Reine psychiatrie, symptomatische psychiatrie und neurologie

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Reine Psychiatrie, symptomatische Psychiatrie und Neurologiel).

Von Kurt Schneider (KSln).

(Eingegangen am 11. April 1919.)

Wenn wir heute den ruhigen Saal einer beliebigen ,,Psychiatrischen- und Nervenklinik" b'etreten und uns die dort behandelten Kranken an- sehen, so kann es sein, dai~ wir Bett an Bett einen Nervenverletzten, dessen Peroneus am FibulakSpfchen von einem Granatsplit ter durch- schlagen wurde, und einen Psychopathen finden, der, yon Zwangsbe- ftirchtungen gequi~lt, hier Heilung sucht. Ein unbefangener Begleiter wiirde uns fragen, wie wir Arzte dazu kommen, zwei so himmelweit ver- schiedene Erscheinungen, wie einen durch Nervenverletzung Geli~hmten und einen yon Haus aus Angstlichen und Zaghaften, im selben Kranken- hause, ja vom selben Spezialarzt behandeln zu lassen. Die Antwort, die wit zu geben gewohnt sind, ist die, dai~ es sich bei beiden Kranken um Krankheitszustiinde des Nervensystems, bier in seinem peripheren, dort in seinem zentralen Teile, im Gehirn, handelt, und daf~ unsere Klinik die' Aufgabe hat, die Erkrankungen des gesamten Nervensystems zu er- forschen und zu behandeln. Sollte der unvoreingenommene Begleiter sich nicht ohne weiteres damit zufrieden geben und uns gar fragen, w o r i n denn bei dem Zwangsmenschen der Gehirnprozel] bestehe, wiirden wir allerdings in Verlegenheit kommen und sagen mtissen, dal] es sich um eine A n n a h m e handelt, dal] wir yon einem Krankheitsprozef~ in diesem Falle gar nichts wissen, nieht einmal das Leiseste dartiber ver- muten kSnnen. Ja, wir werden dem neugierig weiter Fragenden sogar gestehen mtissen, da6 es sich so bei den allermeisten unserer Kranken mit psychischen StSrungen verhi~lt, wenn wir nicht vorziehen, an einem im ni~chsten Saal anwesenden Paralyt iker unseren Satz, ,,Geisteskrank- heiten sind Gehirnkrankheiten", einleuchtend zu demonstrieren und so zu tun, als wenn es sich hier nur um ein Beispiel handle, das beliebig auf die anderen Psychosen angewandt werden k6nne.

I)er Satz ,,Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten" steht am Eingang unserer Wissenschaft, seitdem die ,,Somatiker" die Psyehiatrie endgiiltig den Philosophen und philosophisch geriehteten

1) Nach einer am 1. Mai 1919 in KSln gehaltenen 1)robevorlesung.

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, ,Psychikern" entrissen haben. Allerdings muB der historischen Richtig- keit wegen erw~,hnt werden, daB die Somatiker Dualisten und der Ansicht waren, dab die See le nicht erkranken, sondern nur der KSrper untaug- lich werden kann, die T~tigkeitsauBerungen der Seele in richtiger Weise zu vermittelnl). Erst Sl0~ter, allgemeiner Zeitrichtung folgend, fielen die Begriffe Gehirn und Seele vollends ganz in eins zusammen. Und erst bei G r i e s i n g e r und yon ihm an gilt der Satz in der jetzigen Form. Den ungeheuren Aufschwung, den die Psychiatrie seither nahm, brauche ich nicht zu skizzieren; man erforschte das G e h i r n a l s d a s O r g a n des S e e l e n l e b e n s ; man glaubte den Weg gefunden zu haben, der am Ende zu einer L o k a l i s a t i o n u n d E r k l ~ r u n g p s y c h i s c h e r E r - s c h ei n u n g e n u n d S t 6 r u n g e n und damit zu einer naturwissenschaft- lichen Systematik der Geisteskrankheiten ftihren sollte, und kam zu den Systemen eines Me y n e r t und We r n ic k e. Gerade in der Richtung der Systematik schien die schon in den 20 er Jahren des vorigen Jahrhunderts abgegrenzte Paralyse, die abet in Deutschland erst jahrzehntelang sp~ter als einheitliche Krankheitsform anerkannt wurde, vorbildlich zu sein, und mit der Einfiihrung und Vervollkommnung mikroskopischer Tech- nik wuchs die Hoffnung auf eine auf Anatomie begrfindete Psychiatrie, a u s de r d e r B e g r i f f de r See le m e h r u n d m e h r s c h w a n d .

Wenn wir heute nach Jahrzehnten rastlosen FleiBes auf das Erreichte zurticksehen, mfissen wir gestehen, dab es bei der als Muster aufgestell- ten Paralyse ' und einigen wenig bedeutungsvollen, ja unter dem Meer der Anstaltsinsassen geradezu verschwindenden Krankheitsformen ge- blieben ist, und v o r a l l e m , d a b n i c h t s u n s d e m V e r s t e h e n des S e e l i s c h e n nigher g e b r a c h t h a t . Selbst bei der so genau bekannten l~aralyse stehen anatomische und psychische ]3efunde in keinem be- s t i m m t e n Verh~tltnis zueinander und linden wir niemals einen be- s t i m m t e n Hirnbefund einer b e s t i m m t e n psychischen St6rung zu- geordnet. Und bei der fiberwiegenden Menge der Psychosen geht es uns noch immer wie dem alten Mtil ler2), der vor Einftihrung der Mikro- skopie sagte: ,,Ich habe den Doktor Ga l l das Gehirn wie ein Sacktuch ausbreiten sehen, ohne riicksichtlich auf Geisteskrankheiten etwas ge- wonnen zu haben."

Schon um die Wende unseres Jahrhunderts begann der 1%iic k s c h l a g a u f d i e s e E n t s e e l u n g d e r P s y c h i a t r i e . In den Jahren 1900 b!s 1902 hat We y g a n d t 3) in verschiedenen Aufs~tzen sich gegen den p h i l o s o - p h i s c h e n D i l e t t a n t i s m u s von Physiologen und Hirnanatomen

1) Vgl. Kraepe l in , ,,Hundert Jahre Psychiatrie". Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 38, 161. 1918.

2) Zitiert nach Kraepel in . 3) Besonders: ,,Hirnanatomie, Psychologie und Erkenntnisthcoric" und ,,Zur

Frage der materialistischen Psychiatrie". Centralbl. f. Nervenheilk. u. Psych. 24, 1 u. 409. 1901.

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gewehrt, die mit den Fragen des Erkenntnisvorganges und des Zustande- kommens aller Erfahrung in einer Weise umgingen ,,als hi~t te K a n t n ie g e l e b t " . Aus dem Studium des Zentralnervensystems resultiere ebensowenig ein Verst~ndnis fiir das psychische Leben ,,wie etwa aus laryngologischen Studien Versti~ndnis fiir den Kunstgesang oder Musik tiberhaupt zu gewinnen ist". Im Jahre 1903 hat auch G a u p p 1) in einem erkenntnistheoretischen Vortrage die p r i n z i p i e l l e U n v e r - g l e i c h l i c h k e i t m a t e r i e l l e r P r o z e s s e u n d p s y c h i s c h e r E r l e b - n i s se betont und ausgesprochen,.was auszusprechen sich viele noch heute schi~men: Die Psychiatrie ist nicht nur ein Zweig naturwissen- schaftlicher Medizin. Die pathologische Histologie werde ,,niemals etwas Wesentliches leisten kSnnen" ffir das Versti~ndnis psychischer Erscheinungen. Er fordert auf, anstatt an der Hand einer bequemen Assoziationspsychologie unbrauchbare Hirnhypothesen und Konstruk- tionen zu bauen ohne Rficksicht auf entsprechende materielle Hirn- vorgi~nge die psychischen Erscheinungen als so l ch e zu studieren: , ,De'nn w o l l t e n wi r w a r r e n , bis wi r sie au s i h r e r m a t e r i e l l e n G r u n d l a g e b e g r e i f e n , so k S n n t e n wi r bis ans E n d e d e r W e l t w a r r e n " . In der verachteten ,,unmittelbaren inneren Erfahrung" sah er die Hauptmethode einer solchen Arbeitsrichtung.

Begrifflich sehr viel schi~rfer wandte sich mehrere Jahre spiiter J a s p e r s 2) gegen die neurologische Knechtschaft der Psychiatrie. Er warnte vor Hirnmythologien, vor dem , , d a u e r n d e n S e i t e n b l i c k a u f das G e h i r n " und der Vereinigung yon Dingen, die gar keine Be- ziehung zueinander haben, z. B. Zelle und Erinnerungsbild. Seelische und kSrperliche Phiinomene sind durch einen unendlichen Bezirk von unbekannten Ph~nomenen getrennt; yon den sie verbindenden Kausal- ketten kennen wir immer nur die beiderseitigen Endglieder. S e e li s c h e s wil l als s o l c h e s s t u d i e r t s e i n u n d v e r t r ~ g t k e i n e n V e r g l e i c h m i t d em K 5 r p e r li c h e n; nie dtirfen psychische Dinge in anatomische iibersetzt werden; es ist nicht ein einziger b e s t i m m t e r Hirnvorgang bekannt, dem ein b e s t i m m t e r seelischer Vorgang als direkte Parallel- erscheinung zugeordnet w~re. Auch die Aphasielehre bedeutet keine Eroberung des Seelischen selbst. Sie lehrt nichts weiter, als dal~ diese Bezirke intakt sein miissen, damit ein bestimmter seelischer Vorgang mSglich sei, wie e t w a die I n t a k t h e i t des A u g e s z u r W a h r n e h - m u n g n o t w e n d ig i s t. Uber die Tatsache, da~ die Grol~hirnrinde das dem Seelischen zuni~chst z u g e o r d n e t e Organ ist, kommen wir nicht hinaus, und selbst die lokalen Hirnprozesse sind nie d i r e k t e Ursache der seelischen StSrungen. Wir kennen immer nur Bedingungen, immer

1) ,,Uber die Grenzen psychiatri,~cher Erkenntnis". Centralbl. f. Nervenheilk. u. Psych. 26, 1. 1903.

~) Besonders: ,,AUgemeine Psychopathologie". 1913. Z. f. d. g. Neur. u. Psych . O. IL . 11

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nur e i n e Ursache, nie d ie Ursache. Die Lokalisationslehre ist ftir die Psychologic bisher belanglos gewesen. Sie leh~t nur, wie verwiekelt schon die e n t f e r n t e re n Grundlagen des Seelenlebens sind, und die durch psychologische Analyse gefundenen Elemente stehen in gar keiner Beziehung zu den durch die Hirnforsehung gewonnenen anato- mischen Lokalisationen. GewiB hat jeder eigentfimliche seelische Vor- gang a u c h seine eigentiimliche kSrperliche Bedingung. D o c h i s t d i e s e k S r p e r l i c h e G r u n d l a g e be i d e n P s y c h o p a t h i e n a n d p s y c h i - s c h e n P r o z e s s e n n i c h t a n d e r s zu d e n k e n , a ls d ie k S r p e r l i c h e G r u n d l a g e be i d e r V e r s c h i e d e n h e i t de r C h a r a k t e r e u n d A n - l agen ; , ,wir s i n d u n e n d l i c h w e l t e n t f e r n t , sie t i b e r h a u p t n u r z u m m 5 g l i c h e n G e g e n s t a n d d e r U n t e r s u c h u n g zu m a c h e n " . Der Satz: ,,Geisteskrankheiten s i n d Gehirnkrankheiten" ist ein Dogma, , , ebenso wie die V e r n e i , l u n g des S a t z e s e in D o g m a w~re" . Er ist ,,vielleicht ein mSglicher Zielpunkt der Forschung - - in Wirklichkeit ein in der U n e n d l ic h k e i t liegender Zielpunkt - - , nicht ein Gegenstand der Forsehung".

Es ist nicht die Aufgabe des Psychopathologen, sich mit den empirisch unlSsbaren Fragen des Zusammenhangs von Gehirn und Seele, mit philo- sophischen Fragestellungen abzuqui~len, so verstiindlich es auch stets sein wird, wenn er, immer wieder darauf gestoften, sich mit ihnen abgeben und so viel Gewinn er auch davon haben mag. F tir d ie p s yc hi a t r is e h e F o r s c h u n g i s t es b e l a n g l o s , w e l e h e e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e S t e l l u n g e i n g e n o m m e n wird . So sagt B l e u l e r fiber den erkennt- nistheoretischen Materialismusl): NStig ist er ,,als Grundlage irgend- welcher Geisteswissenschaft inklusive der Psychiatric durchaus nieht, soweit es sich nicht darum handelt, die psychischen Funktionen in Zu- sammenhang mit dem Gehirn zu studieren", ein Versueh, der ffir den Augenblick als gescheitert angesehen werden mul~. F fir d ie F o r s c h u ng i s t f e s t z u h a l t e n , d a b wi r u n s z u n i ~ c h s t u n d v i e l l e i c h t i m m e r zu b e g n f i g e n h a b e n , G e i s t e s k r a n k h e i t e n v o n d e r n e u r o l o g i - s c h e n u n d d a n e b e n s e l b s t ~ n d i g y o n d e r p s y c h i s c h e n S e i t e zu e r f o r s c h e n .

Die neue Richtung psychopathologischer'Forschung, vor allem ihre durch J a s p e r s geschaffene Verbindung mit der Psyehologie hat die Psychiatrie zweifellos aufs neue vertieft. Und je weniger wir in den psychisehen Au6erungen unserer Kranken nur Symptome eines meist giinzlich hypothetischen Gehirnprozesses sehen, desto weiter entfernen wir uns von der Neurologie und den medizinischen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Wollten wir uns deshalb nicht mit Psycho- pathologie befassen, dann verrieten wir nicht nur unsere eigenste Aufgabe,

') Lehrbuch der Psychiatrie, 2. Auflage. 1918.

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s o n d e r n wi r w i i r d e n es a u c h w i e d e r d e n P h i l o s o p h e n i ibe r - ] a s s e n m i i s s e n , p s y c h o p a t h o l o g i s c h e E r s c h e i n u n g e n zu er - f o r s c h e n , was in neuerer Zeit auch tats~chlich mit gr6Btem Erfolg von ihnen wieder versucht wurde.

Die Aufgaben der Psychiatrie sind so umfangreich und so viel- seitig geworden, dab wir doch wohl frfiher oder sp~ter den Versuch zu machen haben, d i e N e u r o l o g i e y o n ih r a b z u t r e n n e n . Vielleicht nicht zuietzt deshalb, well es sich nicht nur um ganz verschiedene Me- thoden und Fragestellungen handelt, sondern weft es auch ganz ver- schiedene Me n s c h e n sein werden, die sich dem einen oder dem anderen als Gegenstand ihrer Forschung zuwenden. Machen wit uns die MSg- lichkeit einer Trennung klar. Schon aus dem Bisherigen geht hervor, dab eine anatomische Trennung im Sinne der ,,Ge h i r n kr a n k h e i t e n" nicht befriedigt; zudem w~re es willk~irlich und gekfinstelt, irgendwo im Nervensystem einen Querschnitt zu legen, und dann gehBrten auger- dem der Tumor cerebri, die Apoplexie und vieles andere auch zur Psych- iatrie. Auch die engere Abgrenzung der Gebiete der Psychiatrie als , , G e h i r n k r a n k h e i t e n m i t p s y c h i s c h e n S t B r u n g e n " mfissen wir ablehnen, weft auch sie der Mehrzahl der Psychosen gegenfiber lediglich eine Hypothese bedeuten wfirde. Wir mfissen vielmehr vom Psychischen a u s g e h e n und die P s y c h i a t r i e als die , ,Lehre v o n d e n p s y c h i - s c h e n S t 6r u n ge n" bezeichnen, und es ist for die ganze Frage charakte- ristisch genug, dab diese S e l b s t v e r s t ~ n d l i c h k e i t ausgesprochen werden muG.

Die psychischen StSrungen zerfallen nun in zwei p r a k t i s c h noch keineswegs gegeneinander abgegrenzte und vielleicht nie ganz abgrenz- bare Gruppen: die einen sind S y m p t o m e bei m e h r o d e r w e n i g e r b e k a n n t e n G e h i r n k r a n k h e i t e n , die anderen sind k e i n e K r a n k - h e i t s p r o z e s s e i m S i n n e d e r M e d i z i n , s o n d e r n A b a r t e n , T y p e n , R e a k t i o n s w e i s e n m e n s c h l i c h e n Wesens . GewiB denken wir uns auch hier auBerbewuBte, kSrperliche G r u n d l a g e n , sind auch hier kBrperliche B e d i n g u n g e n vorhanden ; doch kBnnen wir fiber sie nicht das leiseste vermuten, und es besteht for heute und wahrschein- lich niemals die geringste MBglichkeit, sie neurologisch anzufassen, so wenig man annehmen kann, dab Neigungen, Talente, Triebe einmal neurologisch fundiert werden kBnnten. Hier be i d i e s e r G r u p p e l i e g t de r S c h w e r p u n k t , das e i g e n t l i c h s t e G e b i e t d e r P s y c h i a t r i e . Ihre Formen zu beschreiben, zu analysieren, zu v e r - s t e h e n , zu behandeln, ist die A u f g a b e de r r e i n e n P s y c h i a t r i e , die keine , ,Krankheitseinheiten" kennen k a n n . I n z w e i t e r L i n i e , als s y m p t o m a t i s c h e P s y c h i a t r i e , erforscht die Psychiatrie d i e psychisehen StSrungen, die al~ Symptome, bei kBrperlichen, insbeson- dere bei Gehirnkrankheiten, auftreten. Wohl bemerkt, sie erforscht

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die p s y c h i s c h e n StSrungen, n i c h t die zugrunde liegenden G e h i r n - p r o z e s s e , die nur Gegenstand der N e u r o l o g i e s e in k S n n e n . Die P a r a l y s e i s t e i n e G e h i r n e r k r a n k u n g , a lso t r o t z p s y c h - i a t r i s c h e r B e t r a c h t u n g s m S g l i c h k e i t G e g e n s t a n d de r N e u r o - logie . Genau so wenig, wie es jemand einfallen wiirde, den Typhus oder die Lungenentziindung zur Psychiatrie zu rechnen, nur weft sie psychische Symptome machen, daft man mit der Paralyse so verfahren. Ob psy- chische Symptome stets oder manchmal auftreten, spielt p r i n z i p i e l l keine Rolle. Ebenso verh~lt es sich mit den senilen, arteriosklero- tischen Gehirnkrankheiten, mit den Vergiftungen und auch mit den Epi- ]epsien. Obschon sie psychiatrisch betrachtet werden k5 n n e n, geh5ren sie als K r a n k h e i t e n zur Neurologie, und nur ihre p s y c h i s c h e n S y m p t o m e werden von der symptomatischen Psychiatric abge- handel t

Die Geschichte hat allerdings gezeigt, dab mit der sicheren neurolo- gischen Fundierung psychischer StSrungen das Interesse an diesen selbst als solchen zuriickgeht. Wer studiert heute noch Psychologisches an Par~lytikern, obgleich die Neurologie, wie wir sahen, nicht in der Lage ist, ihre seelischen StSrungen nach Form und Inhalt zu erklaren ? Auch sind diese psychischen Symptome meist recht u n s p e z i f i s c h , d. h. es handelt sich vorwiegend um ,,organische Symptomenkomplexe", um Reaktionsformen, die allen gemeinsam sind, vor allem um Bewul~tseins- stSrungen, Delirien, K o r s a k o w s c h e Symptomenkomplexe und eine allgemeine Labilit~tt des Affektlebens. Hier ist vor allem das Gebiet tier experimentellen Psyehologie, die in der reinen Psyehiatrie ebenso wie die kSrperliehe Untersuehung nur wenig Ergebnisse zu ver- zeichnen hat.

A b e r e b e n s o , wie es v e r k e h r t w a r e , die G e h i r n k r a n k h e i t P a r a l y s e z u r P s y c h i a t r i e zu r e e h n e n , w~tre es f a l s e h , n e u r o l o - g i s e h ga r n i e h t a n f a B b a r e p s y e h i s c h e S p i e l a r t e n u n d t t e a k - t i o n s w e i s e n u n d i h r e k 6 r p e r l i c h e n F o l g e n , wie die , , P s y c h o - n e u r o s e n " , z u r N e u r o l o g i e zu r e e h n e n , wie es i namer w i e d e r g e s c h i e h t . Selbst B o n h o e f f e r 1) sagt yon der Phobie nur, dal~ sie , , zum m i n d e s t e n " ebenso der Psychiatrie angehSre, und N ~ e k e ~) meint in diesem Zusammenhange nur, ,,wo das Psyehisehe t i b e r - w i e g t , beginnt das Reich der Psyehiatrie". Begrifflich kann dem keinesfalls zugestimmt werden: h i e r h a n d e l t es s ieh Viel- m e h r u m d e n K e r n p u n k t de r P s y e h i a t r i e , u m r e i n e P s y e h i a t r i e .

1) Psyohiatrie und Neurologie. Monatsschr. f. Psych. 37, 94. 1915. 2) Die Trennung der NeuroFogie yon der Psyehiatrie und die Schaffung eigener

neurologiseher Kliniken. Zentralbl. f. Neur. 31, 82. 1912.

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Die begriffliche Trennung yon reiner und symptomatischer Psych- iatrie ist aber praktisch nicht streng durchzuftihren, weft sich mitunter, z. B. bei Infektionsdelirien, bei Hirnverletzten 1) rein symptomatische St5rungen mit der psychischen Anlage aufs innigste vermischen, und ferner sind symptomatisch Psychotische, gelegentlich vor und nament- lich n a c h Ablauf der Psychose, Gegenstand der reinen Psychiatrie, vor allem die meisten Alkoholiker. Endlich, und das i s t d e r a l l e r w i c h - t i g s t e P u n k t , i s t es be i d e m a l l e rg r ( i l 3 t en Te l l d e r P s y c h o s e n n o c h u n e n t s c h i e d e n , ob sie z u r s y m p t o m a t i s c h e n o d e r r e i n e n P s y c h i a t r i e g e h S r e n . ' Diese Abgrenzung ist yon n e u r o l o g i s c h e r u n d p s y c h i a t r i s c h e r S e i t e nigher zu versuchen, und es ist anzu- nehmen, dal3 sich mit der Zeit die reine Psychiatrie zu Gunsten der symptomatischen verkleinert, ja es ist, wenn auch unwahrscheinlich, so doch denkbar, da$ ihr schliel31ich nur noch die Psychopathien bleiben. Wenn aber jemand der Hoffnung ist, daI3 e i n m a l a u c h d i e se u n d d a m i t i i b e r h a u p t a l le p s y c h i s c h e n A b n o r m i t i i t e n z u r s y m p t o m a t i s c h e n P s y c h i a t r i e g e h S r e n w e r d e n , i s t e r n i c h t zu w i d e r l e g e n . Aus allen diesenGriinden mul3 an der psych- iatrischen Klinik Anatomie und Serologie betrieben, d. h. neurologisch gearbeitet werden. ~qur sol l m a n s ich b e w u S t b l e i b e n , d a b m a n d a m i t N e u r o l o g i e u n d n i c h t e i n m a l s y m p t o m a t i s c h e P s y c h - i a t r i e t r e i b t . Auch wird man verlangen mtissen, dal3 der Psychiater schon zu differential-diagnostischen Zwecken einwandfrei neurologisch untersuchen kann, obschon es p r i n z i p i e l l fiir ihn ebenso wichtig sein mul3, etwa psychisch bedingte Magenbeschwerden yon organischen abzugrenzen.

I n h a l t de r P s y c h i a t r i e k a n n n u r r e i n e u n d s y m p t o m a - t i s c h e P s y c h i a t r i e se in . Keinesfalls haben also neurologische Erkrankungen oh ne psychische StSrungen etwas mit Psychiatrie zu tun, die ein far allemal vom Psychischen ausgehen mul3. Einen Kompe- tenzstreit zwischen Psychiatrie und Neurologie gibt es daher nicht. Zwar gibt es eine Gruppe yon Patienten, die sowohl neurologisch wie symptomatisch-psychiatrisch betrachtet werden kann, und auf die beide Kliniken Anspruch machen kSnnen, aber die Gesichtspunkte der Betrachtung sind ewig verschieden. A u c h s o l l t e m a n e n d l i c h a u f h 6 r e n , da y o n , , N e r v e n " zu r e d e n , wo es s i ch u m See - l isches" h a n d e l t , und sollte der Begriff der , , o r g a n i s c h e n " Neu- rologie endlich verschwinden; denn es g i b t keine andere.

Man wfirde an der Hand dieser Uberlegungen ftir die Lehrbticher

1) Vgl. hierzu Kre t schmcrs Fordertmg ,,mehrdimensionaler Diagnostik" in ,,~ber psychogcne Wahnbildung bei traumatischer Hirnschwi~che". Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 45, 272.

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166 K. Schneider: Reine Psychiatrie~ symptomatische Psychiatrie und Neurologie.

- - und entsprechend ftir den Unterricht - - fordern mtissen, dal~ die psychiatrischen Lehrbiicher die ,,Ps yc h one u ros e n" u nd Ps y c h o - p a t h i e n nicht als Anh~ngsel, sondern als W e s e n t l i c h s t e s der Psychiatrie behandeln, und erst in zweiter Linie die symptomatisch- psychischen StSrungenl). Und yon den neurologischen Lehrbtichern wiirde man eine Schilderung etwa der Paralyse ebenso fordern miissen, wie m a n i h n e n , abgesehen yon differentialdiagnostischen Hinweisen, das R e c h t de r S c h i l d e r u n g de r , , P s y c h o n e u r o s e n " a b s t r e i t e n mull .

1) Gruhle machtc damit schon den Anfang: Psychiatrie ftir _~rzte. 1918.