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Reader Grundjahr Didaktik Erziehungswissenschaften Module D01/D02 Studienjahr 2017/18 Didaktikteam Kindergarten_Primar PHSG

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Reader G r u n d j a h r D i d a k t i k Erziehungswissenschaften Module D01/D02

Studienjahr 2017/18

Didaktikteam Kindergarten_Primar PHSG

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Grundjahr Didaktik Module D01/D02 2

Didaktische Grundformen des Lehrens und Lernens

Grundform, Definition Wesentliche Merkpunkte sinnvoller Einsatz, Beispiele

Darbietung - Erklären Beim Darbieten liegt der Schwerpunkt auf der Wiedergabe und dem Nahebrin- gen von Sachverhalten. Beim Erklären wird ein einzelnes Element oder ein Zusammenhang verständlich gemacht.

- Themen auswählen, welche die Ler- nenden interessieren

- klarer Ablauf - guter Hör- und Sichtkontakt - Mitbeteiligung - gezielte Anschauung - verständliche Sprache - klar und deutlich sprechen

- Unbeachtetes ins Blickfeld rücken - Klärung eines Sachverhaltes - Besprechung einer Mathe-

matikaufgabe durch die - Lernenden - die Lehrperson liest vor oder erzählt

eine Geschichte - ein Schüler erzählt von seinem Hobby - eine Schalterbeamtin erklärt ihre

Arbeit

Vorzeigen- Nachmachen Eine Person zeigt etwas vor, um den Lernenden auf dem Wege der Nachah- mung eine bestimmte Technik oder ein bestimmtes Verhalten beizubringen.

- Zweck erklären - zuerst ganzen Ablauf im Überblick

zeigen - guter Sichtkontakt - sprachlich kommentieren - stufenadäquate Sprache - Lernende können es selbst ausführen - Kontrolle, Korrektur von Fehlformen

- Übungen und Bewegungsabläufe im Sportunterricht

- Bedienung einer Maschine - Vorzeigen von Techniken (Hobeln,

Schreiben) - Vermeidung von Unfällen und Risiken - Lied, Tanz

Spiele Ganzheitliche Tätigkeit ohne direkten Bezug zur Wirklichkeit. Spielen ist ge- kennzeichnet durch Spannung und Ungewissheit.

- Bereitstellen von Material und Varian- ten

- anspielen und dazu erklären - verständliche, knappe Spielanleitung - selbständig Gruppen bilden - Spielgeschehen aufmerksam betrach-

ten, flexibel reagieren

- Spiele zur Freude, Entspannung - Spiele zur Konzentration,

Disziplin - Lernspiele - Problemlösespiele - Rollenspiele - Regelspiele - Bewegungsspiele - Werkspiele - Miteinander/gegeneinander spielen - Wahrnehmungs-/

Ausdrucksspiele

Lehrgespräch Das Erarbeiten und Entwickeln eines Sachverhaltes steuert die Lehrperson durch Impulse und Fragen.

- Lehrperson überblickt den Lehrstoff - Impulse regen zum Denken an - knüpfen an das Vorverständnis an - schrittweise Entwicklung - verständliche Formulierung - Ergebnisse festhalten - Nur dort einsetzen, wo Lernende

echte Beiträge leisten können

- Sachverhalte erklären - Vorerfahrungen sammeln - Gestaltung eines Briefs (im Gespräch

entwickelnd)

Gespräche Im Gespräch werden gemeinsam unter- schiedliche Sichtweisen geklärt oder gegensätzliche Positionen ausgetragen.

- Atmosphäre (Kreis) - klare Ziele - offene, anregende Impulse - strukturierter Gesprächsverlauf - Gesprächsregeln beachten - Zurückhaltung der Lehrperson

- Vorkenntnisse oder Erfahrungen aktualisieren

- aktuelle Interaktionen aufnehmen - Einfälle unterstützen - verschiedene Sichtweisen diskutieren - gegensätzliche Positionen austragen - auf der Metaebene über Lernen oder

individuelle Lernwege sprechen

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Grundjahr Didaktik Module D01/D02 3

Grundform, Definition Wesentliche Merkpunkte sinnvoller Einsatz, Beispiele

Durcharbeiten Vielseitiges Durchdenken eines Lernin- haltes

- Aufgabenstellung variieren - Darstellungsform wechseln - Lösungswege variieren - verschiedene Blickwinkel

- Übungen zum sinnverstehenden Lesen

- Textaufgaben - Texte überarbeiten - Ebene wechseln:

Handeln - Bildliche Darstellung - Formal - Abstrakte Auseinander- setzung

- verschiedene Lösungswege auspro- bieren und analysieren

Üben Häufige Wiederholung einer Handlung oder Leistung.

- verschiedenartig üben - verteiltes Üben - aktives Wiederholen - erste Wiederholung sofort - mittlerer Schwierigkeitsgrad der Auf-

gaben - Lernhemmungen vermeiden (z. B.

ähnliche Schreibweise) - unmittelbare Kontrolle - Sozialformen wechseln - spielerisch üben - individualisieren

- Übungen zum kleinen und grossen Einmaleins

- Einprägen von Wörtern im Fremd- sprachunterricht

- Trainieren einzelner Bewegungsab- läufe im Sport

- Buchstabenformen der Basisschrift automatisieren

Anschauen und Beobachten Die Lernenden nehmen konkrete, bild- hafte Gegebenheiten wahr und verarbei- ten diese. Handelndes Lernen

- nach Möglichkeit reale Anschauung (Originalbegegnung)

- Frage- Problemstellung für die Ler- nenden

- Darstellung der Beobachtungen (Bild, Sprache)

- Besprechung und Verarbeitung der Ergebnisse

- Pflanzen, Tiere, Gegenstände be- obachten

- Annahmen im Experiment überprüfen - Phänomene ergründen - abstrakte Begriffe veranschaulichen

Problemlösen - Entdecken Beim Entdecken und Problemlösen steht das selbstständige Suchen, Finden und Überprüfen von Annahmen und Lösungen im Vordergrund. Selbständig entdeckendes Lernen

- Problem spricht die Lernenden an - alle können sich mit dem Problem

auseinandersetzen - alle können Vermutungen äussern - Lehrperson hält sich mit Lösungshil-

fen und Bewertungen zurück (Prinzip der minimalen Hilfe)

- Ordnungsgesichtspunkte finden - Regeln und Gesetzmässigkeiten

entdecken - alternative Lösungsmöglichkeiten

suchen - Gestaltungsideen entwickeln und

realisieren - Knobelaufgaben - Forschungsaufträge - offene Aufgaben

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1 Entdeckendes Lernen (bzw. Kap. 5, S.42-51) 1.1 Einführung

Kleine Kinder sind Weltentdecker. Ihre alltäglichen Erfahrungen fordern sie heraus zu lernen, wecken die Neugier. Stück um Stück baut sich ein intuitives Weltwissen auf. Kinder lernen authentisch, durch Nachah- mung und durch eigenständige Suchprozesse. Denn jedes Individuum muss selbst Erfahrungen machen und in seinem Gehirn das Wissen neu erarbeiten. Erfahrungen im Alltag zwingen das Kind entweder das bereits erworbene Wissen zu modifizieren oder neue Konzepte zu bilden. So erwerben Kinder eine Vielzahl von Kompetenzen ohne Pädagogikum, ohne Didaktik (Ansari 2009, S. 4f.). Kleine Kinder wollen lernen, wissen intuitiv, dass der Erwerb von Kompetenzen ständiges Wiederholen und Üben braucht. Im Tun, im entdecken- den Spiel, in der Kooperation lernen sie sprechen, laufen, klettern… „Kinder haben einen geradezu unbändigen Drang selbständig zu lernen. Sie sind in gewisser Weise Forscher und Erfinder. Denn ähnlich wie diese sind sie in der Lage, mit ungebrochener Unbefangenheit, Begeisterung und Ausdauer Dinge zu lernen und zu erforschen. Sehr junge Kinder besitzen bereits die Fähigkeit kausal zu denken. Sie agieren wie Erfinder, bilden Hypothesen und Theorien…“ (Ansari 2013, S. 24)

Ansari (2009) weist auf Gefahren des instruktionsorientierten schulischen Lernens hin: Die Lehrperson denkt voraus, bestimmt, was das Kind zu lernen und zu denken hat, unterrichtet nach dem eigenen Plan. Die Schü- ler/innen werden tendenziell als passive Empfänger/innen betrachtet. Der Unterricht ist körperlos, vornehm- lich kognitiv ausgerichtet und davon geprägt, dass Kinder Antworten auf Fragen erhalten, die sie nie gestellt haben. Ansari weist darauf hin, dass viele Kinder Mühe haben mit dem dramatischen Wechsel von der kindli- chen Art des Lernens hin zum schulischen Lernen (S. 4f.).

Die Frage, wie die Entdeckerfreude der Kinder erhalten und für das spätere Lernen nutzbar gemacht werden kann, beschäftigt Lehrpersonen und die Wissenschaft seit langem. Sokrates hat bereits im antiken Griechen- land durch seine Fragen den Entdeckergeist der Lernenden angeregt. In der Reformpädagogik zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben u.a. Maria Montessori, John Dewey, Célestin Freinet Möglichkeiten gesucht, wie Kinder und ihr eigenes Lernen ernst genommen werden können, ihnen entdeckendes Lernen ermöglicht werden kann und wie sie eigenständig Wissen aufbauen können.

Der Begriff „Entdeckendes Lernen“ wurde durch den Amerikaner Jérome Seymour Bruner (1981) geprägt. Er verstand darunter die selbstlernende Erschliessung eines Wissensgebietes, wobei die Lehrperson in erster Linie eine beobachtende und helfende Funktion hat. Er beschrieb vier Vorteile des entdeckenden Lernens: Es fördere die intellektuellen Fähigkeiten, die Verarbeitung der Informationen im Gedächtnis, die intrinsische Motivation und den Aufbau von heuristischen Strategien (Suchstrategien um zu Problemlösungen zu kom- men).

In der Folge entstand eine intensive didaktische Kontroverse, welche Lehr- und Lernvorstellungen in der Schule wegleitend sein sollen, eher instruktive (behaviouristische) oder kognitivistisch-konstruktivistische Lerntheorien (vgl. Meier 2015, S. 59ff.). Die Diskussion dauert an. Radikal konstruktivistische Vorstellungen, wonach die Kinder weitestgehend selbstgesteuert und ohne Vermittlung von Lehrpersonen lernen sollen, sind fragwürdig, weil in unserer komplexen Wirklichkeit die wenigsten Wissensinhalte in kurzer Zeit selbst- ständig erarbeitet werden können. Umgekehrt besteht die Gefahr beim instruktionalen Lehren, dass nicht an das Vorwissen der Kinder andockt und angeknüpft wird, dass die Kinder daran gehindert werden, eigene Überlegungen zu aktivieren und das Präsentierte aktiv zu verarbeiten. Im Vordergrund stehen heute gemäs- sigt kognitiv-konstruktivistische Unterrichtsvorstellungen. Meier (ebd., S. 58f.) fasst deren Kernpostulate so zusammen: Sie gehen davon aus, dass das Wissen auf Konstruktionen des menschlichen Geistes basiert, dass beim Lernen kognitive Strukturen aktiviert, verändert und vernetzt werden. Die Erfahrungen der Lernen-

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den sind Ausgangspunkt für das Lernen. Deshalb sind das Aktivieren von Vorwissen, die Auseinanderset- zung mit realen Situationen und Problemen aber auch der soziale Austausch (inkl. aktivierender Austausch mit der Lehrperson) zentral. Dieses Lernverständnis ist geprägt von (geistiger) Aktivität, Problemlösen und Selbststeuerung bei der Wissenskonstruktion. Es legt neben instruktionalen Phasen offene Unterrichtsfor- men, Formen des entdeckenden, forschenden und problemorientierten Lernens nahe:

Entdeckendes Lernen soll den Lernenden durch Auseinandersetzung mit eigenen Fragen oder sinnvollen Problemen ermöglichen, eigenständig Informationen zu finden und diese zu verarbeiten. Eine komplexe Form des entdeckenden Lernens ist das Lernen durch Experimentieren mit seinen Phasen (Fragestellung formulieren, Hypothesenbildung, Durchführung von Versuchen und Veränderung derselben, Beobachten und Folgerungen ziehen).

Beim problemorientierten Lernen stehen Aufgaben mit Problemstellungen im Zentrum. Eine Problemstel- lung löst einen kognitiven Konflikt aus, der den Erwerb von Wissen und den Kompetenzaufbau anstösst. Unterschieden werden zwischen inhaltlich klar definierten Problemen, bei denen der Lösungsweg vorgege- ben ist und nicht klar definierten Problemen, wo die Problembearbeitung offen ist. Bei dieser Art von Lernpro- zessen ist neben der kognitiven Aktivität auch der Erwerb von Lernstrategien (Planen, Kontrollieren…) be- deutsam (ebd., S. 59).

Der Lehrplan Volksschule (2017) geht von einer Methodenvielfalt aus, bei der sowohl instruktionale als auch eher konstruktivistisch orientierte Lernformen wie das entdeckende und problemlösende Lernen bedeutsam sind:

„Variable Unterrichtsarrangements ermöglichen die Differenzierung von Lernprozessen über Sozial- und In- teraktionsformen und über das damit ermöglichte Ausmass an Fremd- oder Selbststeuerung. Beispiele von Unterrichtsformen, denen bei guter Qualität der Aufgaben, der Instruktion und der begleitenden Unterstüt- zung ein hohes Potenzial für zielerreichendes Lernen zuzuschreiben ist, sind frontaler Klassenunterricht, Planarbeit, Formen des kooperativen Lernens, entdeckendes, problem- und projektorientiertes Lernen, das Führen von Lerntagebüchern, der Einbezug von Spielelementen in Lernumgebungen, aber auch die Nutzung von fachdidaktischen Lernmedien und von ausserschulischen Lernorten.“ (Lehrplan Volksschule St. Gallen (2017), Grundlagen: Lern- und Unterrichtsverständnis)

1.2 Entdecken als Grundhaltung

Entdeckendes Lernen ist im Grunde weniger ein didaktisches Modell als eine pädagogische Grundhaltung. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist die Neugierde.

Entdeckendes Lernen beginnt damit, dass sich den Lernenden eine Fragestellung, ein Problem anbietet, dass eine Fragestellung stimuliert wird, eine Diskrepanz zum Bekannten oder zur bisherigen Erfahrung - eine kognitive Dissonanz - aufbricht. Entdeckendes Lernen ist ein Prozess, der angetrieben wird durch eigene Interessen, Neugier, Problemlösestrategien. Dabei entstehen neue Fragen, Betrachtungsweisen, das Be- wusstwerden von Zusammenhängen. Es fördert das kognitive Denken, die Abstraktionsfähigkeit. Dabei spielt der Austausch mit anderen eine entscheidende Rolle.

In diesem Kontext stellt sich die Frage, mit welcher Grundhaltung ich als (Lehr-)Person der Lebenswirklich- keit begegne: Bin ich grundsätzlich neugierig? Interessiert mich Unbekanntes? Gehe ich offenen Fragen nach? Verfolge ich Probleme systematisch? Baue ich mein Wissen in erster Linie rezeptiv auf oder versuche ich es entdeckend-verstehend zu konstruieren? Schaue ich bei auftauchenden Fragen sofort im Handy / Netz nach oder suche ich (zuerst) nach eigenen Vorstellungen oder Erklärungen und suche ich den Diskurs mit anderen Menschen?

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Vieles, was uns im Alltag begegnet, glauben wir verstanden zu haben. Viele Fragen stellen wir uns nicht, vielem begegnen wir mit Halbwissen, mit nicht oder nur teilweise verstandenem schulischem Theoriewissen. Wir kommen schnell an die Grenze, wenn wir z.B. ein Phänomen genauer erklären müssen. Z.B. Warum erleben wir, dass unser Körper einen kräftigen Schub erfährt, wenn der Bus anfährt, während wir auf einen freien Sitz im hinteren Teil zugehen? Oder: Warum schwimmen Möwen auf dem Wasser?

Die Grundhaltung der Lehrperson aber zeigt sich auch im Umgang mit den Kindern und deren Fragen. Hat die Lehrperson Interesse an der Welt der Kinder, an deren Weltdeutungen? Fördert sie Kinderfragen im Un- terricht? Begegnet sie Kinderfragen mit schnellen Antworten oder gibt sie den Kindern Zeit und Gelegenheit, eigene Vorstellungen darzulegen? Interessiert sie sich wirklich für die Fehler bzw. „Misskonzepte“ der Kinder oder korrigiert sie diese vorschnell? Übrigens: Sehr oft stellen Kinder im Unterricht nicht einfach „Warum- Fragen“ wie die obigen. Sehr oft machen sie lediglich Bemerkungen, hinter denen sich solche Fragen verste- cken oder die ein enormes Lernpotential beinhalten: z.B. „Ich bin fast umgefallen, als der Bus angefahren ist.“ „Die Möwe schwimmt, ohne dass sie zappelt.“ Auch in solchen Situationen zeigt sich die Grundhaltung als Lehrperson: Ist sie sensibel und offen gegenüber Bemerkungen der Kinder und entdeckt sie das darin enthal- tene Lernpotential?

„Tiefere Rätsel als Kinder kann es kaum geben. Unser eigenes Rätsel läuft uns in den Kindern vergrös- sert entgegen.“ Martin Wagenschein

1.3 Beispiel: Warum schwimmt ein Schiff (Martin Wagen-

schein) Die Schule hat den Auftrag, die Kinder dabei zu unterstützen ihre naiven Vorstellungen, subjektiven Theorien zu überwinden und stabile wissenschaftsgestützte objektivere Wissenskonzepte aufzubauen. Martin Wagen- schein (1886-1988) hat erforscht und erkundet, wie Kinder sich mit interessanten und schwierigen physikali- schen Fragen auseinandersetzen.

„Arnhild (5 Jahre, 1 Monat): „Wie kommt denn der Donner? Die Mutter: Da stossen Wolken zusammen, wenn der Blitz hindurchgeschlagen hat. Arnhild: Sind Wolken dann hart?“… Arnhild (5 Jahre, 3 Monate) erkundigt sich nach den Wolken. Ich erkläre, dass das eigentlich lauter kleine Wassertröpfchen seien. Arnhild: Warum sind dann Wassertropfen nicht weiss?“ (Wagenschein et al.1973, S. 70f.)

Für Wagenschein geht es darum, Kinder in der Schule sorgfältig an physikalisches Wissen heranzuführen. Er postulierte, dass nicht eine grosse Menge Wissensinhalte vermittelt werden, sondern dass grundlegende1, zentrale Inhalte ‚exemplarisch‘ und im ‚sokratischen‘ Gespräch bearbeitet werden sollen. Es ging ihm beim exemplarischen Lernen nicht primär um die quantitative Verringerung des Unterrichtsstoffes, sondern um die Steigerung der Verständnisintensivität der Lernenden, um den Mut zur Gründlichkeit, den Mut zum Ursprüng- lichen.

Beispiel: Im 5. Unterrichtsprotokoll im Buch „Kinder auf dem Weg zur Physik“ z.B. zeigt Wagenschein ein- drücklich wie Kinder einer 4. Klasse sich intensiv im Klassengespräch forschend und entdeckend während mehreren Stunden mit dem Thema „Warum schwimmt ein Schiff?“ auseinandersetzen. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass viele schwere Schiffe im Hafen schwimmen. Der Lehrer lässt ein 10 cm langes Plastikschiffchen schwimmen. In der 1. Lektion kommen die verschiedenen Theorien der Kin- der (das Vorverständnis) zur Sprache. Dabei tauchen ganz unterschiedliche Kindertheorien auf (Das Schiff

1 Wagenschein spricht von ‚genetisch‘, d.h. Orientierung an der Wissenschaftsgeschichte, am Werdegang der wis- senschaftlichen Disziplin als sie ihre grundlegenden Erkenntnisse entdeckte.

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drückt das Wasser weg / aber dann müsste ein Stein auch schwimmen / das Schiff schwimmt, weil Luft drin ist / es schwimmt, weil es aus Holz ist und Holz schwimmt, weil darin Luft ist / dann müsste man nur Löcher in den Stein bohren und er würde schwimmen; aber ein Apfel hat keine Luft drin und schwimmt usw.) Ab der 2. Lektion werden die verschiedenen Theorien mit Experimenten untersucht und geprüft. Zuerst gehen die Kinder der These nach, ob etwas schwimmt, wenn Luft drin ist. Die Kinder denken über ihre Erfahrungen beim Schwimmen nach, untersuchen Gegenstände, die (nicht) schwimmen und (keine) Luft drin haben (Radiergummi und Kerzen werden zerschnitten) und machen Experimente mit einem Plastikbecher, der mehr oder weniger mit Wasser gefüllt wird. In der dritten Lektion geht es um die Frage des Gewichts (Flugzeugträger schwimmen und sind aus Metall). Knete schwimmt nicht und wenn wir die verformen? usw. (Wagenschein et al. 1973)

In der didaktischen Tradition von Wagenschein (vgl. auch Berg & Schulze 1995) bekommen die Kinder Zeit, ihre Vorstellungen auszudrücken, Theorien aufzustellen, sie zu diskutieren, zu prüfen. Auch fachlich richtige Antworten werden nicht sofort kommentiert, sondern vorerst als These akzeptiert. Die Lehrperson wartet nicht auf das (halb)richtige Stichwort, um dann zu sagen „Richtig, genau!“ und die Theorie zu vermitteln. Stück um Stück werden subjektive Vorstellungen besprochen und experimentell überprüft.

1.4 Didaktisch-methodischer Rahmen für das Entdeckende

Lernen

Bönsch (1999) formuliert Grundgegebenheiten zum entdeckenden Lernen: • Entdecken wird nur etwas, wer schon etwas weiss. Man braucht Grundinformationen in einem Lern-

feld, um Fragen, Probleme, Interessen zu entwickeln • Freude und Interesse am Suchen entwickelt sich nicht in Büchern, sondern in der Auseinanderset-

zung mit Phänomenen • Das Formulieren von Fragen, Problemen ist entscheidend für die Qualität der Auseinandersetzung –

nur wer Fragen, Suchmotive, Probleme hat, macht sich auf den Weg des Suchens • Für Lehrpersonen ist es wichtig, tote Sachverhalte in lebendige Handlungen zurück zu verwandeln,

aus denen sie entsprungen sind: Gegenstände in Probleme, Pläne in Sorgen, Verträge in Konflikte, Lösungen in Aufgaben

• Entdeckendes Lernen soll nicht blindes ‚trial and error‘-Verhalten sein, deshalb ist ein Plan zu ent- werfen: Wie können wir das herausbekommen? Wie können wir das überprüfen? Wo können wir nachschlagen, wen fragen?

• Das Ergebnis ist zu überprüfen. Wird die Ausgangsfrage beantwortet, das Problem gelöst? Wie ge- nau?...

Um das entdeckende Lernen in der Schule handhabbar zu machen, hilft die Übersicht in Abbildung 1:

Abb. 8: Didaktischer Rahmen für das Entdeckende Lernen. In Anlehnung an Bönsch (1999, S. 6)

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Die Anlässe für das entdeckende Lernen können sehr unterschiedlich sein: Die Wirklichkeit, die Fragen auf- wirft (z.B. Warum springt mein Ball nicht mehr richtig auf, wenn wenig Luft drin ist?), ein unbekannter Gegen- stand, eine Aufgabe oder ein Problem (z.B. Baut eine möglichst stabile Brücke) oder arrangierte Lernwelten, die das Tun und Denken anregen (z.B. eine Lernwelt zum Hebelgesetz in einer Lernwerkstatt).

In der ersten Phase des Suchens geht es darum, zu explorieren, zu erkunden. Das braucht Zeit und Geduld. Die Lehrperson muss die eigenen Antworten, Theoriebezüge zurückhalten. Diese Phase ist oft begleitet von Gefühlen der Verunsicherung, der Verwirrung. Es braucht Durchhaltevermögen und oft Ermutigung, damit auch eine Faszination für das Neue, Unbekannte, für das Nicht- oder Falschwissen sich entfalten kann.

Nach der Exploration gilt es zu fokussieren, das Problem zu fassen, die Kernfrage zu formulieren und darauf einen Vorgehensplan (allenfalls mit Meilensteinen) zu entwerfen, welcher wegleitend für die Durchführung der weiteren Klärungsschritte ist.

Den Abschluss bilden das Festhalten, das Diskutieren und allenfalls Präsentieren der Erkenntnisse und das Zurückblicken auf den Lernprozess.

Wichtig ist, dass während des Prozesses die Weg- und Lernspuren festgehalten werden. So können die ur- sprünglichen Überlegungen nachvollzogen werden, kann bei ursprünglichen Ideen wieder angeknüpft, kön- nen vielleicht vorschnell als falsch beurteilte Lernwege wieder aufgegriffen werden. Die kontinuierliche Refle- xion des eigenen Lernens und der Vergleich mit demjenigen anderer helfen die eigenen Lernstrategien wei- terzuentwickeln, das Lernen zu lernen (vgl. Beck et al. 1995).

Beispiel: Am berühmten Büchsen-Beispiel von Friedrich Copei von 1930 werden die Phasen kurz zusammenfassend illustriert.

Anlass Auf der Schulwanderung will ein Kind eine Büchse Kondensmilch öffnen.

Es macht ein Loch in den Büchsendeckel. Nichts fliesst heraus. Exploration Die Kinder versuchen das Loch grösser zu machen, es geht nicht. Ein

Kind vermutet, die Milch sei dick geworden. Andere sagen, es habe einen Pfropfen gegeben. Ein Kind hat schlägt ein zweites Loch (weil es das zuhause gesehen hat) und es geht, die Milch fliesst raus. Die Kinder staunen.

Fokussieren In der Schule wird das Phänomen nochmals diskutiert, die Frage formu- liert: Warum braucht es zwei Löcher, damit die Milch aus einer geschlos- senen Dose herausfliessen kann und wie müssen diese Löcher angeord- net sein.

Planen und Durchfüh- ren

Nun wird überlegt, wie man dem Phänomen auf die Schliche kommen könnte, das Vorgehen diskutiert. Die Versuche werden nochmals ge- macht, Varianten erprobt (Mit zwei Löchern die Büchse ganz auf den Kopf stellen oder schräg halten, Zeichnungen werden hergestellt, die Einflüsse der Milch und der Luft diskutiert. Die Hypothesen werden überprüft (Mit dem Finger ein Loch zuhalten), die Versuche werden mit Wasser ge- macht…

Festhalten Die Erkenntnisse über den Einfluss des Luftdrucks werden festgehalten.

Copei beschreibt die Aufgaben des Lehrers so: „Er hat nur den Anstoss, den ein Zufall gab, wirksam ausge- nutzt… Seine Aufgabe ist hauptsächlich, die Fragestellung zu verschärfen und auf nichtbeachtete Punkte das Augenmerk zu lenken, weiter eine geordnete Überlegung der Einzelfälle einzuleiten und bei der Analyse der Fälle durch Veranschaulichung zu helfen. … Der Lehrer muss allerdings auch für sich eine Wendung vollzie-

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hen, dass er nicht ‚Gegenstände‘ in seinem Unterricht ‚behandelt‘, sondern dass er mit den Kindern die von ihnen aufgeworfenen Fragen zu lösen versucht.“ (Copei 1955, Original1930, S. 105f.)

1.5 Umfassende Ansätze

Entdeckendes Lernen wird in verschiedenen Ansätzen und Fächern realisiert. Es gibt umfassende Unter- richtsansätze, die weite Teile des Unterrichts bestimmen:

Dialogisches Lernen Urs Ruf und Peter Gallin (1990) trauen den Kindern zu, dass sie sich z.B. in der Sprache und Mathematik von Beginn weg mit dem Ganzen des Inhalts auseinandersetzen. Die Kinder sollen nicht häppchenweise auf dem Lernweg gefüttert werden. Die Lehrperson (evtl. mit den Kindern zusammen) formuliert Kernideen, die einen Blick auf das Ganze eines Fachgebietes öffnen. Die Kernideen sind nicht Inhalte, sondern Auftakte für (individuelle oder Gruppen-) Lernprozesse. Die Lernenden setzen sich mithilfe der Kernideen intensiv und auf eigenen Lernwegen mit dem Inhalt auseinander und dokumentieren ihren Lernweg in einem Reisetagebuch. Die Ergebnisse werden im Dialog geordnet, reflektiert und kommentiert.

Kernideen

• sind z.B. pointierte Aussagen über einen komplexen Sachverhalt • fordern die Lernenden heraus, ein persönliches Verhältnis zum Stoff zu klären • rücken etwas Provozierendes des ganzen Stoffgebietes in den Vordergrund und laden zum Nach-

denken ein.

Die Reisetagebücher sind private Dokumente, die den persönlichen Lernweg dokumentieren. Es geht darum, sich an dem zu orientieren, was das Kind kann. Man darf darin Fehler machen, sie werden nicht getilgt. Das Reisetagebuch durch die Welt der Sprache oder der Zahlen zeigt die Entwicklung des Kindes.

Beispiel aus Gallin & Ruf 1990, S. 125f.: Die elfjährige Manuela will wissen, wie man mit Brüchen rechnet. Präparierte Aufgaben, bei denen alles schön aufgeht, interessieren sie nicht. So erhält sie schon zu Beginn die Aufgabe: ‘Wieviel gibt 1/7 + 1/3’? Ihre Arbeit an diesem Thema erstreckt sich über 3 Wochen (rund 15 h), in denen sie ihren Lernprozess im Reisetagebuch dokumentiert, darin begleitet die Lehrperson das Lernen mit Impulsen.

Beispiele gemäss Gallin & Ruf 1999, S. 41ff. / 121f. / 132f.: Dominik hat seinen ganzen Schulweg gezeichnet und alle Zahlen, die er gefunden hat, dazugeschrieben. Eine richtige Zahlenspur, die Anlass ist für die weitere intensive Auseinandersetzung mit Zahlen und Rech- nungen… Auftrag: Suche im Fotoalbum drei Bilder von dir, auf denen man schön sieht, wie du älter geworden bist. … Nicht nur auf Fotos siehst du, wie du älter geworden bist, sondern auch, wenn du in deinen alten Reisetage- büchern blätterst. … Was kannst du heute besser als früher? … Das sind drei Texte aus Reisertagebüchern von Vera. Welcher ist der älteste, welcher der jüngste. Vergleiche die Texte … Was hat Vera gelernt? … Was ist besser geworden? Findest du in deinem Reisetagebuch drei ähnliche Beispiele. Beschreibe deine wich- tigsten Fortschritte. Auftrag: Suche in der Plus-Tabelle deine Lieblingsrechnungen. Färbe die Resultate mit deiner Lieblingsfarbe. Suche dann die störrischen Rechnungen und färbe sie mit einer anderen Farbe. Wähle eine störrische Plus- Rechnung aus und schreibe ihre acht Nachbarn ins Reisetagebuch. Gibt es freundliche Rechnungen unter den Nachbarn. Helfen sie dir beim Ausrechnen der störrischen Rechnung? Beschreibe…

Forschendes Lernen in der Begabungsförderung „Kinder leben in Fragen, Erwachsene leben in Antworten.“ Dieses Zitat von Peter Bichsel eröffnet das Buch ‘Forschendes Lernen’ von Esther Brunner, in dem aufzeigt wird, wie der forschend-entdeckende Ansatz in

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der Begabungsförderung eingesetzt werden kann. „Forschendes Lernen ist eine mögliche Antwort auf den Umgang mit Heterogenität und wird zu einer Didaktik der generellen Begabungsförderung.“ (Brunner 2001, S. 15). Brunner betrachtet Forschendes Lernen als Möglichkeit für Enrichment, indem divergentes Denken gefördert wird. Sie arbeitet wie Gallin & Ruf mit Kernideen, die Spielraum für eigene Fragestellungen lassen.

Beispiel: Zahlen werden in unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich geschrieben. Da können sich Kinder mit dem babylonischen, römischen oder chinesischen Zahlensystem auseinandersetzen. Die Kinder erhalten schriftliche Arbeitsaufträge, die interessant, herausfordernd und überraschend sind. Z.B.: In Ägypten schrieb man in einer Bilderschrift. Die Zahlen sahen dort so aus… Betrachte die Schreibwei- se. Versuche hinter das System zu kommen. Wie funktioniert die Bilderschrift? (ebd., S. 50f.)

Die individuelle Auseinandersetzung mit dem Auftrag erfolgt in einem (Lern-)Journal. Darin wird der For- schungsprozess sichtbar und nachvollziehbar dokumentiert. Der Austausch mit anderen erfolgt im schriftli- chen Dialog mit der Lehrperson, bei der ritualisierten Konferenz der Kinder, im Tutorat bzw. Lerntandem. Zum Abschluss wird ein Bericht erstellt.

In der Begabungsförderung hat das Projektlernen, das eigenständige Forschen einen grossen Stellenwert, indem Kinder die Möglichkeit erhalten, eine persönliche Forschungsarbeit zu einem selbstgewählten Thema zu verfolgen (vgl. ebd., S. 153ff.).

1.6 Fragen und Aufgaben im entdeckenden Lernen

Es sind nicht nur umfassende Unterrichtsansätze, die Entdeckendes Lernen ermöglichen. Entdecken kann auch in kleinen Sequenzen im Unterricht erfolgen. Eine entscheidende Rolle spielen dabei Fragen und Auf- gabenstellungen bzw. Aufträge.

Unterrichtsfragen und entdeckendes Lernen Jost Elstgeest (1996) weist darauf hin, dass es im Unterricht entscheidend ist, die richtige Frage zur richtigen Zeit zu stellen.

Beispiel: „Ein Kind warf mit einem Spiegel Sonnenlicht an die Wand. Die Lehrerin fragte: „Warum reflektiert ein Spiegel Sonnenlicht?“ Das Kind wusste es nicht, schämte sich und lernte nichts. Hätte die Lehrerin ge- fragt: „Was geschieht, wenn du doppelt so weit von der Wand weg stehst?“, hätte das Kind ihr antworten können, indem es genau dies ausprobiert hätte…“ (ebd., S. 22)

„Warum“-Fragen sind für das Entdeckende Lernen nicht immer förderlich. Sie tendieren zu verbaler „Weit- schweifigkeit“, zu langen Erklärungen. Eine gute Frage ist der erste Schritt zu einer Antwort, lädt zu näherer Betrachtung ein, kann beantwortet werden.

Elstgeest (ebd., S. 22f.) unterscheidet folgende produktiven Fragen:

• Aufmerksamkeit weckende Fragen: Habt ihr bemerkt? Was geschieht?... Diese Frageform stösst Be- obachtungen an.

• Fragen zum Messen und Zählen: Fragen nach Messen und Zählen (Wieviel? Wie lang?...) stossen das Nachprüfen an, ebenso quantitativ vergleichende Fragen (Was ist häufiger, länger…?)

• Qualitativ vergleichende Fragen fordern heraus zu ordnen, zu systematisieren, Tabellen zu machen (Wie unterscheiden sich?)

• Handlungsfragen sind „Was-geschieht-wenn“-Fragen. Sie sind produktiv und können beantwortet werden.

• Problemaufwerfende Fragen wie „Kannst du eine Methode finden, um…“ oder „Könnt ihr erreichen, dass…“ stossen weiterführendes Erkunden an. Diese Frage-Art fordert auf, einfache Hypothesen aufzustellen und ihnen nachzugehen, sie zu überprüfen. Damit können erste Erfahrungen mit ‚wis- senschaftlichem‘ Handeln und Denken erprobt werden.

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Nach Elstgeest (ebd., S. 25f.) sind im Kontext des Entdeckenden Lernens ‘Wie-‘ und ‘Warum-Fragen’ heikel, wenn sie den Eindruck erwecken, dass es eine kurze, richtige Antwort gibt, wenn sie als Testfragen verstan- den werden statt dass sie zum Nachdenken anregen. Er empfiehlt deshalb eher die Phrase „Warum denkst du…“ zu benutzen. Generell sind im Entdeckenden Lernen Fragen anzustreben, die die Aktivität der Kinder und das Denken fördern.

Aufgabenstellungen Der Lehrplan Volksschule SG (2017) betont die Wichtigkeit von Aufgabenstellungen für einen kompetenzori- entierten Unterricht:

„Inhaltlich attraktive und methodisch durchdachte Aufgaben und Lernaufträge sind die zentralen fachdidakti- schen Gestaltungselemente von Lernumgebungen und bilden damit das Rückgrat guten Unterrichts. Sie sind Quellen der Motivation und Ausgangspunkte für Schülerinnen und Schüler, sich auf fachliche Themen und Gegenstände einzulassen. Die Aufgaben werden auf die mit dem Unterricht verfolgten Zielsetzungen abge- stimmt. Sie müssen die Gelegenheit bieten, fachliches und überfachliches Lernen zu verknüpfen und können zum Beispiel als Einstiegs-, Entdeckungs-, Durcharbeitungs-, Vertiefungs-, Systematisierungs-, Übungs- oder Transferaufgaben gestaltet sein.

Gute kompetenzorientierte Aufgaben sind fachbedeutsame, gehaltvolle Aufgaben. Sie repräsentieren fachli- che Kernideen…. Sie beinhalten herausfordernde aber nicht überfordernde Problemstellungen, welche zum Denken aktivieren und zum Handeln anregen. Sie sprechen schwächere und stärkere Lernende an und be- günstigen individuelle Lern- und Bearbeitungswege auf unterschiedlichen Leistungsniveaus und mit unter- schiedlich ausgeprägten Interessensgraden (enge, halboffene und offene Aufgabenstellungen). Sie wecken Neugier und Motivation (z.B. durch Alltagsnähe, Anschaulichkeit, Spielcharakter) und ermöglichen das Re- flektieren der Lernenden über Sachzusammenhänge sowie über ihr eigenes Lernen und Problemlösen. Sie stossen situativ Kommunikations- und Kooperationsprozesse an und lassen Raum für das Lernen von- und miteinander.“ (Lehrplan Volksschule (2017). Grundlagen: Lern- und Unterrichtsverständnis)

Im Unterricht haben Aufgaben ganz unterschiedliche didaktische Funktionen. Sie dienen dem Wissenser- werb, der Auseinandersetzung mit Inhalten aber auch dem Einüben von Fertigkeiten (Übungsaufgaben) und der Leistungsbewertung. Übungsaufgaben sind tendenziell weniger komplex, seltener offen formuliert. Beim entdeckenden Lernen dagegen stehen eher offene “Lernaufgaben“ d.h. „lernprozessanregende Aufgaben“ im Vordergrund. Sie sollen kognitiv herausfordernd (aber bewältigbar) sein, situativ bedeutsam (z.B. wirklich- keitsbezogen) sein und die Lernenden zu Selbsttätigkeit herausfordern. Entscheidend für das Lernen der Kinder ist, dass es bei Lernaufgaben gelingt, die (kognitive) Aktivität der Lernenden, die individuelle geistige Be- und Verarbeitung anzustossen und zu fördern (vgl. Meier 2015, S. 65ff.).

Beispiel Im Mathematikunterricht sollen die Kinder erkennen, dass bei Additionsaufgaben die Summanden umgestellt werden können. Die Einstiegsaufgabe könnte heissen: «Wie zählst du 2 und 49 zusammen? Bestimmt beginnst du nicht bei 2 und machst dann 49 anstrengende Schritte. Du kehrst die Aufgabe um und rechnest 49+2=51. So gibt es rechenfreundliche und nicht sehr rechenfreundliche Aufgaben. Die Aufgabe 43+18+57=… ist nicht sehr freundlich. Findest du eine bessere Reihenfolge? Erfinde selber unfreundliche Aufgaben. Später kannst du sie anderen Kindern geben.» Die Kinder könnten in der Folge versuchen, verschiedene ‘Typen’ von Umstellaufgaben diskutieren und sich fragen, wo sich das Umstellen lohnt (Aufbau und Durcharbeiten). Beim Üben können die Aufgaben der ande- ren Kinder gelöst werden. (vgl. Gallin & Ruf 1995, S. 161)

Untersuchungen im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich zeigen, dass es für Kinder im Primar- schulalter nicht einfach ist, zu experimentieren und Probleme zu lösen. Es besteht die Gefahr, dass zu ober-

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flächlichen Merkmalen (Schlüsselwörtern, Zahlen, Ähnlichkeiten) irgendeine Lösung kombiniert wird, dass unsystematisch vorgegangen wird, dass Ergebnisse nur selten auf die ursprüngliche Fragestellung bezogen und auf Richtigkeit überprüft werden (Meier 2015, S. 90ff.). Um nachhaltiges Wissen aufzubauen, ist eine tiefe Verarbeitung notwendig. Dies bedeutet, dass bei umfassenderen Lernaufgaben die Fragestellung, das Problem zuerst eingehend analysiert werden muss. Es müssen zu Beginn sorgfältig innere Vorstellungsbilder (‚mentale Repräsentationen‘) zur Situation und Aufgabe aufgebaut werden (vgl. ebd., S. 101). Dies kann durch eine gemeinsame Problemanalyse im Klassen-/Gruppen-/Einzelgespräch, durch eine sorgfältige Situa- tions- und Aufgabenbeschreibung oder durch eine prozessorientierte Lernbegleitung durch die Lehrperson oder andere Kinder geschehen. Später müssen die Erkenntnisse verarbeitet, automatisiert / geübt, in An- wendungskontexte gestellt werden, kurz: die Berücksichtigung der Lernprozessphasen ist auch bei einem entdeckungsorientierten Zugang wichtig.

1.7 Entdeckendes Lernen und Lernprozessphasen

Nicht in allen Lernprozessphasen sind entdeckende Aufgaben gleich zentral. Entdeckende Aufgabenstellun- gen sind insbesondere in den ersten Phasen bei der Annäherung und dem Aufbau häufig. In der Übungs- phase dagegen stehen häufig eher engere, auf Reproduktion ausgerichtete Aufgaben im Zentrum. Allerdings werden gerade in der Mathematik auch in der Übungsphase verstärkt ‘produktive’ Rechenübungen einge- setzt, welche aktiv-entdeckende Elemente enthalten (vgl. Hengartner & Wieland 1990). Auch in der Anwendungsphase kommen entdeckende Aspekte und problemlöseorientierte Aufgaben- stellungen verstärkt vor, da Lernende herausgefordert werden, Wissen in neuen Kontexten anzuwenden.

Abb. 9: Entdeckender Zugang in den Lernprozessphasen (vgl. Pädagogische Hochschule St. Gallen: Allgemeine Di- daktik Skript 1. Studienjahr)

Beispiel: Ein Kind muss für eine Werkaufgabe einen Plan erstellen und sollte dazu Winkel messen und zeichnen. Es hat noch nie mit einem Transporteur gearbeitet. Die Lehrperson gibt ihm einen Transporteur und sagt: «Dieses In- strument hilft dir Winkel zu messen und regelässig zu zeichnen. Pro- biere, wie es funktioniert. Wenn du glaubst, dass du es herausgefun- den hast, kannst du es mir zeigen.» Allenfalls könnte das Kind auch noch zusätzlich aufgefordert werden, die einzelnen Schritte und Über- legungen zu dokumentieren. (Annäherung) Als das Kind zurückkommt, sind viele Winkel in der Entwurfsskiz- ze ungenau oder falsch. Die Lehrperson lässt sich das Vorgehen

Abb. 10: Abbildung aus Gallin, 1990, S. 109

zeigen und sieht, dass es oben bei der Rundung misst und den Scheitelpunkt nicht beachtet (siehe Abbil- dung). Die Lehrperson verzichtet darauf, die richtige Handhabung einfach zu zeigen (Vorzeigen und Nach- machen), sondern gibt dem Kind in der Aufbauphase lediglich Impulse, die ihm weiterhelfen sollen, den Transporteur und das Winkelmessen zu erkunden (z.B. einen Winkel messen lassen und dann die Schenkel

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erweitern und wieder messen lassen, den Transporteur untersuchen (zusammengehörige und einsame Tei- le), auf den Nullpunkt hinweisen…). Als sich zeigt, dass das Kind die Handhabung begriffen hat, bekommt das Kind in der Phase des Durcharbei- tens den Auftrag, eine kurze Wegleitung zum Gebrauch des Transporteurs zu erstellen. In der Übungsphase automatisiert das Kind das Messen und Zeichnen von Winkeln anhand von Übungsblättern. Anschliessend kann es das Gelernte in der ursprünglichen Werkaufgabe anwenden. Dabei entdeckt es zufällig (oder durch einen Impuls der Lehrperson), wie es durch Parallelverschiebung des Transporteurs wesentlich schneller gleiche Winkel übertragen kann (vgl. Gallin 1990, S. 109f.).

1.8 Literaturverzeichnis Ansari, S. (2009). Schule des Staunens. Lernen und Forschen mit Kindern. Spektrum Heidelberg Ansari, S. (2013). Rettet die Neugier. Gegen die Akademisierung der Kindheit. Fischer Krüger, Frankfurt am

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nen, S.15-29. Weinheim. Brunner, E. (2001). Forschendes Lernen. Eine begabungsfördernde Unterrichtskonzeption. ilz Lehrmittelver-

lag des Kantons Thurgau Copei, F. (1955 Original 1930). Der fruchtbare Moment im Bildungsprozess. Quelle & Meyer Heidelberg Elstgeest, J. (1996). Die richtige Frage zur richtigen Zeit. In: Die Grundschulzeitschrift Nr. 98 1996, 22-26 Gallin, P.& Ruf, U. (1990). Sprache und Mathematik in der Schule. Auf eigenen Wegen zur Fachkompetenz.

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matik. 1.-3. Schuljahr. Lehrmittelverlag des Kantons Zürich Hengartner, E. & Wieland, G. (1990). Üben und entdeckendes Lernen. In: die neue schulpraxis. Nr. 7/8 1990 Lehrplan Volksschule St. Gallen. Grundlagen: Lern- und Unterrichtsverständnis.

http://sg.lehrplan.ch/index.php?code=e|200|2. 26.08.2017 Meier, A. (2015). Motivation, Emotion und kognitive Prozesse beim Lernen in der Lernwerkstatt. Logos Ver-

lag Berlin Wagenschein, M. & Banholzer, A. & Thiel, S. (1973). Kinder auf dem Weg zur Physik. Klett Stuttgart

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12 Abbildungsverzeichnis