnen sie einen ersten Tod des Königs, einen Papiertod, der ihm einen phantasti-schen Körper verleiht, um sich der Attribute seines wahren Kör-pers zu bemächtigen.

Muß man diese philosophisch-politische Szenerie wirklich mit der wissenschaftlichen Szenerie des Historikers in Beziehung set-zen, unter dem fadenscheinigen Vorwand, daß es sich hier wie dort um einen toten König handelt? Sicherlich war es Braudei um das alles nicht zu tun. Es geht indes nicht darum zu wissen, worum es ihm zu tun war; es geht um die Bedingungen, unter denen der ge-lehrte historische Bericht im Zeitalter der Demokratie geschrieben wird, um die Bedingungen, unter denen der wissenschaftliche,

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narrative und politische Vertrag artikuliert wird. In dieser Hin-sicht drückt die Beziehung der beiden Szenerien keine approxima-tive Analogie aus, sondern einen gen au bestimmten theoretischen Knotenpunkt. Im politischen und theoretischen Raum, den die englische Revolution und Hobbes' politische Philosophie öffnen, ist der Tod des Königs ein doppeltes Ereignis, ein Ereignis, das die Politik und die Wissenschaft in ihrer gemeinsamen Bedrohtheit miteinander verbindet. Das theoretische und politische Übel ist für Hobbes und für die Tradition, die er begründet, folgendes: das Wu-chern der Schein namen, der Namen, die keiner Realität mehr äh-neln und die töten, weil sie schlecht gebraucht werden, von Leuten gebraucht werden, die sich ihrer nicht bedienen dürften, die sie aus ihrem Zusammenhang gerissen haben, um sie in einer Situation anzuwenden, die nichts mit ihnen zu tun hat. Die Gefahr kommt von all diesen flottierenden Namen, von der Vielfalt der Homo-nyme und Figuren, die keine reale Eigenschaft benennen, aber ge-rade darin die Möglichkeit finden, sich ganz gleich wo einzunisten. Die Unordnung der Politik ist stets identisch mit der Unordnung des Wissens. Das von der modernen Revolution gestiftete Übel äh-nelt dem, das die Metaphysik stiftet; es ist das übel der Wörter, de-nen keine bestimmte Idee anhaftet. Damit begründet Hobbes ein Bündnis zwischen der Wissenschaft und dem Königtum, eine theoretische Tradition, die ich Monarcho-Empirismus nennen möchte. Eben diese Tradition wird die Kritik an der Französischen Revolution und den »metaphysischen« Menschenrechten, zu de-ren Verfechter Burke werden sollte, beflügeln. Aber sie wird auch, indem sie sich von der politischen Polemik auf die wissenschaft-liche Kritik verlagert, eine ganze Tradition des gesellschaftlichen Wissens nähren: diejenige, die unablässig die Wörter vorlädt, um sie der Konsistenz oder Inkonsistenz dessen zu überführen, was sie sagen, um insbesondere die Untauglichkeit, die illusorische

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Homonymie der Wörter anzuprangern, mit denen den Königen und den Königtümern der Prozeß gemacht wird, in denen die Re-volutionen und die großen Bewegungen des demokratischen Zeit-alters entstehen und sich ausdrücken. Seit dem Ereignis des Todes Karls 1. verfolgt diese Tradition die Politik des modernen Zeitalters und der Historie, seiner Tochter, mit einem doppelten - politischen und theoretischen - Verdacht. Und obwohl die Bezichtigung des Verbrechens im demokratischen Konsens zurückgenommen zu sein scheint, schwelt der radikale Argwohn der Nicht-Wahrheit weiter, ja, er taugt sogar dazu, die Gespenster der Urszene wiederzuerwecken.

Die symmetrischen Seltsamkeiten der Rede über die Papierberge der Armen und des Berichts vom Tod des Königs, mit denen Das Mitte/meer beginnt und schließt, sind Teil des Zwangs dieses theo-retischen und politischen Diskurses. Dieser Zwang widerruft das schöne Bild einer kopernikanischen Wende, indem er das, was um Könige kreiste, um Massen kreisen läßt . Er verbietet die Koinzidenz zwischen der Verabschiedung der Könige und Botschafter einerseits und dem Aufstieg einer wissenschaftlichen Historiographie, die sich mit den sicheren und in aller Strenge ermittelten Fakten des Lebens der Massen befaßt, andererseits . Um von der Geschichte der Ereignisse zur Geschichte der Strukturen übergehen zu können, muß man die Massen vor ihrer Nicht-Wahrheit schützen. Wer von der Königschronik zur wissenschaftlichen Historie übergeht, der begegnet auf dem Tisch des Königs einem doppelten Papierberg. Dort liegen die Depeschen der Botschafter, die wertlosen Papiere der Diener des Königs. Und dort liegen die Papierberge der »Ar-men «, der außerhalb der Wahrheit Sprechenden, die die verlorene Zeit der Geschichte bedecken. Hobbes und die aufgeklärten Anhän-ger der Könige erblickten darin die Waffe des Todes . Braudei und mit ihm die hellsichtigen Begründer des modernen gesellschaft-

lichen Wissens erkennen darin die »Blindheit« des Lebens. Es be-steht kein Widerspruch zwischen diesen beiden Urteilen. Es ist dies im Gegenteil eines der begründenden, von Durkheim nachdrück-lich hervorgehobenen Axiome des modernen gesellschaftlichen Wissens: Der Lebensexzeß macht das Leben krank, krank durch Blindheit, blind rur seine Krankheit. Der Lebensexzeß verursacht den Tod . Und der Lebensexzeß bei den in einer Gesellschaft ver-einigten sprechenden Wesen ist in erster Linie der Wortexzeß. Die-ser Exzeß der Wörter und Sätze macht die Menschen des Zeitalters der Massen blind für die großen Gleichgewichte und die großen Regulierungen, die den gesellschaftlichen Körper aufrechterhal-ten, während sie ihn gleichzeitig zum Gegenstand der Wissen-schaft machen. Der Exzeß der Wörter, der den König tötet, ent-zieht gleichzeitig den Menschen des demokratischen Zeitalters die Kenntnis der Gesetze, die ihre Gesellschaften lebendig erhalten.

Wir wissen, wie diese doppelte Bedrohung das soziologische Projekt einer Politik des Wissens geprägt hat. Wir sehen auch, wie sie der Poetik des historischen Wissens ihre Zwänge auferlegt. Die »neue Geschichte« kann ihren neuen Gegenstand nicht umstands-los dem Tod der Könige abgewinnen. Wie jede legitime Sozialwis-senschaft ist sie gehalten, das exzessive Leben der sprechenden Wesen, das die königliche Legitimität getötet hat und die des Wis-sens bedroht, zu regeln. Doch diese Forderung ist für sie, mehr als rur jede andere Wissenschaft, von unerhörter Wichtigkeit. Durch ihren Namen Komplizin der Krankheit der sprechenden Wesen, durch ihren Gegenstand und ihr neues Vorhaben eng mit dem Tod der Könige und mit der Gefährdung des legitimen Wortes verbun-den, ist sie verpflichtet, die Urszene neuzuschreiben, den Königen einen anderen schriftlichen Tod sowie eine legitime wissenschaft-liche Nachfolge zu geben . Die Figuren der historischen Schrift, die sich im Bericht vom Tod Philipps II . versammeln - die Ununter-

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scheidbarkeit des wörtlichen und des übertragenen Sinns, die tem-porale Vorherrschaft des Präsens, die Vertauschung der Gewalten der Rede und der Erzählung -, gewinnen nun eine ganz bestimmte Bedeutung. Alles andere als »stilistische Kunstgriffe «, antworten sie auf die Kampfansage der monarcho-empiristischen Analyse des königlichen Todes, in dem sie die theoretische und politische Kata-strophe wittern. Sie löschen das ursprüngliche Stigma aus, das die dem Zeitalter der Massen eigentümlichen Kenntnisse der Nicht-Wahrheit zeiht. Dem Papiertod des Königs setzt die Allegorie, die sie, in Übereinstimmung mit dem wissenschaftlichen Bericht, konstruieren, ein anderes Paradigma des königlichen Todes entge-gen, das geeignet ist, für die Geschichte des Zeitalters der Massen einen Wahrheitsort zu bezeichnen. Die Poetik des historischen Wissens ist die Antwort auf eine politische Frage des Wissens, die sich in ihrer Unschuld oder in ihrer Brutalität so formulieren ließe : wie den Königen einen guten Tod geben, einen wissenschaft-lichen Tod?

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DER EXZESS DER WÖRTER

Hinter der Szene des toten oder stummen Königs scheint eine an-dere Szene auf, die für den Status der historischen Rede ebenfalls hoch bedeutsam ist : die Szene eines Lebenden, der zuviel spricht, der zu Unrecht spricht, nämlich außerhalb seines Orts und außer-halb der Wahrheit . Die Ernsthaftigkeit des historischen Worts wird von diesem blinden und blendenden Wort herausgefordert . Es wird chronisch oder historisch, literarisch oder wissenschaftlich sein, je nachdem, wie es dieses Ereignis/Nicht-Ereignis eines Worts aufnimmt, dessen Subjekt nicht befugt ist, die Referenz des-sen, was es sagt, zu garantieren.

Für diese Szene, ebenso wie für die vorhergehende, ist die Wahl des Historikers deutlich gekennzeichnet: Er kann von wissenschaft-lich unbedeutenden Papierbergen nicht sprechen. Er kann sie er-wähnen, um zu erklären, warum er sie nicht zu berücksichtigen braucht. Schließlich kann er das, was sie mitteilen, nacherzählen.

Die Wahl ist also klar. Die Antwort indes wird komplexer sein . Und man kann diese Komplexität ermessen, wenn man zwei Arten, das außerhalb seines Orts gesprochene Wort zu bestimmen, mit-einander vergleicht: die eine ist der Tradition der Chronik und der Literatur entlehnt, die andere der modernen gelehrten Geschichts-schreibung. Wir wollen daher die Formen historischer Sprech-weisen in zwei Werken vergleichen, die durch die Zeit, den Vorsatz

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und die Schreibweise unendlich weit voneinander entfernt sind, es jedoch beide mit dem trügerischen Ereignis des exzessiven Worts zu tun haben: die Annalen von Tacitus und Alfred Cobbans The Social Interpretatiol1 of the Frel1ch Revolutiol1.

Im 16. Kapitel des ersten Buchs der Annalel1 erzählt uns Tacitus ein subversives Ereignis: die Meuterei der in Pannonien stehenden Legionen, die kurz nach dem Tod des Augustus von einem obsku-ren Agitator namens Percennius aufgestachelt wurden . Diese Stelle fesselt unsere Aufmerksamkeit natürlich deshalb, weil sie schon einmal Thema eines meisterhaften Kommentars war: von Erich Auerbach, der im zweiten Kapitel seiner Mimesis erläutert, wie Tacitus ein Wort und eine Bewegung, die aus dem Volk kom-men, darstellt und sie dem Wort entgegensetzt, das die Erzählung vom Versagen des Petrus veranschaulicht.

Die von Auerbach hervorgehobene Besonderheit des Berichts von Tacitus ist die folgende: Er gibt die Argumentation des Legio-närs Percennius überaus sorgfältig wieder, mit all ihren konkreten Einzelheiten und all ihrer Überzeugungskraft. Doch bevor er Per-cennius dieses überzeugende Wort erteilt, hat er es für null und nichtig erklärt. Er hat in aller Schärfe den Nicht-Ort seines Wortes bezeichnet und den Ort dieses Nicht-Orts markiert: ein Vakuum, eine Unterbrechung der militärischen Übungen. Augustus ist ge-rade gestorben, Tiberius ist noch nicht inthronisiert. Es besteht eine objektive Leere, die innerhalb des Lagers die Entscheidung des Generals unterstreicht: wegen der Staatstrauer oder aus Freude - man weiß es nicht - hat er den üblichen Dienst eingestellt. Auf-grund dessen wird sich etwas ereignen, das keine reale Ursache, keinen tieferen Grund hat, sondern lediglich das Ergebnis einer Leere ist. Die Legionen hatten nichts mehr zu tun, und dies führte - da der Müßiggang bekanntlich aller Laster Anfang ist - »Zur Lok-kerung der militärischen Disziplin und zu Händeln und ver-

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schaffte dem Gerede der schlechtesten Elemente Gehör, kurz, man wünschte Wohlleben und Nichtstun und lehnte Zucht und an-strengenden Dienst ab«.! Diese erzwungene Muße wird von einem Freizeitspezialisten ausgebeutet, einem Theatermann, einem »gewissen Percennius, einst Anführer einer Theaterclaque, dann gemeiner Soldat, ein Mensch mit frechem Mundwerk, der sich dank seiner Betätigung im Theater darauf verstand, Men-schenmassen aufzuwühlen «.

Bevor Tacitus die Gründe der Meuterei darlegt, hat er bereits darauf hingewiesen, daß er nicht nach ihnen zu suchen brauchte. Einzig die Unterbrechung der militärischen Übungen hat den Nicht-Ort zu einem Ort erhoben, hat demjenigen das Wort erteilt, der es nicht zu ergreifen hatte . Einzig das Vakuum hat es ihm er-möglicht, die Ruhe der Disziplin durch ihr Gegenteil zu ersetzen: den Lärm der städtischen Theatrokratie.

Percennius hatte nicht zu sprechen . Dennoch läßt Tacitus ihn sprechen. Und die Worte sind wohlgeordnet, präzise, überzeu-gend. Percennius zeichnet das Bild des harten Alltags der Soldaten, das Elend der täglichen zehn As, auf die man ihren Leib und ihr Le-ben veranschlage und von denen sie noch Waffen, Kleidung und Zelte zu bestreiten hätten, ganz zu schweigen von den Geschen-ken, die man den Centurianen machen müsse, um eine Befreiung vom Dienst zu erlangen und sich vor Schikanen zu schützen. Er erinnert an den Schwindel nach der Entlassung, nach der man den Veteranen als Ackerland großzügig Sümpfe oder unbebautes Berg-land zuwies. Und seine Aufzählung der Beschwerden schließt mit präzisen Forderungen zu Lohn und Arbeitszeit: »[ ... ] daß jeder einen Denar Sold bekommt, mit dem sechzehnten Jahr die Dienst-zeit zu Ende ist, daß sie darüber hinaus nicht unter den Fahnen ge-halten werden, sondern ihnen noch in dem gleichen Lager die Be-lohnung bar ausbezahlt wird. «

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Die Erzählung scheint dem Prinzip einer strikten Trennung zu folgen. Die Meuterei wird zweimal erklärt: in ihrer Grundlosig-keit und durch die Gründe, die für sie vorgebracht werden. Und nur jene hat den Wert einer Erklärung. Nicht, daß die Gründe des Percennius für trügerisch erklärt würden. Der Historiker kom-mentiert sie nicht, widerlegt sie nicht. Sie werden weder für wahr noch für falsch erachtet. Sie sind, grundlegend, ohne Bezug zur Wahrheit . Ihre Illegitimität rührt nicht von ihrem Inhalt her, son-dern von der Tatsache, daß sich Percennius nicht in der Position eines legitimen Sprechers befindet. Es ist nicht Sache eines Man-nes seines Rangs, zu denken und seine Gedanken zu äußern; seine Worte werden üblicherweise nur in den »niedrigen « Gattungen der Satire und der Komödie wiedergegeben. Es ist ausgeschlossen, daß sich ein wesentlicher Konflikt durch seinen Mund ausdrückt, ausgeschlossen, daß man, nach Art der Moderne, in ihm den Re-präsentanten einer historischen Bewegung erblickt, die in den Tie-fen einer Gesellschaft gärt. Das Wort des Mannes aus dem Volk hat dem Begriffe nach keine Tiefe. Daher besteht ebensowenig Anlaß, Percennius' Gründe zu erklären wie sie zu widerlegen. Es besteht lediglich Anlaß, sie wiederzugeben, in der ihr eigenen Kohärenz, in ihrer Übereinstimmung mit dem Subjekt, das sie vorträgt.

Aber die Gründe des Percennius wiedergeben heißt mitnichten, sie wiederholen . Wer weiß im übrigen, was Percennius gesagt ha-ben mag? Sicherlich besitzt Tacitus darüber keine Informationen. Es ist das auch ohne Belang. Diese Rede wiederzugeben ist keine Angelegenheit der Dokumentation, sondern der Erfindung. Es geht um die Frage, was eine Person dieses Typus in einer derartigen Situation gesagt haben kann. Und seit Homer die wohl hundert-mal nachgeahmte Gestalt des Thersites erfunden hat, verfügt man dazu über taugliche Modelle. Und schließlich ist die Darlegung der Klagen und Forderungen zu perfekt in ihrer Argumentation, zu

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kraftvoll in ihren Ausdrücken, als daß einem Percennius die Fähig-keit zuzutrauen wäre, dergleichen zu verfassen. Nicht Percennius spricht, sondern Tacitus leiht ihm seine Zunge, so wie an anderer Stelle dem Galgacus oder dem Agricola. Es sind rhetorische Sätze, komponiert nach den Regeln der Übereinkunft und der Wahr-scheinlichkeit, Modellen nachgebildet und dazu bestimmt, in den Schulen anderen Nachahmern als Modelle zu dienen . Die einzige Besonderheit hier ist der Rang der nachgeahmten Person. Aber die rhetorische Tradition der Nachahmung verlangt, daß man des pittoresken Charakters des Berichts wegen und zur moralischen Exemplifizierung Personen unterschiedlichen Rangs, zur litera-rischen Würde erhobene Personen sprechen läßt, bevor man sie wieder an den ihnen gebührenden Platz verweist.

Für Auerbach kommt diese Trennung des Berichts einer doppel-ten Enteignung gleich: Tacitus beraubt Percennius seiner Gründe und seiner Stimme, seiner Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Geschichte und seines eigenen Worts. Dieser rhetorischen Annul-lierung stellt Auerbach den Realismus der Geschichte vom Versa-gen des Petrus im Markus-Evangelium gegenüber: Die Anwesen-heit des niederen Volks, die Person der Magd, die Erwähnung des galiläischen Dialekts von Petrus dramatisieren hier die Mischung aus Größe und Schwäche, die den Mann aus dem Volk kennzeich-net, einen Mann, der vom Geheimnis der Inkarnation des Worts erfaßt wird. Die Mischung der Gattungen - die Tacitus untersagt ist - erlaubt es dem Evangelisten, etwas darzustellen, das die an-tike Literatur nicht darstellen konnte, etwas, das aus der Literatur und dem Register der Stile und Bedingungen, die sie voraussetzt, herausfällt: die Entstehung einer geistigen Bewegung in den Herz-kammern des Volks. Damit bereichert Auerbach auf seine Weise das Verhältnis zwischen einer Politik des Wissens und einer Poe-tik des Berichts um die Frage der Darstellung des Anderen. Weil

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Tacitus das Wort eines einfachen Mannes nicht ernst nehmen kann und weil er in den Kategorien der Einteilung in hohe und niedere Gattungen denkt, bleibt er diesseits der Möglichkeitsbedingungen eines literarischen Realismus, die der Bericht des Evangelisten durchaus eröffnet. Auerbachs Demonstration befaßt sich insbe-sondere mit jenem Teil der Kategorien der Poetik, der die Trennung der Gattungen gemäß der Würde der dargestellten Personen be-trifft. Er läßt den anderen Teil im Hintergrund, denjenigen, der die lexis berührt, wie Platon es nennt: die Modalität der Aussageweise des Gedichts, der Beziehung zwischen seinem Subjekt und demje-nigen, den es darstellt, eine Modalität, die von der Objektivierung der diegesis, wo der Erzähler eine Geschichte erzählt, bis zur Lüge der mimesis reicht, wo der Dichter sich hinter seinen Personen ver-steckt. Die Bedeutung dieser Kategorien der antiken Poetik grün-det nun aber darin, daß sie, weil sie die modernen linguistischen Kategorien der Rede und der Erzählung überschneiden, eine an-dere Art der Fragestellung im Hinblick auf diese Erzählung und den historischen Bericht im allgemeinen zulassen. Welche Bezie-hungen zwischen Rede und Bericht ermöglichen die Historie im allgemeinen sowie diese oder jene ihrer Formen? Wie verträgt sich die Inschrift des exzessiven, illegitimen Worts mit dem System dieser Beziehungen, mit dem System der Personen, die der Erzäh-ler mit denjenigen ins Verhältnis setzt, die er sprechen läßt? Mit den Modi und Tempora seiner Schreibweise, den Auswirkungen der Affirmation und der Objektivierung, der Entfernung und des Argwohns, die zur Rede oder zum Bericht, zu dieser oder jener Form ihrer Verbindung oder ihrer Trennung gehören?

In diesem Sinne interessiert uns in Tacitus' Rede nicht ihr von Auerbach hervorgehobener Ausschlußeffekt, sondern im Gegen-teil ihre Einschlußkraft: der Ort, den er selbst der Sache gibt, von der er erldärt, sie habe keinen. Percennius gehört für Tacitus nicht

zur Gruppe derer, deren Wort zählt, derer, zu denen Leute wie er sprechen. Und doch läßt er ihn in derselben Weise sprechen wie die anderen . Er erteilt ihm das Wort in jenem »indirekten Stil«, der die spezifische Modalität ist, in der er das Gleichgewicht zwischen Be-richt und Rede herstellt und die Kräfte der Neutralität und die Kräfte des Argwohns zusammenhält. Percennius spricht, ohne zu sprechen, in jenem infinitiven Modus, der der Nullpunkt des Verbs ist, dem Modus, der seinen Informationswert zum Ausdruck bringt, ohne über den Wert dieser Information zu befinden, ohne sie auf die Ebene des Präsens oder der Vergangenheit, des Objekti-ven oder des Subjektiven zu stellen. Der indirekte Stil, der Sinn und Wahrheit praktisch voneinander trennt, verwischt den Gegen-satz zwischen legitimen und illegitimen Sprechern. Diese werden gleichermaßen validiert und beargwöhnt. Der Homogenität der so konstituierten Bericht-Rede widerspricht die Heterogenität der Subjekte, die sie in Szene setzt, die ungleiche Berechtigung der Sprecher, aufgrund ihres Status die Referenz ihrer Aussage zu ver-bürgen. Percennius mag noch so sehr der ganz und gar Andere, vom legitimen Wort Ausgeschlossene sein, seine Rede ist, in einer für die Beziehungen zwischen Sinn und Wahrheit spezifischen Un-entschiedenheit, ebenso eingeschlossen wie die des römischen Feldherrn Agricola oder des kaledonischen Feldherrn Galgacus. Diese Gleichheit der Sprechenden spiegelt eine andere wider, die die Textur der von Tacitus geschriebenen Geschichte definiert. Sie spiegelt die Homogenität zwischen dem Sagen der Geschichte und dem Sagen dessen, was sie erzählt. Geschichte schreiben heißt, eine bestimmte Anzahl von Redesituationen einander äquivalent machen. Das Handeln des Perikles oder des Agricola zu erzählen ist ein Redeakt, der denselben Status hat wie die Ansprache Peri-ldes' oder Agricolas. Indem der Historiker ihre Reden wiedergibt, so wie sie sie vermutlich gehalten haben, macht er sie zum Mate-

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rial einer Reihe diskursiver Funktionen: den Gebildeten ein Ver-gnügen bereiten, den Fürsten und Staatsoberhäuptern Lektionen in Politik, den Schülern Lektionen in Rhetorik und Moral erteilen. Was Perikles zu den Athenern sagt, was der Historiker schreibt, in-dem er Perildes' Worte nach den Modellen seines Lehrers wieder-holt - das alles hat denselben Status, gehört zum Universum einer homogenen Rede. Diese Homogenität kann jedoch gelegentlich sehr wohl die Lüge der Wörter denunzieren, wie Thukydides es tut, wie Tacitus es durch Galgacus tun läßt. Doch der Verdacht, der auf dem Wort des Anderen lastet, richtet sich selbst nach der rheto-rischen Form der Trennung von Sinn und Wahrheit, der Unent-schiedenheit der Referenz. Er schafft keinen doppelten Boden, keine Metasprache, die die Rede mit ihrer Wahrheit konfrontierte. Die Rede des Thukydides, der die Redner der Polis entlarvt, ist von gleicher Natur wie die Reden, mit denen diese sich gegenseitig ent-larven. Die voraufgehende Disqualifizierung des Percennius setzt die jeder anderen gleichkommende Macht seiner Äußerung frei. Und die Übertreibung, deren sich Galgacus selbst schuldig macht, indem er Wüste nennt, was die Römer mit dem trügerischen Na-men Frieden bezeichnen, gehört zu demselben Sprach spiel, das ihn, den Fremden, einschließt, in der Person des Percennius denje-nigen einschließt, der mit keiner Sprache zu spielen hat. Die Spra-che, auf die dieser kein Recht hat, schließt ihn dadurch, daß sie sich das Recht nimmt, ihn sprechen zu lassen, in ihre Gemeinschaft ein. Die Disqualifizierung, die ihn trifft, wird aufgehoben durch das Vertrauen in die Sprache, in die Fähigkeiten des sprechenden Wesens, die keine Unterschiede kennen. Galgacus spricht nicht Lateinisch, Percennius hat nichts gesagt, was die öffentliche Mei-nung im Gedächtnis behalten hätte. Bleibt allerdings die zusam-menführende Macht der Sprache und der Spiele, die sie erlaubt, die Macht einer Rede, die stets imstande ist, diejenigen zu

ihrer Gemeinschaft zuzulassen, die ihr Ordnungskatalog aus-schließt.

Die Aneignung des Worts des Anderen kann sich dann umkeh-ren. Indem Tacitus die Stimme des Percennius auslöscht, dessen Wort durch das seine ersetzt, gibt er ihm nicht nur eine historische Identität. Er schafft auch ein Modell subversiver Eloquenz für die Redner und gemeinen Soldaten der Zukunft. Diese werden fortan nicht Percennius wiederholen, dessen Stimme verhallt ist, sondern Tacitus, der die Gründe aller Percenniusse besser artikuliert als sie. Und wenn das Latein des Tacitus, wie jede tote Sprache, zu neuem Leben erwacht sein wird, wenn es die Sprache des Anderen gewor-den sein wird, die Sprache, deren Aneignung zu einer neuen Iden-tität verhilft, dann werden die begabten Schüler der Hochschulen und Seminare daraus in ihrer Sprache und im direkten Stil neue Reden bauen, die den Autodidakten wiederum als Vorbilder dienen werden, zusammen mit dem Bericht der Evangelisten und den Ver-wünschungen der Propheten. Alle, die nicht sprechen dürfen, wer-den sich dieser Wörter und dieser Sätze, dieser Argumentationen und dieser Maximen bemächtigen, um der Subversion einen neuen Schriftkörper zu geben. Die königsmörderische Tollwut und die Metaphysik der Menschenrechte werden sich, zum Leid-wesen Hobbes' und Burkes, davon nähren, um die Szenerie der modernen Revolution hervorzubringen: der Revolution der Kin-der des Buchs.

Diese Verzweiflung, so wurde gesagt, ist nicht unfruchtbar ge-blieben. Sie selbst hat wiederum eine Tradition des modernen ge-sellschaftlichen Wissens gestiftet. Sie hat sie in einer wesentlichen Beziehung zum Unglück des revolutionären Ereignisses gestiftet: einer Beziehung, die dieses politische Unglück mit dem Unglück - der unfelicity - der außerhalb ihres Kontextes gebrauchten Wör-ter identifiziert. Wenn die Revolution - insbesondere die Französi-

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sche Revolution - für das gesellschaftliche Wissen - vornehmlich für die Soziologie und die Geschichtswissenschaft - die doppelsei-tige Roll e eines begründenden Ereignisses gespielt hat, dann deshalb, weil ihre Gewalt mit dem theoretischen Skandal des Er-eignisses im allgemeinen übereinstimmt - dem Skandal des Ereig-nisses, das heißt dem des Aufruhrs der Reden und der Verwirrung der Zeiten. Jedes Ereignis ist mit einem Exzeß der Wörter in der spezifischen Verschiebung des Sagens verbunden: einer Aneig-nung »außerhalb der Wahrheit« des Worts des Anderen (Formeln der Souveränität, des alten Texts, des heiligen Worts), die es auf an-dere Weise bezeichnen läßt; die in der Gegenwart die Stimme der Antike, im Alltag die Sprache der Prophetie oder der Dichtkunst erklingen läßt. Das Ereignis gewinnt seine paradoxe Neuheit aus dem, was mit Wieder-Gesagtem zusammenhängt, mit außerhalb des Kontexts, an unrechter Stelle Gesagtem, einer Untauglichkeit des Ausdrucks, die zugleich eine ungebührliche Überlagerung der Zeiten ist. Das Ereignis besitzt die Neuheit des Anachronistischen. Und die Revolution, das Ereignis par excellence, ist par excellence der Ort, an dem sich das gesellschaftliche Wissen in der Anprange-rung der Untauglichkeit der Wörter und des Anachronismus der Ereignisse konstituiert. Nicht aus Gelegenheitspolemik, sondern aus theoretischer Notwendigkeit hat die Interpretation der Franzö-sischen Revolution das Problem des Anachronismus in den Mittel-punkt gerückt und bis an seine Grenze verfolgt - jene Behauptung des Nicht-Orts des Ereignisses, die den Namen Revisionismus trägt .

Das ursprüngliche Gespenst des gesellschaftlichen Wissens ist die Revolution als Anachronismus, die Revolution mit den Ge-wändern und Reden antiker Art. Die Revolution macht ein ge-meinsames Ereignis und eine gemeinsame Umwälzung aus dem Anachronismus, der zeitlichen Differenz zu sich selbst, die eine

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Eigentümlichkeit des sprechenden Wesens ist. Die Kampfansage, mit der sie der Politik und dem Denken erwidert, haben die Gesell-schaftswissenschaften in einer spezifischen Weise aufgegriffen: in dem Entwurf eines nicht ereignishaften Denkens der Zeit, einer vom Anachronismus des Worts und des Ereignisses befreiten Zeit .

Unter diesen Neuentwürfen der Zeit, die von der Epoche der Re-volution Besitz ergriffen, haben zwei eine entscheidende Rolle bei der Begründung des gesellschaftlichen Wissens und seines kriti-schen Gebrauchs gespielt. Das marxistische Verfahren wählte als Hauptachse das Verhältnis der Zukunft zur Vergangenheit. Hier wurde die Verzögerung der Kräfte der Zukunft, ihre Unreife, ver-antwortlich gemacht für jeden Rückschritt, für die anachronisti-sche und wortreiche Wiederholung der Vergangenheit statt der Bewältigung der Aufgaben der Gegenwart. Die Unwissenheit des geschichtlichen Akteurs und das ihr symmetrische Wissen des Theoretikers der Geschichte hingen mit der Vision einer Zukunft zusammen, die allein geeignet schien, die Vergangenheit zu erldä-ren, in der Gegenwart der Aktion jedoch stets verfehlt wurde, im-mer von neuem abgespalten durch die Unerreichbarkeit eines Noch das die Wiederholung eines Noch einmal bestimmte. Die Analyse der Klassenkämpfe, die den paradoxen Ruhm von Marx entfesselte, ist vornehmlich die theatralische Choreographie der Figuren, zu der die Verbindung des Noch nicht und des Ein wei-teres Mal sich verdichten kann.2

Die monarcho-empiristische Analyse, die heute, nach dem Miß-geschick des marxistischen Modells, wieder Auftrieb bekommt, geht umgekehrt vor auf der Achse der Zeiten, indem sie sowohl die Kategorie der Vergangenheit als auch die der Zukunft disqualifi -ziert. Die Utopie, die ihre Interpretationen leitet, ist die Utopie einer Wissenschaft, deren Kategorien ihrem Gegenstand adäquat wären, weil sie gen au in ihre Zeit fielen . Ihre Zeit ist die Gegen-

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wart. Doch das Eigentümliche der Gegenwart - wie die des Rea-len - besteht darin, daß sie sich denen, die für sie Partei ergriffen ha-ben, entzieht. Daher muß sie immer wieder von der Vergangenheit und der Zukunft zurückgewonnen werden, festgelegt werden durch die unablässige Kritik der Vergangenheit, die sich unzeitgemäß wie-derholt, und der ungebührlich antizipierten Zukunft. Die endlosen Abrechnungen des Monarcho-Empirismus mit dem revolutionären Ereignis verlaufen über eine endlose Neuinterpretation der marxi-s tisch -fu turis tischen In terpreta tion seines Anachronism uso

Eben diese Neuinterpretationen exemplifiziert das Werk von Alfred Cobban, The Social Interpretation of the French Revolution, das zum Leitstern der revisionistischen Geschichtsschreibung der Französischen Revolution geworden ist. Sein Titel ist natürlich em-blematisch . Die Arbeit des Historikers ist nicht länger, die Revolu-tion zu erzählen, sondern sie zu interpretieren, die Ereignisse und Reden auf das zu beziehen, was sie begründet und erklärt. Und was die Ereignisse begründet, ist natürlich immer ein Nicht-Ereignis ; was die Wörter erklärt, ist das, was keine Wörter mehr sind. Kurz, der Historiker macht sich genau das zur Aufgabe, was nicht tun zu können Auerbach Tacitus vorwarf. Er schaut nach, was sich hinter den Wörtern befindet. Er koppelt die verführerische Rede an die nicht-diskursive Wirklichkeit, die sich in ihr ausdrückt und verklei-det. Die Rede des Historikers ist eine Rede des Maßnehmens, die die Wörter der Geschichte auf ihre Wahrheit bezieht. Genau das ist es, was Interpretation heißt; aber auch, weniger evident, was »so-cial « heißt . »Social« bezeichnet in der Tat sowohl einen Gegenstand des Wissens als auch eine Modalität des Wissens. In einem ersten Sinn ist die »gesellschaftliche« Interpretation der Französischen Revolution die Analyse der revolutionären Prozesse im Rahmen ge-sellschaftlicher Verhältnisse und Konflikte . Sie mißt diese Prozesse mit der Elle ihrer Bedeutung und ihrer Wirkung in diesem Feld:

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-Veränderung des Status des Eigentums, Verteilung und Konflikte der sozialen Klassen, Aufstieg, Niedergang oder Mutationen der einen und der anderen. Dieser erste Sinn indes verbindet sich so-fort mit einem zweiten: Das Gesellschaftliche wird zum Stoff oder zum Hintergrund der Ereignisse und Wörter, die es der Lüge des äußeren Anscheins zu entreißen gilt. »Social« bezeichnet den Ab-stand der Wörter und Ereignisse zu ihrer nicht ereignishaften und nicht verbalen Wahrheit. Die gesellschaftliche Interpretation setzt eine bestimmte Geographie der Orte: Es gibt Tatsachen, die nicht zur diskursiven Ordnung gehören, sondern einen diskursiven Akt gebieten, nämlich die Interpretation. Doch zwischen den Tatsa-chen und der Interpretation muß ein Hindernis beseitigt, eine dichte Wolke von Wörtern aufgelöst werden. Die Wandlungen, die die Revolution in der französischen Gesellschaft hervorgerufen hat, werden von der Vielzahl der Wörter der Revolution verdunkelt - da gibt es das Wort der revolutionären Akteure, das der hagio-graphischen Historiker, das der republikanischen Tradition, der marxistischen Interpretation in Termini der bürgerlichen Revolu-tion, der Verknüpfung dieser verschiedenen Traditionen in der Historiographie eines Mathiez und Soboul. Kurz, die Interpreta-tion hat es mit dem Exzeß der Wörter der Revolution und übel' die Revolution zu tun. Die gesellschaftliche Interpretation hat es mit einer Interpretation zu tun, die schon einmal die Wörter durch die Dinge ersetzen wollte, sich bei diesem Vorhaben jedoch von den Wörtern hat ködern lassen.

Sich von den Wörtern ködern lassen heißt, Wörter gebrauchen, die untauglich sind, weil sie dem, was sie benennen, nicht zeit-gleich sind . Für Cobban klebt die marxistische Interpretation an dem vergangenen Ereignis der Wörter und Begriffe, die zu späte-ren Zeiten gehören . Sie nimmt die Wörter der Akteure, der Zeit-genossen und Chronisten der Revolution für bare Münze. Diese

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Wörter waren nun aber selbst anachronistisch; sie verwiesen auf eine Konstellation, die in ihrer Epoche gar nicht mehr existierte. Anders gesagt, die marxistischen Interpreten glaubten, die Revo-lution sei eine bürgerliche gewesen, weil die revolutionären Ak-teure geglaubt hatten, daß der Feudalismus noch existierte und daß sie ihn zerstörten. Daß derlei - die futuristischen und die ver-gangenheitssüchtigen - Fehlinterpretationen sich summieren kön-nen, liegt daran, daß sie auf ein und demselben Exzeß beruhen, der der menschlichen Sprache im allgemeinen eigentümlich ist, der menschlichen Sprache, bevor die Wissenschaft sie in Ordnung ge-bracht hat : an der Tatsache, daß ein und dasselbe Wort mehrere Wesen oder mehrere Eigenschaften gleichzeitig bezeichnen kann, daß es Eigenschaften bezeichnen kann, die nicht existieren, aber auch Eigenschaften, die nicht mehr oder noch nicht existieren. Das Übel, mit dem die gesellschaftliche Interpretation unablässig be-schäftigt ist, ist das Übel der Homonymie.

Die Kritik der Homonymie spielt, ebenso wie der Begriff des Ge-sellschaftlichen, auf einem doppelten Register. Zunächst fordert sie lediglich, daß man den Wörtern , die gesellschaftliche Identitä-ten bezeichnen, den Sinn gebe, den sie in ihrer Epoche hatten . Um die Klassenverhältnisse in der revolutionären Epoche nicht zu ver-kennen, muß man zum Beispiel folgendes wissen: Ein manufac-turier ist in der damaligen Zeit kein Großindustrieller, sondern jemand, der mit seinen Händen Produkte herstellt; ein laboureur ist kein Landarbeiter, sondern ein (meist wohlhabender) Bauer, der Land besitzt; ein fermier ist im wesentlichen jemand, der eine Pacht zahlt, um Land bebauen, aber auch um eine Funktion aus-üben zu können. Es bedarf also einer erheblichen Berichtigungs-arbeit, die heilsam sein kann. Aber die terminologische Berichti-gung sieht ihre Ergebnisse wiederum von Rumpelkammer- und Passepartout-Wörtern bedroht, die das Terrain besetzen, ohne

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irgendeine gesellschaftliche Realität zu bezeichnen . Diese überaus trügerischen Wörter sind in der Regel zugleich die geläufigsten: Adlige, Bürger, Bauern zum Beispiel. Sie verknüpfen in einer mon-strösen Allianz Eigenschaften, die nicht zur gleichen Zeit vorkom-men, gesellschaftliche Verhältnisse, die es nicht mehr gibt, mit solchen, die es noch nicht gibt. Nehmen wir das Wort Adlige . Be-trachten wir im Jahre 1789 einen .Querschnitt der Gesellschafts-formation, so entdecken wir auf allen Stufen, und zwar in den unterschiedlichsten Positionen, Adlige . Dieser Sachverhalt wird unglücklicherweise von Bildern überdeckt, die den Hof und die Schlösser apostrophieren, und erst recht von der Gleichstellung von Adel und Feudalismus, »seigneurialen « Rechten und »feuda-len« Rechten . Auch hier zerfällt, wenn man die Verhältnisse im einzelnen beobachtet, der mit diesem Namen bezeichnete Gegen-stand. Was man »seigneuriale Rechte « nennt, ist eine heteroklite Mixtur von Rechten unterschiedlicher Herkunft, die keine persön-liche Abhängigkeit gemeiner Personen von Grundherren, keine wirklich feudale Beziehung anzeigt. Sehr oft handelt es sich um bloße Eigentumsrechte, die übrigens häufig von Bürgerlichen zu-rückgekauft wurden . Es ist unmöglich, sie alle unter dem Namen Feudalrechte zusammenzufassen, »ohne dem Wort feudal seinen Sinn zu nehmen «. Dasselbe gilt leider auch für jeden der drei Ge-neralstände, die sich im Frühjahr 1789 in Versailles versammelten. Keiner verkörpert eine Gesamtheit von Eigenschaften, die seinem Namen einen gesellschaftlichen Sinn verliehen. Die Einteilung in Adel, Klerus und Dritten Stand hatte schon lange vor 1789 nicht mehr »den geringsten Bezug« zu den gesellschaftlichen Realitä-ten. 3

Die doppelte Bedeutung des Wortes »gesellschaftlich« verdeut-licht sich nunmehr. »Gesellschaftlich« bezeichnet eine Gesamtheit von V!,!rhältnissen; aber es bezeichnet auch das Fehlen von Wör-

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tern, sie adäquat zu bezeichnen. »Gesellschaftlich « bezeichnet das Nicht-Verhältnis als ein prinzipielles; es bezeichnet den Abstand zwischen den Wörtern und den Dingen oder, genauer, den Abstand zwischen den Benennungen und den Klassifizierungen. Die Klas -sen, die sich benennen und benannt werden, sind niemals das, was Klassen, wissenschaftlich verstanden, sein sollen: Gesamtheiten von Individuen, denen sich eine endliche Zahl gemeinsamer Eigen-schaften streng zuordnen läßt. Die anachronistische und homo-nyme Verwirrung rührt daher, daß die » Wörter der Geschichte« Namen sind. Ein identifizierter Name klassifiziert nicht. Das Di-lemma ist harmlos, solange die Könige, deren Name, von einigen Hochstaplern abgesehen, für ihre Identität bürgt, die Geschichte machen. Es droht unheilbar zu werden, sobald die Klassen den platz der Könige einnehmen. Denn die Klassen sind eben keine Klassen. 4 Dieser zentrale Defekt ist nicht nur eine Sünde der marxistischen Interpreten; er ist die Sünde der Akteure des Ereig-nisses selbst, die Sünde, aufgrund deren Ereignisse eintreten, auf-grund deren es Geschichte gibt. Es gibt Geschichte, weil die spre-chenden Wesen durch Namen vereint und getrennt werden, weil sie sich selbst benennen und die anderen mit Namen benennen, die nicht »den geringsten Bezug« zu Gesamtheiten von Eigenschaften haben. Was für sie einen Sinn ergibt und woraus sie ein Ereignis machen, ist genau das, was für den monarcho-empiristischen Hi-storiker »ohne Bezug« ist, nämlich die Verflechtung dessen, was zu unterscheiden er uns auffordert: das Juristische vom Nicht-Juristi-schen, das Persönliche vom Realen, die Vergangenheit von der Ge-genwart, das feudale Privileg vom bürgerlichen Eigentum. Und es ergibt einen Sinn für Wesen, die nicht als Repräsentanten gesell-schaftlicher Identitäten handeln, welche durch Gesamtheiten von Eigenschaften definiert sind, sondern als Adlige oder Bauern, als Bürger oder Proletarier, das heißt: als sprechende Wesen. Eine

-Klasse oder ein Stand ist genau die Verbindung dieser getrennten, ungleich zeitigen Merkmale. Bei den Wörtern »Stand« oder »Klasse« geht es um ein Verhältnis der Positionen der sprechenden Wesen zu gesellschaftlichen Rängen, die keine Gesamtheit von Un-terscheidungsmerkmalen je verbürgen wird . Es gibt Geschichte gerade deshalb, weil kein ursprünglicher Gesetzgeber die Wörter mit den Dingen in Einklang gebracht hat. Der Wille, die untaug-lichen Namen abzuschaffen, läuft, genaugenommen, auf den Wil-len hinaus, die Untauglichkeit und den Anachronismus abzu-schaffen, die bewirken, daß Subjekten im allgemeinen Ereignisse zustoßen. Die Erklärung, daß die Wörter der Geschichte »keinen Bezug« zu ihren Realitäten haben, bedeutet letztlich die Selbstzer-störung der Geschichtswissenschaft.

Dieser selbstmörderische Trieb nimmt in Cobbans Text eine be-stimmte Gestalt an . Wir müssen, so sagt er uns, die Terminologie der Revolution - die der Akteure und die der Interpreten - preisge-ben und statt dessen die gesellschaftlichen Tatsachen so untersu-chen, wie ein zur Zeit der Revolution lebender Soziologe es getan haben würde. Die These lautet im Grunde, daß schon der Bezug der Vergangenheit zur Gegenwart das Stigma des Falschen trägt : die Ungleichzeitigkeit, die Unmöglichkeit, die Liste der Eigen-schaften abzuschließen, um ein Wort dem adäquat zu machen, was es bezeichnet. Damit sich der Historiker im Wahren bewegt, müßte er mit den Daten eines zeitgenössischen Soziologen arbei-ten, der es ihm ermöglichte, die exakt bezeichneten und gleichzeitig von den Wörtern der Geschichte verborgenen gesellschaftlichen Realitäten zu erfassen. 5 Doch wer ist dieser Soziologe, Zeitgenosse des Ereignisses, dessen Wissen uns unglücklicherweise fehlt? Nicht ein Sozialwissenschaftler, sondern die utopische Gestalt des gesellschaftlichen Wissens selbst: der ursprüngliche Gesetzgeber, der die Namen mit ihren Referenten in Übereinstimmung bringt,

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das Gegenwärtige im Präsens, das die bei den Bedeutungen des Ge-sellschaftlichen vereint und uns vom chronischen Anachronismus des sprechenden Wesens befreit? Das Unglück besteht nun freilich darin, daß es keinen Soziologen gibt, der zur Zeit der Französi-schen Revolution gelebt hat. Und dieses Unglück ist kein Zufall. Weil es die Französische Revolution gegeben hat, ist die Soziologie entstanden, zuerst als Anprangerung der Lüge der Wörter und Er-eignisse, als Utopie eines Sozialen, das sich selbst adäquat ist.

In dieser utopischen Zuflucht zu einem anachronistischen zeit-genössischen Soziologen erreicht die monarcho-empiristische Kri-tik den Punkt, an dem der wissenschaftliche Glaube das historische Wissen antreibt: den Punkt der Ablehnung ihres Gegenstands . Dieser Zuflucht zu einer symbolischen Sprache oder einer Meta-sprache beraubt, muß die kritische Historie ihren Wunsch nach Wissenschaftlichkeit mit der ständigen Verdächtigung der Wörter nähren. Das aussichtslose Unterfangen, die schlechten Namen durch gute zu ersetzen, zwingt sie dazu, jedem Namen nachzuwei-sen, daß er nicht der Realität entspricht, die er bezeichnet. Es zwingt sie, die Möglichkeit zu leugnen, daß es ein Ereignis gibt, es sei denn aufgrund von Untauglichkeit. Letztlich stellt sich die ge-lehrte Historie als der Nicht-Ort der Geschichte heraus. Diese Grenze hat einen theoretischen Namen, der auch ein politischer Name ist: sie heißt Revisionismus. Der Revisionismus in der Hi-storie ist nicht die von den Umständen abhängende Konsequenz politischer Parteinahme oder der intellektuellen Vorliebe für das Paradox; er ist das Ende jener Politik des Argwohns, mit dem die Sozialwissenschaften ihre Zugehörigkeit zur Wissenschaft aus-weisen müssen, und zwar um so nachdrücklicher, je mehr sie in Abrede gestellt wird. Und die besondere Brüchigkeit der Historie setzt sie der Grenzerfahrung dieses Argwohns aus: der Erklärung der Nichtexistenz ihres Gegenstandes. Der Kern des revisionisti-

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sehen Programms im allgemeinen besteht aus einer. einfachen For-mel: Es ist nichts Dem rtiges geschehen, was gesagt worden ist. Die Konsequenz daraus variiert, je nachdem, ob man das »nicht so« von dem Nichts, das es anzieht, entfernt oder ihm annähert . Die nihilistische Version der Formel lautet, daß nichts von dem gesche-hen ist, was gesagt worden ist - was auf die Behauptung hinaus-läuft, daß überhaupt nichts geschehen ist. Diese Schlußfolgerung, die als politische Provokation von Nutzen sein mag, ist allerdings selbstmörderisch für die Historie, deren Los trotz allem davon abhängt, daß manchmal etwas geschieht. Schließlich erstreckt sich die Politik des Argwohns mit vollem Recht auf diese Radikali-tät selbst. Denn das »nichts «, dem sie die trügerischen Worte des Ereignisses zutreibt, hat, mehr noch als diese, den Nachteil, ein Wort zu sein, das keine Eigenschaft bezeichnet. Die positivisti-sche Praxis des Revisionismus, ihrer nihilistischen Praxis entge-gengesetzt, begnügt sich also damit, das »nicht so« dem »fast nichts « seiner Wirkungen oder dem Nicht-Ort seiner Ursache an-zunähern .

Die Richtung des »fast nichts « ist diejenige, die auf gleichsam natürliche Weise die Demonstration von Cobban nimmt. Er sagt nicht, daß die Revolution nicht stattgefunden hat oder daß kein Anlaß für sie bestand, sondern daß ihre nachhaltige gesellschaft-liche Wirkung auf Geringfügigkeiten beruht : einige Veränderun-gen in der Auf teilung des Grundeigentums, ein paar Modifizierun-gen in der inneren Zusammensetzung des Bürgertums und eine Gesellschaft, die sehr viel stabiler ist, als sie es vorher war -, insge-samt gerade so viel, daß man die Französische Revolution als über-zeugendes Beispiel für den unendlichen Abstand zwischen den Wörtern und den Dingen aufbieten kann.

Der Richtung des Nicht-Orts folgt die Demonstration von Fran-c;ois Furet in Penser la Revolution jmn(aise. Und diese Demonstra-

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tion vollzieht eine bemerkenswerte Kehrtwendung in der Frage des Ereignisses. In der Tat wirft sie der marxistischen Geschichts-schreibung vor, sie lasse das Ereignis in der Darstellung seiner mutmaßlichen gesellschaftlichen Ursachen verschwinden. Und das revolutionäre Ereignis, dasjenige, das man nicht in der mut-maßlichen Wirkung seiner Ursachen auflösen darf, ist eben die Öffnung eines neuen »politischen Raums «, der durch den Exzeß der Wörter charakterisiert ist. »Was die Revolution als Ereignis kennzeichnet, ist eine Modalität des geschichtlichen Handeins; es ist eine Dynamik, die man politisch, ideologisch oder kulturell nennen kann, um zu sagen, daß ihre Macht, durch die Mobilisie-rung von Menschen und durch Einwirkung auf die Dinge multipli-ziert, eine Überinvestierung an Sinn erfährt . «6 Diese Bestimmung des Sinns der Revolution steht anfänglich in völligem Gegensatz zu Cobbans Nominalismus und Soziologismus. Doch die »Überin-vestierung an Sinn « wird alsbald Gegenstand einer spektakulären Deflation. Die »Dynamik« des revolutionären Ereignisses redu-ziert sich dabei auf zwei Begriffe, die geradewegs den Schriften von Tacitus entsprungen zu sein scheinen, nämlich auf die Begriffe »Vakuum « und »Substituierung«. Was die radikale revolutionäre Neuheit hervorruft, ganz wie die schöne Rede des Komödianten Percennius, ist strenggenommen eine Leere. Die Revolution als nie dagewesenes Ereignis wird von einem »Machtvakuum « er-zeugt, sie »richtet sich in einem leeren Raum ein «: »Von 1787 an ist das Königreich Frankreich eine Gesellschaft ohne Staat. «7 Die-ses Machtvakuum zwingt die Kraft, die sich in ihm einrichtet, »das zerbrochene gesellschaftliche Ganze im Imaginären zu rekonstru-ieren«. Und der Zwang, einen leeren Raum zu besetzen, installiert »die substitutive Herrschaft des demokratischen Wortes, die Be-herrschung der verschiedenen Teile der Gesellschaft im Namen des > Volkes(<<. 8 Die narrative Fabel der kritischen Geschichtsschrei-

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-bung der Revolution scheint hier genau die Fabel des Berichts von Tacitus zu reproduzieren - das Autoritätsvakuum ruft Wucherun-gen des exzessiven Wortes hervor. Aber diese scheinbare Ähnlich-keit zwischen den narrativen Sequenzen der antiken Literatur und der modernen Geschichtswissenschaft verdeckt einen fundamen-talen Unterschied in der Natur ihrer Elemente. Der Nicht-Ort ist zwar in beiden Fällen Ursache, doch nicht auf dieselbe Weise. Bei Tacitus bleibt er reine Leere. Die kritische Geschichtswissenschaft dagegen füllt diese Leere mit einer Theorie des Nicht-Orts, welche die Substitution in den Termini einer Theorie des Imaginären be-schreibt und dem Vakuum den Status einer besonderen Wirklich-keit einräumt. Die Wissenschaft nennt zunächst die Substitution und identifiziert sie mit dem Begriff des der Wissenschaft Entge-gengesetzten : mit der Illusion, dem Imaginären, der Ideologie. »Die Überinvestierung an Sinn« ist nicht nur ein exzessives Wort, es ist die spezifische Verkennung seiner Ursache. »Schon 1789 ist das revolutionäre Bewußtsein die Illusion, einen Staat zu besiegen, der schon nicht mehr existiert. Von Anfang an ist dieses Bewußt-sein ein ständiges Überangebot der Idee gegenüber der wirklichen Geschichte. «9 Eben diese rückschauende Illusion strukturiert das Imaginäre der revolutionären Radikalität und erlaubt es ihr, die Überkreuzung heterogener Ereignisreihen in das »zwangsläufige Produkt des schlechten Regierens« zu verwandeln.

Dies ist der erste grundlegende Unterschied zwischen den bei-den Berichten. Tacitus verknüpft den Zufall eines Vakuums mit dem Nicht-Ort eines Worts. Daß Percennius ganz und gar illegi-tim das Wort ergriff, enthob ihn des Urteils über den illusorischen oder den wahren Charakter seiner Äußerungen . Die gelehrte Historie indes beweist sich, indem sie das ihr Entgegengesetzte bezeichnet. Das aus einem Vakuum entstandene Wort, das Wort, das keinen Anlaß hatte, zu sein, ist zwangsläufig ein Wort der

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Illusion. Doch dieses sichtbare Zeichen der Wissenschaft verbirgt ein anderes, geheimeres und wesentlicheres . Der Unterschied in der Wirkung des Nicht-Orts verweist auf einen Unterschied in sei-ner Ursache, im Status des Nicht-Orts selbst. Bei Tacitus gründet das Vakuum auf einem Ereignis, das sich empirisch notieren läßt: Augustus ist tot, die militärischm Übungen sind tatsächlich einge-stellt worden. Das von Fran\ois Furet erwähnte Vakuum dagegen hat die nicht zufällige, sondern strukturelle Eigenschaft, nicht dar-stellbar zu sein: » Von 1787 an ist das Königreich Frankreich eine Gesellschaft ohne Staat. [ ... ] Das revolutionäre Bewußtsein ist die Illusion, einen Staat zu besiegen, der schon nicht mehr existiert .« Woraus die Illusion ihre Kraft zieht, ist der Umstand, daß das, was sie nicht wahrnimmt, etwas ist, das nicht wahrgenommen werden kann. Besonders schwierig ist es, etwas wahrzunehmen, das nicht existiert. Die Nichtexistenz der Staaten ist das, was die Staaten, so-lange sie existieren, zu verschleiern berufen sind. Es verhält sich ja nicht einfach so, daß die »Fassade der Tradition « den Blicken der Laien »die Auflösung hinter den Mauern« verbirgt. Sondern die symbolischen Mauern sind dazu da, ihre eigenen Risse zu verber-gen. lO Die Aussage, der zufolge schon 1787 »das Königreich Frank-reich eine Gesellschaft ohne Staat« ist, ist eine unverifizierbare/un-falsifizierbare Aussage, eine, die auf ihren Referenten eine spezifi-sche Wirkung der Unentschiedenheit hat - nicht die rhetorische Unentschiedenheit von Tacitus, die das exzessive Wort von seiner Wahrheit trennte, sondern die wissenschaftliche Unentschieden-heit, die zur Folge hat, daß sich der Bericht des Ereignisses nicht von der Metapher der Wissenschaft unterscheiden läßt. Was den Exzeß des Wortereignisses hervorruft, ist die Unmöglichkeit, die Leere zu sehen, die es verursacht und die allein die Wissenschaft sieht. Al-lein die Wissenschaft weiß, daß der König schon vor seiner Tötung gestorben, eines anderen Todes gestorben ist. Und die Unkenntnis

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dieses Todes, der außer dem gelehrten Blick für jeden anderen Blick unsichtbar ist, ermöglicht die Illusion, einen bereits toten Kö-nig zu bekämpfen, die Illusion, die ihre logische Besiegelung im Königsmord und im Terror findet .

Die Erklärung des revolutionären Ereignisses vereint sich nun mit den Kategorien des monarcho-empiristischen Modells. Der Nicht-Ort, der den Taumel des Worts und die Illusion, die das Er-eignis schafft, erzeugt, hat stets dieselbe Ursache: Nicht-Anwe-senheit in der Gegenwart. Die geschichtlichen Akteure leben in der Illusion, die Zukunft zu gestalten, indem sie etwas bekämpfen, das in Wirklichkeit bereits der Vergangenheit angehört. Und die Revolution ist der Gattungsname dieser Illusion, dieser falschen Gegenwart des Ereignisses, das eine bestimmte Unkenntnis mit einer Utopie verschwistert: die Unkenntnis des Vergangenheits-charakters dessen, was man für gegenwärtig hält, mit der Utopie, die Zukunft gegenwärtig zu machen. Die Revolution ist die Illu-sion, die Revolution zu machen, und diese Illusion entsteht aus dem Unwissen, daß die Revolution bereits gemacht ist.

Die Demonstration dieses Zirkels überschneidet sich mit zwei geläufigen und offenbar widersprüchlichen Interpretationen der Revolution: mit der liberalen Interpretation, die sie in die not-wendige Entwicklung der modernen Gesellschaft einbettet und zeigt, daß sie sich schon in den fernen Zeiten der Monarchie ab-zeichnet, und der konterrevolutionären Interpretation, die sie im Gegenteil als einen Gewaltstreich faßt, dazu bestimmt, einer orga-nisch konstituierten Gesellschaft die künstliche Ordnung des phi-losophischen Individualismus und Egalitarismus aufzuzwingen. Die erste Tradition verkörpert Tocqueville, der den langen Marsch der Gleichheit mit der Vereinheitlichung und der monarchischen Zentralisierung im Bunde sieht. Dieser Interpretation zufolge haben in Wirklichkeit die Könige die republikanische Nation ge-

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schmiedet. Die Revolution von 1789 hatte bereits stattgefunden. So kann Tocqueville seine Untersuchung vor dem Jahre 1789 ab-schließen und es anderen überlassen, herauszufinden, warum die Revolutionäre so begierig waren, eine Revolution zu machen, die nicht mehr gemacht zu werden brauchte. Genau in diese Lücke drängt sich die konterrevolutionäre Interpretation . Deren spezifi-sches Thema ist, etwas zu erklären, das keinen Anlaß hatte, statt-zufinden. Und das Erklärungsprinzip ist einfach. Es nennt als Ur-sache die Existenz einer Gruppe von Spezialisten des Nicht-Orts: die Intellektuellen - »Soziologie von Intellektuellen « meint Fran-\ois Furet zu Augustin Cochins Deutung der bestimmenden Rolle der »philosophischen Clubs «. Aber auch hier ist der »Soziologe« bloß derjenige, der auf den Abstand zwischen den Wörtern und den Dingen pocht. Und tatsächlich tut Augustin Cochin nichts an-deres, als der Soziologie die Urszene, die die Konterrevolution zum Geburtsort dieser Wissenschaft ausgerufen hatte, wieder zu neh-men: das Drama, in dem das organische gesellschaftliche Band vom philosophischen Artifizialismus und Individualismus zerris-sen wurde . »Intellektuelle« ist der Wissens-Name, der nun an die Stelle des politischen Namens »Philosophen « tritt. Und es ist, da-mit verbunden, der Name einer narrativen Funktion: der Funktion der Subjekte, die bewirken, daß der Nicht-Ort sich ereignet. Die beiden Interpretationen fügen sich zusammen: Die imaginäre Re-volution der Zukunft dauert so lange, bis die Gesellschaft sich be-wußt wird, daß die Revolution bereits der Vergangenheit angehört. »Indem der Tod von Robespierre dem Sozialen seine Selbständigkeit hinsichtlich der Ideologie zurückgibt, läßt er uns von Cochin zu Tocqueville übergehen «, »Der 9. Thermidor trennt nicht nur zwei Epochen voneinander, sondern zugleich zwei Revolu-tionsbegriffe . Er setzt der Revolution von Cochin ein Ende. Dage-gen läßt er die Revolution von Tocqueville sichtbar werden . «11

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Die Formulierung verdient es, daß wir bei ihr verweilen. Wir verstehen natürlich, daß weder Cochin noch Tocqueville eine Revo-lution gemacht haben, so wenig wie Philipp II . jemals Fernand Braudei empfangen hat. Wir täuschen uns also nicht im Spiel der Zweideutigkeit und in den Figuren der Äquivalenz von Bericht und Rede. Aber hier gerät diese Äquivalenz, die im Bericht vom könig-lichen Tod aufrechterhalten wurde, gänzlich auf die Seite der Rede, die den Bericht absorbiert, auf die Seite der Interpretation, die den platz des Ereignisses einnimmt. Das Spiel mit den Komplementen mündet in die Ersetzung der historischen Szene durch die historio-graphische Szene, in der die Revolution die Sache anderer Akteure ist als derjenigen, die sie zu machen glaubten, und in der sie nur noch als wirres Geflecht von Interpretationen existiert. Der an-fängliche Wille, das Ereignis zu begreifen, indem man es von den Interpretationen befreit, wird damit genau umgewendet. Das em-blematische Ereignis des 9. Thermidor markiert das Ende der illu-sorischen Herrschaft des Ereignisses, die Grenze, die zwei Inter-pretationen, zwei Reden der politischen Wissenschaft voneinander scheidet : eine Interpretation der Illusion und eine Interpretation der Wirklichkeit. Die Geschichte verschwindet in der Geschichts-schreibung; der Wissensanspruch der Historie reicht, wenn er an die Grenze der Vernichtung seines Gegenstandes gelangt, dem Wissensanspruch der Politik die Hand. Die Geschichtsschreibung wird zu einer Filiale der Politikwissenschaft, zu einer Teratologie oder einer Dämonologie, die sich der Erkundung der Verwirrungen widmet, die das Wortereignis in den Rissen der politischen Legiti-mität anrichtet. Das Ende des gelehrten historischen Glaubens ist die Abschaffung der Historie, die nun Soziologie oder Politikwis-senschaft geworden ist. Die Vollendung der gelehrten Revision der Revolution signalisiert deshalb vielleicht den Abschluß des Zeit-alters der Historie .

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Aus diesem Grunde erlaubt diese Vollendung eine Rüc!<wen-dung zu jenem Zeitalter, das sie beschließt : dem erobernden Zeit-alter der Historie als eines intelligiblen Berichts, der den drei-fachen - narrativen, wissenschaftlichen und politischen - Vertrag in dem Feld zwischen der alten Kunst der Politik und der neuen Wissenschaft der Verwaltung der Geschäfte artikuliert . Das Zeit-alter der Historie war dasjenige, in dem die Historiker einen be-grifflichen und narrativen Apparat erfunden haben, der den Exzeß des Wortes zu neutralisieren, aber auch den dem gelehrten Glau-ben an die Geschichte innewohnenden Todestrieb zu beherrschen erlaubte. Das Zeitalter der Historie war, von Michelet bis Braudei, eines, in dem die Historiker die Szene des königlichen Todes im Gleichgewicht von Erzählung und Wissenschaft neu schreiben konnten.

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DER GRÜNDUNGSBERICHT

Die gelehrte Historie des demokratischen Zeitalters hat eine pre-käre Genealogie. Lucien Febvre begrüßte Michelet als den Grün-dervater der Schule der AI111ales. Aber die obligate Huldigung läßt die Bedeutung der Vaterschaft im Dunkel. Und der Ahne ist in Wahrheit störend. Den traditionellen Historikern fällt es schwer zu erkennen, was die Strenge und die Vorsicht der Methode den Leidenschaften, Phantasmen und Stilmitteln des romantischen Gründervaters zu verdanken haben . So überlassen sie es gern dem Semiologen, die Verbindung aufzudecken. l Wir wollen dagegen zu zeigen versuchen, daß Michelets »Phantasmen « und Stilmittel sehr wohl die Bedingungen der wissenschaftlichen Sprechweise der AI1I1ales geprägt haben, daß sie die Operatoren dessen sind, was man früher einen »epistemologischen Einschnitt« nannte und was ich lieber eine Revolution der poetischen Strukturen des Wis-sens nenne.

Denn was Michelet für die Historiographie des Zeitalters der Massen erfunden hat, ist die Kunst, mit dem Exzeß der Wörter, dem »Papiertod « des Königs umzugehen . Angesichts des monar-cho-empiristischen Modells hat er ein republikanisch-romanti-sches Paradigma der Historie erfunden, nach dem sich diese noch heute richten muß, sofern sie Historie bleiben und nicht verglei-chende Soziologie oder ein Anhängsel der Politik- oder Wirt-