Reaktion und Auslösung bei der Schizophrenie

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(Aus der psychiatrischen Klinik K61n a. Rh. [Prof. Dr. G. Aschaffenburg].) Reaktion und AUsl~sung bei der Schizophrenie. Von Kurt Schneider. (Eingegan.qen am 8. Mai 1919.) In seinem Aufsatz ,,Kausale und verst~ndliche Zusammenh~nge zwisehen Schicksal und Psychose bei der Dementia praeeox ''1) hat Jaspers den Begriff der ,,Reaktion" n~her bestimmt. Er verengerte ihn, indem er, entsprechend seiner hier als bekannt vorausgesetzten Unterscheidung yon kausalen und verst~ndliehen Zusammenh~ngen, einen tiefen Unterschied festsetzte zwischen Dingen, die, wie Menstrua- tion, Ermtidung, Hunger, gi~nzlieh aul~erbewul~t, physisch auf die seetische Disposition einwirken, und seelischen Ersehtitterungen, mit dene n For m und I nhalt der folgende n Psychose versti~nd- lich verbunden sind. Wi~hrend im ersten Fall nur ein kausales Band besteht, kommt im zweiten noch ein verst~tndliehes Band daz u. Gegen- fiber den kausalen Zusammenh~ngen bedeuten die verst~ndliehen ledig- lich ein Plus, das nicht etwa das kausale Denken unterbinden daft. DieKausaliti~t hSrt nirgends auf. In einer gro~enZahl vonFi~llen, insbesondere da, wo der seelische Grundzustand vor und nach dem Er- ]ebnis der gleiche bleibt, denken wir allerdings tiberhaupt nieht an kau- sale Zusammenh~nge zwischen den gedachten aui~erbewul~ten Grund- lagen seelischer Zust~nde, sondern bleiben ganz beim Hineinversetzen in die verst~tndlichen Zusammenhi~nge; so, wenn wir die einem Mil~ge- schiek folgende Verstimmung verstehen. Jaspers beschr~nkt nun -- indem er sich der Willkfirlichkeit der Terminologie bewuBt ist -- den Be- griff der reaktiven Psychose auf die abnormen seelischen Ver~nderungen, welche auf ein Erlebnis hin eintreten und mit diesem inhaltlieh ver- sti~ndlich ~erbunden sind. ,,Die Be de u t u n g, die die Vorgi~nge ffir die Seele haben, ihr Erlebniswert, die Gemiitsersehfitterung, die mit ihnen verst~ndlieh verbunden ist, nicht gewisse physische Wirkungen, berechtigen dazu, einen daraufhin entstehenden abnormen Zustand reak- tive Psychose zu nennen." Wenn solche verst~ndlichen Zusammenhi~nge 1) Diese Zeitschrift Orig. 14, 158. Z. f. d. g. Neur u. Psych. 0. L.

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(Aus der psychiatrischen Klinik K61n a. Rh. [Prof. Dr. G. Aschaffenburg].)

Reaktion und AUsl~sung bei der Schizophrenie. Von

Kurt Schneider.

(Eingegan.qen am 8. Mai 1919.)

In seinem Aufsatz ,,Kausale und verst~ndliche Zusammenh~nge zwisehen Schicksal und Psychose bei der Dementia praeeox ''1) hat J a s p e r s den Begriff der ,,Reaktion" n~her bestimmt. Er v e r e n g e r t e ihn, indem er, entsprechend seiner hier als bekannt vorausgesetzten Unterscheidung yon kausalen und verst~ndliehen Zusammenh~ngen, einen tiefen Unterschied festsetzte zwischen Dingen, die, wie Menstrua- tion, Ermtidung, Hunger, gi~nzlieh aul~erbewul~t, p h y s i s c h auf die seetische Disposition einwirken, und see l i s chen E r s e h t i t t e r u n g e n , mi t dene n Fo r m und I n h a l t der fo lgende n P s y c h o s e vers t i~nd- l ich v e r b u n d e n s ind . Wi~hrend im ersten Fall n u r ein kausales Band besteht, kommt im zweiten noch ein verst~tndliehes Band daz u. Gegen- fiber den kausalen Zusammenh~ngen bedeuten die verst~ndliehen ledig- lich ein Plus, das nicht etwa das kausale Denken unterbinden daft. D ieKausa l i t i~ t hSr t n i r g e n d s auf. In einer gro~enZahl vonFi~llen, insbesondere da, wo der seelische Grundzustand vor und nach dem Er- ]ebnis der gleiche bleibt, denken wir allerdings tiberhaupt nieht an kau- sale Zusammenh~nge zwischen den gedachten aui~erbewul~ten Grund- lagen seelischer Zust~nde, sondern bleiben ganz beim Hineinversetzen in die verst~tndlichen Zusammenhi~nge; so, wenn wir die einem Mil~ge- schiek folgende Verstimmung verstehen. J a s p e r s beschr~nkt nun -- indem er sich der Willkfirlichkeit der Terminologie bewuBt ist -- den Be- griff der reaktiven Psychose auf die abnormen seelischen Ver~nderungen, welche auf ein Erlebnis hin eintreten und mit diesem inhaltlieh ver- sti~ndlich ~erbunden sind. ,,Die Be de u t u n g, die die Vorgi~nge f fir die Seele haben, ihr E r l e b n i s w e r t , die G e m i i t s e r s e h f i t t e r u n g , die mit ihnen verst~ndlieh verbunden ist, nicht gewisse physische Wirkungen, berechtigen dazu, einen daraufhin entstehenden abnormen Zustand reak- tive Psychose zu nennen." Wenn solche verst~ndlichen Zusammenhi~nge

1) Diese Zeitschrift Orig. 14, 158. Z. f. d. g. Neur u. Psych. 0 . L.

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zwischen dem Erlebnis und dem neuen Zt~stand n i c h t bestehen, handelt es sieh nicht um eine Reaktion, sondern um ein r e i n kausales Band in der Form des Anlasses oder der Ausl6sung.

Man wird gut tun, sieh dabei stets klar zu sein, dab j ede Funktions- st6rung des Organismus, j ede Erkrankung das Ergebnis m i n d e s t e n s z w e i e r Faktoren ist, und immer naeh d e n Ursaehen, nieht nach der Ursache zu fragen. Um dem naiven Glauben, es k6nne ein Vorgang nur durch e i n e n Faktor zustande kommen, schon durch den Ausdruck vorzubeugen, schlug H. E. H e r i n g 1) vor, den Ausdruck Ursache m6g- lichst ganz zu vermeiden und yon , , K o e f f i z i e n t e n " zu reden. Es scheint mir fruehtbar, diese Koeffizientenlehre auch in der Psychiatrie an Stelle der J~tiologie zu setzen. So ware etwa bei einer Puerperal- psychose das Puerperium e in Koeffizient der Psychose, ein zweiter (,,vitaler") die bestehende Disposition.

J a s p e r s unterscheidet yon den reaktiven und spontanen die blo13 a u s g e l 6 s t e n Psychosen, und wir k6nnen weiter mit ihm einer Aus- 16sung durch p h y s i s e h e Koeffizienten eine solche durch p s y c h i s c h e gegentiberstellen. Letztere kann wieder in zweifaeher Weise wirken: die seelische Erschtitterung ist nur der letzte, vielleicht entbehrliche AnlaI3 zur Psychose, die nun naeh ihren el'genen Gesetzen in v611iger Unabhi~ngigkeit vom psychisehen Anlaf3 verli~uft, ohne mit diesem dureh ein versti~ndliches Band verbunden zu sein. Ist hierbei die seelische Erschtitterung nur tin Nebenkoeffizient, so kann sie in anderen F~llen ein Hauptkoeffizient sein, wie bei Katastrophenpsychosen; auch hier b r a u c h t ein verst~Lndlicher Zusammenha~g nicht zu bestehen. Ich kann zwischen diesen beiden letzten Formen keinen prinzipiellen, sondern nur einen graduellen Unterschied sehen und m6chte so neben den spontanen Psyehosen nur ausgelSste und reaktive Psychosen un~erscheiden.

Betrachtet man die Begriffe spontane, ausgel6ste und reaktive Psychosen an der Hand der Koeffizientenlehre, so kann man sagen: Bei s p o n t a n e n Psychosen k e n n e n wir keinen Koeffizienten; bei a u s g e l 6 s t e n Psychosen kennen wir e i n e n mehr oder minder wieh- tigen, kSrperliehen o d e r seelischen Koeffizienten; bei r e a k t i v e n Psychosen i s t d i e s e r K o e f f i z i e n t e in s e e l i s e h e s E r l e b n i s , u n d d e r I n h a l t d e r P s y c h o s e i s t k e i n z u f ~ L l l i g e r , s o n d e r n v e r s t i t n d - l i ch m i t d e m E r l e b n i s v e r b u n d e n . Daraus geht hervor, dal3 k a u s a 1 betrachtet zwischen ausgel6sten und reaktiven Psychosen kein Unterschied besteht und bei den reaktiven nur noeh das Plus der ver- sti~ndlichen Zusammenh~tnge d a z u kommt.

E r w e i t e r t hat J a s p e r s den Begriff der reaktiven Psychose, indem er , ,alle abnormenSeelenzust~nde, die auf e i n E r l e b n i s in unmittel-

1) Die Koeffizientenlehre (Pluralititt der Ursachen). Die Naturwissenschaften 1913.

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barem Zusammenhang mit demselben und in r tic k b i ld u ng s f i~hige r Weise und so auftreten, dab die Inhalte des neuen Zustandes einen v e r - s t i ~ n d l i c h e n Zusammenhang mit dem Erlebnis haben", dazu rechnet; er gebraueht also den Begriff nicht, wie weite Kreise, im dia- g n o s t i s c h e n Sinn, verbindet mit ihm nicht den Begriff des ,,Degene- rativen", sondern sehlieBt sich B l e u l e r s l~bertragung aueh auf die Schizophrenic an. Im Prinzip dehnt er ihn aueh auf die organischen Demenzprozesse aus, die jedoch ,,nur eine ganz momentane Reaktivi- ti~t, wie sie allem Lebendigen eigen sein mul~", nie eine Beziehung yon Schicksal und Psyehose aufweisen. Warum J a s p e r s die R f i c k b i l - d u n g s f ~ h i g k e i t in den Begriff aufgenommen hat, ist mir nicht klar geworden, jedenfalls geht diese Forderung aus der Entwicklung des Be- grilles nieht hervor.

Ohne diesen Gegensatz auszuspreehen, hat B o r n s t e i n 1) nun tat- si~chlich psychisehe P r o z e s s e , nach J a s p e r s : d a u e r n d e psy- ehisehe Veri~nderungen, denen wir nur vom psychologischen Standpunkt ni~herkommen kSnnen, besehrieben, die eine Reaktion auf ein bestimm- tes psychisches Erlebnis darstellen, in unmittelbarem Zusammenhang mit diesem Erlebnis entstehen und inhaltlich diesem entsprechen. Er glaubt, das Krankheitsbild seiner F~lle trotz vorhandener Spaltung und dauernder Umwandlung der PersSnlichkeit auf Grund einiger, wenig stichhaltiger Kriterien -- keine charakteristischen AssoziationsstSrungen, keine Halluzinationen, keine Verfolgungsinhalte der Wahnvorstellungen, teilweise KorrektionsmSglichkeit -- auch yon den reaktiven Formen der Schizophrenie trennen und auf Grund seiner zwei Fi~lle eine neue Krankheit : ,,Schizothymia reactiva" aufstellen zu k6nnen.

Schon bald darauf zeigte v a n d e r T o r r e n ~) an einer sehr schSn be- schriebenen chronischen reaktiven Psychose die Unhaltbarkeit des neuen Krankheitsbildes. Dai3 B o r n s t ei n s Fglle trotzdem ftir die ganze Frage einen grol~en Wert behalten, sei ausdrticklieh betont.

Kehren wir zurfick zu der Einteilung in spontane, ausgelSste und reaktive Psychosen und betrachten w i r unter diesem Gesichtspunkt s c h i z o p h r e n e E r k r a n k u n g e n , so mag es zuerst einmal von Wert

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sein, sich diese Formen in r e i n e n Ausbildungen, im P r i n z i p klar- zumachen. Wir halten uns dabei an die J a s p e r s s c h e Forderung, daB wir fiir reaktive Psyehosen versti~ndliche Zusammenhi~nge mit dem aus- 16senden Erlebnis verlangen, und vergessen dabei auch nicht, dab die versti~ndlichen Zusammenhi~nge die kausale Fragestellung nicht aus- schlieflen dfirfen, dem Kausalen gegentiber keinen Gegensatz, sondern ein Plus bedeuten.

1) ,,Uber einen eigenartigen Typus der psychischen Spaltung". Diese Zeitschr. Orig. 36, 86.

2) ,,Ein Fall yon Sghizophrenie ?" Diese Zeitschr. Orig. 39, 364.

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aufhSrlich die Klingel in Bewegung gesetzt, und als der Portier gekommen sei, ihm gesagt, er mtisse sofort einen Polizisten holen, sie mtisse bestraft werden, sie wolle vors Gericht. Es habe eine g~ol3e Aufregung im Hotel gegeben, alles sei zu- sammengelaufen, alle G/iste seien aufgewaeht. Als der hinzugenffene Arzt ge- kommen sei, habe sie gesagt: , ,Ich b r a u c h e k e i n e n Arz t , s o n d e r n e i n e n K r i m i n a l b e a m t e n . " Der Arzt habe dann gesagt, er sei Jurist, daraufhin habe sie gebeten, dal3 die Mutter sich entferne, dann mit ihm gesprochen und sich an- geklagt. Sie h~tten dann hierher gewoltt; es h~tte aber groBe Schwierigkeiten ge- geben, Eugenie sei nieht mit zum Krankenwagen gegangen und habe einen gro0en Menschenauflauf verursaeht. Sie habe sie dann aus den Menschen heraus in eine stillere StraBe gezerrt; hier seien sie in ein Auto gestiegen, wobei aller- dings Sehutzleute h/itten Gewalt anwenden miissen, und seien hierher ge- fahren.

Sie wird morgens gegen sechs Uhr yon einem Arzt, einem Schutzmann und der Mutter in die Klinik gebracht. Pat. macht bei der Aufnahme einen innerlieh sehr erregten Eindruek, werm sie sich auch sehr beherrseht, sagt mit bebender Stimme, sie sei iiberhaupt nicht krank, sie habe nur viel auf dem Gewissen. Mit dem Arzt allein gelassen, beginnt sie sofort zu erz~hlen, sie wiirde in scheul3- l i c h e r W e i s e y o n e i n e m H e r r n aus P o r t u g a l v e r f o l g t und kSnne nirgends Ruhe haben. Sie wird dann ins Bert gebrachr und verbringt den Rest der l~acht vSllig ruhig.

5. XI. Sie erz/~hlt mit ausgesprochen /~ngstlichem Affekt und dazwischen hinein laut weinend, dab sie immer noch yon dem Portugiesen verfolgt werdr dal3 er ihr drohe und sie nieht mehr loslasse. Sie ruft wiederholt: ,,Dieser sehreek- liehe Mensch", fragt aueh den Arzt angstlich, ob er allein sei, und ob der Portu- giese hier nicht hereinkommen kSnne. Sie miisse sich die grSl3ten Vorwtirfe machen, sie sei am E n d e doch dem Menschen zu we i t e n t g e g e n g e k o m m e n , es sei aber e i g e n t l i c h nie e twas S c h l i m m e s pas s i e r t , er habe aueh n i eh t s we i t e r ge$an, als sich h S c h s t e n s e i n m a l in den Wcg g e s t e l l t , w e n n sie du rch die Tiir habe gehen wollen. Es sei da noch ein anderer Herr gewesen, der sich auch um sie bemiiht habe, aber auch um die Frau des Hauses.

Es 1/i~t sich nicht entseheiden, ob nieht s chon der H e i r a t s a n t r a g eine Wahnvorstellung ist, oder ob es sich tatsiiehlich um etwas Reales ge- handelt hat. Obgleich sie von diesem tteiratsantrag erz/s sagt sie anderer- seits, der Herr habe nicht daran gedacht, sich scheiden zu lassen. Sie erz/s dann auch yon England, sie habe einmal im Hotel mit einer Freundin zusammen einem Bekannten ihre ZimmCer gezeigt, sie habe damals nicht daran gedaeht~ dal3 das etwas Schlimmes sein kSnnte, jetzt aber sehe sie das wohl ein, denn iiberall, wo sie hinkomme, spreche map davon, dal3 sie in Portugal und Eng- land allerlei Unschickliches gemacht habe; namentlich bedauere sie es" wegen ihrer Mutter, dal3 ihr Ruf ruiniert sei.

Alles, was sie vorbringt, tr/igt einen sehr depressiven Affekt, ist aber inhalt- lieh doch sehr zerfahren. Als sie von der Mutter besucht wird, spricht sie kaum etwas und verh/~lt sich ziemlich ablehnend. Als die Mutter sie streicheln will, sagt sie: ,,Du bist grausam."

8. XI. Sie wurde nach dieser ersten/ingstlichen Zeit mit einem Schlage ganz ruhig und affektlos, erz/~hlte mit stil31ich z u g e s p i t z t e m Mund und umst/~nd- lich, es gehe ihr sehr gut, sie habe keine Angst mehr und miisse sehen, dab sie nun mit allem fertig werde. Die Stimmen seien zwar immer noch da, doch kehre sie sich nicht mehr daran.

Gegen Abend desselben Tages wird sie plStzlich wieder /ingstlich, sitzt mit starren Augen stShnend und rhythmisch jammernd im Bett, bewegt dabei die

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aufhSrlich die Klingel in Bewegung gesetzt, und als der Portier gekommen sei, ihm gesagt, er mtisse sofort einen Polizisten holen, sie mtisse bestraft werden, sie wolle vors Gericht. Es habe eine g~oBe Aufregung im Hotel gegeben, alles sei zu- sammengelaufen, alle G/iste seien aufgewaeht. Als der hinzugenffene Arzt ge- kommen sei, habe sie gesagt: , ,Ich b r a u c h e k e i n e n Arz t , s o n d e r n e i n e n K r i m i n a l b e a m t e n . " Der Arzt habe dann gesagt, er sei Jurist, daraufhin habe sie gebeten, dal3 die Mutter sich entferne, dann mit ihm gesprochen und sich an- geklagt. Sie h~tten dann hierher gewoltt; es h~tte aber grofle Schwierigkeiten ge- geben, Eugenie sei nieht mit zum Krankenwagen gegangen und habe einen groflen Menschenauflauf verursaeht. Sie habe sie dann aus den Menschen heraus in eine stillere StraBe gezerrt; hier seien sie in ein Auto gestiegen, wobei aller- dings Sehutzleute h/itten Gewalt anwenden miissen, und seien hierher ge- fahren.

Sie wird morgens gegen sechs Uhr yon einem Arzt, einem Schutzmann und der Mutter in die Klinik gebracht. Pat. macht bei der Aufnahme einen innerlieh sehr erregten Eindruek, werm sie sich auch sehr beherrseht, sagt mit bebender Stimme, sie sei iiberhaupt nicht ]crank, sie habe nur viel auf dem Gewissen. Mit dem Arzt allein gelassen, beginnt sie sofort zu erz~hlen, sie wiirde in scheul3- l i c h e r W e i s e y o n e i n e m H e r r n aus P o r t u g a l v e r f o l g t und kSnne nirgends Ruhe haben. Sie wird dann ins Bert gebrachr und verbringt den Rest der iNacht vSllig ruhig.

5. XI. Sie erz/~hlt mit ausgesprochen /~ngstlichem Affekt und dazwischen hinein laut weinend, dab sie immer noch yon dem Portugiesen verfolgt werdr dal3 er ihr drohe und sie nieht mehr loslasse. Sie ruft wiederholt: ,,Dieser sehreek- liehe Mensch", fragt aueh den Arzt angstlich, ob er allein sei, und ob der Portu- giese hier nicht hereinkommen kSnne. Sie miisse sich die grSl3ten Vorwtirfe machen, sie sei am E n d e doch dem Menschen zu we i t e n t g e g e n g e k o m m e n , es sei a b e r e i g e n t l i c h nie e twas S c h l i m m e s pas s i e r t , er habe aueh n i eh t s we i t e r ge$an, als sich h S c h s t e n s e i n m a l in den Wcg g e s t e l l t , w e n n sie du rch die Tiir habe gehen wollen. Es sei da noch ein anderer Herr gewesen, der sich auch um sie bemiiht habe, aber auch um die Frau des Hauses.

Es liiflt sich nicht entseheiden, ob nieht s chon der H e i r a t s a n t r a g eine Wahnvorstellung ist, oder ob es sich tatsiiehlich um etwas Reales ge- handelt hat. Obgleich sie von diesem tteiratsantrag erz/s sagt sie anderer- seits, der Herr habe nicht daran gedacht, sich scheiden zu lassen. Sie erz/s dann auch yon England, sie habe einmal im Hotel mit einer Freundin zusammen einem Bekannten ihre ZimmCer gezeigt, sie habe damals nicht daran gedaeht~ daft das etwas Schlimmes sein kSnnte, jetzt aber sehe sie das wohl ein, denn iiberall, wo sie hinkomme, spreche map davon, dal3 sie in Portugal und Eng- land allerlei Unschickliches gemacht habe; namentlich bedauere sie es" wegen ihrer Mutter, dab ihr Ruf ruiniert sei.

Alles, was sie vorbringt, tr/igt einen sehr depressiven Affekt, ist aber inhalt- lieh doch sehr zerfahren. Als sie von der Mutter besucht wird, spricht sie kaum etwas und verh/~lt sich ziemlich ablehnend. Als die Mutter sie streicheln will, sagt sie: ,,Du bist grausam."

8. XI. Sie wurde nach dieser ersten/ingstliehen Zeit mit einem Schlage ganz ruhig und affektlos, erz/thlte mit stil31ich z u g e s p i t z t e m Mund und umst/~nd- lich, es gehe ihr sehr gut, sie habe keine Angst mehr und miisse sehen, dab sie nun mit allem fertig werde. Die Stimmen seien zwar immer noch da, doch kehre sie sich nicht mehr daran.

Gegen Abend desselben Tages wird sie plStzlich wieder /ingstlich, sitzt mit starren Augen stShnend und rhythmisch jammernd im Bett, bewegt dabei die

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gefalteten H~nde im Takt. Im Dauerbad beginnt eine sehr starke Erregung, die viele Stunden dauert. Sic l~uft unaufhSrlich umher, fleht den Arzt an, er solle ihr bier hinaushelfen, sic mfisse irgendwo hin, wo sie sittlich gut wiirde, sie sei nicht krank, blo13 unmoralisch. Ihre Redo unterbricht fast st~ndig ein monotones ,,Oh", dabei tritt sic h~ufig yon einem FuB auf den andern und bewegt schfittelnd die gefalteten H~nde.

Im Laufe des gestrigen Tages wurde die Erregung immer stgrker; sie sehlug mit den Fgusten gegen die Tfiren, schrie und klammerte sich an den Arzt, so dab dieser nur mit grSBter Mfihe sich losmachen konnte. Gegen Abend wurde sic dann ruhiger, blieb im Bett, nahm 0,75 Veronal und hatte eine ruhige Naeht.

12. XI. Sie ist in den letzten Tagen ruhiger gewesen, jammert und stShnt aber immer noeh ununterbrochen: ,,Ieh habe BSses getan - - ich will ein gutes Kind meiner Eltern werden." Sic ffeut sich au~erordentlieh fiber die guten Naehriehten yon zu Hause und sehreibt einen Brief an ihre inzwisehen abgereiste Mutter, in dem sic verspricht, sich zu bessern und ihr nur Freude zu machen. Sie dr~ngt jetzt sehr aus der Anstalt hinaus, sic wolle zu ihrer Mutter, um alles wieder gutzu- machen. Sic ffigt sich don Anordnungen des Arztes, bleibt ruhig im Bert.

20. XI. Sic ist immer noch sehr unfrei und gebunden, es besteht immer noch eine Reihe yon Versiindigungsideen. Sic bittet mehrmals den Arzt um eine kurze Unterredung. Ihre Gedanken drehen sich immer nur um Einen Punkt, sie sagt stets: ,,Jeh weir, ieh habe B6ses getan, ich bin ein sehlechtes Kind gewesen, ich mSchte wieder naeh Hause, um wieder gutzumachen." Man mul3 Stfiek fiir Stfick aus ihr hervorholen; so erfghrt man yon ihr: seit vier Jahren habe sie sieh gegen den Willen der Mutter in Stellung befunden, erst ein Jahr in Dfisseldorf, dann in Paris und yon Oktober 1912 bis Juni 1913 in Portugal. Seit dieser Zeit bestehe ein traumartiger Zustand, in dem sie nieht mehr reeht klar fiber sich selbst sei, auch n i eh t darf iber , was dor t pas s i e r t sei, sie wisse nu r , dab sie s ieh v e r g a n g e n habe. Sic sei dem Hausherrn, der ihr unsympathiseh gewesen, zu sehr entgegen gekommen; sic habe deshalb ihre Stelle dort aufge~geben und sei nach England gegangen. Dort habe ein Herr, der ihr sehr sympathisch ge- wesen sei, ihr Vertrauen mfl3braucht und habe gemaeht, dab die Leute in England um ihr Vergehen wfiBten. Man ha t ganz den E i n d r u e k , dab i n P o r t u g a l i n W i r k l i c h k e i t n i eh t s pa s s i e r t ist.

Auf der Abteilung ist sic still, besehgftigt sieh mit leichter Haus- und Hand- arbeit, dabei grfibelt sic viel fiber ihr Vorleben naeh, sie weigert sich, dem Arzt die Hand zu geben, als er ihren Wunsch, naeh Hause entlassen zu werden, ab- sehlggt.

2. XII. Sic wird yon der Mutter auf eigene Verantwortung aus der Klinik abgeholt. Sic hat sich in den letzten Tagen ruhig und geordnet geffihrt, ist aber noch sehr unfrei und gebunden.

Waren die Nachstel lung und der Ant rag durch den Portugiesen w i r k -

] i c h , oder handel t es sich u m eine Wahnidee ? Oder bes tand wenigstens ,der W u n s c h nach diesem Antrag, und war dami t auch ein Er lebnis ge- geben ? Das wird, obschon die erste L6sung viel mehr Wahrscheinl ich-

kei t f~r sich hat , hie g a n z sicher zu entscheiden sein, und da mi t auch

nicht, ob es sich u m eine spontane und reakt ive Psychose handel te ;

be k a n n t ist jedenfalls kein Koeffizient, wenn m a n ihn auch v e r m u t e n

k 6 n n t e . - -

Betrachte t m a n n u n a u s g e l 6 s t e Schizophrenien, solche, bei

denen ein Koeffizient b e k a n n t ist, aber k el n e verst~ndlichen Zusammen-

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hange zwisehen Koeffizient und Inhal t der Psyehose bestehen, so muB man, wie es oben geschah, AuslSsungen durch k6rperliche und durch psychisehe Koeffizienten unterscheiden. Als Beleg der Ausl6sung durch einen k 5 r p e r l ie h e n Koeffizienten kann j ede Puerperalpsyehose gelten, und es ist augerdem allgemein bekannt, dag auch sonst k6rperliche Er- krankungen nicht selten eine Schizophrenie auslSsen. F~lle der zweiten Art habe ich vor nicht langer Zeit ver6ffentlichtl); es handelte sich um Schizophrenien o h n e versti~ndlichen Zusammenhang, die sich an einen psyehischen Schock in der Form einer Verschfittung ansehlossen.

Suehen wir nun bei sehizophrenen Psychosen nach v e r s t ~ n d l ie h e n Z u s a m m e n h ~ n g e n , so mfissen wir zuerst fest'stellen, was wir unter letzteren verstehen. Wit verstehen mit J a s p e r s darunter, dab G e d a n k e n i n h a l t e e i n f i i h l e n d a u f S e h i e k s a l e , E r l e b n i s s e , S t i m m u n g e n , W f i n s e h e , B e f t i r e h t u n g e n z u r t i e k g e f i i h r t w e r - d e n k 5 n n e n. In diesem einfiihlenden Verstehen selbst erleben wit eine u n m i t t e l b a r e E v i d e n z , die wir nieht weiter zuriiekfiihren kSnnen: ,,sie h u t i h r e ] [ ~ b e r z e u g u n g s k r a f t in s i eh s e l b s t " . Will man eine se~izophrene Psyehose ,,verstehen ", so wlrd" man slch" daruber" Mar sere' mfissen, dab man, wenn man nieht zu Konstruktionen, Symbolen und ,,als ob" verst~ndlichen Zusammenhi~ngen greifen, sondern sieh auf das u n m i t t e l b a r e i n l e u e h t e n d e V e r s t e h e n besehri~nken will, nie a l l e s verstehen kann, vielmehr stets versti~ndliehe Zusammenh~nge nut e i n g e b e t t e t i n die n u r k a u s a l zu e r k l i ~ r e n d e n G r u n d v o r - g a n g e d e r P s y e h o s e finder. Wit sehen in dieser weitgehenden U n v e r - s t ~ n d l i c h k e i t ja geradezu ein H a u p t m e r k m a l der Sehizophrenie, wit diagnostizieren sie praktiseh vor allem naeh diesem Kriterium.

Nieht alle verstimdlichen Zusammenhi~nge bei einer schizophrenen Psyehose bedeuten auch eine reaktive Sehizophrenie, gibt es doeh schizophrene Psyehosen, die i n n e r h a 1 b der psyehotisehen Erlebnisse selbst massenhaft versti~ndliehe Zusammenh~nge aufweisen, o h n e dab die Zusammenhiinge bis in die gesunde Zeit hinilberreiehen, o h n e dab ein versti~ndliehes Band zwisehen Sehieksal und Psyehose besteht. Das vorztigliehste Beispiel ist G r u h 1 e s 2) Lenore Bunting, die" trotz massen- haft verst~ndlieher Zusammenh~nge eine n i e h t reaktive schizophrene Psyehose hatte.

Die reaktiven Sehizophrenien kSnnen wir welter, Uberg~nge zu- gebend, einteilen in sehizophrene Reaktionen auf p l 6 t z l i e h e , e r s c h i i t - t e r n d e E r l e b n i s s e und auf d a u e r n d e S c h i c k s a l e .

Als Beispiel der ersten ]~'orm k6nnte B o r n s t e i n s Chawa gelten, die innerhalb ganz kurzer Zeit den Mann und drei kleine Kinder verlor und darauf mit einer akut einsetzenden ,,Sehizothymie" reagierte, die

1) ,,Schizophrene Kriegspsychosen". Diese Zeitschr. Orig. 43, 420. 2) ,,Selbstsehilderung und Efi~fiihlung". Diese Zeitschr. Orig. 28, 148.

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ihre wahnhaf ten Inha l t e aus diesem Schicksalsschlag nahm, und zwar in der F o r m der Wunschverwirk l ichung. Doch steht nicht lest, ob es

sich u m e i n katas t rophales Er lebnis handel te , u n d wir nehmen daher hier eine eigene, allerdings ganz kurze Beobachtung einer Psychose, die in

rtickbildungsfi~higer Fo rm auf t ra t und so ganz der J a s p e r s s c h e n Forderung entspricht .

IL Frau A n t o n i e Nelson , bei der Aufnahme, 10. XII. 1912, 37Jahre, Hansfrau ans wohlhabenden Kreisen.

Angaben des Mannes und des Arztes Keine erbliche Belastung. Frau Nelson sei immer etwas nervSs gewesen, aber sonst gesund. Sehwere

Geburten wegen rachitisehen Beckens. Deswegen vor elf Jahren Friihgeburt. Anseh l i eBend sei sie ~hn l i ch wie j e t z t e r reg t gewesen, habe sich i h r e m Sehmerze mal31os h i n g e g e b e n , ge sch r i en u n d sieh gar n i c h t f a s sen kSnnen . Es sei dann daheim yon selbst wieder gut geworden.

Der ~lteste zehnj~hrige Junge habe an nervSsen, nach dem Berieht des Arztes sicher hysterischen Anf~llen gelitten und sei deshalb seit einigen Wochen in einem P~dagogium gewesen. Am 9. XIL sei die Naehricht gekommen, er sei nicht un- bedenklich gefallen. Die Mutter, die ohnedies unter der Trennung sehr gelitten habe, sei gleich sehr aufgeregt geworden, habe geschrien. ,,Fritz, gelt, du~bist nicht tot", und sich gar nicht beruhigen kSnnen. Die Eltern seien hingereist, und das K i n d sei t a t s ~ e h l i c h to t gewesen infolge eines Sturzes auf der Treppe. Die Mutter habe geschrien und getobt, naeh Wiederbelebungsmitteln verlangt, um sieh geschlagen, den Arzt beschimpft und die grSBten Szenen gemacht. Im Auto habe sie dann der Hansarzt abgeholt und sie naeh Verabreiehung yon ttyoscin in ein Sanatorium gebracht. Bis heute morgen halb aeht habe sie geschlafen, dann wieder in alter Weise angefangen: sie wolle zu ihrem Kind, man schmiede ein Kom- plott gegen sie, die ~rzte seien ei~e ,,Gaunerbande". Nach dem Arzt habe sie wiederholt gestoi3en. Nach einer Scopolamineinspritzung wurde sie hierher ge- bracht. Seit gestern frtih verweigerte sie die Nahrung.

Sie wird abends gebraeht und l~Bt sich nur mit groBer Miihe zu Bett bringen. Als der Arzt sie besucht, wirft sie sieh wiitend im Bett herum und schreit ihn an: ,,Was wollen Sie da ? Maehen Sie, dai3 Sie hinanskommen! Wer sind Sie iiber- haupt ? Ieh will keinen Arzt sehen ! Sie wollen mich alle verriickt machen ! Lassen Sie mich fort, telephonieren Sie augenblicklich meinem Mann! Die Tiir daft nieht auf bleiben! Was wollen Sie iiberhaupt? Wie alt sind Sie?" Alle Antworten und Anreden wiederholt sie in sehr gereiztem, h5ehst wegwerfendem Ton; sie gibt nieht die Hand, zieht ab und zu die Decke fiber den Kopf, dreht sich zur Wand, um sieh dann wieder umherzuwerfen und yon neuem zu sehimpfen. Das ~ n d e r t sieh aueh n i eh t , als der Arz t auf den t o t e n K n a b e n zu s p r e c h e n kommt . Da seien nur die ~rzte schuldig, diese Gauner, sie wolle heute noch ihr Kind sehen, auch tote Leute kSnne man sehen. Als nach Stimmen gefragt wird, schreit sie: ,,Stimmen? ieh bin doch nieht verriickt! ja, Sie wollen mich hiniiberkriegen!" Dann immer wieder: ,,Ieh sag's zum letztenmal: hinaus!" Allein gelassen, liegt sie ruhig im Bett.

{2. XII. Als gestern morgen der Arzt zu ihr kam, war sie sofort sehr erregt, schimpfte, man mache sie hier verrtickt, sie wolle heim, man solle sofort ihrem Mann telephonieren, sie werde die Geschichte in die Zeitung bringen. Sie schlug und stieB um sieh. Den Tag fiber tag sie, wenn man nichts yon ihr wollte, ruhig im Bett, gegen Abend wurde sie wieder laut und deshalb einige Stunden ins Dauerbad gebracht. Auch hier schimpfte sie sehr lebhaft auf die )~rzte, im all-

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Reaktion und Ausl(isung bei der Schizophrenie. 57

gemeinen und im besonderen. Als sie d a n n wieder im B e t t war , b a t sie den A r z t , sie noch e twas zu u n t e r h a l t e n , s a g t e , sie habe j e t z t d u r c h das W a s s e r s t a r k e n H u n g e r b e k o m m e n , er sol le ihr doch e twas a u s d e m ~ r z t e k a s i n o ho len , und al3 dann ein Wurstbrot mit sichtlichem Appetit. Sie sagte zum Arzt, er sei doch sicher Reser~ eoffizier, das habe sie gleich gesehen, er habe ein ordentlieh freches Gesicht, sie bekomme in ihrem Elend noch Galgen- humor, wenn sie ihn sehe. Sie bitter ihn, er mSge sie doeh naeh Hause lassen, sie sei kein interessanter Fall, er mSge sie dann zu Hause besuchen. Sie fragt ihn, woher er sei, wie lange er Arzt sei, und erkl~l"c, sie finde es un~ erst~ndlich, wie man Nervenarzt sein kSnne, da werde man ja selber verriiekt; wenn sie schon Arzt w~re, wolle sie sehneiden. Weiter meint sie, er solle froh sein, dab er nicht verheiratet sei, da kenne er noch keine Sorgen. Sie k o m m t d a n n nu r ganz f l i i ch t ig auf den Tod des K i n d e s zu s p r e e h e n , es sei schrecklich, wenn sie jetzt nach Hause komme, sie mSehte nieht mehr weiter leben, man kSnne sich ja aueh etwas antun, doch war der A f f e k t bei d i e sen E r z ~ h l u n g e n nu r ganz oberfl i~ehlich.

13. XII. Ruhig im Bett und ganz affektlos. Wird auf Wunsch des Mannes in das Sanatorium zuriickverlegt.

W i r zweifel ten auf Grund des af fekt iven Verha l tens n ich t an einer schizophrenen Psychose. Die versti~ndlichen Zusammenhi~nge zwisehen dem Tod des K indes und einem T e i l de r I nha l t e der Psychose sind ev iden t . - -

Wi r k o m m e n zu der le tz ten Gruppe , der R e a k t i o n auf ein d a u e r n - d e s S c h i e k s a l . H ie rhe r gehSren a m ehesten der Fa l l K l i n k ( J a s p e r s ) , dann der Fa l l F . L. ( B o r n s t e i n ) und die Pa t i en t i n v a n d e r T o r r e n s , bei der jedoch n ieh t g a n z k la r ist, ob n icht die hoffnungslose, yon fern anh immelnde Liebe schon ein S y m p t o m der Psychose war ; es m u ~ n ich t so sein, aber es k a n n so sein.

Aueh die be iden nun folgenden, ausffihrlich wiedergegebenen eigenen Beobach tungen zeigen vers ' t~ndliehe Zusammenhi~nge mi t Sehicksalen. Es soll ve rsueh t werden, sie im einzelnen zu ana lys ie ren und an ihnen die vers t~ndl ichen Zusammenhi~nge und die Koeff iz ienten, das R e a k t i v e wie auch das blol~ Ausgel6ste, aufzuzeigen. Sie sind gerade in ihrer Mischurg v e r s c h i e d e n e r Koeff iz ienten sehr lehrreich. Der Zweck ihrer Mi t te i lung ist n ich t nur der, neues Mater ia l zu den vers t~ndl iehen Z u s a m m e n h i ~ g e n yon Sehieksal und Psychose bei der Sehizophrenie zu geben, sondern auch zu zeigen, w i e kompl iz ie r t a uch im konkre t en Fa l l d ie VerhMtnisse l iegen k6nnen, und wie schwer es ist, d ie Koeff iz ienten zu wer ten .

III . Frau G e r t r u d Gleieh. Sie ist im Oktober 1889 geboren, war bei der ersten Aufnahme (20. X. 1913) vierundzwanzig Jahre alt, ist evangelischer Kon- fession und stammt aus gutem und wohlhabendem Hause.

1. Psychose .

Der Vater gab damals an: in der Familie sind keine Nerven- oder Gemiits- krankheiten vorgekommen. Beide Eltern sind gesund, ebenso ein Bruder. Eine Sehwester starb fiinf Wochen nach der Verheiratung infolge eines Aborts.

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Sie ist normal geboren, lernte rechtzeitig sprechen und gehen, war immer gesund und lernte vorziiglieh. Auch in den sp/~teren Jahren ist nichts irgendwie Belangreiehes vorgefallen.

Sie ver lobte , sieh d a n n mi t e i n e m m i t t e l l o s e n , n i c h t s t u d i e r t e n 6 s t e r r e i e h i s e h e n I n g e n i e u r , der sich aber mehr mi t p h i l o s o p h i s e h e n und a u s g e s p r o e h e n m y s t i s c h e n D i n g e n bescha f t i g t e u n d phi loso- phisehe Bileher schr ieb , die yon e i n e m F a c h g e l e h r t e n als vSll ig pha n - t a s t i s ch u n d wer t los b e z e i c h n e t wurden . Die Eltern waren aus gesell- schaftliehen Grtinden mit dieser Verlobung nieht sehr einverstanden, doch liebten sich beide sehr.

Kurz vor der Ehe erlernte Gerti~d in einem Pensionat den Haushalt, doch besch~ftigte sie sieh mehr mit kilnstlerischen Versuehen; sie machte hilbsche Kohlezeichnungen. Vor zwei Jahren verheiratete sie sich. Obwohl sie sieh fi~r die Haushaltung nicht v611ig vorbereitet hatte, 'duldete sie in der Ehe keine KSchin, wollte alles selbst maehen und entwiekelte grol]e Energie. Sie war mi t i h r e m M a n n a u B e r o r d e n t l i c h g l i lckl ich , das V e r h g l t n i s war z~trtlich u n d d u r c h a u s ha rmon i sch . Sie l eb te ganz in den I d e e n ihres sehw~rme- r i s ehen M a n n e s u n d wol l te an V e r s t a n d n i s u n d Wissen n i c h t h i n t e r ihm zur i l cks tehen .

Am 24. XII. 1912 gebar sie zum erstenmal, ganz normal, ohne jegliche /trztliehe Hilfe. Sie sei, wie der Arzt sich ausgedrilckt habe, ,,wissenschaftlich und kSrperlich" auf die Geburt sehr pr~pariert gewesen. Nach zwSlf Tagen wurde sie aus der ~Entbindungsanstalt entlassen. Naeh kurzem Aufenthalt im Eltern- haus ging sie mit ihrem Mann nach Hause. Vier Monate stillte sie das Kind selbst. Ihr ganzes Denken war seitdem auf das Kind konzentriert, sie lebte in steter Serge, wenn es nicht ganz gesund schien. Als es naeh vier Monaten abgesetzt wurde, war sie tiefunglileklich, klagte aueh ihrem Mann in der letzten Zeit h~ufiger, dab sie so milde und matt sei. Den Eltern gegenilber war sic immer heiter und ver- guilgt.

Vor n e u n W o c h e n n u n p I6 tz l i ehe E x p l o s i o n ; sie wurde sehr aufgeregt, sagte: ,,Ich kann nicht mehr welter leben, nieht mehr spreehen." Sie war sehr deprimiert und wurde auf Veranlassung des Hausarztes in ein Sanatorium gebracht. Sie fuhr in sehr guter Stimmung hin. Den AngehSrigen fiel nichts Besonderes mehr auf. Im Sanatorium blieb sie bis zum 23. X. Dort entwickelte sich das Bild, das sie ietzt bietet.

Sie wurde ins Elternhaus geholt; zun~chst war sie dort ganz ruhig; in der Nacht wurde sie dann pl6tzlieh unruhig, sprach verwirrt und mul]te mit Gewalt ins Bett gebracht werden. Am 25. X. erschien sie ziemlich klar, war tiberglticklich, als sie ihren Mann und ihren Jungen sah. Am 27. war sie wieder sehr deprimiert, verwirrt, sagte , ihr M a n n sei hohl. W/ihrend sie im Sanatorium war, hatte ihr Mann eine Operation an einer ttalsrippe durehgemacht; sie behauptete jetzt, auch sie t rage die O p e r a t i o n s n a r b e . Am 27. wiirgte sie sieh am Halse, in- dem sie sagte: ,,Ich kann nicht mehr leben, ich bin krank." Sie wurde deshalb am 28. X. auf Veranlassung des Arztes hierher ilberfiihrt.

28. X. 1913. Sie wird yon ihrem Bruder in Begleitung eines Arztes und einer Schwester in die Klinik gebraeht.

Bei der Einlieferung maeht sie einen milden, gleichgtiltigen, apathischen Eindruek, l~St sich ruhig baden und ins Bett bringen, gibt mit milder, monotoner Stimme Auskunft, sagt, sie filhle sich krank und sei mit allen Anordnungen des Arztes einverstanden, da sie eine gute Mutter ihres Kindes werden mSchte. Ge- fragt, ob sie das frtiher nicht gewesen sei, sagt sie: das weiB ieh nicht. Dadas Antworten sie sehr anstrengt, wird sie nieht weiter mit Fragen belgstigt.

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Reaktion und Ausl0sung bei der Sehizophrenie. 59

Am Nachmittag h S r t s ie m e h r m a l s i h r e n V a t e r s p r e c h e n , g l a u b t , da~ ih r B r u d e r sie g e r u f e n h a b e , und dr~ngt aus dem Bert, l~Bt sich aber auf Zureden des Arztes leicht beruhigen.

K 5 r p e r l i c h " MittelgroB und blaB, nichts Krankhaftes. 29. X. In der Nacht hat die Kranke mit grSBeren Unterbrechungen wenig

geschlafen. Am Morgen sagt sie unvermittelt zum Arzt, a l l e s k a m e i h r v e r - i i n d e r t v o r , es w a r e ih r , a l s w e n n s ie s i ch a u f e i n e r L i n i e b e f i n d e , d i e i m Z i c k z a c k l a u f e ; p l S t z l i c h sei d i e s e L i n i e u n t e r b r o c h e n , so d a b s ie n i c h t zu i h r e m M a n n u n d , z u i h r e m K i n d e k o m m e n k S n n e .

Sie ~uBert heute die Idee, a l ]es h a b e e i n e n H a k e n , die Milch, die Speisen. A]les, was sie produziert, bringt sie ohne Affekt vor. In den Abendstunden wird sie etwas ~ngstlich, dr~ngt sehr hinaus, verlangt ihre Kleider und will zu i h r e m V a t e r u n d zu i h r e m K i n d e .

30. X. Auf 0,2 Luminal hat sie besser geschlafen. Sie maeht den ganzen Tag einen schl~frigen Eindruck. Sie erh~lt Besuch von Vater und Tante und scheint sich sehr dariiber zu freuen, ist aber nicht so bewegt wie der Vater.

Sie produziert heute wenig, liegt stumpf, gleichgiiltig, apathiseh, affektlos im Bett.

8. X]. Der Z u s t a n d hat sich in den letzten Tagen in ganz auffallender Weise g e b e s s e r t ; die Kranke hat in ihrem ganzen Wesen noch etwas a u s g e s p r o c h e n G e b u n d e n e s , sie scheint yon starken Affekten bewegt zu sein. W~hrend sie friiher ganz gleichgiiltig yon ihrem Manne sprach, dab sie ihn nicht mehr mSge, macht sie sich jetzt den ganzen T a g g r f i b l e r i s c h e G e d a n k e n f iber das Ver - h a l t n i s zu i h r e m Mann . Sie sagt selbst, es s e i i n d e n l e t z t e n T a g e n i n ih r a l l e s so l e e r u n d z e r f a h r e n g e w e s e n , j e t z t h a b e sie w i e d e r v i e l m e h r E m p f i n d u n g , habe wieder eine starke S e h n s u e h t nach Arbeit und Gesund- heit. Sie miisse immer wieder dariiber nachdenken, wie das alles gekommen sei.

Gestern abend sagte sie plStzlich zum Arzt, sie habe noch viel auf dem Herzen, und erzs dann, ohne aufh5ren zu wollen, vSllig logisch und mit tiefem Affekt v o n d e m V e r h a l t n i s z u i h r e m M a n n . S i e h a b e f r i i h e r s o u n e n d l i c h h o c h a n i h m h i n a u f g e s e h e n , o h a b e s ieh g e f r e u t , a n s e i n e n p h i l o s o p h i s c h e n I n t e r e s s e n t e i l n e h m e n zu k S n n e n u n d i n n e r l i c h g a n z m i t i h m z u s a m m e n g e l e b t ; d a n n sei das K i n d g e k o m m e n , u n d m i t i h m h a b e s ie s i ch d i e s e r g e i s t i g e n B e s c h a f t i g u n g e t w a s e n t f r e m d e t . So sei d e r B r u c h in i h r e W e l t und namentlich in ihre Stellung zu ihrem Mann g e k o m m e n . Was sie friiher nie geffihlt habe, sei jetzt deutlich vor sie getreten: sie habe sich unendlich g e s c h ~ m t , da~ der Mann so wenig verdiene, so dab eine reichliche Unterstfitzung von seiten ihres Vaters notwendig war. Es habe sie auch geniert, da~ ihr Mann k e i n e b e s o n d e r s g l ~ n z e n d e s o z i a l e S t e l l u n g habe; seinen inneren Wert habe sie dabei gar nicht mehr in Betracht gczogen, sie habe blo] noch gedacht, er sei l ~ p p i s c h u n d u n m ~ n n l i c h . Je tz t beginne sie wieder Liebe ffir ihren Mann zu empfinden, aber es s e i i m m e r n o c h 1 a n g e ni c h t wie f r i ihe r . Wenn sie ihm einen Brief schreibe, so gehe das wohl einige S~tze weir mit tiefem Empfinden, d a n n f i ih l e sie s i ch a b e r p l 5 t z l i c h w i e d ~ k a l t ~ n d f r e m d . Es sei d o c h m e r k w i l r d i g , s ie h a b e g e s t e r n a u s V e r s e h e n be i de r A d r e s s e a n i h n i h r e n f r f i h e r e n W o h n o r t ge sch r i e l~en , das z e i g e d o c h d e u t l i c h , wie s ie s i ch n a c h de r e r s t e n s c h 5 n e n Z e i t z u r u c k - sehne .

W~hrend sie dies ~lles ziemlich gut motiviert entwickelt, kommen dann plStz- lich dazwischen wieder eigenartige Bemerknngen, so da~ m a n c h e s n i c h t k l a r ist. So sagt sie, sie wolle sich jetzt Mfihe 'geben, wieder ein richtiger Mensch zu werden, und setzt hinzu: es f a l l e i h r j e t z t a u c h v io l l e i c h t e r , d ie l i n k e

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6 0 K. Schneider :

H a n d g e n a u wie die rech te zu geb rauchen . Sie ist aul3erordentlieh empfind- lieh, leicht zu kr~nken und wechse]nd in der Stimmung.

10. XI. Bei der Morgenvisite ist sie sehr unfrei und gebunden, unzufrieden mit sich selbst. Tagstiber ist sie meist still fiir sich in ihrem Zimmer, abseits yon den tibrigen Patienten und sehr verstimmt. Am Abend ist sie wieder besserer Stimmung, sagt, dab sie jetzt vSllig mit sieh im klaren sei, aber einsehe, daft sie noeh nieht nach Hause kSnne.

Die an sie gerichteten Fragen beantwortet sie willig und gem, mitunter bittet sie, dab man sie bald aus der Klinik entlasse. Als ihr gesagt wird, daft ihr Vater sie in den n~chsten Tagen abholen komme, ger~t sie in Erregungund sagt: , , Immer is t es der Vater , nie der Mann . "

14. XI. In den letzten Tagen ist sie stets gleiehm~flig gestimmt, vorwiegend heiter, sagt, sie habe jetzt alles iiberwunden, wenn auch der Zwiespalt noeh nicht vSllig gelSst sei, sie wolle gem abwarten, bis sie gesund aus der Klinik entlassen werden kSnne. Als ihr am Morgen mitgeteilt wird, dab sie heute entlassen werde, freut sie sich zun~chst sehr. Als am Naehmittag der Vater kommt, um sie abzu- holen, ist sie gegen ihn gereizt, und sagt, der Zwiespalt sei wieder vStlig in ihr da, sie kSnne unter diesen Umst~nden nicht aus der K]inik gehen. Nachdem ihr vom Arzte zugeredet wurde, entschliei3t sie sich endli.ch, indem sie sagt, sie wolle stark sein. Die Entlassung gelingt dann ohne Schwierigkeiten.

Einige Tage darauf schrieb sie folgenden Brief: 20. XI. 1913.

Sehr geehrter Herr Doktor! Den dutch meinen Vater erhaltenen Grub erwidere ich Ihnen herzlich.

Die ruhigen acht Tage im Elternhaus haben reich ein gutes Tell vorw~rtsge- braeht, und sehr viel denke ieh der Zeit in CSln, die neues Leben in mir geweckt hat. Von den n~chsten Tagen ab will ich wieder miitterlich um meinen kleinen Jungen sein.

Es griil3t Sie Gertrud Gleich.

2. Psychose. Frau Gleich wurde am 21. VI. 1914 zum zweitenmal auigenommen. Nach Angaben des Vaters war es i n z w i s e h e n sehr g u t g e g a n g e n , bis

etwa im April eine Schwange r scha f t entdeckt wurde. Auf ~rztlichen Rat wurde am 1. V. eine Friihgeburt eingeleitet, die kSrperlich gut iiberstanden wurde. Schon als es sich um die Einleitung der Friihgeburt handelte, wurde sie etwas merkwi i rd iger , war bald sehr dafiir, bald sehr dagegen und zeigte wieder einen sehr gespannten Gesichtsausdruck; sie wurde dann immer stiller, wobei sie aber den Eindruek innerer Erregung machte, gab wenig Ausknnft und wurde vom Arzt fast stets s t u p o r 5 s angetroffen; dabei hatte sie ein sehr ausgesprochenes K r a n k - hei tsgeff ihl und mitunter tiefen Affekt gezeigt. Da sie etwas unruhig wurde, und die Spannung des Gesichtsausdruckes sowie des ganzen Wesens zunahm, schien wieder die Aufnahme geboten.

Frau Gleich wird yore Vater und zwei )~rzten gebracht, begriil3t den Arzt zuerst sehr freundlich, ist aber dann die ersten Stunden durchaus nicht zug~nglieh, gibt iiberhaupt keine Antwort. Sie wird dann etwas erregt, erz~hlt, der Bl i tz habe in sie e i n g e s c h l a g e n u n d ihre G e d a n k e n verwir r t . Bei heiterem Gesichtsausdruck hat sie etwas ausgesproehen Gebundenes, macht einen sehr explosiven Eindruck, drhngt lebhaft hinaus, sehl~gt auch eine Scheibe im Pen- sion~r-Wachsaal ein und muff mehrere Stunden in den unruhigen Saal verlegt werden.

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Reaktion und Ausl(isung bei der Schizophrenie. 61

10. VII. Nachdem der Zustand in den ersten Tagen sich rasch gebessert hatte, ist jetzt ein Stillstand, wenn nicht ein Riickschritt zu verzeichnen. Schon yon Anfang an brachte sie einige ganz merkwiirdige Ideen vor; so erz/ihlte sie einmal, auf der F a h r t h ie rher sei der Arzt , der n e b e n dem Chauf f eu r gesessen, ganz merkwt i rd ig z u s a m m e n g e s c h r u m p f t , u n d d e r V a t e r habe zu i h r gesagt: , ,Guck real, was mi t H e r r n D o k t o r los ist." Sie habe immer das deutliche Gefiihl, dal3 sie den L e u t e n , w e n n sie sie anskhe , s chaden k S n n t e , dal~ sie dadurch schlecht und nnbrauchbar wtirden. Diese Ideen sind auch jetzt noch nicht ganz geschwunden. Es bestehen auch sonst allerlei Selbst- vorwiiffe, sie miisse sich niitzlich machen, miisse etwas tun, miisse fort. H/iufig dr/~ngt sie plStzlich energisch zur Tiire, sie miisse unbedingt abreisen, sie wolle hier n i ch t auch al le Leu t e ung l i i ck l i ch machen. In allem ist wenig einheit- lieher Affekt, alles ist s p r u n g h a f t , zerfahren. Bald liegt sie fast stuporSs mit geschlossenen Augen und wagt nicht aufzusehen, bald macht sie ganz verntinftig Handarbeiten, bald ist sie fast iiberm/~Big heiter und sagt, es gehe ihr ausgezeichnet. Sie hSrt auch, wie sie sich ausdriickt, S t i m m e n aus der N a t u r , h5rt, wie die Amsel singt: ,,Die F r a u F l i ede r k o m m t wieder" , hSrt auch die Stimme eines der ?~_rzte, vor dem sie eine ganz merkwiirdige Furcht hat. In seiner Gegenwart habe sie das Gefiihl der Unreinheit.

W/ihrend man sie mehrere Naghte lang in ihrem ei~enen Zimmer schlafen lieB, konnte das in den letzten N/~chten seit dem Einsetzen der Periode nicht mehr gewagt werden, da sie nachts meist ein paarmal aufstand. In einer Nacht kam sie ganz plStzlich mit einem Glas Wasser ans Bert der Pflegerin und sagte zu ihr, sie miisse unbedingt Wasser trinken, sie werde sicher Durst haben.

14. VII. Die Kranke ist fast den ganzen Tag auf und im Garten. Sie bringt wahn- hafte Dinge kaum mehr vor, ist aber dauernd auf dem Sprung, zur Ttir zu gehen, hat gar keine Ruhe, lauft der Pflegerin immer weg, hat etwas ausgesprochen Gespanntes.

20. VII. Unver~ndert. Mitunter ganz affektlos, dann wieder deutliches Krankheitsgefiihl. Ernster Su i z idve r such : saB schon oben auf der Briistung der Terrasse, wolle sterben, wenn sie doch nicht mehr ganz gesund werde.

21. VII. Wird in eine P r i v a t h e i l a n s t a l t gebracht. Sie blieb dort bis zum 4. III. 1916. Das Krankenblatt war leider nicht auf-

zufinden, doch steht in dem folgenden vermerkt, dal3 sie dort dauernd aus- gesprochen katatonisch war.

Von der Privatanstalt kam sie nach fast zwei Jahren in eine Provinzialheil- anstalt, wo sie sich noch heu te bef indet . Ich ]asse das Krankenblatt fast wbrtlich folgen:

Krankenblatt der Provinzialheilanstalt: ,4. III. 1916. Beim Eintritt hier in s t a r r e r g e z w u n g e n e r Haltung mit

welt nach hinten gelegtem Kopf und geschlossenen Augen da sitzend, bei Anrede nur quiekende Laute yon sich gebend; beim Versuch, die Augenlider zu 6ffnen, a u s g e s p r o c h e n nega t iv i s t i sch . L~I3t sich unter starkem passivem Wider- streben und Quieken zur Abteilung bringen.

6. III. Bisher ohne st/irkere Erregung, soll nur anfangs h/iufiger laut ge- sohrien haben. Bei der Untersuchung sinnlos aufs heftigste widerstrebend. K a t a - t ones l a p p i s c h er regtes Wesen. H/ilt dem Arzt erst mit verziickter Miene die Hand hin zur BegriiBung, wird aber bei Fragen alsbald vollig ablehnend, grimassiert, runzelt die Stirn und h~lt ihre Augen geschlossen. Sie gibt auf Be- fragen ihren Namen an, reagiert aber dann nicht mehr oder brummt ,ja-ja' vor sich hin. Dabei .unmotiviertes, zwangsartiges Lachen. Keine deutlichen kataleptischen Erscheinungen. Reinlich; ausreichend Nahrung nehmend.

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62 K. Schneider:

D e m e n t i a p raecox .

7. III. War in der Nacht zeitweise laut. Bei der Visite wieder vSllig ablehnend und auf Fragen oder Aufforderungen nicht reagierend.

14. III. Zeitweise nachts unruhig. Im iibrigen psychisch vSllig ablehnend und negativistiseh. H~lt die Augen gesehlossen und gibt auf Frager~ keine Antwort.

29. III . ' In den letzten Tagen Erregung zugenommen, so dab sie mehrmals eingepackt werden muBte. Im iibrigen wie friiher ablehnend, stark gespannt und grimassierend.

5. IV. Impulsives Wesen mit Neigung zu T/~tliehkeiten. Zwisehendurch stiil und teilnahmlos mit gesehlossenen Augen daliegend. Negativistisch und heftig widerstrebend. Starke Spannungszust~nde der Muskulatur. N~lSt wiederholt das Bett ein.

18. IV. V611ig unzug~nglich, gibt keine Antwort, gespannt und grimasslerend. 26. IX. Zustand derselbe. Ablehnend, ohne jede sprachliche AuBerung daliegend. Mitunter impulsive Erregungszust~nde.

5. V. Stets dasselbe Zustandsbild. 17. V. VSllig unzug~nglieh. Liegt mit krampfhaft gesehlossenen Augen da;

gibt auf Fragen keine ~atwort. 31. V. (~fters unreinlieh. Psychiseh stets dasselbe Zustandsbild. 17. VL Ablehnend und mutazistisch wie friiher. 30. VI. Seit einigen Tagen auBer Bett. VSllig teilnahmlos; liegt auf der

Bank mit geschlossenen Augen und l~Bt den Urin in die Kleider gehen. 15. VII. Rnhig, s t a r k e r S tupo r . N~Bt ein. Grimassieren; starke Muskel-

spannungen, 10. VIII. Seit einigen Tagen auBer Bett. Steht auf derselben Stelle und rea-

giert nicht ~uf ~ul~ere Reize. Sehr unreinlich. 2. XI. Heute erregt; dr~ngt fortw~hrend aus dem Bett. 12. XII. In letzter Zeit wieder ruhiger; aber sonst vsllig unverandert. Soll

bei dem gestrigen Besuche des Vaters viel gesprochen haben (?). Unreinliehkeit laBt etwas nach.

5. I. 1917. Wird in letzter Zeit recht lebhaft. Bleibt nicht zu Bert. Schlug einmal eine Fensterscheibe ein.

19. II. L i e g t s t u m m u n d s t a r r m i t l e s t z u g e k n i f f e n e n A u g e n da,

21. V. L a p p i s e h e , g e g e n s t a n d s l o s e H e i t e r k e i t . Unzug~nglich. Gibt keine geordnete Auskunft.

16. VIII. In letzter Zeit etwas regsamer; steht stundenweise auf. Unrein- liehkeit hat sich gebessert. Wenig zug~nglich.

10. X. Unver~ndert in ihrem Verhalten. 5. XI. In den letzten Tagen unruhiger, besonders nachts. L~uft im Saal

umher, laut schreiend und singend. 7. I. 1918. Hat sich noch nicht gebessert. Ist noch immer unruhig, jedoch

meistens nachts. Dann singt und sehreit sie. L i e g t of t im B e r t , d ie A r m e und Be ine hoch in die HShe g e s t r e c k t , ganz en tb lSBt . Wenn sie auf ist, geht sie li~chelnd umher, sprieht nicht.

4. IL S t e h t oder s i t z t of t s t u n d e n l a n g au f d e m s e l b e n F ] e c k . Gr i - m a s s i e r t v ie l , h a l t d ie A u g e n g e s e h l o s s e n oder den M u n d we l t of ten. (~ffnet die Nghte an ihren Kleidern.

19. II. Sehreibt den Eltern folgenden Br ief :

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Reaktion und Ausl~isung bei der Sehizophrenie. 63

,Lieber Vater und liebe Mutter!

Dann sehreiben Sic real ganz sch6n. Is was mit der Sehute ? Die Natur des arztliehen Studiums ware frei, wenn die Bewufltheit eekle-

zistisch starker ware. Logiseh war der Satz. KSnnte persSnlieh ftir mein Leben weiter logiseh gewesen sein. Direktor, Spharenmusik - - Friihling! Das Examen der Luisenschule ftir arztlieh reifes Weiterstudium in Frage gestellt fiihlbar. Bei PersSnlichkeitsm~13igkeit. Die Aheit [ ?] bei der Ernahrung im zeitlichen wird vervollstandigter, wenn wie maneher arme Vater, oben schon erwahnt, studiert wird. Cum me(]., also Medizin sei ein langes schwieriges Studium, - - sagte mein Vater. Mir noch nicht vor allzu langer Zeit her gedachtnisartig zu ? ? Et ce te ra Bazillen, die mir zwischendurch eben einfielen studierten schon mit. Das Wesen spychischer Charakter der Steigenden Lebenstatigkeit - - ich hatte vorher wie ein Thema wieder seit langem beriihrt. Mein Ergeiz. Kopf will vielleicht welter; od. hSher, vielleicht tiefer gesagt. Der Bar drauBen, der reich in meiner Kinderzeit erschreckte bei Felsen ist vielleieht Schuld an meinen Kopfschmerzen, die, jeder will sich helfen hoffentlich nicht auch andere liebe Verwandte mit gerissen haben Der Friihling - - sagte Herr Direktor. Weiteres zu bearbeiten oder dieses ist mir hoffe ich gelungen.

Sanatorium.

11. IV. Ist in letzter Zeit etwas zuganglicher, gibt auf Befragen bereitwillig Antwort. Ist nieht mehr so oft unreinlich, mul3 aber zum Abort gefiihrt werden. Bescha f t i g t sich mit einer Handarbeit. Ist aufgefordert worden, einen Brief an ihre Eltern zu schreiben, will es aber nicht.

28. V. Ist aui3erlich etwas geordneter. Auf naheres Befragen ist der wirkliche Zustand aber derselbe. I n t e r e s se lo s , als m a n ihr da r s t e l l t , i h r M a n n w o l l t e s i c h y o n i h r s c h e i d e n , l a s s e n .

12. VII. War einigeTage auf; ging im Garten spazieren, spielte Klavier. Jetzt wieder etwas unruhiger, lal3tdie Kleider nicht an, liegt im Bett mit geschlossenen Augen, gibt auf Befragen keine Antwort. Sehreit zuweilen laut auf, l~uft aus dem Zimmer, legt sich auf den Boden.

21. VIII. Wieder ruhiger, hat sich beinl Besuch der Eltern ganz nett be- nommen. Steht taglieh auf, geht in den Garten. Zuweilen schreit sie laut auf und lauft der Pflegerin fort, ist dann aber gleich wieder ruhig und ]enksam.

29. X. Vor einigen Tagen plStzlich aufgeregt, schreit und tobt, will nicht im Bert bleiben.

12. XII. In letzter Zeit sehr unruhig, schreit auf, wird sehr erregt und sehl~gt das Personal.

9. I. 1919. Heute bei der Visite sehr bSse, schrie den Arzt an: ,Geh weg, du gemeiner Mensch, du hast hier nichts verloren.'

17. III. Wechse]x~d in ihrem Verhalten. Neigt zu Gewaltt~tigkeiten. Im flbrigen kataton, ablehnend. Sprachliche Aul3erungen sind sehr selten.

31. III. Halt sich in letzter Zeit im ganzen ruhig. Psychisch einsilbig, starrt vor sich hin. Lgl~t sieh auf eine Unterredung nieht ein. Reinlich."

Im Februar ]918 wurde auf Antrag des Mannes die Ehe geschieden.

Bet rachte t man p h g n o m e n o l o g i s c h die erste Psychose, so ist zu-

ni~chst festzustellen, dal3 eine Vergnderung des B e w u B t s ei n s z u s t a n -

de s nicht vorzuliegeh scheint ; auch die Orient ierung ist hie gestSrt. Ob

eine allgemeine E r s c h w e r u n g de s D e n k e n s , eine Denkhemmung ,

vorhanden ist, ist n icht sicher zu entscheiden, doch scheint es durchaus

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wahrscheinlich. I~ach Veranlagung und Kulturkreis daft man das ge- samte Seelenleben der Frau Gleich als recht di f f e r e n z i e r t bezeichnen.

Das G e g e n s t a n d s b e w u B t s e i n ist in verschiedener Weise ge- stSrt: Es bestehen W a h r n e h m u n g s a n o m a l i e n in Form der Ver- anderung der Wahrnehmungswelt: alles kommt ihr verandert vor. T r u g w a hr n e h m u n ge n werden ebenfalls beobachtet : sie hSrt mehr- reals ihren Vater sprechen, ihren Bruder rufen. W a h n e r l e b n i s s e sind in der l~orm yon Wahnwahrnehmungen gegeben und diese wieder im Sinne der B e d e u t u n g : Hier hat alles seinen , ,Haken", die Milch, die Speisen.

Die StSrungen des P e r s S n l i c h k e i t s b e w u B t s e i n s ~uBern sich in leichter Alterierung des P e r s 6 n l i c h k e i t s g e f i i h l s , in Gefiihlen der eigenen Ver~nderung. Hierher gehSren die sieher bildlich gemeinte Klage, es w~re ihr, als wenn sie sich auf einer Linie bef~nde, die im Zick- zaek liefe und plStzlich unterbrochen ware, die ~ul]erung, es sei ein ,,Bruch in ihre Welt" gekommen, ein ,,Zwiespalt" sei in ihr, 'sie miisse wieder ,,ein richtiger Mensch" werden. Auch ihre Angabe, es falle ihr jetzt auch vial leichter, die linke Hand wie die rechte zu gebrauchen, k 6 n n t e als ein Bild fiir das iiberwundene Zerfallen in zwei ungleiche Teile aufgefal]t werden. Auch ihr K r a n k h e i r s g e f i ih 1 bedeutet das Er- lebnis einer inneren Ver~nderung gegeniiber f ~ h e r .

Sehr deutlieh sind S t 6 r u n g e n d e r G e f i i h l e , vor allem im Sinne der s u b j e k t i v e n G e f i i h l s h e m m u n g . Sie klagt, es sei in den letzten Tagen alles so leer und zerfah~en gewesen, erst jetzt habe sie wieder mehr Empfindung und Sehnsucht. Ein andermal: Sie beginne wieder Liebe fiir ihren Mann zu empfinden, abet es sei noch lange nicht so wie friiher. Wenn sie ihm einen Brief schreibe, so gehe das wohl einige S~tze lang mit tiefem Empfinden, dann fiihle sie sich aber pl6tzlich wieder kalt und fremd. Die S t i m m u n g ist teils sehr deprimiert, tells angstlich, teils heiter, teils ganz gleichgiiltig.

Bei der z w e i t e n P s y c h o s e lassen sich, soweit wir sie selbst beobach- ten konnten, weir we n i g e r Erlebnisse anschaulich vergegenw~rtigen. Wir h6ren yon il l u s io n ~re n U m d e u t u nge n auf akustischem Gebiet : si~ h6rt St immen aus der Natur, sie versteht, was die ~msel singt, ni~m- lich den Reim: ,,Frau Flieder kommt wiecler." Aueh e c h t e H a l l u - zi n a t i o n e n scheinen vorzuhegen: sie hSrt die Stimme eines der Arzte. Wir finden wa h n h a f t e I de e n, die sich vielleicht auf illusion~re op- iische Trugwahrnehmungen und Halluzinationen griinden: auf der ~ahr t ist der neben dem Chauffeur sitzende Arzt ganz merkwiirdig zusammengeschrumpft, und der Vater sagte: ,,Guck mal, was mit Herrn Doktor los ist." Und wir finden deutliche V e r s i i n d i g u n g s i d e e n , S e l b s t v o r w f i r f e , sie diirfe nicht untat ig hier herumliegen, sie schade allen Leuten, die sie ansehe, sie mache hier alle )/Ienschen ungliickhch.

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Auch dieses Mal besteht ein deutliches Ge f t i h l d e r V e r i ~ n d e r u n g d e r P e r s S n l i c h k e i t , eine StSrung d~s PersSnlichkeitsgefiihls, die sich in s tarkem Krankheitsgefiihl ausspricht, das zu einem ernsten Suizidversuch fiihrt. Sie ftihlt sich a n d e r s als frtiher, ihre Gedanken sind verwirrt, wie wenn der Blitz in sie eingeschlagen habe.

Die S t i m m u n g wechselt sehr. Frau Gleich ist bald heiter, bald traurig, bald gleichgiiltig, bald yon einer gro~en inneren Unruhe umher- getrieben.

Fragen wir k a u s a l nach den einzelnen K o e f f i ~ i e n t e n der Er- krankung und damit nach d e r ' D i a g n o s e , so ist an dem Vorliegen eines s c h i z o p h r e n e n P r o z e s s e s nicht zu zweifeln. Schon bei der ersten Psychose liel~en das Vorherrschen yon Sperrungen, die Zerfahren- heir, die affektive Sprunghaftigkeit, die eigenttimliche Starre und 'Ge- b.undenheit eine andere Diagnose nicht zu. Die zweite Psychose fiihrte nun, im,mer ausgesprochener katatonisch gefi~rbt, zu einem jetzt schon Jahre bestehenden typischen Zustand mit Negativismus, Stuporzu- st~nden, Katalepsie, zeitweisem Mutazismus, Grimassieren, Unreinlich- keit, impulsiven Erregungen, ganz unversti~ndtichen Gebiirden und tIandlungen und einer ausgesprochenen Zerfahrenheit, die sich am deut- lichsten in dem B r i e f v e r s u c h yore Februar 1917 kundgibt, in dem ffir uns nur ganz wenige Zusammenhi~nge noch zu entdecken sind.

Der B e g i n n d e r P s y c h o s e steht nicht ganz sicher lest. Schwerlich sind wir berecht!gt, das schw~rmerische Wesen der Frau Gleich in ihren M~tdchenjahren, ihre Liebe zu dem etwas exzentrischen Mann, ihr Auf- gehen in dessen mystischen Neigungen schon als Symptom der Psychose aufzufassen. Da auch erste Schwangerschaft, erstes Wochenbett und Laktat ion anscheinend noch ganz normal verliefen, mui~ man wohl, ob- schon einem feinen Beobachter Vorboten wohl nicht entgangen wi~ren, in dem akuten Einsetzen neun Wochen vor der Aufnahme den eigentlichen B~ginn der Erkrankung sehen.

�9 K e n n e n wi r e i n e n K o e f f i z i e n t e n d e r e r s t e n P s y c h o s e ? Mit absoluter S i c h e r h e i t nicht; doch ist man mit Riicksicht auf die sofort zu besprechenden verstiindlichen Zusammenhi~nge w a hr s c h e i n - l i c h berechtigt, d ie t i e f e E n t t i ~ u s c h u n g , d ie F r a u G l e i c h in i h r e r u r s p r f i n g l i c h so i d e a l e n E h e e r l e b t h a t , a ls e i n e n s o l c h e n a n - z u s e h e n . Das heft]t, wir finden wahrscheinlich eine A u s l S s u n g d u r c h d i e s e s S c h i c k s a l , und es handelt sich so nicht um eine spon- tane Schizophrenie, fiir die wir einen Koeffizienten fiberhaupt nicht k e n n e n, hSchstens in der besonderen Disposition v e r m u t e n.

D i e s e a u s g e l S s t e S c h i z o p h r e n i e w i r d zu e i n e r r e a k t i v e n d u r c h d a s P l u s d e r v e r s t ~ n d l i c h e n Z u s a m m e n h ~ n g e , d ie a u s l 5 s e n d e s S c h i c k s a l u n d I n h a l t d e r a u s g e l 6 s t e n P s y c h o s e v e r b i n d e n . Wir sehen eine junge Frau, die, selbst schw~rmerisch ver-

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O . L . 5

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anlagt, sich in einen philosophisch orientierten, nach mystischen Idealen strebenden Mann verliebt, der in einem gewissen Gegensatz steht zu ihrem aigenan gesellschaftlichen Milieu und namentlich zu dam, was in ihren industriellen Kreisen interessiert, geredet und getrieben wird. Sic sieht fiber seine kleine und zudem atwas dunkle und ausli~ndische Herkunft , seine Unf~higkeit, eine Familie zu erni~hren, seine mangelhaftc soziale Stellung wag und sieht nichts als seine Ideale und seine inneran Warte, an denen sic ehrfurchtsvoll hinaufsiaht. Nach zwei Jahren anfi~nglich sehr gliicklicher Ehe kommt das E r w a c h e n : es gehen ihr die Augen auf, wie wenig im Grunde hinter diesem mystischen Nichtstuer steckt, und die besonders durch den Vater repri~sentierten Traditionen und Werte des Elternhauses werdan wieder lebendig und drohen den ihr immer fremder werdendan Mann mehr und mehr herunterzusetzen.

Diase Inhalta sind in der arsten Psychose g a n z u n ve r i~ n d~ r t u n d so wenig psychotisch entstellt enthalten, dal3 man sie genau so bei einem Gesunden als normale Reaktion linden kSnnte, hier nur eingalagert in den uns gar nicht einffihlbaren G r u n d v o r g i ~ n g e n der Psychose. Sie macht sich grfiblerische Gedanken fiber das Verhi~ltnis zu ihrem Mann und mug darfiber nachdenken, wie alles gekommen ist. Mit t iefstcm Affakt erzi~hlt sie eines Tages yon ihrem Verhgltnis zu ihm: sie habe frfiher so unendlich hoch an ihrem Mann hinaufgesehen, habe sich ge- freut, an seinen philosophischen Interessen teilnehmen zu kSnnen und innerlich ganz mit ihm zusammen gelebt ; dann sai das Kind gekommen, und mit ihm habe sie sich diesar geistigen Beschi~ftigung entfremdet. So sei der Bruch in ihre Welt und namentlich in ihr Verhgltnis zum Mann gekommen. Was sic frfiher nie gefiihlt habe, sei jetzt deutlich vor sie getreten: sie habe sich unendlich gesch~mt, dab der Mann so wenig ver~ diene, so dal3 eine reichliche Unterstfitzung x, on seiten ihres Vaters not- wendig war. Es habe sie auch geniert, dab ihr Mann keine besonders gl~tnzende soziale Stallung habe. Seine inneren Werte habe sie dabei gar nicht mehr in Betracht gezo~en, sie habe blol3 noch gedacht, er sei li~ppisch und unmi~nnlich.

Dieser K o n f l i k t e i n e r e n t t i ~ u s c h t a n E h e ziaht sich durch die ganze erste Psychose, und zwar i n g a n z u n m i t t e l b a r v e r s t i ~ n d - l i c h e n Z u s a m m e n h i ~ n g e n . Wir v e r s t a h e n die Versuche, wieder die friihere inhere Stellung zum Manne zu bckommen, und v e r s t e he n den Bruch und Zwiespalt, der daraus entsteht, dal3 es nicht gelingen will. Wir verstehen auch, da~ alles erschwert ist durch den Umstand, dab auch in ihrem Kranksein der energische und gfitige Vater alles in die Hand nehmen und ffir sie sorgen muB, w~ihrend der feminine Mann nicht die allergeringste Rolle spielt und weder gahSrt noch gefragt wird. Sic emp- findet das aul3erordentlich stark und sagt noch, als man ihr erzghlt, dab

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der Vater sic in ein paar Tagen abholen wolle, sehr erregt: , , I m m c r i s t es d e r V a t e r , n ie d e r M a n n . "

Neben diesen unmittelbar verst~ndlichen Zusammenh~ngen spielen , ,a ls o b " v e r s t ~ n d l i c h e Z u s a m m e n h ~ n g e keine grol~e Rolle. Die Aul~erung, ihr Mann sei hohl, vielteicht sogar bildlich ge me i n t , ist ohne grol~es Deuten verstiindlich. S p o n t a n deutet sie eine F e hl h a n d 1 u n g im Sinne ihres Komplexes: es sei doch merkwiirdig, sic habe gestern aus Versehen bei der Adresse an ihren Mann ihren friiheren Wohnort geschrieben, das zeige doch deutlich, wie sic sich nach der ersten schSnen Zeit zurficksehne. Die im AnschluB an eine Operation des Mannes ge- machte Bemerkung, auch sie trage die Operationsnarbe, k S n n t e ver- standen werden, als ob sie damit auf den W u n s c h einer Trennung der Ehe anspielen wollte: schneider man sie beide auseinander, tragen b ei de eine Narbe. Freilich w~re auch ~ eine Deutung im Sinne des Gege n t e i l s mSglich : sic sehnt sich danach, dasselbe Merkmal wie ihr Mann zu tragen, wieder ganz mit ihm tibereinzustimmen.

A~uch be i d e r z w e i t e n P s y c h o s e k e n n e n wi r e i n e n K o e f f i - z i e n t e n , vielleicht sogar sicherer als bei der ersten. Nach der Ent- ]assung ging es 4 his 5 Monate sehr gut, bis im April 1914 eine zweite S c h w a n g c r s c h a f t entdeckt wurde. Frau Gleich wurde wieder merk- wurdiger, unschltissig, gespannt, einsilbig, und nach Einleitung der F r i i h g e b u r t ganz stuporSs. Wir werden wohl nicht feh]gehen, wenn wir, gesttitzt auf andere Erfahrungen, in d i c s e r S c h w a n g e r s c h a f t e ine n K o e f f i z i e n t e n sehen, wobei wir ihn in seiner Bedeutung nicht werten kSnnen und es d a h i n g e s t e l l t s e in l a s s e n , ob er mehr als vielleicht entbehrlicher A n la I~, oder ob er als wirkliche A u sl 5 s u ng zu betrachten ist. ]~ei dieser zweiten Psychose b l c i b t es nun bei der AuslSsung, das Plus in Gestalt der verst~ndlichen Verbindung fehlt und m u l~ ja auch fehlen, da es sich um einen kSrperlichen Koeffizienten handelt. Die zweite Psychose ist also sicher keine reaktive Psychose im Sinne yon J a s p e r s . Dennoch k 5 n n t e sic verst~ndliche Inhalte, hier vor allem im Sinne der ersten Psychose, zeigen. Sie rut es aber nicht und zeigt fiberhaupt keine durehgreifenden verst~ndiichen Zusammen- hi~nge mehr. Auch den Scheidungsabsichten des Mannes steht Frau Gleich, allerdings mehrere Jahre darau~, vSllig interesselos und gleich- gfiltig gegentiber. Es erfolgt, t rotzdem sie doch die friiheren versti~nd- lichen Zusammenhhnge aufs direkteste bertihren, keine Reaktion darauf.

Z u s a m m e n f a s s e n d kSnnen wir feststellen, dal~ Frau Gleieh a n e i n e r S c h i z o p h r e n i e l e i d e t , d e r e n e r s t e r S e h u b m i t W a h r - s c h e i n l i c h k e i t a l s e i n e R e a k t i o n , e ine A u s l 5 s h n g d u r c h ei n S e h i c k s a l m i t v e r s t i ~ n d l i c h e n Z u s a m me nhi~ nge n z w i s c h e n d i e s e m u n d d e m I n h a l t d e r P s y c h o s e a u f z u f a s s e n i s t , u n d d e r e n z w e i t e r p r o g r e s s i v c r S e h u b r e i n k S r p e r l i e h d u r c h

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e i n e S c h w a n g e r s c h a f t a u s g e l 6 s t w u r d e . W i r s e h e n a l s o i m

V e r l a u f d e r s e l b e n K r a n k h e i t R e a k t i o n u n d A u s l S s u n g .

IV. Dr. jur. W o l t , Referendar, evangeliseh, siiddeutseher Herkunft, bei der Aufnahme, 10. III . 1919, 29 Jahre alt.

Er wird mit ~rztliehem Zeugnis wegen Verfolgungswahn eingeliefert. Der ihn seit Jahren behandelnde Nervenarzt schrieb sp/iter fiber sein Vor-

leben, dab starke erbliche Belastung vorliege, und dab er seinerzeit als kr. u. ent- lassen wurde, weft 6r an heftigen Z w a n g s v o r s t e l l u n g e n , vor allem an der Phobie litt, die Vorgesetzten prfigeln oder t/~tlich angreifen zu miissen, und ganz enorm ungeschickt im praktischen Dienst und enorm umst/indlieh im Bureaudienst war. Es seien dann noeh Differenzen mit Vorgesetzten vorgekommen, und man sei froh gewesen, ihn entlassen zu kSnnen. Ausgesprochen p s y c h o t i s c h e Z u g e habe er einmal einen Tag lang in seiner Friedensdienstzeit gehabt, und zwar in der Form eines hysterischen D/~mmerzustandes. Sonst sei er immer nur ,,hyper- idealistisch" wie seine Mutter gewesen. Der Arzt habe diese Psyehose sehon lange kommen sehen, da er d e n s e h w e r e n s e e l i s c h e n K o n f l i k t , i n d e m Dr. W o l t g e s t a n d e n sei - - z w i s c h e n F r a u u n d M u t t e r - - , a u s n ~ c h s t e r N a h e be- t r a c h t e t habe .

A n g a b e n e i n e r D a m e , die ein Stockwerk unter ihm wohnt, ihn begleitete und ihn seit etwa zwei Jahren kennt:

Er sei yore Milit/ir wegen eines Nervenleidens entlassen worden, sei aber nie aufgefallen und seinem Beruf als Referendar nachgegangen. Mit seiner Frau habe er gut gestanden. Vor drei Wochen sei er an G r i p p e m i t h o h e m F i e b e r erkrankt. Seit etwa 3 oder 4 Tagen sei er verwirrt, spreche dutcheinander, erz/ihle Dinge als Neues, die man ihm selbst erz/ihlt habe, spreehe davon, seine Frau habe ihm das Bankkonto abgezwungen. Er sei yon den Engl/indern zum Tode verurteilt worden, weil er einen Revolver habe. Seine Frau habe ihn angezeigt; der K S n i g y o n E n g l a n d h a b e i h n a b e r b e g n a d i g t . Er spreche immer davon, er sei yon seiner Frau gesehieden, s e i n e F r a u h a b e i h n v o n d e r M u t t e r g e b r a e h t . In der Tat babe es Schwierigkeiten in dieser Richtung gegeben, da die M u t t e r d ie E h e n i c h t g e b i l l i g t u n d s ich m i t d e r S e h w i e g e r t o c h t e r n i c h t ge- s t a n d e n habe . Er habe dauernd fiber die Frau geredet, sie sei an allem schuld, hetze alle gegen ihn auf, er wolle nichts mehr yon ihr wissen. Namentlich wolle er nicht mit seiner Frau allein sein. Deshalb sei er in der Wohnung der Bericht- erstatterin geblieben, habe aber doch riihrend z/irtlichen Abschied yon seiner Frau genommen und sei gutwillig ins Krankenhaus gegangen.

A n g a b e n d e r F r a u . Sie kenne ihn seit August 1915. Bei den Uneinigkeiten zwischen ihr und der Schwiegermutter babe er immer zu ihr gehalten; er sei stark antisemitiseh und sei hauptsiichlich dazu gekommen, weft ein Jude namens Sammet ihn als Primaner zu sexuellen Handlungen veranlagt habe. Er sei geistig hoeh begabt, ein sehr tiichtiger Jurist und hoehgebildet. Er habe viele politische Artikel und solehe rechtswissenschaftlichen Inhalts geschrieben und sei aueh politisch in alldeutschem Sinne t/itig gewesen. Nur gesproehen habe er schleeht und sich dabei vor allem merkwiirdig geb/irdet.

Zum letzten Jahre sei an seinem Geburtstage als Vertreter der Sehwieger- mutter ein altes Kinderm/idchen bei ihnen gewesen; da habe es uber eine kleine ganz nebens/ichliehe Sache eine Auseinandersetzung zwischen ihr und dem M/id- ehen gegeben, worauf ihr Mann heftig geworden sei und zu dem Ms gesagt habe: ,,Wenn d i e s e s W e i b m i e h a u c h n o e h m i t d i r a u s e i n a n d e r b r i n g t , m u g s ie a u s d e m H a u s e . " Als sie im Herbst kSrperlich sehr ab gewesen sei, babe er sich sehr wenig um sie gekiimmert. Als sie einmal i ~ Bett aus Versehen

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ihm ein Glas Wasser aus der Hand gestreift hatte, habe er sie angepackt und ge- schlagen, es naehher aber sehr bereut und sich als ,,verworfenen Menschen" be- zeichnet.

Sie seien in den letzten Wochen beide an ziemlieh starker Grippe krank ge- legen, batten auch wenig zu essen gehabt, und kein Madchen. Ihr Mann sei wiitend gewesen, wenn sie noch hSheres Fieber gehabt habe als er und habe sieh mit Behagen noch kranker gefiihlt, als er gewesen sei. Wirklich auffallend sei er aber erst seit gestern geworden. Sie hatten eine Krankensehwester gehabt, und es sei ihr auf- gefallen, dab ihr Mann, der sonst sehr auf gute Formen gehalten habe, auf einmal Ausdrticke wie , ,gekotzt" gebraueht babe.

Als sie einmal nicht gleich da gewesen sei, als er gerufen habe, habe er gesagt: ,,Das Frauenzimmer ist nie da, wenn ich sie brauche." In der vorletzten Nacht seien ihr seine stieren Augen aufgefallen, und da babe er gesagt: , , G e m e i n h e i t , d a b d u m i c h m i t d e m D r e h e r b e t r i i g s t , d i e s e m L u m p e n . " Es habesich um einen ihr ganz flfichtig bekannten Mann gehandelt, der mit ihr im Vorstand eines literarisehen Vereins sei. Ihr Mann habe sich schon gei~rgert, da~ sie iiber- haupt in den Vorstand gewahlt worden sei, obwohl er selbst wege~ seines bevor- stehenden Examens es abgelehnt habe. Er habe dann gesagt ,,was friiher gewesen sei", wolle er ihr alles verzeihen, aber das nicht. Am andern Morgen habe er immer noch an diesen Dingen, an denen gar nicht das geringste gewe~en sei, herumgeredet. Er habe in Anwesenheit der Schwester Ada gesagt: ,,So seid ihr, nachts geht ihr auf den Strieh, bei Tage wollt ihr nicht arbeiten, ich weiB deine Kontrollnummer und auch die yon Schwester Ada." Er habe dann gesagt, die Englander k~men und holten solehe Frauenzimmer. Seine Frau kame naeh Nordfrankreich, wo die Englander solche Personen hintaten. Er habe ihr auch gesagt, sie solle das Gift nehmen, das sie fiir ihn gerichtet hatte, um diesem Sehieksal zu entgehen, nach INordfrankreich zu kommen. Er hahe auch behauptet, das B r o t sei v e r g i f t e t und die Schwester gr5blich beschimpft, sie habe ein Kind mit dem Pfarrer, er wisse genau, was ~iir eine Person sie sei.

Als sie ihn um eine Vollmacht gebeten babe, um notwendiges Geld abzu- heben, habe er zuerst gesagt, das Geld sei yon den Engl~ndern besehlagnahmt worden und ihr dann rundweg alles abgelehnt. Er sei in das untere Stockwerk ge- gangen und habe gesagt, man solle ihn s e h i i t z e n v o r d e n E r p r e s s u n g e n de r F r a u . Als sie gekommen sei, habe er gedroht, sie zu schlagen, ,,wie am 25. I X . " Er habe b e h a u p t e t , y o n s e i n e r F r a u g e s c h i e d e n zu s e in , auch den Ring abgelegt. Beim Scheiden sei er sehr zartlich gegen die Kinder gewesen, auch gegen sie sehr nett, habe ihr gesagt, sie solle ihm auch sehreiben, ,,wenn es dir nieht zu schleeht geht in Nordfrankreich." Im Wagen habe er zu der Begleitung gesagt, j e t z t sei s e i n e F r a u s c h o n to t .

E i g e n e A n g a b e n u n d B e f u n d : Dr. Wott ist bei der Aufnahme ruhig; er sagt in starrer Weise mit ernstem Gesicht, er leide an , , k o n z e n t r i e r t e m G r S B e n w a h n " ; er ist nur schwer zu einer Anamnese zu bringen, und meint, das stehe alles in seinen Militarpapieren und kSnne dort eingesehen werden.

In der Familie seien keine Geisteskrankheiten vorgekommen. Er habe auf einem badischen Gymnasium gut gelernt, nachher Kunstgeschichte, Literatur und Philosophie studiert, habe aber im zweiten Semester umgesattelt, well er sich geistig der Laufbahn als Privatdozent nicht gewachsen gefiihlt und etwas anderes nicht habe tun wollen. ,,Das liegt so im Stand und im Standesgeffihl." In seinem zweiten Semester sei ein ,,katastrophales Ereignis" eingetreten: er habe wegen schlechten Fechtens aus dem Korps austreten miissen. Er habe dann in Berlin und Jena die Rechte studiert, und sein Examen gemacht. Dal~auf sei er Referendar geworden. Am 1. X. 1913 sei er bei einem bayerischen Feldartillerie-Regiment

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eingetreten. Es sei ihm aber dort sehr schlecht ergangen. Er sei sehr ungeschickt gewesen und habe viel unter dem ,,KommiB" gelitten.

Am 9. VIII. 1914 sei er als Gefreiter ins Feld gezogen, doch schon im Oktober 1914 w e g e n e i n e s N e r v e n l e i d e n s z u r d c k g e k o m m e n . Er habe Selbstmord- gedanken gehabt, weft er vom Milit~r so ,,geschliffen" worden sei. Sein Ehrgefiihl h~itte unter der schlechten Behandlung der Unteroffiziere gelitten. AuBerdem seien die Miteinj~hrigen schon beinahe Leutnant gewesen u n d e r noch immer Ge- ffeiter. Er sei dann durch verschiedene Lazarette auf eine Nervenstation gekom- men und von da zu seiner Ersatzabteilung. Auch die Eindriicke im Felde h~tten ihn sehr mitgenommen. Er habe viel an Schlaflosigkeit gelitten.

Seine Begeisterung fiir sein Vaterland habe das Milit~r kaput t gemacht. Er sei dann im Juni 1915 als Meldereiter zum Stabe eines bayerischen Res.-Feldart.- Regiments gekommen, a b e r s c h o n n a c h e i n e m M o n a t weg. Er wisse nicht warum, man miisse wohl ,,hinter den Kulissen" etwas mit ihm gemacht haben. Dann sei er wieder in die friihere Nervenstation gekommen, yon da zu einer Post- iiberwachungsstelle und dann zur Ausbildung als Beamtenstellvertreter in ein Festungslaza~tt . Im April 1916 sei er Beamtenstellvertreter in einem Feld- lazarett geworden, dort bis November geblieben, und dann wieder wegen Nerven zuriickgekommen. Sein Ehrgefiihl habe die schlechte Stellung als Beamtenstell- vertreter (,,wie ein Zebra, nicht Esel, nicht Pferd") nieht vertragen. Er sei dann wieder in einer Nervenstation und dann bis zu seiner Entlassung im M~rz 1917 Lazarettinspektor gewesen. W a r u m er e n t l a s s e n w o r d e n sei , w i s se er n i c h t , es sei eben ,,wegen der Nerven" gewesen.

Er habe dann, naehdem er seinen Doktor gemacht habe, als Referendar Dienst getan. 1915 habe er sich verlobt. Im Juni 1916 sei w~hrend eines Urlaubs die Kriegs- trauung gewesen. Die Mutter habe die Heirat nicht gem gesehen, weil sie die Frau nicht ftir ganz ,,standesgem~i~" gehalten habe. Es sei d a u e r n d e in g e s p a n n - t e s V e r h ' ~ l t n i s z w i s e h e n F r a u u n d M u t t e r gewesen .

Er habe in Ruhe gearbeitet, bis die Grippe gekommen sei, die neunzehn Tage gedauert habe. Er sei zum Teil sehr bescheiden, zum Teil sehr unversch~mt. Vor Jahren habe seine Mutter sich mit der Familie des englischen Ministers Pembroke angefreundet. Die Leute seien hierauf bei ihnen gewesen. Seine guten Beziehungen zu England seien kein GrSBenwahn. Er habe aber geglaubt, man wiirde ihm etwas tun, weil er im Alldeutschen Verband und also ,,Kriegshetzer" gewesen sei.

Er bestreitet, Stimmen zu hSren und meint, er sei nicht krank. ,,Selbstver- st~ndlich" sei er aber in den letzten Tagen nieht ,,zurechnungsf~hig" gewesen. Nervenleidend sei er jetzt noch. Aufgeregt sei er nur, weil er nicht rasiert sei.

Auf die Prage, was denn sein H a u p t k o n f l i k t sei, sagte er , , S e h n s u c h t n a c h d e r M u t t e r " . E r h a b e d i e M u t t e r e i g e n t l i c h i m m e r l i e b e r g e h a b t a l s d ie F r a u . Als man fragt, warum er derm die Prau geheiratet habe, sagt er, ,,das verbietet die Familienehre, schreiben Sie dahinter: Familienehre". Er liebe aber in seiner Frau die Mutter seiner Kinder. E r s a g t g a n z s p 0 n t a n , m a n mi i s se es schar ' f a u s e i n a n d e r h ~ l t e n , wie i m m e r in d e r G e s e h i e h t e e i n e s K r i e g e s A n l a B u n d U r s a c h e : D i e ~ u B e r e V e r a n l a s s u n g s e i n e s Z u s t a n d e s s e i d i e G r i p p e , d i e i n n e r e U r s a c h e s e i d e r K o n f l i k t z w i s c h e n M u t t e r u n d F r a u . Auf die Frage, wie denn seine S - t i m m u n g sei, meint er , , g l e i c h g i i l t i g " .

Dr. Wolt nimmt die Untersuehung sehr wichtig und disponiert ziemlich be- wuBt. Er wolle zuerst seine milit~rische Laufbahn schildern, damit man das Milit~rische hinter sich habe, um dann an den ,,inneren Konflikt" gehen zu kSnnen. ,,Dann haben Sie eine riehtige Disposition." Er stetlt sich ein, wie wenn er etwas zu Protokoll geben wolle und sagt zum Beispiel: ,,Wollen Sie das bitte in Klammer

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Reaktion und Ausl/~sung bei der Schizophrenie. 71

aufnehmen." Er spricht sehr hastend und ist, aueh in seiner affektiven Einstellung sehr wechselnd. W/~hrend er im allgemeinen freundlich ist und sich gleich beim Arzt entschuldigt, daB er heute morgen bei der Aufnahme sich nieht ,,akademiker- m/~Big" benommen babe - - in Wirklichkeit ist nichts vorgefallen - - wird er, als man an den Hauptkonflikt kommt, sehr scharf, ja fast drohend, sagt, es falle ihm nicht ein, davon zu erz~hlen, das gehe gegen seine Familienehre, er kenne den Arzt doeh gar nicht, er sei fiberhaupt doch erst wenige Stunden im Haus. Gleich da- nach wird er freundlich und liebenswiirdig; er spricht alles etwa Wichtige flfisternd, fast tonlos, wobei er sich auch naeh den Tfiren umsieht. Er gibt als Grund an, er sei heiser. Sehr oft erkundigt er sieh danach, ob seine Frau auch genfigend zu essen habe, und ob sie nicht mehr bek/ime, wenn er sich mit dem Minister Pembroke in Verbindung setze. Er ist w/~hrend der ganzen langen Unterhaltung vSllig un- ausgegliehen. Er weehselt sprunghaft Thema, Affekt und Einstellung, maeht da- bei einen /iuBerst reizbaren und explosiven Eindruck, und hat auf der Station gleich naeh seinem Kommen einen Pfleger ohne allen Grund beschimpft, weshalb er sich naehher beim Arzt entschuldigt mit der Begriindung, der habe herumge- lungert, das kSnne er nieht sehen.

Er freut sich sehr auf den Besuch der Frau, g e g e n d ie er g a r n i c h t s zu h a b e n s c h e i n t , und auf den erwarteten Besuch der Mutter.

K S r p e r l i c h : Kein Fieber. Niehts Krankhaftes. 11. III . 1919. Er spricht dauernd in miBverstandenen psychiatrischen Fach-

ausdriicken, meint, drei Krankheiten k~men in Betracht: P a r a l y s e h a b e er n i c h t , w e i l er n ie s y p h i l i t i s c h g e w e s e n ~ei , P a r a n o i a h a b e er n i c h t , w e i l m a n s i ch da n i c h t f i i r k r a n k h i e l t e , es b l i e b e a l so n u r D e m e n t i a p r a e c o x . Er erSrtert das alles ganz saehlich ohne die geringste Sorge oder Angst.

Er schreibt beiliegende S e l b s t d i a g n o s e l ) :

A. H y s t e r i s e h e K r a n k h e i t s z e i e h e n ( v ~ t e r l i c h e V e r e r b u n g ) .

1. D e m e n t i a p r a e e o x (Jugendirresein). Dr. Keller nennt das Infantilis- mus. Nietzsche: das Kind im Manne. Ieh bin leider schon 30 Jahre.

2. Verfolgungswahnsinn. I. ~ u g e r e V e r a n l a s s u n g : G r i p p e u n d H u n g e r . II . I n n e r e U r s a c h e n . Kampf: Frau und Mutter. (Verfolgungswahnsinn) sehon als Kind aufgetreten. Als Soldat (Miteinj/~hrige Weitig ins K r a n k h a f t e gestiegen). Ruhiges Eheleben, Glfiek fiber die Kinder und Liebe der Frau sowie Bes/inftigung der Mutter: Beruhigung der I~erven. Schwinden der Zukunfts- sorgen bei den steigenden schriftstellerischen Erfolgen und dem guten Voran- kommen am Gericht. Landrichter Boller neuer Sehreckgeist. Seit dem 8. X. 191.8 fiberwunden. Stolz auf die Erfolge bei dem Herrn Landrichter Miiller, der sich wegen meiner guten Antworten meinen l~amen besonders merkte. (Mein Grogvater v/~terlicherseits war sehr eitel.) V a t e r l a n d i s e h e Gleichgfiltigkeit seit der Revolution. S c hwi n d e n d er Gel d sor g e n, well Staatsbankerott befiirchtet. Je tz t sorge ieh mich, daB m e i n e a r m e F r a u an Hunger zugrunde geht. An- zeiehen der Hysterie sehr viel schw/~tzen, aber nur zu dem Zweck, Aufsehen zu erregen. Diese Kenntnisse verdanke ich medizinisch-juristischen Vorlesungen und Privatstudien. Ieh bin bald gesund, da Paralyse (Gehirnerweichung) aus- gesehlossen ist (ich war nie Syphilitiker) und zeaQavo[a (Verriicktheit) dureh meine genauere Kenntnis fiber meine Krankheit nicht m5glich ist. Ich weil~, daB ieh verriickt bin, davon werde ich wieder gesund werden.

3. Ans/~tze yon GrSl]enwahnsinn.

i) Die Hervorhebungen riihren yon Dr. Wolf her.

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72 K. Schneider:

B. N e u r a s t h e n i s c h e K r a n k h e i t s z e i c h e n ( m f i t t e r l i c h e V e r e r b u n g ) .

1. Manische Depressionen (Gemfitsniedergeschlagenheit) fiber die gestrlgcn Gemeinheiten.

2. Zwangsvorstellungen. a) Prfigelwahn. e) Zuckerkrankheit. b) Einbrecherfurcht. f) Judenabstammungsfurcht. c) Stehlsucht (;~.~saz~ol~arla). g) Zeugungsunf~higkeit ( I m p o t e n z ) . d) Homosexualitiit (Jude Sammet, Kritiker des Berl.-Tgbl., daher Antisemit).

C. H e i l m i t t e l .

1. Anniiherung yon Mutter und Frau. 2. Offenlegung meiner gerichtlichen Personalakten. 3. Prel3notiz, dab ich die Bezugnahme auf die'Engl/~nder nur im Wahnsinn

getan habe. 4. Zuriicknahme der Beleidigung gegenfiber dem Oberbfirgermeister. 5. Verzeihung meiner Frau. S c h l u l 3 w o r t : Ich mSchte gerne ein Geistesaristokrat werden; der Engli~nder

aber sagt: I t takes two generations, to make a gentleman. Ich bin aber erst in der zweiten. - - Spero dum spiro. Tuez le corps, l '~me vivra. - - - - "

Er liest viel in Grimms M~rchen, und zwar in einem Bueh, das das erste Buch war, das seine Mutter ihm schenkte; er bitter stiindig grundlos um VerzeihuTag, spricht ganz zi*rtlich yon seiner Frau, hat etwas auBerordentlich Gespanntes und erscheint innerlich sehr erregt.

12. I I I . 1919. Er bat in den ersten Tagen fortgesetzt um Verzeihung, dal~ er sich fibel benommen habe und unhSflich gewesen sei, was gar nicht der Fall war. Heute sagte er, heute sei derWahnsinn gebrochen, er habe Verfolgung swahnsinn gehabt. Die eine Verfolgungsidee sei die, er werde yon den Engli*ndern zum Tode verurteilt werden, weft er im Alldeutschen Verbande sei. Die zweite, es kSnnten Warren bei ihm gefunden werden. Er iiuBert dann, man mSge ihn hier nicht leiden, weil er evangelisch sei. Er erkundigt sich wiederholt naeh der Konfession der hiesigen ti~rzte. Er hat immer sein eisernes Kreuz verpackt auf dem ~achttisch- chen liegen, er habe stets das Geftihl, man glaube ihm nicht, da6 er es habe und wfirde am liebsten aueh sein Doktordiplom fiber dem Bett aufhiingen.

12. III . 1919. Er schliift nachts nieht, ruft 5fter den Pfleger, er sei so unruhig, weft die Bonner nichts zu essen batten, man mSehte einen englischen Offizier holen, damit er ihn sprechen k5nne. Er sagt auch, man mfisse ihn dem Spartakistenffihrer vorfiihren, damit er sehe, dab auch er, obgleich er Doktor sei, nichts zu essen habe. Einmal meint er, er mSchte gerne etwas haben, um sich zu erhiingen, kSnne aber nichts linden. Er bekommt tiiglich Besueh yon M u t t e r u n d F r a u , a n d e r e n A n n a h e r u n g er s i ch s i c h t l i c h f r e u t und deren Hgnde er oft ineinanderlegt. Heute schreibt er folgenden Brief:

,,d. 12. IH. 1919. Sehr geehrter Herr Doktor!

H e i l m i t t e l .

a) Diktat eines Schreibens an Sir Josua King (Studentenreise 1911 nach England). Beweisstficke liegen in meinem Schreibtisch: kleines schwarzes Tage- buch. Sir Josua King erinnert sich an Professor Koch's German Students Party. Ich werde f fir meine Bonner Mitbiirger um Lebensmittel bitten. Das Schreiben geht deutseh und englisch yon mir untersehrieben ab. Mehr wie in den Papierkorb kSnnen die Englgnder meinen Wisch nieht werfen. 2. Ieh habe Reue. Ich habe ein Miidchen Anna Nolte in der SchillerstraBe in Verruf

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Reaktion und Ausl6sung bei der Schizophrenie. 73

gebracht durch bSse Reden. Ich will das M/idchen um Verzeihung bitten in Gegenwart meiner Ehefrau. Das nagt an meinem Herzen. Ich m6ehte g e s u n d werden.

3. Ich will den Fiihrer der Unabh/ingigen spreehen. Man h/ilt reich ftir einen schlimmen Antisemiten.

4. Ich mSehte vom Geriehte meine ~berweisung ins Oberlandesgericht sehen."

13. I II . 1919. Er bittet heute, doch dafiir zu sorgen, dab er bei der Visite keinen Tobsuchtanfall bekomme, auch kSnne er nur in einer evangelisehen Um- gebung gesund werden. Er sei verrtickt gewesen, jetzt sei es aber wieder vorbei. Er besehreibt verschiedene Papieffetzen im Stil des letzten Briefes, meist unklaren, parteipolitischen Inhaltes.

15. IIf . 1919. Er hatte schon nachts gesagt, er miisse dem Arzt etwas ganz Wiehtiges sagen. Er deckte heute seine Geschleehtsteile auf und sagte, er miisse auf Filzl/iuse untersucht werden, und zwar k/ime das folgendermaBen: Er habe das Dienstm/tdchen Anna Nolte, das in der N/ihe von ihm wohne, ganz gerne ge- sehen. Seine Frau habe nun aus Rache Filzl/iuse geholt und diese L/iuse ihm in die Haare gesetzt. (Er hatte vor einiger Zeit tats/iehlich Filzl/~use.)

17. III. 1919. Gestern war er ziemlich erregt, wiinschte die Gedanken an die Anstalt weghypnotisiert zu haben, sprach stets in geheimnisvoll fliisterndem Ton. Abends wollte er nicht zu Bett gehen, verlangte entlassen zu werden, machte einen /iul3erst gespannten und gereizten Eindruek, sprach davon, m a n w o l l e i h n h i e r k a t h o l i s c h m a c h e n , waft dem Arzt vor, mit im Bunde zu sein, wollte ihn nicht aus denl Zimmer herauslassen, bevor er untersehrieben h/itte, dab er entlassen w/ire. Am andern Tage war er wieder ruhiger, spraeh yon drei Proben, die er zu bestehen hatte, d ie G e d ~ c h t n i s p r o b e , d ie V e r s t a n d e s p r o b e u n d d ie S c h w e i g e p r o b e . Eine harmlose Unterredung des Oberpflegers mit ihm, der ihn naeh friiheren Verh/iltnissen fragte, deutete er als Ged/ichtnisprobe. t ]be r - h a u p t h a t a l l e s f i i r i h n B e d e u t u n g . Er glaubt, die Pflegerin sei nur zum Dienst bei ihm bestimmt, um ihn auf sein ,,heil~es Blut" zu priifen. Die Probe miisse er auch ablegen, und es sei Pflicht der Pflegerin, ihn auf diese Probe zu stellen.

24. I II . 1919. Der Kranke wurde zunehmend ruhiger. Er hielt anfangs der letzten Woche nur die Katholisierungsidee'und die Idee fest, dab er letzten Sonn- tag hypnotisiert worden sei und daraufhin alle Wahnideen verschwunden seien, oder stand diesen Ideen wenigstens nicht deutlieh kritisch gegeniiber. In den letzten Tagen semen er a u c h d i e se I d e e n v S l l i g zu k o r r i g i e r e n u n d e rk l /~r te , d ie K a t h o l i s i e r u n g s i d e e k o m m e d a h e r , we i l e i n S c h u l k a m e r a d i h n s e i n e r z e i t b a b e i i b e r r e d e n w o l l e n , k a t h o l i s e h zu w e r d e n , u n d d i e s e D i n g e s e i e n i h m in s e i n e n , , F i e b e r p h a n t a s i e n " w i e d e r a u f g e t a u c h t .

W/~hrend er frtiher den ganzen Tag die intimsten Familiendinge an das Pflege- personal ausplauderte, ist er jetzt ruhiger, zuriickgezogen, beseh/~ftigt sich mit Biiehern. Seine Frau gibt an, es sei g e g e n f r i i h e r n i e h t de r g e r i n g s t e U n t e r - s e h i e d ; zerfahren sei er immer gewesen. Obschon jetzt wenig Greifbare~ mehr bei ihm vorhanden ist, hat er doeh in seinem Wesen und auch in seinen Manieren etwas recht Verschrobenes.

29. I II . Genaues Fragen nach dem ,,Nervenleiden" beim Mil, it/~r ergibt, dal~ es, sich n i c h t u m Z u s t ~ n d e p s y c h o t i s c h e r N a t u r g e h a n d e l t h a b e n k a n n . Die Frau meint, man habe ihn wegen seiner Ungeschickliehkeit los sein wollen. Auch er selbst weiB wohl yon V e r s t i m m u n g e n , a b e r n i c h t s von wahnhaften Ideen.

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74 K. Schneider:

I Heute ist er entlasscn worden. In clen letzten Tagen war er bei Unterredungen ganz unauffi~llig. Z w e i l e l l o s b e s t a n d r e s t l o s e K r i t i k d e r W a h n i d e e n . Auch im Wesen erscheint er lange nicht mehr so schizophren, wie am 24. III . Er ist etwas e~ckig, fahrig, auch scheint er nicht sehr intelligent zu sein.

Er schrieb noch folgenden B e r i c h t fiber seine Krankheit; abgesehen yon einzelnen Hervorhebungen und einer unbedeutenden Ktlrzung ist daran nichts ge~ndert.

I. B e r i c h t . Am 20. II. 1919 muBte ich reich wegen Grippe zu Bert legen. Die Krankhcit

dauerte schr lange, so dab ich 17 Tage im Bett gelegen habe, ohne auch nur ftir kurze Zeit aufstehen zu kSnnen. Am Sonntag, den 9. III . , dem 18. Krankheits- tage, konnte .ich aufstehen. Ich ging in mein Arbeitszimmer und r~umte meinen Bficherschrank auf, wobei mir auch Bfichcr englischer Freunde aus friiherer Zeit in die H~nde fielen, die mit eigenh~ndig geschriebenen Widmungen versehen waren. Dieser Umstand sollte fiir manche sp~teren Begebenheitcn von Bedeutung werden. Am Nachmittag des 9. II[ . zeigten sich sehon erhebliche Steigerungen einer Reizbarkeit, d ie b e r e i t s v o r A u s b r u c h d e r G r i p p e v o r h a n d e n ge- w e s e n , sich aber im Verlatffe der Krankheit sti~rker bemerkbar gemaeht hatte. In der Nacht vom 9. auf den 10. III. behandelte ich meine Frau schlecht, ohne dab sie mich - - ieh muB der Wahrheit die Ehre geben - - irgendwie gereizt h~tte. Am Morgen des 10. III . verwandelte sich die Gereiztheit meiner .armen bedauerns- werten Frau gegentiber, die doeh selber 11 Tage die Grippe gehabt hatte, in eine wilde Wut. SehlieBlich verlie~ ich die Wohnung und ging in den 2. Stock zu Fi- schers. In einem lichten Augenblick sah ich selbst ein, dal] ich ins Krankenhaus muBte, ein Gedanke, gegen den ich vorher auf das allerheftigste gearbeitet hatte. Ich verlangte aber, - - der Ncrvenzusammenbruch war inzwischen vollst~ndig in die Erscheinung getrcten - - da~ Frau Fischer reich in die Krankenanstalt Linden- burg bringen sollte. Ich nahm noch innigen Abschied yon den Kindern, dann brachte ein Krankenwagen reich fort. Ieh merkte, dab es nach der Lindenburg gehen sollte; kaum war mir dies aber klar geworden, als meine Wut sieh zur Raserei steigerte, denn im November 1918 hatte ich als Richter kraft Auftrages einer LeichenSffnung beiwohnen mfissen; dieses Erlebnis hatte aber meinenNerven, die sehr empfindlieh waren, heftig geschadet. Denn das Bild war ffir mich viel grausiger als die tausend Schreckensbilder, die ieh im Felde geschaut hatte. Der Anblick der Lindcnburg ~ersetzte aus den angegebenen Grfinden meine aufgepeitschten Nerven in eine fieberhafte Erregung. G r5 B e n wa h n, der mir sonst gar nicht liegt, machte sich gleich bei dcr Aufnahmeschwester bemerkbar.

Als ich auf mein Krankenzimmer kam, wurde ich immer erregter. Ieh sagte, meine Frau sei sehr klug, die habe ein Verzeichnis meiner s~mtlichen Sachen. Es k~me ja h~ufiger vor, dab Geisteskranke bestohlen wfirden. Das lieBe ich mir aber nicht gefallen, ich lieBe meine Gutmiitigkeit keinesfalls ausnfitzen. Ich wiirde die Pflegerinnen, die sich zu Unrecht Sehwestern nennen lieBen, und die W~irter bei meinem Stationsarzt anzeigen, wenn sie reich bel~stigten. Dann schimpfte ich auf das h~iBliche, meinem SchSnheitssinn und Geschmack widersprechende kahle ~immer. Als Schwester Maria, die meine Aufnahme erledigt hatte, mir abends Veronal brachte, sagte ich, sie solle schnell weggehen, ich sei so heiBblfitig, dab ioh kein hfibsches M/idchen in Ruhe lassen kSnne. Bei meinem Stationsarzt zeigte ich ein prahlerisches Wesen und benahm reich gesellschaftlich nicht vor- nehm. Dienstag, den l l . . I I I . , iiberkam mich ein heftiges Verlangen nach meiner Frau. Ich verlangte, dab sie k/~me und gab die Fernsprechnummer an, bei denen die ,,Schwestern" meine Frau anrufen kSnnten. Ich beschimpfte unterdessen meinen Zimmergenossen Schmitz, den ich einen erb/~rmlichen ,,tteimkrieger"

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nannte, und Sto]z, dem ich sagte, er solle seine elenden Reimereien lassen. Mein 'Stationsarzt hatte mir gesagt, ieh solle einige Gedanken zu Papier bringen. Zu- erst weigerte ich reich, dann iiberschfittete ich aber Herrn Dr. Schneider mit einer solchen Flut yon Schriftstfieken, dab der Genannte die Geister, die er rief, wie Goethes ZaUberlehrling nicht mehr los werden konnte; erst naeh einigen Tagen verebbte die briefliche Sintflut. Die fach/~rztlichen Ausdrfieke habe ich aus den geriehtlich-psychiatrischen Vorlesungen, die zu unserem rechtswissensehaftlichen S t u d i e n p l a n geh6rten. Man redet sonst so viel vom ,,einseitigen Juristen". - - (Ich wfirde die Sprache dieses Schriftstfickes frivol nennen, wenn ieh nicht so heiter fiber meine Wiedergenesung w/ire. Sollte ich die Grenzen der ,,Selbstironie" tiber- schritten haben, so liegt das daran, dab ich erst auf dem Wege der Besserung, aber noch nieht vollst/indig gesund bin.)

Am Dienstag, den 11. III . morgens 11 Uhr kam eine Blume yon meiner Frau, eine Drahtnaehricht (Telegramm) von meiner Mutter und eines der englischen Bficher. Als ich hSrte, dal] meine Frau und meine Mutter, die beiden Menschen, an denen mein Herz mit Ausnahme meiner beiden Kinderchen am meisten h/ingt, mich I)4elistag mittag besuehen wfirden, wurde ich etwas ruhiger. Wirklieh kamen beide nacheinander zu mir und ich war sehr glficklich, dab ich beide wieder hatte. Zugleich wurde mein Verlangen nach Hause in mein eigenes Helm und mein eigenes Zimmer immer grSl]er. Aber Mutter und Frau redeten mir zu, ich solle doch hier bleiben, da. ich gesund werden mfisse.

Mittwoch, den 12. I I I . , war Schwester E. an Stelle von Schwester K. im Wach- saal. Ich hatte wieder die Einf/ille mit den Engl/~ndern und behauptete, N e f f e des K S n i g s y o n E n g l a n d zu sein. Ferner sagte ieh, Frau Pembroke, die eng- lische Freundin meiner Mutter, wfirde mit ihrer Toehter mich besuchen. Ich wfirde mir niehts wfinschen als Hartzwiebaek, Bfiehsenmilch und Keks fi~ die Bonner Kinder. Dann wfirde ich E h r e n b i i r g e r d e r S t ~ d t B o n n w e r d e n . Schwester E., die ein Wesen hat, das zur Neckerei neigt, gab mir ein Buch ,,der Trompeter yon S/ikkingen" und behauptete, ich kSnne das nicht lesen. Dann redete sie viel yon schSngeistigem Schrifttum (Literatur), und zwar besonders yon Dichtern, die ihrem Glaubensbekenntnisse angehSren. Ich wurde darm sehr grob und sagte, sie sei eine dumme Gans oder/~hnliches, sie solle doch nichts yon Dinger/reden, die sie nicht kenne. Sie wuBte nicht einmal Paul Kellers ,,Wald- winter" und Enrika Handel-Mazzetti (die ,,arme Margret"). Josef GSrres, der zu den M/innern geh6rt, die ich am meisten verehre, weil er sein Deutsches Vaterland so glfihend liebte, war ihr unbekannt.

Mittwoch war jedenfalls ein Tag, der yon Grobheiten gestrotzt hat. Ob ich allein der , , S c h u l d i g e " (?) gewesen bin, weiB ich nicht, die Pflegerinnen haben reich jedenfalls noch nicht gekannt und so sind einige Schwierigkeiten an diesem Tage entstanden. Die folgenden Tage standen unter dem Zeiehen erhShter Reiz- barkeit. A n g e h S r i g e des Z e n t r u m s , d e r S o z i a l d e m o k r a t i e u n d des J u d e n t u m s wurden yon mir in einer Weise mit Grobheiten iiberschfittet, die ich selb~t jetzt nicht mehr begreife. Denn naeh einiger Zeit sah ich ein, dal3 ich Torheiten begangen hatte und mieh in einer Weise geb/irdet hatte, die nicht zu meinem Wesen pa$te. Ich hatte doch beinahe nur katholisehe Freunde, die An-

'h/inger des Zentrums zugleich waren, womit nieht behauptet werden soll, dal] das Zentrum eine konfessionelle Partei ist. Sind doeh sehr viele strenggl/~ubige Pro- testanten seit der grol]en Staatsumw/~lzung zum Zentrum iibergegangen. Auch meine Judenabneigung ist nieht so heftig, habe ich doch sehr viele getaufte und ungetaufte Juden gekannt, mit denen ieh gerne Umgang habe, weil es Menschen waren, die fiber viel Geist, Kenntnisse und Geschmack verffigten. Aueh gegen die Sozialdemokratie ist mein Groll nicht so furchtbar, denn sie mag neben vielem,

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76 K. Schneider:

was ich nicht richtig finden kann, manehes Gute haben. (Berieht und Beurtei lung sind etwas dureheinander geraten, aber bei meinen Arbei ten am Gericht kommt das nicht mehr vor, wenn ich erst wieder ganz gesund bin.)

Am Samstag kam der O b e r p f l e g e r ; es war der 15. I I I . Der Genannte p r f i f t e r e i c h a u f m e i n G e d a c h t n i s h i n , indem er eine Reihe yon Fragen fiber meinen E in t r i t t in das stehende Heer, fiber meinen Geburts tag usw. an reich stellte. Am Sonntag, den 16. I lL , kam der Oberpfleger wieder und machte einige P r o b e n a u f m e i n e n V e r s t a n c l , A u f f a s s u n g usw. Ich war wieder sehr erregt, da ich , ,Examenfieber" hatte. Ich nann te den Oberpfleger einen ,,ZwSlfender" (Schimpf- wort ffir Kapitulanten). Ebenso ha t te ich vorher in grSblicher Weise den Pfleger M., der auch kapitul ier t hat te , beschimpft. Ich ha t te ihn aus dem Sessel geworfen und ihn angepfiffen, weil er ein Kapi tu lan t war. Dann bildete ich mir ein, ich mfisse noch eine 24stiindige S c h w e i g e p r o b e ablegen. Dann kSnne ich ent- lassen werden. Im Verlaufe des 16. I I I . bildete ich mir ferner ein, ich solle k a t h o - l i s c h g e m a c h t w e r d e n (ich sehe heute am 25. III . ein, da~ das eine Einbi ldung war). Am Abend des 16. I I I . verlangte ich nach dem Vertreter des Herrn Dr. Schneider, Herrn Dr. Wolf. Ich ba t um H y p n o s e , da ich vergessen wolRe, dal~ ich in der Lindenburg gewesen sei. Ich erSffnete sogar bis ins Einzelne alle die Dinge, die ich vorher als , ,Familienehre" bezeichnet hatte. Dies t a t ich nur, weft ich daehte, ich wfirde am 17. I I I . 1919 entlassen. Am 17. I I I . 1917 war ich aus dem Heeresdienst entlassen worden.. Ieh klebte aber sehr am gleichen Datum, so dal3 ich mir einbildete, ich miiBte entlassen werden. Der 17. I I I . 1917 verlief sehr stfirmisch. Meine Mut ter und meine Frau redeten mir aber zu, ich mfiBte noch im Krankenhause bleiben, da ich noch nicht gesund sei. So beruhigte ich mich allm~hlich. - - Ich ha t te schon als Kind einen s tarken Nachahmungstr ieb. Desha]b glaube ieh, mir meine Absonderlichkeit den ganzen Tag in SprichwSrtern zu reden, daraus erkl~ren zu kSnnen, dal~ ich den dichterisch veranlagten Stuben- nachbar Stolz naehgeahrat habe.

CSln, den 26. I I I . 1919. Ganz toll war der 19. I I I . Ich dachte an meine schone Jugendzei t am ]Neckar,

daehte daran, wie wir als Jungens auch nach dem 19. III . fiber die Wiesen ge- laufen waren, obwohl nach dem Josefstag das Betre ten der Wiesen verboten war, und wir uns wie die SehneekSnige gefreut hat ten, den schimpfenden Feldhi i ter am ]Narrenseil zu hihren. Aus diesen Jugendheimatk langen ers tand aber wieder ein grol3es Verlangen in mir, nach Hause zu kommen. Der vdo~o~ ~ra[Q~]~ aus der Odyssee spukte wieder einmal. Aus dieser seelischen Verfassung heraus en ts tand wieder ein gewaltiges T o b e n . Ich suchte sogax in die feinen Netze und Gewebe m/~chtiger Par te ien einzugreifen und als deus ex machina fiir meine eigenen Ge- sinnungsgenossen aufzutreten. Ich werde aber nach diesem ersten nicht gerade glficklich verlaufenen Versuch der Poli t ik den Rficken kehren und als stiller Zu- schauer und nicht an der Spitze stehendes ruhiges Mitglied wieder zusehen, was die andern treiben. Poli t isch Lied - - ein garstig Lied. - - Meine Mutter, die yon Jugend auf einen sehr s tarken Einfluit auf reich ausgeiibt hat, weft wir in einem sehr, sehr innigen Verh/iltnis zueinander standen, beruhigte mich aber und redete mir gut zu, zu bleiben, bis die Arzte mich ffir gesund erkl/irten. Der E i n f l u l 3 m e i n e r M u t t e r w a r so s t a r k , d a b i ch m i c h m i t a l l e r G e w a l t z u s a m m e n - n a h m u n d a l l m i ~ h l i c h r u h i g u n d f r i e d l i c h w u r d e . Am Donnerstag, den 20. I II . , kam wieder Schwester L., eine ruhige Westf~lin, die ich im Anfang meines Aufenthal tes im Krankenhaus auch heftig beschimpft hatte. Ieh nahm mir aber lest vor, schweigen zu lernen und ich lernte es allm~hlich. Denn wenn ich aueh keinen Heimwehkoller mehr bekam, so war es doch mein glfihendster Wunsch, mSglichst schnell gesund zu werden, um nach Hause kommen zu kSnnen. Den

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Anordnungen der J~_rzte zu folgen, fiel mir nieht schwer, da ich 31/2 Jahre an streng- sten soldatischen Gehorsam gew5hnt war. In den letzten sieben N~ehten wurde ieh immer ruhiger, schlieBlich sprach ieh kein Wort mehr mit der Naehtwache, gesehweige, dab ich noeh Zeitungsr~nder beschrieb. - - Eine groBe Freude hatte ich, als mein TSchterchen, das kleine M~uschen, mich besuchte.

II. B e u r t e i l u n g .

,,Gott ziirnet nie mit uns, wir dichten's ihm nur an. UnmSglich ist es ihm, dab er je ziirnen kann." Angelus Silesius.

Der wundervolle tiefe Mystiker hat noch ein anderes Wort gepr~gt: ,,Were Ewigkeit wie Zeit und Zeit wie Ewigkeit, der ist befreit yon allem Streit ."

1. Wunderbar sind Gottes Wege. I c h h ~ t t e n i c h t zu h o f f e n g e w a g t , dab d ie Z u r i i c k h a l t u n g , d ie m e i n e M u t t e r m e i n e r F r a u u n d m e i n e n K i n d e r n g e g e n f i b e r so l a n g e Z e i t g e w a h r t h a t t e , aus Griinden, die nicht im einzelnen angefiihrt zu werden brauchen, so s e h n e l l e i n e r f r e u n d l i c h e r e n S t e l l u n g n a h m e s e i t e n s m e i n e r M u t t e r P l a t z m a c h e n wtirde. D ie i n n e r e U r s a c h e m e i n e r E r k r a n k u n g v o m 10. III . w a r z u m groI~en T e i l a u f d e n S e h w i e r i g k e i t e n b e g r i i n d e t , d ie z w i s e h e n m e i n e r M u t t e r u n d m e i n e r F r a u b e s t a n d e n . Meine Mutter war mit meiner Ehe niemals einver- standen, das hat auf mir gelastet wie ein schwerer Alpdruek. Es hat auch tiefe Schatten geworfen auf die Ehe mit meiner Frau, die sonst ganz vortrefflieh war, da sie auf einer i n n e r e n Zuneigung beruhte und nicht allein auf sinnlicher schnell- verlodernder Liebe. M~ein N e r v e n z u s a m m e n b r u c h h a t in u n g e a h n t e r w u n d e r s a m e r S c h n e l l i g k e i t M u t t e r u n d F r a u z u s a m m e n g e f t l h r t . D e r E i n f l u B a u f m e i n e G e s u n d u n g w a r v o r t r e f f l i c h . Ich konnte das Wunder nicht fassen; jetzt, da es mir deutlicher und klarer wird, bin ich iiberselig vor Glilck. D ie H a u p t n e r v e n i i b e r s p a n n u n g i s t y o n m i r g e n o m m e n , da F r a u u n d M u t t e r s i ch v o r t r e f f l i c h v e r s t e h e n , wenn dies auch/iuBerlich noch nicht in die Erscheinung tr i t t oder fiir Unbeteiligte wenigstens nicht so klar erkennbar ist. M e i n e w e i t e r e G e n e s u n g w i r d v o r a l l e m yon dem MaBe der Ann/iherung abh/~ngen, die zwischen m e i n e r F r a u u n d m e i n e r M u t t e r e in - t r i t t .

2. D ie F u r c h t , h i e r y o n g e w i s s e r S e i t e k a t h o l i s c h g e m a c h t zu w e r d e n , beruht darauf, dab in B. a. Neckar auf dem Gymnasium ein gewisser S. durch Ubergabe yon Schriften des Freiherrn yon Hammerstein reich zum t~ber- t r i t t zum katholischen Glauben hat veranlassen wollen. Ich bin jetzt der Ober- zeugung, dal~ man mich in der Krankenanstalt Lindenburg nicht hat katholisch machen wollen. Auch andere B. er Mitschiiler sagten mir, ich wtirde sicher katho- lisch werden. Sie haben sich in dieser Vorhersage ja get/~uscht. Hammerstein ist selbst friiher evangelisch gewesen. Wie alle Ubergetretenen verficht er die neue Glaubenssache allzu eifrig. In meinem etwas verworrenen Zustand habe ich Ge- danken und Erinnerungen aus friiherer Zeit mit der Gegenwart verwechselt oder vertauscht.

3. Am Sonntag, den 9. III . fielen mir beim Aufr/~umen des Biicherschrankes die Biicher d e r e n g l i s c h e n F r e u n d e in die tt/inde. So entstanden Erinnerungen an die Englandreise yon 1911. Da ich sehr mitleidig oder weichherzig veranlagt bin, dauerten reich die armen Bonner Kinder. Deswegen kam ich auf den Ge- d a n k e n , dab i ch F r a u P. u m K e k s , B i i c h s e n m i l c h ] u n d H a r t z w i e b a c k b i t t e n m 6 c h t e , damit es den Bonner Kindern besser gehe.

Ich habe viel unter Schwermut und Heimweh gelitten, aber jetzt ist es besser.

Abgeschlossen. C. d. 26. III . 1919.

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Analysieren wir die akute Psychose des Dr. W o l t zuerst wieder p h ~ n o m e n o l o gis c h, so finden wir als Schauplatz der Erlebnisse einen anscheinend normalen B e w u 3 t s e i n s z u s t a n d . Der Kranke ist dau- ernd v611ig orientiert und hat nach der Psychose eine genaue Erinnerung an alles. Der A b la u f d e r G e d a n k e n scheint oft beschleunigt zu sein ; Anzeichen ideenflfichtigen Denkens sind zahlreich.

Die seelischen StSrungen betreffen ausschlieI~lich das G e g e n s t a n d s - b e w u B t s e i n . Wit sehen Wahnerlebnisse in der Form yon W a h n - w a hr n e h m u nge n, und zwar als Bedeutungswahn : die Pflegerin ist aufgestellt, um ihn auf sein ,,heil]es Blut" zu prfifen; der Oberpfleger, der sich harmlos mit ihm unterhiilt, ist beauftragt, eine ,,Ged~chtnis- probe", ein andermal eine , ,Verstandesprobe" mit ihm anzustellen. Ferner werden zahlreiche, meist nur kurz festgehaltene W a h n i d e e n produziert, sie richten sich im Sinne der E i f e r s u c h t und V e r f o l g u n g gegen seine Frau :sie betriigt ihn mit dem Dreher, sie geht auf den Strich,' sie will ihn vergiften, will Geld yon ihm erpressen; sie setzt ibm Filz- l~tuse in die Haare, um sich zu r~chen, weft er das Dienstm~,dchen Anna Nolte gerne sah. Auch die Englander wollen ihn verfolgen, weil er Waffen hat te und weil er Alldeutscher, also Kriegsverl~ogerer, war. Ebenso (lie Spartakisten wegen seines Standes und seiner Gesinnung. Er will deshalb ihre Ffihrer sprechen, um ihne~ zu beweisen, dab ein Doktor auch hungert. In der KIinik will man ihn katholisch machen; der ibm als evangelisch bekannte Arzt ist ebenfalls ein verkappter Katholik. Flfichtige Gr6Be n i d e e n tauchen auf, inderp er glaubt, er sei der Neffe des K6nigs yon England, und meint, infolge seiner fibrigens tats~chlichen Bekanntschaft mit einem englischen Minister werde er den hungernden Mitbfirgern Lebensmittel verschaffen k6nnen und so Ehrenbfirger yon Bonn werden. Leichte V e r s i i n d i g u n g s i d e e n zeigen sich im Zu- sammenhang mit dem Dienstmiidchen Anna Nolte und als grundlose Selbstvorwfirfe wegen seines angeblich anmal]enden Verhaltens in der Klinik.

Unt.er den G e f f i h l e n herrscht eine leicht ~ingstliche, mil~trauische Stimmung vor. Mitunter ist er gereizt und zornig, gegen das Ablaufen der Psychose fiihlt er sich fibermal~ig glticklich. Bei der Aufnahme be- zeich1~ete er seine Stimmung als gleichgfiltig.

Fragen wit nach den K o e f f i z i e n t e n d e r P s y c h o s e und nach der D i a g n o s e . Dr. W o l t war zweifellos schon frfiher ein psychisch ab- uormer Mensch. Der Facharzt, der ihn und seine Familie viele Jahre lung behandelt hat, schreibt fiber ihn, dab er in seiner Friedensdienstzeit einmal einen Tag lang psyehotisch gewesen sei, er habe einen hyste- rischen D~mmerzustand gehabt. Sonst sei er immer nur, wie auch seine Mutter, hyperidealistisch gewesen. Er sei seiner Zeit als kr. u. entlassen worden, well er an heftigen Zwangsvorstellungen, vor allem an der

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Phobie, gelitten habe, die Vorgesetzten priigeln und tatlieh angreifen zu mtissen, und weil er ganz enorm ungeschickt im praktischen Dienst und enorm umst~ndlich im Bureaudienst gewesen sei. Er habe dann noch Differenzen mit Vorgesetzten gehabt, und man sei offenbar froh gewesen, ihn entlassen zu k6nnen. Die Frau gibt an, zerfahren und sprung- haft in seinem Wesen sei Dr. W o l t gewesen, seit sic ihn kenne.

I m Sommer 1918, an seinem Geburtstag, fiel er zum erstenmal durch sein brutales Verhalten der Frau gegenfiber auf, die mit seinem auf Besueh anwesenden alten Kinderm~dehen eine ganz betanglose Diffe- renz hatte. Damals sagte er zu dem M~dehen fiber seine Frau: ,,Wenn dieses Weib mieh noeh mit dir auseinanderbringt, muB sie aus dem I-Iaus." I m Herbst 1918, als seine Frau krank im Bert war und ihm aus Versehen ein Glas aus der Hand streifte, paekte er sie an und sehlug sie, um sich naehher als ,,verworfenen" Mensehen zu bezeiehnen. Eine vermehrte l~eizbarkeit war sehon v o r der Grippe vorhanden, doeh braeh die akute Psyehose erst in unmittelbarem Ansehlug an diese aus. Sie verlief wesentlieh unter dem Bride der angeffihrten, meist nur ffir kurze Zeit anftauehenden Wahnerlebnisse ohne Sinnest~usehungen. Das ambiva- lente Verhalten der Frau gegentiber, yon der er sieh, obgleieh er sie aueh Fremden gegenfiber Ms Dime bezeiehnet, und v o n d e r ihr drohenden Zwangsversehiekung naeh Nordfrankreieh sprieht, za.rtlieh verabsehiedet, die gleiehgfiltige Sachliehkeit, mit der er selbst seine psyehiatrisehe Diagnose auf , ,Dementia praeeox '~ stellt, die Sprunghaftigkeit und Un- gleiehmi~ltigkeit seiner Affekte, die Disproportion yon Affekten und Wahninhalten, seine nieht weiter sehilderbaren, gezwungen eckigen Manieren maehen die Diagnose einer S e hi z o p h r e n ie sieher. Wenn er aueh die Wahnerlebnisse korrigiert, so steht er ihnen doeh nieht frei gegentiber. Vor allem ist es ihm aueh naeh der Psyehose nieht im gering- sten deprimierend oder erstaunlieh, dag er soleh ungeheuerliehe Dinge glauben konnte, wie er aueh die Vorwtirfe gegen seine Frau durehaus nieht sehwer n immt und fiber sein Verhalten ihr gegenfiber keine w i r k- l i e h e l~eue oder Seham zeigte.

K e n n e n w i t K o e f f i z i e n t e n d i e s e r P s y e h o s e ? Er selbst ist sich ganz klar; er unterseheidet, wie man bei Kriegen Anlal~ und tiefere Ursache unterscheide, wiederholt ganz deutlieh: , , An l ag w a r die G r i p p e , U r s a e h e d e r K o n f l i k t z w i s e h e n M u t t e r u n d F r a u . " ,,Die innere Ursache meiner Erkrankung war zum grol~en Teil auf die Sehwierigkeiten begrtindet, die zwisehen meiner Mutter und meiner Frau.bestanden". Aueh seine Heilung schreibt er der tats~iehlieh einge- tretenen Vers6hnung yon Mutter und Frau zu : ,,Mein Nervenzusammen- brueh hat in ungeahnter, wundersamer Schnelligkeit Mutter und Frau zusammengeffihrt. Der Einflug auf meine Gesundung war vortrefflieh". - - ,,Meine weitere Genesung wird vor allem von dem Malle der Anni~he-

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rung abhangen, die zwischen meiner Frau und meiner Mutter eintri t t ." Auch sein langj~hriger Arzt teilt diese Ansicht durehaus : ,,Nachdem mir seine Mutter gesagt hatte, da~ sie ibm mit ehrlicher Uberzeugung hat versiehern kSnnen, daB sie sich innerlich mit seiner Frau ausgesShnt, war mir fibrigens durchaus sicher, dab die Sache rasch gtatt ablaufen wfirde."

Haben Dr. Wol t und sein Arzt recht, den AnlaB, also einen Neben- koeffizienten in der Grippe zu sehen, den Hauptkoeffizienten in der Diffe- renz zwischen Mutter und Frau? Die erste Ansicht ist zweifellos richtig, wenn aueh einwandfrei nur in d er Form, dab wir in der Grippe einen Koeffizienten sehen, ohne ihn jedoeh irgendwie werten zu kSnnen.

Ist die Psychose nun bei ti.eferer Betrachtung doch eine reaktive, wie es der Fall ware, wenn auch die andere Ansicht richtig w~re ? Ich glaube nicht, dab man b e s t i m m t von einer AuslSsung durch diesen Komplex, dureh dieses Schicksal spreehen kann. Eine "groBe Zahl der Wahn- erlebnisse, vor allem die Wahnvorstellungen, yon den Englandern wegen seiner warren, von den Spartakiden wegen seiner sozia]en Stellung und seiner konservativen Gesin2mng verfolgt zu werden, entsprechen zwar sicher frfiheren normalen Inhalten seiner Seele. Aueh die Idee, dureh Vermittlung der einfluBreichen englischen Bekannten den Bonnern Lebensmittel zu versehaffen, ist an sich verstandlich. Auch die Katholi- sierungsidee verbindet er durch Erinnerung an tats~chliche Bekehrungs- versuche auf dem Gymnasium mit frfiheren Erlebnissen. Fast alle seine kurz auftauchenden Wahnerlebnisse sind verst~ndlich mit ~berlegungen und Erlebnissen aus gesundenTagen verbunden. A u f f a l l e n d i s t a b e r , d a b d e r h a u p t s a c h l i e h ~ t e K o m p l e x , der tiefe Kummer und Zwie- spalt, in die ihn das Verhalten der angebeteten Mufter zu der geliebten Frau jahrelang braehte, und fiber dessen unverhoffte LSsung er so glfiek- lich ist, o h n e w a h n h a f t e V e r ~ n d e r u n g u n d E n t s t e . l l u n g , u n - m i t t e l b a r v e r s t a n d l i c h in d ie P s y c h o s e a u f g e n o m m e n w i r d u n d d o r t k e i n e n e n n e n s w e r t e R o l l e s p i e l t . Nut in den anf~ngliehen wahnhaften Ideen gegen die Frau kann man ,,als ob" verst~tndliche Zusammenh~nge mit diesem Komplex sehen: er sagt, er sei gesehieden, und zieht den Ring aus, weft er so den Konflikt 15st; er sagt, sie sei tot, weil er es w f i n s c h t ; er wirft ihr Untreue vor, weft er einen Grund zur Trennung yon ihr und zum ~bergehen zu der tiefer geliebten Mutter sucht. DaB g e r a d e d i e s e r H a u p t k o m p l e x in d e r P s y c h o s e k a u m e ine RoMe s p i e l t , l~Bt m i c h z S g e r n , i h n als s i c h e r e n K o e f f i z i e n t e n a n z u n e h m e n , obschon auch das Gegen- teil nieht zu behaupten ist. Eine r e i n reaktive Psychose im Sinne J a s p e r s w~re es keinesfalls, da wir doeh in der Grippe schon einen auslSsenden Koeffizienten gefunden haben.

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Z u s a m m e n g e f a B t l~Bt s ich f e s t s t e l l e n : Dr. W o l t l e i d e t a n e i n e r a k u t e n s c h i z o p h r e n e n P s y c h o s e , d ie s i e h e r r e i n k S r p e r l i e h a u s g e l S s t w u r d e , die a b e r d a n e b e n a u c h r e a k - t i r e Ztige ze ig t . --

Die _~hnlichkeit der ersten Psychose der Frau Gleich mit der des Dr. Wolt fi~llt ohne weiteres auf. Schon rein auBerlich ist sie groB: F r a u G l e i c h s t e h t z w i s e h e n V a t e r u n d M a n n , Dr. W o l t s t e h t z w i s c h e n M u t t e r u n d F r a u . Man kSnnte, ohne dab dieses ganz zu verwerfen wi~re, in verdr~ngten Inzestwtinschen die Quelle beider Psyehosen sehen. Wir bemiihten uns aber, die Dinge unbefangener anzuschauen. Bei Frau Gleieh war der innere Kon- flikt unlSsbar -- sie verblSdete. Bei Dr. Wolf wurde der Konflikt d u r c h seine Erkrankung gelSst -- er genas. Auch das sind Ge- siehtspunkte, die man erwi~gen und sehwerlieh widerlegen kSnnte. Begnfigt man sich aber mit dem wirklich N a c h w e i s b a r e n , so findet man auch dann genug des Interessanten, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Koeffizientenlehre. W i r e r k a n n t e n be i F r a u G l e i c h d ie e r s t e P s y c h o s e als w a h r s c h e i n l i c h r e a k t i v , d a s he iB t : d u r c h e in S e h i c k s a l a u s g e l S s t u n d m i t d i e s e m i n h a l t l i e h v e r s t i ~ n d l i e h v e r b u n d e n , u n d wi r e r k a n n t e n d ie z w e i t e P s y c h o s e als d u r c h e in k S r p e r l i e h e s E r e i g n i s , e i n e S c h w a n g e r s c h a f t , a u s g e l S s t . Wi r s a h e n f e r n e r be i Dr. W o l t d i e P s y c h o s e d u r c h e ine G r i p p e , a l so p h y s i s c h a u s g e l S s t u n d f a n d e n t r o t z d e m v e r s t i i n d l i c h e Z u s a m m e n h i ~ n g e m i t e i n e m S e h i e k s a l , d e m wir a l l e r d i n g s e in e a u s l S s e n d e R o l l e a u c h n i c h t s i a h e r a b s p r e c h e n k S n n e n . Hierbei fiel be- sonders auf, dab der Komplex in die Psychose ganz unmittelbar und natiirlieh, gar nieht psychotisch verzerrt, aufgenommeu wurde, und man erinnert sich nufi, bei Frau Gleich d a s s e l b e Verhalten gesehen zu haben. War vielleicht ihre erste Psychose eine s p o n t a n e, die eben nur verstandliche Zusammenh~nge aus gesunden Tagen mit iibernahm, und k ei ne reaktive ? Zeigt nicht die Psychose des Dr. Wolt, dab es auch bei sicher n i c h t rein reaktiven Psychosen massenhaft verst~ndliche Zusammenh~nge mit frtiherem Schicksal und Erleben geben kann? ZerflieBen so vor dem Reichtum individuellen Lebens nicht wieder alle Trennungen und Begriffe, nach denen wir anfi~nglich untersuchen wollten ? --

Z. f, d. g. Neut . u. Psych. O . L . 6