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Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen 34 Reinhard C. Meier-Walser (Hrsg.) Die Zukunft der NATO Hanns Seidel Stiftung Akademie für Politik und Zeitgeschehen

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Argumente und Materialienzum Zeitgeschehen 34

Reinhard C. Meier-Walser (Hrsg.)

Die Zukunft der NATO

HannsSeidelStiftung Akademie für Politik und Zeitgeschehen

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Argumente und Materialienzum Zeitgeschehen 34

Reinhard C. Meier-Walser (Hrsg.)

Die Zukunft der NATO

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ISBN 3 - 88795 - 247 - 2© 2002 Hanns-Seidel-Stiftung e.V., MünchenAkademie für Politik und ZeitgeschehenVerantwortlich: Dr. Reinhard C. Meier-Walser (Chefredakteur)

Redaktion:Wolfgang D. Eltrich M.A. (Redaktionsleiter)Barbara Fürbeth M.A. (stv. Redaktionsleiterin)Christa Frankenhauser (Redaktionsassistentin)Irene Krampfl (Redaktionsassistentin)

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung der Redaktion reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Inhaltsverzeichnis

Reinhard C. Meier-WalserZur Einführung: Perspektiven für die Zukunft der NATOnach dem 11. September 2001........................................................................................... 5

Curt GasteygerAllianz in der Zerreißprobe? ............................................................................................. 9

Christian HackeDie Zukunft der NATO – Verteidigungsbündnis oder System kollektiverSicherheit à la OSZE? ..................................................................................................... 15

Ludger KuehnhardtDie Frage nach der Zukunft der NATO .......................................................................... 25

Karl-Heinz KampKein Totenglöcklein für die NATO ................................................................................ 29

Arnulf BaringDie Schwächung von NATO und EU nach dem 11. September..................................... 33

Robert W. BoehmeDie fortwährende Relevanz der NATO........................................................................... 37

Michael StaackNATO out of business? ................................................................................................... 43

Emil J. KirchnerThe Future of NATO: Transforming not Withering........................................................ 47

Stefan FröhlichWas wird aus der NATO? ............................................................................................... 55

Edwina S. CampbellWelche Zukunft für die NATO? ..................................................................................... 59

Klaus-Dieter SchwarzDie NATO ist tot – es lebe die NATO ............................................................................ 63

Erich ReiterDie Nützlichkeit der NATO – Überlegungen zur künftigen Bedeutung der NATO....... 67

Carlo MasalaWohin entwickelt sich die NATO? ................................................................................. 75

James W. DavisZur Zukunft der NATO: Reflexionen eines Amerikaners in Deutschland...................... 79

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Rüdiger MoniacNATO oder was?............................................................................................................. 83

Bernhard MoserDie NATO muss Strategien und Strukturen ändern........................................................ 85

Horst HarnischfegerDie Zukunft der NATO ................................................................................................... 97

Josef RiedmillerBändigung der "freien Radikalen"................................................................................. 105

Martin AgüeraDie Zukunft der NATO liegt in Europas Händen......................................................... 107

Hans Graf HuynDie NATO – ein Auslaufmodell?.................................................................................. 111

Hans-G. DanielmeyerÜber die Zukunft Europas und der NATO.................................................................... 115

Siegfried B. BaseltWie wird sich die NATO der Zukunft darstellen? ........................................................ 121

Wolfgang J. StützerNATO auf dem Weg in die Irrelevanz? ........................................................................ 123

Autorenverzeichnis ........................................................................................................ 125

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Zur Einführung:Perspektiven für die Zukunft der NATO

nach dem 11. September 2001

Reinhard C. Meier-Walser

Im Editorial des Januar/Februar-Heftes 2002 der von der Hanns-Seidel-Stiftung herausgege-benen Zweimonatszeitschrift für Politik und Zeitgeschehen "Politische Studien" wurde dieFrage nach der Zukunft der NATO gestellt 1 und die Leserschaft eingeladen, sich in Form vonKommentaren zu dieser Frage zu äußern. Die Redaktion hatte ursprünglich geplant, die Zu-schriften unter der Rubrik "Im Dialog" des Mai/Juni-Heftes 2002 der Politischen Studien zuveröffentlichen. Da die Resonanz aber derart groß war, dass ein Abdruck der Kommentare zurZukunft der NATO den Forumsteil der Zweimonatszeitschrift gesprengt hätte, haben wir unsdazu entschieden, den Zuschriften ein separates Themen-Heft in der Reihe "Argumente undMaterialien zum Zeitgeschehen" zu widmen.

Die Redaktion der Politischen Studien bedankt sich sehr herzlich für die perspektivisch ange-legten Kommentare, die uns aus vier verschiedenen europäischen Ländern und aus den Verei-nigten Staaten von Amerika erreichten. Da sich einige der Beiträge explizit auf das Editorial"Was wird aus der NATO?" beziehen, drucken wir dessen Text zur Information nachfolgendnoch einmal ab.

Die internationalen Beziehungen treiben mitunter seltsame Blüten, wie das Beispiel des trans-atlantischen Bündnisses gegenwärtig wieder einmal zeigt:

1. Zu den mittlerweile gängigen Ironien internationaler Politik gehört, dass dem Ende desKalten Krieges keine Ära transatlantischer Harmonie, sondern eine Phase ebenso kritischerwie schwieriger Dialoge der Bündnispartner diesseits und jenseits des Atlantiks folgte, die das"Ende transatlantischer Selbstverständlichkeit" (Werner Weidenfeld) einläutete und mit dermanche Beobachter gar ein "Siechtum der Allianz" (Josef Joffe) verbanden. Der äußere Inte-grationsdruck, den das Szenario eines vorsätzlichen Militärschlages der Sowjetunion gegenWesteuropa auf die Bündnispartner ausgeübt hatte, ließ mit dem Ende der Ost-West-Konfrontation zwangsläufig nach, während gleichzeitig die als Zentrifugalkräfte wirkendenbündnisinternen Interessendivergenzen deutlicher als zuvor zu Tage traten. Obwohl das trans-atlantische Bündnisgefüge zu keinem Zeitpunkt seines Bestehens völlig frei von Spannungengewesen war, hatte die gemeinsam perzipierte Bedrohung einer Machtexpansion des War-schauer Paktes als "Kitt" (Robert D. Blackwill) bzw. als "Schmiermittel" (Josef Joffe) derAllianz fungiert und bündnisinterne Konflikte wie etwa den Dauerzankapfel "Burden-Sharing" dem überwölbenden gemeinsamen Interesse entsprechend erheblich relativiert.

2. Nach dem Ende der Blockkonfrontation prophezeiten einige sowohl amerikanische als aucheuropäische Analytiker (insbesondere aus dem politikwissenschaftlichen Lager des Neorea-lismus) mit dem Hinweis auf den historisch belegten Zusammenhang zwischen dem Siegeiner Allianz und ihrem anschließenden Zerfall, dass zumindest langfristig mit einer Auflö-

1 Reinhard C. Meier-Walser: Was wird aus der NATO?, in: Politische Studien, 53.Jg., H.381/2002, S.5-7.

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sung der NATO zu rechnen sei.2 Tatsächlich zeigt ein Blick in die Geschichte der internatio-nalen Politik, dass es in den vergangenen Jahrhunderten zahlreiche Beispiele dafür (aber keineinziges dagegen) gibt, dass Bündnisse zwischen Staaten zerfielen, nachdem die gemeinsamperzipierte Bedrohung, derentwegen sie sich formiert hatten, beseitigt bzw. das gemeinsameZiel der Koalitionspartner erreicht worden war. Umso erstaunlicher wirkt vor diesem Hinter-grund die Tatsache, dass es der NATO im Laufe des vergangenen Jahrzehntes trotz des Ver-lustes des gemeinsamen Feindbildes nicht nur gelungen ist zu überleben, sondern dass sie dieexistenziell bedeutsame Herausforderung der Suche nach einer neuen, die Partnerschaft tra-genden raison d´être und Mission durch ihre systematische Transformation von einem Bünd-nis kollektiver Verteidigung zu einem Bündnis der kollektiven Sicherheit (vgl. das neue stra-tegische Konzept der NATO vom April 1999) konstruktiv begonnen hat. Gleichzeitig hat siesich der gewaltigen Aufgabe ihrer Erweiterung sowie der langfristigen Neubewertung ihrerBeziehungen zu Russland gestellt und bei ihren Einsätzen in Bosnien und im Kosovo ihreFunktionsfähigkeit bewiesen.

3. Vor diesem Hintergrund der Entwicklung des Bündnisses in den 1990er-Jahren hätte manerwarten können, dass eine neue, auf beiden Seiten des Atlantiks gemeinsam erkannte Bedro-hung der Wertegemeinschaft der westlichen Zivilisation, wie sie die Terrorattacken vom11. September vergangenen Jahres darstellen, der atlantischen Allianz als Instrument derVerteidigung der pluralistischen Demokratien gegen Angriffe von außen neue Dynamik undzusätzliche Relevanz verschaffen würde. Tatsächlich erklärte die NATO wenige Tage nachdem 11. September zum ersten Mal seit ihrer Gründung vor 52 Jahren feierlich den Bündnis-fall nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrages – wobei ironischer Weise seit 1949 weder dies-seits noch jenseits des Atlantiks jemals daran gezweifelt worden war, dass die gegenseitigeBeistandsverpflichtung des Artikels 5 (ein Angriff auf einen gilt als Angriff gegen alle) ledig-lich als Schutzgarantie der USA gegenüber Europa (und nicht umgekehrt) jemals Anwendungfinden könnte.3 Nach der Erklärung des Bündnisfalles durch den NATO-Rat wurde es aller-dings ruhig um Brüssel, das Hauptquartier des Bündnisses schien "samt seiner Führung in dieFerien geschickt worden"4 zu sein. Zwar bemühte sich der schottische NATO-GeneralsekretärGeorge Robertson redlich, die Entsendung von fünf AWACS-Aufklärungsflugzeugen in dieUSA zur Sicherung des US-amerikanischen Luftraumes und die Verlegung von Marineein-heiten ins östliche Mittelmeer als wichtigen Beitrag der NATO am Afghanistan-Kampfeinsatzzu preisen. Dies änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass die NATO von Washington aufdas Abstellgleis bugsiert worden war und die USA sich ihr Anti-Al-Qaida-Bündnis selbstschmiedeten: auf bilateraler Basis, vorbei an etablierten Bündnisstrukturen. 5 Dabei banden dieaußen- und sicherheitspolitischen Strategen in Washington neben traditionellen europäischenSicherheitspartnern wie Großbritannien, Deutschland und Frankreich auch "neue" Mitstreiterin ihre Ad-hoc-Allianz gegen den staatenlosen Terrorismus ein, darunter Russland, China,Indien und Pakistan. 6

Das neue durch die Bush-Administration geschaffene und dirigierte Konzert der Mächte hatsofort dazu geführt, dass – wieder einmal – das Totenglöckchen des Bündnisses geläutet wur-

2 Vgl. die einschlägigen Literaturverweise im Fußnotenapparat bei Meier-Walser, Reinhard C.: Weltpolit i-

scher Umbruch und transatlantische Partnerschaft, in: ders. (Hrsg.), Transatlantische Partnerschaft. Per-spektiven der amerikanisch-europäischen Beziehungen, Landsberg a.L. 1997, S.9-27.

3 Vgl. Gordon, Philip H.: NATO after 11 September, in: Survival, 4/2001, S.89-106.

4 Schuster, Jacques: Setzt die NATO nicht aufs Spiel, in: Die Welt, 13.11.2001.5 Vgl. Ridderbusch, Katja: Die NATO ist noch nicht verloren, in: Die Welt, 20.12.2001.6 Vgl. Gillessen, Günther: Außenpolitik nach dem 11. September. Amerikanische und europäische Grundein-

stellungen im Umbruch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.11.2001.

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de. Ein Konzert der Mächte, so heißt es mit Blick auf die Erfahrungen des 19. und 20. Jahr-hunderts, sei niemals "good for international institutions"7, wobei die besondere Situation,dass der Kalte Krieg vorüber sei und der neue Krieg gegen den Terror offensichtlich ohne dieNATO begonnen habe, die Zukunft des Bündnisses in Frage stelle.

Die Hoffnung, dass die NATO "noch nicht verloren" ist, verbindet sich mit der Forderungnach radikalen Reformen und der Abkehr von der Idee des politischen und militärischen Au-tomatismus. "Nicht jede Krise, nicht jeder Waffengang fordert zwangsläufig einen bedeuten-den Beitrag aus Brüssel." 8 Welche Rolle kann die NATO dann in Zukunft noch spielen? Dieeiner "OSZE mit militärischem Anstrich"9 oder eines "transatlantischen Freundschaftspaktesvon Gleichgesinnten"10, die sich gegenseitig lediglich ein "verlässliches politisches Umfeldgarantieren"11, ohne durch eine Beistandsverpflichtung militärisch gebunden zu sein? DieserMinimalkonsens eines gemeinsamen Bekenntnisses zu Freiheit und Demokratie würde diegegenwärtige Sinnkrise der NATO vermutlich nur verschärfen und einer Marginalisierung derAllianz Vorschub leisten. 12

Die NATO benötigt, um als sicherheitspolitisches Instrument der transatlantischen Partnerlangfristig überleben zu können, eine neue Mission, die über die bloße gegenseitige politisch-psychologische Unterstützung weit hinausgeht. Wie diese Mission aussehen und worin neuestrategische Aufgaben des Bündnisses bestehen könnten, ist gegenwärtig noch nicht endgültigabzusehen.

7 Penttila, Risto E.J.: The Concert is back, and it seems to be working, in: International Herald Tribune,

28.12.2001.8 Die Welt, 20.12.2001.9 Ridderbusch, Katja: Die großen Worte der NATO, in: Die Welt, 7.12.2001.

10 Joffe, Josef: Das Weltgericht der Hundert Tage. Der 11. September, der Krieg gegen den Fanatismus unddie Wiederentdeckung des Besten am Westen, in: Die Zeit, 27.12.2001.

11 Feldmeyer, Karl: Der Wert der NATO, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.9.2001.

12 Vgl. dazu Stelzenmüller, Constanze/Thumann, Michael: Kein Feind, kein Ehr, in: Die Zeit, 10.1.2002.

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Allianz in der Zerreißprobe?

Curt Gasteyger

Nur weniger Monate bedurfte es nach dem Entsetzen des 11. September, um das Nordatlant i-sche Bündnis mit seinem gemeinsam spontan beteuerten Verteidigungswillen in die Sackgas-se wachsender Entfremdung oder doch Verstimmung zu führen. Bewegt sich damit die überfünfzigjährige Allianz von ihrer immer wieder angerufenen uneingeschränkten Solidarität zueiner solchen mit wachsenden Dissonanzen? Das wäre in der Tat eine nicht nur für die trans-atlantischen Beziehungen, sondern für die internationale Gemeinschaft insgesamt beunruhi-gende Perspektive.

Wer genauer hinsieht, wird zunächst einmal feststellen, dass Bruchlinien im Verhältnis zwi-schen den Vereinigten Staaten und den europäischen Bündnispartnern immer wieder und seitlängerem geortet werden konnten. Dies wahrscheinlich – und durchaus erklärbar – zumalnach dem Ende des Kalten Krieges. In dem Masse nämlich, in dem – tatsächlich oder nurscheinbar – die Ordnungsfunktion militärischer Stärke gegenüber anderen, nicht-militärischenSorgen zurücktrat, erweiterte sich das Spektrum dadurch notwendig gewordener Zusammen-arbeit: Umwelt, Klima, Abrüstung, Technologietransfer, kurz: was gemeinhin unter demSammelbegriff "Globalisierung" aufkam, erforderte vermehrte Abstimmung. Dies nicht zu-letzt im transatlantischen Beziehungsfeld.

Solche Verschiebungen mussten unweigerlich zu Interessenskonflikten, Interpretationsdiver-genzen oder gegenläufigen Prioritätsordnungen führen. Zumindest in den Augen der Europäerverstärkte sich bei den Vereinigten Staaten die Neigung, ihre eigenen Interessen eher im Al-leingang als auf dem unbestreitbar mühseligen, mit Kompromissen zu erkaufenden Verhan-delungswegs wahrzunehmen. "Unilateralismus" nennen dies die einen, "Multilateralismus à lacarte" die etwas wohl wollenderen anderen. Die Europäer ihrerseits begannen, ihre immernoch nur potenzielle politische Handlungs- und militärische Eingreifsfähigkeit zu betonen.Das wiederum weckt in Washington den Verdacht einer Distanzierung Europas von altbe-währter Solidarität.

Nirgendwo wird dieses tatsächliche oder vermeintliche Auseinanderdriften stärker empfundenals im militärpolitischen Kernbereich der NATO, also gemeinsamer Sicherheits- und Vertei-digungspolitik. Die Anfänge dieser Entwicklung lassen sich da orten, wo es darum ging, demnach dem Ende des Kalten Krieges gleichsam über Nacht feindlos gewordenen Bündnis neueKleider, eine neue Mission zu verpassen. Denn alle waren sich – wenigstens grundsätzlich –darin einig, dass ein zur gemeinsamen Verteidigung bestimmtes Militärbündnis – politischaufwändig und finanziell kostspielig – für seine Fortexistenz einer in etwa überzeugendenRechtfertigung bedurfte. Man fand sie in einer neuen ordnungs- und friedenspolitischen Mis-sion in dem von seiner Spaltung und Konfrontation befreiten Europa, sei es im Dialog mitdem "neuen Russland" oder einer schrittweisen Einbindung der sicherheitspolitisch heimatlosgewordenen Staaten Mittel- und Osteuropas.

Das Feld für neue Aufgaben war damit weit geöffnet. Es wurde noch weiter, als einmal dieBalkankriege Missionen jenseits des Verteidigungsperimeters ("out of area") notwendigmachten und als anlässlich der Fünfzig-Jahrfeier – im April 1999 – die Allianzpartner ihrenAktionsbereich für solche Aufgaben als fast grenzenlos umschrieben.Eine solche "Doppel-Erweiterung" schien zumindest aus zwei sich ergänzenden Gründen ge-rechtfertigt: einmal, weil schon damals, zumal im Blick auf den militärisch beeindruckend

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erfolgreich geführten Golfkrieg, kein Zweifel mehr daran bestehen konnte, dass die Verei-nigten Staaten als einzige Weltmacht eine solche doppelte Ordnungsfunktion zu übernehmenim Stande waren; zum andern, weil es weltweit neben der Allianz keine auch nur annäherndsicherheitspolitisch-operationell gleichrangige Organisation gibt. Wenn es für das eine oderandere noch einer allseits sichtbaren Bestätigung bedurft hätte, dann haben es – nach demGolfkrieg – die Interventionen im Kosovo und nun in Afghanistan überdeutlich demonstriert.

Nur eben: alle diese neuen Herausforderungen haben zugleich auch neue Fronten eröffnet.Die NATO, nach ihrer bereits erfolgten und weiter geplanten Erweiterung, nach den Balkan-kriegen, nach Afghanistan und im Blick auf den nach vorne hin offenen "Krieg gegen deninternationalen Terrorismus" steht damit nicht mehr nur an einer Front mit einem potenziellenGegner wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Sie steht vielmehr an immer mehr Fronten mit oftnur schwer identifizierbaren Gegnern. Ihr Sicherheits- oder, wenn man will, Ordnungsradiusreicht damit heute und erst recht morgen vom Norden Europas über den Balkan nach Zen-tralasien und der Golfregion bis zum Nahen Osten und dem südlichen Mittelmeer. Niemandvermag zu sagen, ob er nicht bald schon darüber hinaus, dann also fast global ausgedehntwerden muss. Der von Präsident Bush in alleiniger Entscheidung gefällte und von Drittstaatenmehr oder wenig spontan unterstützte Entscheid zur Bekämpfung des schwer ortbaren Terro-rismus kann jedenfalls zu einer zumal von den Verbündeten zeitlich und örtlich unbegrenztenVerpflichtung werden.

Ein solcher, nur als epochal zu bezeichnender Schritt hat unweigerlich Folgen. Diese Folgenbetreffen in erster Linie die Führungsmacht Amerika. Sichtbarer Beweis hierfür sind BushsAnträge für eine in ihrem Umfang bemerkenswerte Erhöhung des ohnehin in den Augen vie-ler schon übergewichtigen Verteidigungsbudgets. Falls vom Kongress in etwa genehmigt,werden sie für das Jahr 2003 auf insgesamt 378 Mrd. Dollar aufgestockt werden und 2007 denBetrag von 451 Mrd. Dollar erreichen. Das ist – gerechnet für die Budgets 2001 – doppelt soviel wie die Verteidigungshaushalte von Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Indien,Russland, China und Japan zusammengenommen. Selbst wer solche Zahlenvergleiche mit dernötigen Vorsicht bewertet, wird dennoch die Distanz zwischen Amerika hier, anderen Schlüs-selländern da, in etwa ermessen können.

Jeder solchen Gegenüberstellung von Rüstungsausgaben und -potenzial ist entgegenzuhalten,dass weder die Ersteren noch das Letztere ausreicht, um Macht oder Einfluss des jeweiligenStaates zu gewichten. Das mag stimmen. Die eindimensionale Militärmacht Sowjetunion hatdies überdeutlich bewiesen. Im Falle der Vereinigten Staaten ist Rüstung aber Teil eines allemachtpolitisch maßgebenden Teile umfassenden Potenzials – seien es Wirtschaft, Währung,Technologie oder Medien. Die machtpolitische Bruch- oder Scheidelinie gegenüber anderenStaaten ist damit multidimensional und als solche entsprechend abgestützt.

Die praktischen Auswirkungen dieser Asymmetrie machtpolitischer Gewichtung oder Akti-onsmöglichkeiten – und darauf kommt es in diesem Zusammenhang an – sind vielfältig. Esgibt kaum Beispiele in der Geschichte, mit denen zu beweisen wäre, dass derartige Machtun-gleichgewichte nicht zu Spannungen und danach zu Korrekturen geführt hätten. Das erstereist derzeit der Fall – und dies deutlicher in Europa als anderswo. Die Erklärung für diese Fest-stellung scheint einleuchtend. Europa hat selbst Gross- oder Weltmachtstatus gekannt; seineTradition ist jene des bis vor wenigen Jahrzehnten dominierenden, global engagierten Erd-teils. China und Japan, in verschiedener, letztlich verschobener Weise, haben regional, jedochnicht globale Vorherrschaft gesucht; das Gleiche gilt für das Osmanische Reich.

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Die Kombination von eigener vergangener Omnipräsenz und nunmehriger machtpolitischerImpotenz schafft bei den Europäern unvermeidlich Ressentiments gegenüber dem "Neurei-chen". Sie verdichten sich zu Spannungen oder Missmut gerade dort, wo eigentlich Solidaritätzwecks Wahrung gemeinsamer Sicherheit und Ordnung gefordert wäre.

Genau diese Aufgabe wird in dem Maße anspruchsvoller und schwieriger, in dem sich dieGründe und Zielobjekte für militärische Einsätze mehren und die Überwindung von wachsen-den Distanzen zur Bewältigung stets komplexerer Aufgaben fordern. In der harten Praxis po-litischer Entscheidungsfindung, strategischer Planung und operationeller Arbeitsteilung ge-winnen solche zusätzlichen Faktoren und Dimensionen neue, für die Allianz ungewohnte Di-mensionen. Das hat die nur mühsam zustandgekommene Kosovo-Intervention bereits über-deutlich demonstriert; das fand und findet derzeit seine noch deutlichere Bestätigung inAfghanistan. Es darf deshalb nicht überraschen, wenn sich eine solche Steigerung vonLeistungsvermögen und -bereitschaft in dem sich fast zwangsläufig erweiternden "Kampfgegen den internationalen Terrorismus" fortsetzen und zusätzlich komplizieren würden. Denndahinter lauert ja die für alle übrigen Beteiligten ernüchternde Erkenntnis, dass letztlich nurdie Vereinigten Staaten in der Lage – und willens – sind, derart weit greifende, nach vorneoffene Missionen zu übernehmen und operationell auch zu bewältigen. Dahinter lauert die inWashington neu aufgelegte Debatte über Möglichkeit oder gar Notwendigkeit eines Einsatzesnuklearer Waffen gegen "Schurkenstaaten", sei es nun Irak oder Nord-Korea, Iran oder Syri-en. Damit werden Geister geweckt, die man am Ende des Kalten Krieges begraben wähnteund Befürchtungen über eine Lockerung der einer Weiterverbreitung nuklearer Waffen ange-legten Fesseln.

Spannungen, wo nicht Konflikte verschiedenster Art in der Allianz, also mit den europäischenVerbündeten, scheinen also fast unausweichlich. Vereinfachend auf einen Nenner gebracht: jemehr Fronten, je mehr militärisch-politisch anspruchsvolle Zielsetzungen und je grösser dieZahl der zu ihrer Erreichung notwendigen Operationen, desto weiter gespannt wird das Spek-trum möglicher Dissonanzen hier, der Versuchung zum unkompliziert raschen Alleingang da.

So gesehen grenzte es an ein Wunder, wenn es nicht hüben und drüben zu Frustrationen undUnmutsäusserungen käme. Die Vereinigten Staaten fühlen sich, dank der von ihrem Präsi-denten Bush allzu spontan gewählten Formel "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns", stark ge-nug für einen Alleingang; sicherlich wünschenswert, aber nicht unbedingt erforderlich wärees, wenn andere, zumal europäische Bündnispartner sich diesem Kampf anschliessen würden.Die Europäer, in rascher politischer Entscheidungsfindung nach wie vor langatmig und hin-sichtlich ihrer militärischen Schlagkraft vielfach ungenügend, erblicken in solchen Soloparti-en ihres Hauptverbündeten nicht nur Anzeichen wachsender Arroganz und allianzpolitischverpönten Unilateralismus. Vorderhand noch unausgesprochen, aber latent, sehen in ihmmanche Beobachter dies- und jenseits des Atlantiks den sinkenden Grenznutzen eines ange-sichts völlig neuer Herausforderungen in seiner Entscheidungsfindung und militärischer Dis-parität zunehmend verletzbaren Bündnisses.

Zweifel an Mission und Funktion militärischer Bündnisse – und damit eben auch der NATO –sind nicht ganz neu. So könnte das in den letzen Wochen spürbar gewordene Malaise überAmerikas Alleingang hier und Europas Ungenügen da wie schon oft von nur kurzer Dauersein. Das jedenfalls dann, wenn es allein allianzinterne Ursachen hätte. Im Unterschied zufrüheren Missmut-Episoden wäre zu fragen, ob sie diesmal nicht tiefer greifen. Dies zu ortenund zu klären, müsste jenseits wohl wollender Beruhigungsgesten zur Chefsache der Allianz-partner gemacht werden. Nicht nur, weil – wie gesagt – das Bündnis das weltweit einzigfunktionierende seiner Art ist. Vielmehr auch, weil spätestens seit dem 11. September damit

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grundsätzliche Fragen der internationalen Ordnung verbunden sind. Als da sind: wer, im Na-men von wem, mit welchen Mitteln ist befugt, den Terrorismus in seinen vielfachen Versio-nen zu bekämpfen; wie ist angesichts der derzeitigen Kräftekonstellation, mit einer einzigenWeltmacht, allein oder zusammen mit einer überwiegenden Mehrheit von Staaten, eine glo-bale Ordnung zu schaffen, in der machtpolitischer Alleingang durch konzertiertes Handelneingehegt, terroristische Steppenbrände und die Verbreitung oder gar der Einsatz von Mas-senvernichtungswaffen verhindert und mörderische Kriege im Kern erstickt werden können?

Was tun? Auf die wenig Spielraum gewährende politische Wirklichkeit übertragen, kann dieseinmal nur heissen, Bewährtes nicht überstürzt über Bord zu werfen. Zum andern sollten dietatsächlichen oder denkbaren Interessensdivergenzen unter dem Vorwand gemeinsam gefo r-derter Solidarität nicht einfach schlicht übergangen und nicht ausgesprochen werden. Vie l-mehr gilt es, jene strategisch bedeutsamen Parameter zu identifizieren, die im Lichte neuarti-ger Erfahrungen – von Bosnien über Kosovo bis Afghanistan – auf die transatlantische Trak-tandenliste zu setzen.

Ein Zufall wollte es, dass der Verfasser dieser Zeilen auf eine im Jahre 1970 getroffene Fest-stellung zum gleichen Thema – Krise in der Allianz – stiess. "Auch die rüstungstechnischeEntwicklung, so lautete damals das Fazit, verstärkte Europas Neigung, die Verantwortung fürseine Sicherheit zunehmend den Weltmächten (damals gehörte die Sowjetunion noch dazu)zu überlassen. Dies in der Annahme, dass selbst ein geeintes Europa nur noch einen besche i-denen Beitrag zur westlichen Sicherheit und kaum einen zu jener Nordamerikas leisten könn-te. Statt ein treibendes Motiv zu Gunsten einer engeren Zusammenarbeit unter den Europäernzu bilden, wurde damit die Sorge um die Sicherheit zusehends zu einer Belastung in EuropasVerhältnis zu den Vereinigten Staaten".

Damit ist eigentlich schon vieles und auch Beruhigendes sowohl zum naturgegebenen Span-nungspotenzial selbst in einer fest gefügten Allianz ebenso viel gesagt wie zum Trägheits-moment eingefahrener Bürokratien, dem selbst sinnvolle und nötige Reformvorhaben ausge-liefert sind. Das trifft, dreißig Jahre später und unter wesentlich komplexeren Verhältnissen,auch auf die derzeitige Befindlichkeit der Allianz zu. Man tut deshalb gut daran, sich den Ratdes polnischen Schriftstellers Witold Gombrowicz zu Herzen zu nehmen: "Unter solchenkomplizierten Umständen, meinte er damals im Blick auf das geteilte Berlin, sei es besser,sich nicht zu überanstrengen".

Diesem Rat folgend, ließe sich die Debatte über denk- oder wünschbare Reformen in der Al-lianz in einen grundsätzlichen und einen institutionell-politischen Teil trennen. Grundsätzlichwäre zu überlegen, ob die Allianz jenseits ihrer Verpflichtung zur gemeinsamen Verteidigunggegen traditionelle Bedrohungen institutionell abrufbare Einsatzverbände von Staaten oderStaatengruppen ("coalitions of the willing") für neuartige, aber zunehmend wahrscheinlichwerdende Aktionen jenseits ihres europäischen Perimeters (also "out of area" im globalenUmfang) schaffen sollte. Dies mit flexibleren Bündnisverpflichtungen, also eigentlichen Ad-hoc-Koalitionen, die dann auch operationell rascher und effizienter eingesetzt werden könn-ten. Das würde speziell dafür ausgebildete und ausgerüstete, rasch abrufbare Einheiten erfo r-dern. Eine solche "Zweiteilung" von Bündnisverpflichtung und Bündnis-Einsatzkapazitätenkönnte die Versuchung zum – in erster Linie wohl amerikanischen – Alleingang mindern undden Anteil europäischer Verbündeter an nicht-traditionellen Sicherheitsaufgaben erhöhen.

Im primär sicherheitspolitisch-institutionellen Bereich ist einmal deutlich geworden, dasszwar eine bessere Konsultation mit der OSZE durchaus wünschbar, eine Form institutionellerVerbindung jedoch weder realistisch noch sinnvoll ist. Unbefriedigend gelöst bleibt das Ver-

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hältnis zu Russland und der Ukraine, problematisch zu dem in sich verschlossenen Weiß-russland. Für die beiden ersteren sollte die Möglichkeit bestehen, sich den für internationaleAktionen vorgesehenen Gremien (also dem "zweiten Pfeiler" der Allianz) mit entsprechen-dem Mitspracherecht zu beteiligen. Hier, wo hinsichtlich Entschlussfassung grössere Flexib i-lität geboten ist, erscheint die Einbeziehung zweier so gewichtiger Länder nicht nur wünsch-,sondern auch machbarer als in einer NATO "alten Stils". Ob sich damit bereits Geleise anle-gen lassen, die als Folge der bevorstehenden Erweiterung der NATO zu einer gesamteuropäi-schen Sicherheitsorganisation führen, wäre zumindest konzeptionell im Auge zu behalten.

Solche Überlegungen drängen sich jedenfalls im dem Maße auf, in dem die welt- oder ord-nungspolitische Tagesordnung mit Aufgaben belastet wird, die einen selbstbewussten Allein-gang hier oder missmutige Empfindlichkeiten da immer weniger erlauben. Damit würde dieEinsicht zur praktischen Politik, wonach eine ordnungspolitisch so zerbrechliche Welt mehrdenn je Stützen wie jener der transatlantischen Gemeinschaft bedarf.

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Die Zukunft der NATO – Verteidigungsbündnis oder Systemkollektiver Sicherheit à la OSZE?

Christian Hacke

1. Der Hintergrund

Die Rolle der USA als Führungsmacht im globalen Maßstab hat sich auch im nordatlant i-schen Raum für die Zeit nach dem 11. September 2001 bestätigt. Präsident Bush hat jedochnicht, fast zum Bedauern seiner Kritiker, das Zerrbild vom schießwütigen Cowboy erfüllt,sondern mit Umsicht eine weltweite Antiterror-Koalition geschmiedet und gleichzeitig mitGefühl für Balance diplomatische, ökonomische und militärische Mittel zum Einsatz ge-bracht. Die Kritiker wurden bisher zum größten Teil widerlegt. Das Schicksal der Sowjetar-mee in den 80er-Jahren in Afghanistan wie auch das der britischen Kolonialtruppen im 19.Jahrhundert hat sich - vorerst - nicht wiederholt. Der befürchtete Sturz der pakistanischenRegierung ist ausgeblieben, wie auch ein Zusammenprall der Kulturen, ein Aufstand derislamischen Massen oder die Radikalisierung der arabischen Welt. Vielmehr haben die USAmit internationaler Unterstützung das Taliban-Regime in Afghanistan beseitigt und Möglich-keiten für friedliche Entwicklung in Afghanistan eröffnet.

Krieg löst keine Probleme, dieses Credo der Friedensaktivisten ist widerlegt worden. Schonmit dem Luftkrieg der NATO gegen Serbien im Kosovo konnten die ethnischen Säuberungenauf dem Balkan gestoppt und – zeitlich verzögert – das Regime Miloševi� abgelöst und damitder Grundstein für eine friedliche und demokratische Entwicklung Serbiens gelegt werden.Allerdings darf nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass politische Krisen grundsätz-lich mit militärischer Gewalt gelöst werden sollten. Zwar kann der Gebrauch militärischerGegengewalt Ungerechtigkeiten und Konflikte aus dem Weg schaffen, gleichzeitig entstehenaber neue Probleme. Der britische Premierminister Tony Blair fasste dieses Dilemma ange-sichts der NATO-Intervention im Kosovo im Juni 1999 in die Worte: "War is never civilised,but war can be necessary to uphold civilisation."1

Bemerkenswert ist, dass es seit dem 11. September zu keinen weiteren katastrophalen An-schlägen in den USA oder in anderen westlichen Industrienationen gekommen ist. Umsomehr bedrückt die Tatsache, dass sich im Zuge des 11. September die Probleme im Nahenund Mittleren Osten erheblich verschärft haben, und dort im Namen von Terrorismusbekämp-fung neuer Terror um sich greift. Die Gewaltspirale von Aktion und Reaktion, wie sie zwi-schen Israel und den Palästinensern entstanden ist, hat mittlerweile eine hochdramatische Es-kalation erfahren. Konnte das Terrorismusproblem in globaler Perspektive dank der Initiativeund tatkräftigen Führung der Antiterror-Koalition durch die USA eingedämmt werden, sosind es bedauerlicherweise auf regionaler Ebene gerade die USA, die die Eskalationspolitikder israelischen Regierung Scharon gegenüber den Palästinensern zu lange geduldet haben.

1 Zitiert nach: van Ham, Peter: Security and Culture, or, Why NATO Won't Last, in: Security Dialogue,

Vol.32, No.4, S.393-406 (S.395).

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2. Veränderte Koordinaten seit dem 11. September für die NATO

Unter geopolitischen Gesichtspunkten ist seit dem 11. September deutlich geworden, dass dieUSA die Beziehungen zu den europäischen Verbündeten als nicht mehr so dringlich ansehenund dass die neuen amerikanischen Interessenprioritäten geografisch nach Süd-Osten, in denMittleren und Fernen Osten verweisen und sich dort auf Terrorismusbekämpfung konzentrie-ren. In diesem Zusammenhang scheinen die NATO und damit auch die europäischen NATO-Partner an Bedeutung zu verlieren. 2

Bereits nach dem Ende des Kalten Krieges und der Zeitenwende von 1989/1990 zeichnetensich außenpolitische und militärstrategische Veränderungen ab. Im Rahmen der AtlantischenAllianz forderten die USA Reformen und Modernisierung der Streitkräfte mit Blick auf neueKrisen und Kriege. Galt noch während der Clinton-Jahre das Prinzip, keine Opfer im Rahmenamerikanischer Militäroperationen in Kauf zu nehmen, so zeigte sich unter Präsident Bushmilitärische Entschlossenheit, Risiko- und v.a. neue Opferbereitschaft, die durch neue militär-strategische Überlegungen, Streitkräftereform und finanzielle Aufstockung untermauert wer-den. So erhöhen die Vereinigten Staaten ihren Wehretat 2002 um 48 Milliarden Euro – mehrals Doppelte des gesamten deutschen Verteidigungshaushalts. Nach dieser Erhöhung ist derUS-Militärhaushalt größer als der der folgenden 14 Länder zusammengenommen. Das be-deutet, dass die USA eine Milliarde Dollar pro Tag für die militärische Verteidigung ausge-ben.

Diese grundsätzliche Dynamisierung ist kennzeichnend für die amerikanische Sicherheitspo-litik seit dem Amtsantritt von Präsident George W. Bush, die nach dem 11. September 2001einen weiteren Schub und neue Akzentuierungen erfuhr. Doch wie reagieren die Europäer?

Sie bringen weder die erforderlichen finanziellen Mittel auf, noch unterstützen sie entschlos-sen die amerikanische Antiterrorstrategie. Folglich wächst die Lücke zwischen den USA undden europäischen Mitgliedern der NATO seit dem 11. September. Da sich bereits vor dem11. September eine Menge Konfliktstoff angestaut hatte – von der Raketenabwehr bis zurNATO-Erweiterung – haben sich die Streitfragen vertieft. Während die Europäer den Ameri-kanern vorwerfen, den Terror alleine und ohne Abstimmung und dazu noch fast ausschließ-lich militärisch bekämpfen zu wollen, wird in Washington irritiert zur Kenntnis genommen,dass die militärischen Anstrengungen der Europäer unzureichend bleiben. Vor allem werfendie Amerikaner den Europäern vor, dass ihre Lippenbekenntnisse zu militärischen Anstren-gungen keineswegs in Taten umgesetzt werden. Folglich erscheint die derzeitige Debatte überdie NATO als euro-atlantische Sicherheitsinstitution als Vorbote für prinzipielle Grundsatz-fragen über die Bedeutung Europas im Rahmen der atlantischen Zivilisation und mit Blick aufden Selbstbehauptungswillen des Westens im Zeichen von globalem Terror.

3. Gründe für den wachsenden Bedeutungsverlust der NATO

Seit dem 11. September hat die Regierung Bush die NATO marginalisiert, obwohl sich dasBündnis mehrfach für den Kampf gegen den Terror ins Spiel zu bringen suchte, z.B. mit demAngebot zur Friedensmission in Afghanistan. Doch die USA greifen nicht auf die NATO alsGanzes zurück, sondern suchen gezielt und selektiv Mitarbeit einzelner Mitglieder. Die

2 Helga Haftendorn sieht die NATO sogar als prominentestes Opfer des 11. September. Vgl. Haftendorn,

Helga: Das Ende der alten NATO, in: Internationale Politik, Heft 4/2002, S.49-54 (S.49).

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NATO als Militärbündnis wurde an den militärischen Operationen in Afghanistan nicht be-teiligt.

Diese Zurückhaltung der Amerikaner hat Gründe: Im Kosovo-Krieg versuchten die europäi-schen NATO-Verbündeten Einfluss auf die Strategie der Kriegsführung, der aus amerikani-scher Sicht in keinem Verhältnis zum minimalen europäischen Einsatz stand und der dieStrategie nur verkompliziert hätte, z.B. beim Einsatz der Luftwaffe. Aus amerikanischer Sichthat das NATO-Engagement im Kosovo durch die multilaterale Abstimmung in den Gremiendes Nordatlantikpaktes erheblich an Einsatzeffektivität eingebüßt. Diese negative Erfahrungveranlasste die Amerikaner bei der Antiterrorstrategie nach dem 11. September im Krieg inAfghanistan eine andere Strategie zu verfolgen.

Diese Lektion im Kosovo, aber auch die beschränkte operative Einsatzfähigkeit und der man-gelnde Ausrüstungsstand der Europäer haben die Amerikaner bewogen, nicht auf die NATOzurückzugreifen. Den Europäern, mit Ausnahme Großbritanniens, fehlt es am Willen, aberauch an Kapazitäten. Aus diesen Gründen entschieden sich die USA für eine ad hoc gegrün-dete, globale Antiterrorkoalition ohne feste Strukturen, ohne Gefahr zu laufen, sich durchunnötige Verpflichtungen zu Konsultationen über die Kriegsführung einbinden oder ein-schränken zu lassen. Die alleinige Ausnahme bildet Großbritannien, das Amerika durch einespecial relationship verbunden ist. Die Erfahrung der Kriegskameradschaft im Ersten und imZweiten Weltkrieg, im Kalten Krieg sowie bei regionalen Konflikten und Kriegen in den90er-Jahren haben feste angelsächsische Loyalitäten geschaffen, die auch in die Zukunft wir-ken werden.

Die hier skizzierte Entwicklung seit dem 11. September bedeutet insgesamt für die NATOeinen enormen Verlust an Prestige und Wirkung. Der Bedeutungsverlust erscheint so massiv,dass sich für die NATO grundsätzlich die Frage nach ihrem Selbstverständnis und ihrer Zu-kunft stellt. Ist die Nordatlantische Allianz nach wie vor ein funktionierendes Verteidigungs-bündnis oder ist sie seit der Zeitenwende 1989/1990 und dann im Zuge des 11. SeptemberSchritt für Schritt auf dem Weg zu einer kollektiven Sicherheitsorganisation, die mit der alten"NATO vor 1989" nur noch wenig gemein hat?

4. Die Rolle Deutschlands

Seit der Zeitenwende von 1989/1990 hat sich in Deutschland die Bereitschaft zu mehr sicher-heitspolitischer Verantwortung im Rahmen der NATO oder über die Bündnisgrenzen hinaus,nur sehr zögerlich entwickelt. Die Bedeutung Deutschlands beim Golfkrieg, in Somalia undbeim europäischen Engagement auf dem Balkan hinterlässt zwiespältige Erinnerungen. Diepolitischen Kräfte in Deutschland hemmten sich vielfach gegenseitig. Letztlich wurde nurunter dem Druck der Ereignisse und des Auslands das deutsche Engagement erzwungen, dochdie Mittel wurden nicht entsprechend aufgestockt oder modernisiert. Deutschland ist vielmehrim Vergleich mit vielen anderen Bündnispartnern wehrtechnisch zurückgefallen. Mit einemPersonalkostenanteil von 53 Prozent des Verteidigungshaushaltes finanziert Deutschlandmittlerweile eine anachronistische Streitkräftestruktur, die den neuen Anforderungen des 21.Jahrhunderts nicht gewachsen ist. In Berlin fehlt ein zukunftsfähiges Konzept für Streitkräfte,die den alten und neuen Sicherheitserfordernissen entsprechen. Durch flickschustereihafteÜbernahme von diversen Aufgaben in näheren und entfernten Krisenschauplätzen hat dieBundeswehr bereits jetzt die Grenzen der Belastbarkeit erreicht: Von welchen nationalen,regionalen und globalen Sicherheitsinteressen werden die deutschen Einsätze in Kabul, Kan-dahar, Kuwait, im Kosovo, in Usbekistan, Bosnien und am Horn von Afrika geleitet? Wel-

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chen Sinn haben diese Einsätze? Sind die Truppen optimal vorbereitet und ausgerüstet? Undsind sie vor allem selbst gesichert? Der Einsatz deutscher KSK-Soldaten in Afghanistan bei-spielsweise ist von herausragender Bedeutung und nötigt auch den Amerikanern Respekt ab.Aber man fragt sich nicht nur in Washington, warum die Bundesregierung diesen Einsatznicht behutsam aber deutlich dazu nutzt, auch der eigenen Bevölkerung die Notwendigkeitder Antiterrorkriegsführung vor Augen zu führen.

5. Die Rolle Europas

Nicht nur Deutschland, allen europäischen Mitgliedstaaten der NATO fällt die Erneuerungder Verteidigungspolitik nicht leicht. Hinzu kommt, dass die Proliferation von Nuklearwaffennach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums angewachsen ist wie auch neue Krisen undKriege innerhalb und außerhalb Europas um sich greifen. Schon vor dem 11. September wur-de sichtbar, dass die Europäer sicherheitspolitisch gesehen sich zu lange auf die klassischeLandes- und Bündnisverteidigung konzentriert haben, obwohl schon in den 90er-Jahren er-kennbar wurde, dass auf Grund neuer Herausforderungen entsprechende Umstrukturierungenund Neuanschaffungen der Streitkräfte dringend notwendig wurden. Vor allem bei den Luft-transportfähigkeiten wird die technologische Kapazitätslücke zwischen den USA und ihreneuropäischen Verbündeten deutlich. Die Auslieferung des gemeinsam zu beschaffenden euro-päischen Airbus A 400 M, der den Europäern eine eigene taktische Lufttransportkapazitätgeben soll, ist nun erst für das Jahr 2009 vorgesehen. Andererseits ist die europäische Kritik,wie auch von NATO-Generalsekretär Lord Robertson formuliert, an der mangelnden Bereit-schaft der Amerikaner zum Technologietransfer vollauf berechtigt. Die USA sind zu zurück-haltend bei der Vergabe von Exportlizenzen. Stealth-Techniken zur Tarnung werden zumBeispiel überhaupt nicht weitergegeben. Verständlich ist diese Politik aus wirtschaftlicherSicht, denn die USA möchten am liebsten die Systeme, die sie selbst mit hohem Aufwandentwickelt haben, selbst verkaufen. Die Folge ist: Die Europäer können allein auf sich gestelltmit den Amerikanern nicht mithalten und konsequenterweise wird die technologische Lückezur Zeit immer größer. Der Rückstand der europäischen Partner zeigt sich dabei vor allem inden Bereichen Aufklärung, Kommunikation, High-Tech Waffen und Mobilität. Die Wahrheitist, so NATO-Generalsekretär Robertson auf der 38. Münchner Sicherheitskonferenz AnfangFebruar 2002, dass "Europa militärisch als Untergröße dahe rkommt."3

Auch GASP und ESVP wie auch die schnelle EU-Eingreiftruppe sind nach wie vor imembryonalem Zustand. Doch die Europäer glauben trotzig, dass sich mit Organisationsvor-schlägen, gutem Willen, aber wenig Geld, die Konflikte aus der Welt schaffen lassen. So hatdie europäische Außen- und Sicherheitspolitik der schönen Worte und risikolosen Taten imVerlauf der 90er-Jahre ihren Offenbarungseid leisten müssen. Doch das trostlose Muster wirdweiter gestrickt: Erst geben die Europäer ihre Besorgnis zu Protokoll, dann rufen sie die USAzum Handeln auf, doch wenn die USA eingreifen, werden sie reflexartig von den Europäernkritisiert. Nachdem die USA dann Ordnung geschaffen haben, unterschreiben die Europäererleichtert einige Schecks für Friedenstruppen und preisen ihre eigenen zivilisatorischen unddemokratischen Errungenschaften als Vorbild. Mit den harten Realitäten von Krisenmanage-ment hat diese Form von Gemeinschaftsdiplomatie wenig gemeinsam.

3 Vgl. den englischen Text der Rede unter: http//www.securityconference.de

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So verwundert es wenig, wenn vom amerikanischen Verteidigungsminister Donald Rumsfeldberichtet wird, er solle es inzwischen für eine Zeitverschwendung halten, europäische Vertei-digungsminister überhaupt zu empfangen. 4

Heute geht es nicht nur darum, den american way of life zu sichern, sondern vor allem müssteder american way of war nach dem 11. September den europäischen Verbündeten vor Augengeführt haben, dass sie zur Sicherung ihrer Eigeninteressen alles daran setzen müssen, um beidieser neuen terroristischen Bedrohung in Augenhöhe mit den Amerikanern stehen zu kön-nen. Rhetorische Solidarität mit den Vereinigten Staaten reicht nicht aus. Aber europäischeInitiativvorschläge werden in Washington erst ernst genommen, wenn man bei den militäri-schen "basics" dabei ist. Auch die Amerikaner wissen und handeln danach, dass die Antwor-ten auf den Angriff vom 11. September nicht allein militärisch sein dürfen, sondern dass esauch um die Wurzeln des Terror geht, wie das Austrocknen der Finanzströme und die Be-kämpfung der sozialen, politischen und ideologischen Ursachen.

Doch auch mit Blick auf die weitere Kriegführung nach Afghanistan vertiefen sich die Unter-schiede zwischen den USA und den Westeuropäern: Während die Amerikaner ihren Druckauf den Irak erhöhen, warnen die Europäer vor entsprechenden Angriffen. Der Irak, der unterSaddam Hussein drei Kriege vom Zaun gebrochen hat, der die Menschenrechte verletzt, dasLand diktatorisch unterdrückt und zudem offensichtlich die Produktion von Massenvernich-tungswaffen plant, wird von den Europäern immer noch als Herrscher gesehen, mit dem essich zu reden lohnt. Nicht selten tun Europäer und insbesondere Deutsche in diesem Zusam-menhang so, als ob die USA nicht in der Lage wäre, die entscheidenden Fragen zu stellen:Wer soll Saddam Hussein ersetzen? Soll der Irak in seinen bisherigen Grenzen bestehen ble i-ben? Welche westlichen Truppen werden auf lange Sicht dort stationiert sein? Was wird ausden irakischen Ölquellen? Was bedeutet ein Angriff auf den Irak für den Nahen Osten?Könnte ein irakischer Angriff auf Israel in der Folge stattfinden? Wie werden die Muslime aufeine weitere Attacke auf ein Land mit islamischer Bevölkerung reagieren?

Mit Blick auf sicherheitspolitische Krisenszenarien haben es sich die Europäer angewöhntzuallererst nach der exit-Strategie zu fragen. Dabei scheinen sie zu übersehen, dass die ersteFrage dahin gehen sollte, ob und wie man eine "Eingangsstrategie" entwickelt. Und so heißtes in Washington mit Blick auf die Europäer mittlerweile "first we have to think about gettingin and then we will ask you to clean up the parade."5

Die Europäer befürchten negative Konsequenzen für die Golfregion und den Nahen Ostenund darüber hinaus einen Zusammenprall der Zivilisationen im Sinne von Samuel Hunting-ton. Auch fordern die Europäer eine Aufwertung der UNO neben der Antiterror-Koalition undverweisen darauf, dass Militäraktionen mit dem Recht auf Selbstverteidigung nach Art. 51 derUNO-Charta vereinbar sein müssen. Diese Sorgen sind berechtigt, beziehen sich aber aufnachgeordnete Probleme. Allerdings sorgen sich die Europäer zu Recht um ein Aufflammenalter und neuer Krisenherde bei der Bekämpfung des Terrors. Viel zu lange hat die RegierungBush den Nahen Osten, besonders mit Blick auf den palästinensisch-israelischen Konflikt denradikalen Kräften freien Lauf gelassen. Zu lange hat sie der Regierung Scharon erlaubt, denlegitimen Repräsentanten der Palästinenser, Arafat, auf eine Stufe mit dem Terroristen binLaden zu stellen.

4 So Busse, Nikolas: Leere Denktanks, in: FAZ, 12.4.2002.

5 Rutz, Michael: Notfalls im Alleingang, Feldzug gegen den Terror, in: Rheinischer Merkur, 15.3.2002

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6. Die Zukunft der NATO – Verteidigungsbündnis oder kollektivesSicherheitssystem à la OSZE?

Transatlantische Debatten über die Zukunft der NATO hat es schon immer gegeben. Deshalbbeansprucht Henry Kissingers Schlüsselfrage aus den 60er-Jahren nach wie vor Gültigkeit:Wie viel Einheit braucht die NATO und wie viel Pluralismus hält sie aus? Der Unterschied zudamals liegt heute allerdings darin, dass die NATO heute von einer Macht geführt wird, diemehr denn je entschlossen ist, ihre Sicherheitsinteressen, wenn nötig auch unilateral durchzu-setzen. Nach wie vor haben die USA ein Grundsatzinteresse an der Aufrechterhaltung derNATO. Diese bildet den multinationalen Rahmen für ihre zentralen sicherheitspolitischenInteressen in Europa und ist folglich auch wichtig für die Legitimation sicherheitspolitischenHandelns der USA. Hinzukommt, dass die NATO den einzigen Vertrags- und Organisations-rahmen für transatlantische Sicherheitskooperationen bildet, auf die die USA deshalb nichtverzichten werden. Die Frage ist nur, ob die USA ihre Interessen entweder über die NATO alsklassisches Verteidigungsbündnis oder über die NATO als kollektives Sicherheitssystem inZukunft zu sichern wünschen. Welche Perspektiven lassen sich für die Zukunft der NATO aufdiesem Hintergrund entwickeln?

1. Die NATO könnte sich auf Europa beschränken und gleichzeitig mitgliedsmäßig vergrö-ßern. Sie würde sich zunehmend zu einer politischen Organisation entwickeln, zu einemInstrument kollektiver Sicherheit. Unter dieser Perspektive bleibt abzuwarten, ob das ame-rikanische Interesse weiter sinken oder möglicherweise sich wieder intensivieren wird.Doch scheint derzeit die NATO als klassisches Verteidigungsbündnis unter der Führungder USA weniger wahrscheinlich, weil die Voraussetzungen für die alte NATO vor 1989als klassisches Verteidigungsbündnis weniger gegeben sind.

2. Eine weitere Entwicklungsmöglichkeit des Nordatlantischen Bündnisses deutet auf eineNATO hin, die nicht nur regional, sondern weltweit Sicherheitsverantwortung übernimmt,auch Terror bekämpft und die Proliferation von Massenvernichtungswaffen verhindert.Dann müssten die europäischen Partner bereit sein, ihre Verteidigungsausgaben nochschneller und drastischer zu erhöhen, damit sie in die Lage versetzt würden, diese neuenAufgaben zu erfüllen. Politisch müsste die NATO eine tief greifende, strukturelle Moder-nisierung und strategische Neuausrichtung verwirklichen. Ein entsprechender militäri-scher und politischer Wille wäre ebenso notwendig.

3. Es wäre denkbar, dass die Europäer weniger im NATO-Rahmen, sonder vielmehr im eu-ropäischen Rahmen ihre Streitkräfte auf ein tragfähiges Fundament stellen, also ihre Plänefür eine eigene Sicherheits- und Verteidigungspolitik verwirklichen, dann aber mögli-cherweise stärker zu den USA auf Distanz gehen. Ob dann die ESVP in die Strukturen derNATO integriert würde scheint fraglich. So würde der NATO eine eigene originär euro-päische Sicherheitskomponente beigegeben. Dieser Schritt dürfte allerdings von den Ame-rikanern nicht als eine Einladung zum Rückzug aus Europa und zu nachlassendem Enga-gement innerhalb der NATO-Strukturen interpretiert werden. Dann könnten diese neueneuropäischen Sicherheitskomponenten den Europäern ein gewisses Maß an Autonomie andie Hand geben, mit dem sich unter Umständen zukünftige Krisen auf dem Kontinent ineuropäischer Eigenregie eindämmen ließen.

Wie auch immer sich die Europäer entscheiden werden, ob sie die NATO als klassischesVerteidigungsbündnis bewahren oder stärken wollen, oder ob sie ein handlungsfähiges kol-lektives Sicherheitssystem im Sinne der OSZE anstreben, für beide Strukturvorstellungen

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brauchen sie in den Worten von NATO-Generalsekretär Lord Robertson, dreierlei: "Kapazi-täten, Kapazitäten, Kapazitäten."

Doch vorerst, so scheint es, bleibt es der Arbeitsteilung "The US fights, the UN feeds and theEuropeans pay". Natürlich entscheiden die USA nicht immer richtig – nicht nur aus europäi-scher Sicht. Aber die Europäer wirken erst in ihrer Kritik glaubwürdig, wenn sie substanzielleEigenbeiträge zur Stärkung der NATO leisten. Nur dann werden sie auch im politischen Sinnestärker. Politischer Einfluss in Washington setzt militärische Stärke voraus.

7. Zusammenfassung

Das vergangene 20. Jahrhundert hat beginnend mit dem Ersten Weltkrieg über den ZweitenWeltkrieg, im Kalten Krieges und in den 90er-Jahren gezeigt, dass eine ausschließliche euro-päische Sicherheitsstruktur sich als nicht tragfähig erwiesen hat. Erst die Hilfe der USA hatdie europäischen Demokratien im Kampf gegen die Diktaturen von rechts und links im 20.Jahrhundert überleben lassen. Somit sind im 20. Jahrhundert die USA zur unverzichtbarenSicherheitsgarantie für Europa geworden. Unter amerikanischer Führung hat sich die NATOzum Garanten für Stabilität, aber auch als Symbol für strukturelle Nichtangriffsfähigkeit derStaaten Europas untereinander entwickelt. Eine geografische Erweiterung der NATO nachOsten würde folglich den Friedensraum vergrößern. Die Beibehaltung von Verstärkung deratlantischen Bindung bleibt dabei für Europas Sicherheit unverzichtbar, denn die NATObleibt derzeit die einzige vertragliche Grundlage zwischen Amerikanern und Europäern. Siebildet seit mehr als einem halben Jahrhundert den Sicherheitsanker der atlantischen Zivilisati-on. Diese Brückenfunktion zwischen Nordamerika und Europa wurde anlässlich des 50-jährigen Bestehens der NATO im April 1999 feierlich bestätigt: "NATO embodies the vitalpartnership between Europe and North America."6

Doch nur wenn die Europäer selbst das Bündnis modernisieren, werden sie es retten. Aberwird die nordatlantische Allianz nach wie vor ein Verteidigungsbündnis bleiben oder hat essich schon vor dem 11. September Schritt für Schritt in Richtung kollektive Sicherheitsorga-nisation entwickelt, die mit der alten NATO vor 1989 immer weniger gemeinsam hat?

Das wird sich in den kommenden Monaten zeigen, wenn die NATO sich auf ihren NATO-Gipfel in Prag vorbereitet. Dort muss die Frage beantwortet werden, ob grundsätzlich die areaof operation über Europa hinaus selektiv, unter Umständen weltweit, erweitert werden sollund ob die Erweiterung durch neue Mitglieder fortgesetzt wird. Auch stellt sich die Frage, obdas strategische Konzept der NATO vom April 1999 modifiziert werden soll.

Die Sicherung von Frieden, Freiheit und Stabilität in Europa muss bei allen ÜberlegungenVorrang haben. Die Staaten, die früher zum sowjetischen Einflussbereich gehörten, habennach wie vor ein Unsicherheitsgefühl gegenüber Russland. Das müssten auch die altenNATO-Mitglieder verstehen. Doch angesichts der schwierigen Transformationsprozesse inden Armeen der neuen Demokratien in Mittel- und Ost-Europa braucht das Ziel der Interope-rabilität mit den alten NATO-Truppen Zeit. Die Gefahr einer weiteren Verwässerung der mi-litärischen Fähigkeiten der NATO und eine Entwicklung zu einem kollektiven Sicherheits-system sind dabei nicht auszuschließen. Schon der Völkerbund wie auch UNO und OSZEscheiterten daran, widerspenstigen kriegswilligen Akteuren in den Arm zu fallen bzw. einen

6 Die Washington Declaration vom 23./24. April 1999 findet sich unter:

http://www.nato.int/docu/pr/1999/p99-063e.htm

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Frieden aufzuzwingen, weil das Prinzip der kollektiven Sicherheit folgenden schwer wiegen-den Geburtsfehler hat: Wenn alle Teilnehmer einer Meinung sind ist es überflüssig. Sind siejedoch dagegen uneinig, dann ist es nutzlos, weil ja nur kollektiv entschieden werden kann.

Auf diesem Hintergrund macht ein Beitritt Russlands zur NATO wenig Sinn. Zwar schuldetder Westen Russland Respekt dafür, dass Moskau die Vereinigung Deutschlands ermöglichthat. Doch der Westen tut sich keinen Gefallen, wenn er so tut, "als hätte Russland bereits ei-nen Reformprozess vollendet, der in Wirklichkeit noch in den Kinderschuhen steckt oder rus-sische Führer für Qualitäten lobt, die sie erst unter Beweis stellen müssen". 7 Die Perspektiveeines NATO-Beitritts Russlands, wie sie mancherorts in Europa artikuliert wird, wäre für dieNATO im Sinne des klassischen Verteidigungsbündnisses absurd. Der ursprüngliche Vertei-digungscharakter würde dann völlig aufgegeben und der des kollektiven SicherheitssystemsRealität. Auch könnte aus amerikanischer Sicht der Eindruck entstehen, als ob nun Europa zuRussland gleichrangige, ja vielleicht sogar engere Beziehungen als zu den USA entwickelnwolle.

Die Feststellung des Bündnisfalles gemäß Artikel 5 des NATO-Vertrages am 12. September2001 sollte als Gelegenheit verstanden werden, Landesverteidigung um die Dimension derTerrorismusbekämpfung zu erweitern. Homeland defense ist die neue erste Front im Zeitalterder Antiterrorstrategie. Diese neue innenpolitische Dimension des Terrors erfordert sicher-heitspolitische Konsequenzen. Um ihrer innenpolitischen Sicherheit willen müssen die West-europäer die neuen Anforderungen an eine asymmetrische Kriegsführung erfüllen. Entgegender traditionellen verteidigungspolitischen Ausrichtung der vergangenen Jahrzehnte, die eineStatus Quo Strategie implizierte, muss heute bei der Terrorismusbekämpfung der Krieg zumGegner getragen werden, bevor er bei uns zuschlagen kann. Das bedeutet auch psychologischeine neue präventive Einstellung. Diese neue Strategie kann, richtig angewandt, helfen, Men-schenleben vor Terrorismus rechtzeitig zu retten.

Mit dieser Strategie des deterrence by denial wird der Krieg zum Gegner getragen, um ihmvon Anfang an die Möglichkeit zu verwehren, seine Waffen gegen unschuldige Zivilisteneinzusetzen. Doch sollte die zweite Front, die Landesverteidigung, nach wie vor die Grundli-nie der gemeinsamen NATO-Verteidigungsstrategie bilden, um so gemeinsam den europäi-schen Kontinent sichern.

Amerikaner und Europäer werden neben gemeinsamen Interessen natürlich auch unterschied-liche Einschätzungen zu berücksichtigen haben. Doch entscheidend bleibt die gemeinsamePerspektive und die gemeinsame Entschlossenheit. Die größte Gefahr bildet die eigeneSelbstgefälligkeit, wie sie schon von Präsident Kennedy 1963 in der Paulskirche andeutetwurde: "Unsere Freiheit ist dann in Gefahr, wenn wir uns auf dem Erreichten ausruhen. Dennweder die Zeit noch die Welt stehen irgendwann still. Der Wandel ist das Gesetz des Lebens.Und wer den Blick ausschließlich auf die Vergangenheit richtet, der verpasst mit Sicherheitdie Zukunft."

Auf dem NATO-Gipfel im November 2002 in Prag werden im Lichte der Ereignisse des11. Septembers und angesichts tief greifender Strukturkrisen schwierige Entscheidungen an-stehen. Wird Prag zu einem Grundsatzgipfel der NATO?

7 Kissinger, Henry: Die Herausforderung Amerikas: Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München und Berlin

2002, S.105.

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Noch am 15. Juni 2001 hatte Präsident Bush in Warschau erklärt, dass alle neuen Demokra-tien in Europa von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer das Recht haben, westlichen Instituti-onen beizutreten. 8 Im Lichte des 11. September scheint es so, als ob die Erweiterung derNATO aus amerikanischer Sicht zwar nicht gestoppt, aber unter Berücksichtigung der ameri-kanischen Kooperationsinteressen mit Russland zeitlich "gestreckt" wird. Die Krise auf demBalkan, der transatlantische Streit um die Raketenabwehr, der mühevolle Aufbau einer ge-meinsamen europäischen Verteidigung und vor allem die schwierigen Schlussfolgerungen ausder Attacke vom 11. September binden die reduzierten Kräfte der NATO so stark, dass mansich für die Erweiterung vermutlich mehr Zeit nehmen wird. Stattdessen wird in Prag die neueBedrohung des internationalen Terrorismus zu erweiterten Schlussfolgerungen für die Vertei-digungsplanung führen müssen. Eine Modernisierung des strategischen Konzepts der Allianzvon 1991 bzw. 1999 scheint notwendig.

Auch muss die im April 1999 beschlossene Defense Capabilities Initiative (DCI) zur Verbes-serung der Mobilität und zur Stärkung der Kampfkraft fortgeschrieben werden. Zulange ha-ben die europäischen Alliierten geglaubt, den Terror allein mit nicht-militärischen Mittelnbekämpfen zu können.

8. Welche Rolle spielt Deutschland im Rahmen der NATO?

Die Regierung Schröder/Fischer hat sich sofort nach den Anschlägen auf eindrucksvolle Wei-se zu uneingeschränkter Solidarität bekannt und auch dann entsprechende sicherheitspoliti-sche Hilfsangebote vorgelegt. Das verdient Respekt. Doch in den strukturellen Grundsatzfra-gen mit Blick auf die Modernisierung der Bundeswehr und die Reform der NATO muss sieerst noch beweisen, dass sie erfolgreich an die große außen- und sicherheitspolitische Traditi-on der alten Bundesrepublik anknüpft.

Bis 1989 war die Bundesrepublik nicht nur politisch und wirtschaftlich, sondern auch militä-risch von zentraler Bedeutung für die NATO. Dank der deutschen Beiträge war die NATO einfunktionsfähiges, sicherheitspolitisches Instrument und zentraler Bestandteil deutscher Staat-räson im Sinne der Westbindung. Die Bundeswehr war die größte und modernste Bündnisar-mee, erstklassig ausgestattet und mit hoher Motivation. So betrieb die Bundesrepublik eineAußenpolitik mit weltweit herausragendem Ansehen und starkem Einfluss in Washington wieauch in Moskau. Kein anderer als Außenminister Hans-Dietrich Genscher personifizierte fürzwei Jahrzehnte bis Anfang der 90er Jahr Kontinuität, Ausgewogenheit, Verlässlichkeit, glo-bales Verantwortungsbewusstsein und nicht zuletzt hochgradige Effizienz. Hinzu kam, dassdie innenpolitischen Fundamente in Staat und Gesellschaft, in Wirtschaft und Bildung weit-gehend in Takt waren. Die heutige deutsche Außen- und Sicherheitspolitik, die auch häufigim Namen Europas spricht und insgesamt das weltpolitische Engagement betont, hat nochnicht völlig beweisen können, dass sie die neuen außen- und sicherheitspolitischen Heraus-forderungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts ebenso klug und überzeugend erkennt und meis-tert, wie dies die Bundesrepublik vor 1989 vermochte.

Die NATO befindet sich vor ihrem Gipfel in Prag in der Existenzkrise, die auch eine Krisepostmoderner politischer Verantwortungslosigkeit ist, nämlich im Namen von wolkiger Ge-meinschaftsverantwortung keine ausdrücklichen Verpflichtungen einzugehen. Diese Formelpostmoderner Sicherheitspolitik im Zeichen von "gemeinschaftlicher Verantwortung" ist nicht

8 Die Rede von George W. Bush am 15.6.2001 vor Studenten der Universität Warschau findet sich unter:

http://www.whitehouse.gov/news/releases/2001/06/20010615-1.html

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länger vertretbar, wenn nicht mehr klar ist, wer vor wem und für welchen Zweck verantwort-lich zeichnet. Diese Form von klarer Verantwortung ist und bleibt die Kehrseite von Freiheitim Rahmen von Bündnissen wie der NATO.

Was in den transatlantischen Beziehungen, nicht nur im Rahmen der NATO deshalb notwen-dig ist, ist eine Reform der gesamten Organisationsstruktur, damit endlich ein institutionellerRahmen geschaffen wird, in dem Verantwortlichkeiten klar zugeordnet werden. Ausgehendvon de Gaulles Vorschlägen Ende der 50er-Jahre für ein Direktorium USA, Großbritannien,Frankreich und den Modernisierungsvorschlägen von Jacques Chirac für die OSZE sollte dieEinrichtung eines zentralen Atlantikrates diskutiert werden, in dem auf militärischer, wirt-schaftlicher und politischer Dimension die zentralen Fragen der Demokratien nicht nur erör-tert, sondern auch entschieden werden. In diesem atlantischen Rahmen könnte es einen stän-digen Exekutivrat geben, in dem die großen fünf, USA, England, Deutschland, Italien undFrankreich (vorausgesetzt, dass Frankreich voll in die NATO zurückkehrt) mehrheitlich ent-scheiden. Überlegenswert wäre auch eine Teilnahme des europäischen Vertreters von ESVPbzw. GASP an dieser atlantischen Lenkungsgruppe.

Entscheidend ist, dass heute die NATO als einzige Institution für atlantische Kooperationnicht mehr ausreicht, denn Kooperation muss heute alle Dimensionen umfassen, auch alleStaaten der Europäischen Union, die nicht NATO-Mitglieder sind.

Die USA sind heute die letzte Weltmacht, Rivalen sind nicht in Sicht. Aber was Washingtonim Moment nicht benötigt, sind lediglich Hilfsreferenten, Adjutanten und Hilfsdienstleisten-de. Doch zu mehr ist die NATO derzeit nicht in der Lage. Es ist umso bedauerlicher, weilWashington im Zuge einer sehr selbstbewussten um nicht zu sagen arroganten Positionierungstarker und kritischer Freunde bedarf. Doch wenn es weiter schalten und walten kann, Grund-gesetzte eines liberalen Welthandels nach Belieben aussetzt, den eigenen Markt durch protek-tionistische Maßnahmen abschottet und vor allem im Bereich der Rüstungskooperation sorücksichtslos nationalistisch handelt wie bisher, dann werden in Europa Unverständnis undKritik weiter anschwellen. Darauf müssen die USA sich einstellen.

Umgekehrt müssen die Europäer nüchtern erkennen, dass nicht erst seit dem 11. SeptemberEuropas Ideal als zivile Supermacht wie eine Seifenblase zu zerplatzen droht. Demokratie undZivilisation, Ökonomie, Diplomatie und Integration stellen sich schon längst nicht mehr sovorbildartig dar, wie es die Europäer selbst glauben. Folglich sieht die Realität im transatlan-tischen Raum widersprüchlich aus: Die gesellschaftlichen Grundlagen scheinen vielerortszerrüttet, die Wirtschaft angeschlagen, der europäische Integrationsprozess in einer tiefenKrise. Er reflektiert heute die Krise der Gemeinschaftsinstitutionen, die ihre ursprünglicheAufgabe, nämlich gemeinsam Probleme besser leisten zu können als vereinzelt, offensichtlichnicht mehr erfüllen können und selbst zum Problem geworden sind, auch die NATO.

So gesehen ist die Krise der NATO nur Teil einer umfassenden Krise der atlantischen Zivili-sation, besonders der europäischen Staaten.

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Die Frage nach der Zukunft der NATO

Ludger Kuehnhardt

Die Nordatlantische Vertragsorganisation war niemals nur ein Selbstzweck und stets mehr alsein Papiertiger. Es besteht kein Anlass anzunehmen, dass dieser Grundtatbestand ihrer Ge-schichte sich im Verlauf der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts ändern sollte. Charakter,Ausrichtung und Erfolgsgeschichte der NATO waren stets eingebunden in wechselnde Rah-menbedingungen der internationalen Politik. Auch daran wird sich in den kommenden Jahrennichts ändern. Die Frage nach der Zukunft der NATO zeigt nur zu deutlich, dass das nordat-lantische Bündnis sich unter veränderten weltpolitischen Rahmenbedingungen auch derzeitwieder in einer Phase der Neuausrichtung befindet. Sie gilt es in abgewogener und angemes-sener Weise einzuordnen. Es hilft nicht, die große Erfolgsgeschichte der NATO zu Zeit desKalten Krieges anzurufen, um die Handlungsbedingungen des Bündnisses unter neuen undsich weiterhin wandelnden Bedingungen zu statuieren. Es hilft aber auch nicht, die NATO imLichte neuer weltpolitischer Wirklichkeiten totzuschreiben. Stattdessen muss die Frage nachdem Zusammenhang der neuen Herausforderungen mit der Zukunftskraft der NATO und denanstehenden Hausaufgaben, um die Herausforderungen zu meistern, gestellt werden.

Das Nordatlantische Bündnis war stets und zu jedem Zeitpunkt seit seiner Gründung 1949eine Kombination von Wertübereinkunft und Interessenallianz. Kollektive Verteidigung derwestlichen Demokratien – dies war das alles beherrschende Leitmotiv während des KaltenKrieges. Werte und Interessen waren miteinander zu einer politischen und militärischen Stra-tegie verwoben, die zu einer einmalig erfolgreichen Partnerschaft in der Geschichte der west-lichen Welt geführt hat. Mit dem Jubiläumsgipfel von 1999 – 50 Jahre nach ihrer Gründung –hat die NATO eine angemessene Fortschreibung ihrer Strategie vollzogen: Es geht seitherdarum, die Rahmenbedingungen und Instrumente bereitzuhalten, um kollektive Sicherheit zugarantieren. Der Strategiewechsel von "kollektiver Verteidigung" zu "kollektiver Sicherheit"war die richtige Antwort auf die weltpolitischen Umbrüche der Neunzigerjahre, um die nord-atlantischen Demokratien auf eine Partnerschaft unter neuen Rahmenbedingungen einzu-schwören.

Der Strategiewechsel war notwendig, aber noch keine ausreichende Bedingung für künftigenErfolg. Zwei Dinge gehören dazu: Übereinstimmung unter den nordatlantischen Partnern überden Charakter der neuen Sicherheitsbedrohungen und Übereinstimmung über den gebotenenZusammenhang von Zielen, Instrumenten und Mitteln, um den neuen Sicherheitsbedrohungengemeinsam entgegenzuwirken. Beides kann nicht allein in der abstrakten Luft strategischerPlanspiele zu einem erfolgreichen Gesamtkonzept zusammengebunden werden. Beides ve r-langt nach einem Praxistext und wird durch diesen weiter fortgeschrieben. Die schrecklichenTerrorangriffe auf Washington und New York vom 11. September 2001 geben Anlass, diegebotene Annäherung der neuen strategischen Gesamtausrichtung der NATO an die erforder-lichen Bedingungen für ihre erfolgreiche Fortsetzung im 21. Jahrhundert voranzutreiben.

Offenkundig zeigten sich nach dem 11. September mehrere transatlantische Wahrnehmungs-probleme und Differenzen zwischen den Partnern, die einer Aufarbeitung bedürfen:

1. Während in den USA die tragischen Ereignisse des 11.September formativen Charakter fürdie öffentliche Psychologie und mithin für die Ausrichtung der Sicherheitspolitik hatten, istdies für Europa nicht unbedingt zweifelsfrei mit gleicher Intensität der Fall. Die transatlanti-schen Partner haben Klärungsbedarf über den Sicherheitsbegriff und die Bedrohungspotenzi-

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ale einer postkommunistischen Welt, die neue Unruhe und neue Unsicherheiten erfährt, zudenen der Terrorismus zweifellos gehört.

2. Während die USA die Erklärung uneingeschränkter Solidarität der Europäer befriedigt zurKenntnis nahmen, so wie dies auch in der erstmaligen Ausrufung der Beistandsverpflichtunggemäss Artikel 5 des NATO-Vertrages zum Ausdruck kam, so mussten sie doch im Angesichtder massiven terroristischen Herausforderung eine globale Allianz schmieden und konntensich beim besten Willen nicht allein auf die traditionellen europäischen Partner stützen. DieEuropäer sollten dies aber nicht als Beweis eines Abrückens von Europa sehen, sondern alsAusdruck einer unausweichlichen Globalisierung der Sicherheitspolitik im Lichte neuer glo-baler Bedrohungen.

3.Die USA mussten sich im Krieg gegen den Terrorismus im wesentlichen auf ihre eigenenInstrumente stützen, weil weder die EU als Ganzes noch die europäischen Länder im Einzel-nen die erforderlichen militärischen Instrumente anbieten konnten, die zu einer partnerschaft-lichen Operation gegen Taliban und Al Qaida hätte führen können. Anstatt über amerikani-schen Unilateralismus zu klagen und die NATO für tot zu erklären, wären europäische Kom-mentatoren und Politiker wohl besser beraten, die Frage nach den eigenen strategischen undmilitärtechnischen Unzulänglichkeiten zu stellen.

Eine alte Erfahrung aus der Zeit des Kalten Krieges hat sich mehr denn je unter den Bedin-gungen der terroristischen Bedrohung nach dem 11.September bewahrheitet: Europa spieltumso stärker eine Rolle für die USA, je größer das Gewicht ist, das es in die transatlantischeWaagschale einbringen kann. Je geringer das europäische Gewicht, desto größer die Versu-chung zu amerikanischem Unilateralismus, der seinerseits wieder zu europäischen Vorwürfenan die USA führt, die diese mit dem Hinweis auf mangelnde europäische Kapazitäten undeine zu enge strategische Sichtweise beantworten. Aus diesem Kreislauf nutzloser Schlag-worte kommen die USA und Europa nur heraus, wenn sie die strategische Gesamtausrichtungihrer Politik im Lichte der neuen weltpolitischen Realitäten synchronisieren. Dies gelingt nur,indem die USA die Bedeutung des Ausbaus einer multilateralen internationalen Ordnung an-erkennen und indem die Europäer sich zu einer globalen Sichtweise ihrer politischen Aufga-ben durchringen. Dies gelingt nur, indem Europa eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- undVerteidigungspolitik entwickelt, die den Namen verdient, und indem die USA anerkennen,das der Kampf gegen den Terrorismus ein multidimensionales Unterfangen bleibt, das ge-fährdet wird, wenn starker Führungswillen Einzelner von anderen als Unilateralismus kriti-siert wird.

Im Lichte dieser Herausforderungen wird es keine Alternative zu einer Fortschreibung vonStrategie und Rolle der NATO geben. Entweder wird diese konsequent zu einer global ausge-richteten Sicherheitsallianz weiterentwickelt oder sie wird obsolet. Gleichzeitig bedürfen dieUSA einer strategisch denkenden und zu globalem Handeln willigen und fähigen europäi-schen Gegenküste, um ihren eigenen weltpolitischen Anspruch auf Dauer aufrecht erhalten zukönnen. Dies erfordert eine EU, die global denken und außen- und sicherheitspolitisch han-deln kann. Die rechte Balance zwischen zwei starken Partnern stellt sich erst ein, wenn beidein die gleiche Richtung schauen und die gebotenen Instrumente bereitstellen, um die gebote-nen Ziele zu erreichen.

Der größere Teil der "Hausaufgaben", die sich aus dieser Analyse ergeben, ist von Europa zumeistern. Ein weithin befriedeter Kontinent, in dem die Demokratie in der zweiten Hälfte des20. Jahrhunderts auf ungeahnte Weise neu erblüht ist, eine Weltwirtschaftsmacht, die sichihrer gemeinsamen Währung mit Stolz rühmt, und ein Rechtsraum, wie es ihn in der europäi-

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schen Geschichte in dieser Dichte noch niemals gegeben hat und der zu einer gemeinsamenVerfassung aufgebrochen ist, bedarf einer angemessenen Außen- und Sicherheitspolitik. DieEU muss sich aufmachen, auch politische Weltmacht zu werden, wenn sie partnerschaftsfähigmit den USA sein, bleiben oder wieder werden will. Diese Herausforderung liegt im Kern derFrage nach der Zukunft der NATO, die heute wichtiger denn je ist, aber weiterhin auf un-gleich starken Pfeilern beruht. Dies ist nicht Schuld der USA, sondern eine Aufgabe ersterOrdnung für Europa. Am Anfang dieses Weges steht die Aufgabe, mit den nordamerikani-schen Demokratien eine gemeinsame Einschätzung der Sicherheit und der Folgen aus ihrerheutigen Bedrohung zu gewinnen. Insofern wird der 11. September ein formatives Datum fürden zukünftigen Weg der westlichen Werte- und Interessengemeinschaft bleiben, das weitüber den aktuellen Anlass und die unmittelbaren Konsequenzen hinausweist.

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Kein Totenglöcklein für die NATO

Karl-Heinz Kamp

Glaubt man den sicherheitspolitischen Leitartikeln in der internationalen Presse, so sind nachdem 11. September zwei Verlierer auf dem internationalen Parkett bereits ausgemacht. Zumeinen ist dies der internationale Terrorismus, der mit dem Krieg in Afghanistan und denweltweiten Maßnahmen gegen das Al-Qaida-Netzwerk eine empfindliche Niederlage erlittenhat. Zum anderen ist es die NATO, deren Zukunftsfähigkeit immer stärker in Zweifel gezogenwird. "Zu schwerfällig" lautet das Verdikt über das Bündnis, sei doch angesichts terroristi-scher Gefahren rasches militärisches Handeln und nicht langwierige Konsensfindung gefo r-dert. "Militärisch ineffizient" ist ein weiterer Vorwurf, wären doch die NATO-Streitkräfteauch über ein Jahrzehnt nach dem Ende des Kalten Krieges immer noch am längst vergange-nen Ost-West-Konflikt ausgerichtet und damit für die neuen internationalen Herausforderun-gen völlig unzureichend.

Nun könnte man solch pessimistische Einschätzungen mit dem Hinweis auf die Vergangen-heit ignorieren, hatten doch die Begriffe "NATO" und "Krise" in der langen Erfolgsgeschichteder Atlantischen Allianz häufig geradezu Synonymcharakter. Mehr als einmal schon politischtotgesagt, wurde das Ende der NATO 1989 nach dem Fall der Berliner Mauer sogar mit wis-senschaftlicher Präzision prognostiziert – schließlich sei historisch bewiesen, dass noch keinMilitärbündnis ohne einen klar definierten Gegner überlebt hätte. Doch statt wegen "Fein-desmangel" zu zerfallen, hat die NATO in der vergangenen Dekade an Bedeutung und Anzie-hungskraft stetig gewonnen.

Allerdings scheint der Terrorangriff auf die Vereinigten Staaten die Grundlagen der Allianz ineiner weit fundamentaleren Weise anzugreifen, als die transatlantischen Streitigkeiten derVergangenheit. Amerika als Bündnisvormacht befindet sich nach eigener Wahrnehmung imKrieg und richtet sein gesamtes Handeln darauf aus, diesen langwierigen und nicht klar um-rissenen Kampf zu gewinnen. Wenn Präsident Bush erklärt, der Kampf gegen den Terror seikeine Politik, sondern ein "Schwur", dann sollte man diese markigen Sätze nicht als hohlesPathos einer verwundeten Nation abtun. Washington wird auch seine internationale Bündnis-politik und die Beziehungen zu den europäischen Partnern an der Maxime des "Sieges" gegenden internationalen Terrorismus ausrichten. Dass sich derzeit noch kaum klar bestimmenlässt, was unter "Sieg" überhaupt zu verstehen ist, scheint für die Vereinigten Staaten dabeivon eher nachrangiger Bedeutung.

Erschwert wird die Situation dadurch, dass der Problemhaushalt der NATO nicht allein durchden 11. September bestimmt wird. Die anstehende Aufnahme weiterer Neumitglieder ausMittel- und Osteuropa lastet auf dem Bündnis ebenso wie die Unterstützung einer europäi-schen Sicherheits- und Verteidigungspolitik oder die Pläne zur militärischen Leistungssteige-rung (Defense Capabilities Initiative). Hinzu kommt, dass die Mehrheit der NATO-Mitgliederihre Streitkräftestrukturen grundlegend verändert, was auch für die militärischen Verfahren inder NATO nicht ohne Folgen bleiben kann. All dies erfordert nicht allein Lösungen für Ein-zelfragen, sondern weit gehende Reformen der allianzinternen Arbeits- und Entscheidungs-prozesse. Stellt jedes dieser Probleme die NATO schon vor erhebliche Schwierigkeiten, sokönnen sie in ihrem Zusammentreffen eine kritische Masse erreichen und zu einer ernstenGefahr für den Fortbestand der Nordatlantischen Allianz werden.

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Dies erklärt die teilweise hektischen Bemühungen in Brüssel und in den Hauptstädten derMitgliedsländer, den Wert der NATO demonstrativ zu betonen und das Image der Allianzaufzupolieren. Allerdings wird es kaum genügen, nur an der "Corporate Identity" des Bünd-nisses zu feilen oder gebetsmühlenhaft den Wert der transatlantischen Beziehungen zu beto-nen. Stattdessen muss die NATO ihre laufenden Anpassungsprozesse überprüfen und im Ein-zelfall neu ausrichten.

Dabei müssen die Entwicklungsperspektiven der NATO an ihren realen Möglichkeiten orien-tiert sein – hier klaffen Wunsch und Wirklichkeit auf beiden Seiten des Atlantiks häufig aus-einander.

Wird – wie derzeit von amerikanischer Seite häufig zu hören ist – die Fähigkeit zur Terroris-musbekämpfung zum zentralen Lackmustest für den Wert der NATO gemacht, so kann dasBündnis nur verlieren. Eine Allianz, die in ihren Entscheidungen stets auf den Konsens allerMitglieder angewiesen ist, kann es bei militärischen Operationen gegen weltweite terroristi-sche Bedrohungen prinzipiell nicht mit der Handlungsfähigkeit von Einzelstaaten oder Ad-hoc-Koalitionen aufnehmen. Somit war geradezu folgerichtig, dass die USA den Krieg gegendas Taliban-Regime nicht im Rahmen der NATO, sondern mit einer "Coalition of the Wil-ling" geführt haben. Das macht die NATO keinesfalls wertlos, sie kann nämlich ihre Fähig-keiten etwa bei der Verhinderung der Proliferation von Massenvernichtungswaffen, bei dernachrichtendienstlichen Zusammenarbeit oder beim politisch-militärischen Dialog mit denMittelmeerländern in den Dienst der Terrorismusbekämpfung stellen.

Gleiches Augenmaß ist bei dem Verweis auf die klaffende Lücke zwischen den amerikani-schen und den europäischen militärischen Fähigkeiten geboten. Ohne Zweifel sind die Män-gel bei den europäischen NATO-Partnern hinsichtlich der Mobilität und Kampfkraft ihrerStreitkräfte inakzeptabel. Hier sind grundlegende Verbesserungen nicht allein deshalb erfor-derlich, um amerikanischen Erwartungen zu entsprechen – Europa selbst ist zur militärischenSicherheitsvorsorge nicht mehr ausreichend in der Lage. Wird als Maxime allerdings ausge-geben, dass die "Capabilities Gap" völlig geschlossen werden müssen (etwa um europäischeGleichberechtigung zu sichern), so ist ein Scheitern vorprogrammiert. Allein die von Präsi-dent Bush beantragte Erhöhung des amerikanischen Verteidigungshaushaltes von 48 Milliar-den Dollar ist mehr als doppelt so groß wie etwa der deutsche Militäretat insgesamt. Rechnetman diesen Betrag zu dem laufenden U.S.- Militärhaushalt von 329 Milliarden Dollar hinzu,so geben die USA für ihre Streitkräfte jährlich mehr Geld aus, als die weltweit nächstgrößtenneun nationalen Verteidigungshaushalte zusammen. Dennoch ist gleichzeitig der Anteil deramerikanischen Militärausgaben am Bruttoinlandsprodukt von 6,5 Prozent Mitte der Achtzi-gerjahre auf nun 3,2 Prozent gefallen. Diese Zahlen belegen, dass eine militärische Asymmet-rie zwischen Europa und den USA zu den dauerhaften Realitäten der NATO gehören wird.

Schließlich ist es nicht erforderlich, allein aus der Wahrnehmung einer vermeintlichen Sinn-krise der NATO heraus zwanghaft nach "neuen Missionen" für das Bündnis zu suchen. Dieanstehenden Aufgaben und die hierfür notwendigen Anstrengungen liegen bereits alle aufdem Tisch. Die allgemeine Funktion der NATO, die Sicherheit ihrer Mitglieder zu wahrenund zu verteidigen, fächert sich in konkrete Missionen auf. Diese beschränken sich nicht al-lein auf militärische Sicherheitsvorsorge oder effektives Krisenmanagement. Stattdessen för-dert die "Konsensmaschine NATO" (Wesley Clark) die sicherheitspolitische Integration Eu-ropas ebenso wie die Transformationsprozesse speziell in Osteuropa. Gäbe es die NATOnicht (mehr), so wäre die Folge eine verbreitete Re-Nationalisierung von Verteidigung undwomöglich die damit verbundene Auflösung des "Stabilitätsraumes Europa". Weitere Aufga-ben der NATO sind die sicherheitspolitische Einbindung Russlands und der weit über die

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Bündnisgrenzen hinaus reichende Sicherheitsdialog – mittlerweile werden im Kreis von 46Partnern regelmäßige Konsultationen geführt. Und schließlich sichert das amerikanische En-gagement via NATO auch den Einfluss der Vereinigten Staaten in Europa – eine Funktion,auf die Washington auch im Zeitalter der Terrorismusbekämpfung nicht verzichten kann undwill.

Wenn aber Aufgaben und Reformerfordernisse hinreichend bekannt sind, so ist nun politi-sches Handeln erforderlich. Hier liegt die eigentliche Crux in der Existenzfrage der NATO.Es mutet wie blanker Hohn an, wenn europäische Entscheidungsträger stets geflissentlichbetonen, endlich mehr Engagement für ihre eigene Sicherheit und für die Handlungsfähigkeitder NATO zeigen zu wollen – gleichzeitig aber die Modernisierung ihrer Streitkräfte anGeldmangel scheitern lassen. Ebenso wenig akzeptabel ist, wenn amerikanische Vertreterheute leichtfertig über "Allianzen à la carte" reden, deren Zusammensetzung allein von der"Mission" bestimmt wird. Erhebt man dies zur Maxime, so wäre die über Jahrzehnte be-schworene transatlantische Wertegemeinschaft eine bloße Worthülse gewesen. Ad-hoc-Koalitionen sind ohne Zweifel ein Element sicherheitspolitischer Flexibilität – allerdingsdroht eine völlig "Werte lose" Bündnispolitik langfristig "wertlos" zu werden.

Wird dieser Handlungsbedarf auf beiden Seiten des Atlantiks erkannt und gelingt es insbe-sondere den europäischen Bündnispartnern, die Weckrufe "Kosovo" und "Afghanistan" inkonkretes Handeln umzuwandeln, so kann die Beerdigungszeremonie für die NATO getrostaufgeschoben werden. Unlösbar ist sicher keine der anstehenden Herausforderungen für dieNATO. Richtig ist aber auch, dass sich keines dieser Probleme durch Zuwarten von selbstlösen wird.

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Die Schwächung von NATO und EUnach dem 11. September

Arnulf Baring

Am 11. September sind nicht nur die Wolkenkratzer des World Trade Center wie ein Karten-haus in sich zusammengefallen. Auch die beiden Türme unseres außen- und sicherheitspoliti-schen Selbstverständnisses, Nato und EU, erscheinen uns heute verblüffenderweise wie Schallund Rauch. In den Monaten seit September konnte man den Eindruck gewinnen, als gäbe esdiese beiden Institutionen gar nicht mehr, die doch seit Jahrzehnten den selbstverständlichenRahmen unseres außen- und sicherheitspolitischen Denkens und Handelns abgesteckt hatten."Politisch und militärisch", konstatierte Zbigniew Brzezinski trocken, "existiert Europanicht". Natürlich könnte man sich damit beruhigen, dass die EU keine Handlungskompetenzauf diesen Gebieten hat, immer noch ein wesentlich wirtschafts- und währungspolitischerZusammenschluss ist. Aber gerade die Deutschen, Regierung und Opposition gleichermaßen,erweckten doch lange den Eindruck, ja vermittelten die Zuversicht, dass eine handlungsfähigepolitische Union in Reichweite gerückt sei, die europäische Verfassung eines Bundesstaatesoder doch Staatenbundes vor der Tür stehe.

Diese Hoffnung hat allerdings außerhalb Deutschlands, ohne das offen zu sagen, kein anderereuropäischer Staat geteilt. Man braucht sich nur an den Gipfel von Nizza vor einem reichli-chen Jahr zu erinnern, der überdeutlich erkennen ließ, wie wenig vom visionären Einigungs-impuls der westeuropäischen Gründergeneration der Adenauer, Schuman, de Gasperi inzwi-schen übrig geblieben ist. Kleinliche Positionskämpfe, fast lächerliche Bemühungen um mi-nimale Gewinne in der Rangfolge der Staaten untereinander bestimmten das Bild. Von küh-nen, tatkräftigen Entwürfen für ein auch politisch geeintes Europa konnte keine Rede sein.Die lakonischen Gipfel von Laeken und Barcelona haben nicht den Eindruck vermittelt, dassdie europäische Einigung infolge des 11. September nunmehr zielstrebig an Fahrt gewönne.Der geplante Konvent scheint wesentlich ein Gesprächskreis von Politikern zu werden, derenWirkungen und Verdienste in der Vergangenheit liegen.

Außer verheißungsvollen, aber phrasenhaften Formeln haben die vereinten Europäer offenbarwenig zu bieten, nichts Handfestes vor. Europa stagniert. Frankreich, die bisherige Füh-rungsmacht, ist durch den Machtkampf zwischen Chirac und Jospin gelähmt und hat offenbarin beiden Lagern die Hoffnung aufgegeben, eine Vertiefung der Gemeinschaft in einer Weisezu erreichen, die französischen Interessen entspräche. Frankreich scheint sich auf einen Zu-stand einzurichten, in dem zeitlich begrenzte, partielle Abmachungen bi- und multilateralerArt an die Stelle institutioneller Arrangements der EU oder der Nato treten. Mit anderenWorten kehrt Frankreich – und nicht Frankreich allein – zu traditionellen Formen der Außen-politik zurück, wie sie vor dem Ersten Weltkrieg allenthalben die Regel waren. In dieser Per-spektive scheint es ihm gelegentlich sinnvoll, den Kreis der ostmitteleuropäischen Beitritts-länder weit zu ziehen, um das Pariser Aktionsfeld zu erweitern.

Die Schwächung der Nato hat außerdem andere, allerdings verwandte Ursachen. Angesichtsder europäischen Uneinigkeit und Handlungsarmut sind die USA schon seit längerem dazuübergegangen, auf dem Balkan eher eigenen Aktionsmöglichkeiten zu vertrauen als halbher-zigen, lahmen Anstrengungen der Allianz. Hinzu kommt seit einiger Zeit die zunehmendeHoffnung Washingtons, die Kooperation mit Russland auf eine festere Grundlage zu stellen,Moskau stärker in das Beziehungsgeflecht der Nato einzubinden. Bemühungen in dieserRichtung haben sich seit dem 11. September atemberaubend verstärkt. Wenn die Entwicklung

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so weiter geht, wird die Allianz mehr und mehr zum kollektiven Sicherheitssystem werden,dessen Berechenbarkeit und Stabilität allerdings zweifelhaft bleiben.

Was übrigens den Balkan angeht, werden die Europäer, vor allem die Deutschen, künftigwohl ohne die Amerikaner – und auch ohne die Briten – zurechtkommen müssen. Das wirdschwierig genug werden. Unerwartet fühlt man sich hundert Jahre zurückversetzt, ohne dassDeutschland in der Zwischenzeit auf diesem unwegsamen Gelände trittsicherer gewordenwäre.

Schon seit Beginn der Neunzigerjahre haben kluge Köpfe darauf hingewiesen, dass die Jahr-zehnte der Großräume und Blockbildungen trotz aller Globalisierung möglicherweise zu Endeseien. Das Staatensystem bildet sich offenbar zu jener Form internationaler, hoffentlich kulti-vierter Anarchie zurück, wie sie vor 1914 herrschte (freilich mit dem Unterschied, dass wirheute einen erneuten Weltkrieg wohl nicht befürchten müssen). Diese neue und zugleich ganzalte Lage schließt natürlich eine geregelte Zusammenarbeit größerer oder kleinerer Kreiseverwandter Staaten nicht aus. Ganz im Gegenteil legt die zunehmende ökonomische Ver-flechtung eine immer engere Kooperation nahe, ja zwingt zu ihr. Aber seitdem in Europa ei-nerseits die übermächtig scheinende sowjetische Bedrohung verschwunden ist und anderer-seits die Europäer insgesamt, anders als die Franzosen, nicht gewillt sind, der amerikanischenWeltmacht ähnlich energisch entgegenzutreten wie gestern Moskauer Machtambitionen,bleibt die politische Einigung unseres Kontinents sichtlich stecken. Eine Konfrontation zwi-schen Europa und den USA wäre in der Tat verhängnisvoll für unsere Interessen. Ohne denRückhalt der Vereinigten Staaten können wir Deutschen leicht innerhalb Europas erneut indie Isolierung geraten. Das ist selbst den Kritikern und Gegnern der Amerikaner mehr oderweniger deutlich bewusst. Daher beschränken sie sich auf zahnloses Maulen.

Europa hat außer moralisch hochwertigen Redensarten in der Welt außenpolitischer Realitä-ten wenig zu bieten. Ein Blick auf die Militärausgaben sagt alles. Die USA haben im Jahr2000 rund 294 Milliarden Dollar in die Verteidigung investiert, Frankreich und Großbritan-nien umgerechnet jeweils etwa 34 Milliarden Dollar und Deutschland – die mit Abstandstärkste Wirtschaftsmacht des Kontinents mit der größten Bevölkerungszahl – lediglich be-scheidene 28 Milliarden Dollar. Wer so wenig Geld in die Abwehr äußerer Bedrohungensteckt, kann bei Krisen in der weiten Welt wenig ausrichten. Er ist weder im Stande, die Ver-einigten Staaten wirksam zu unterstützen, noch in der Situation, durch einen BeistandsentzugWashington gegebenenfalls von waghalsigen Vorhaben abzubringen.

Seit dem 11. September sind die Institutionen gemeinschaftlichen Handelns in EU und Natoaußen- und sicherheitspolitisch so verblasst, dass man sie weitgehend ignorieren kann. Eszählen nur noch – oder wieder – allein die Staaten.

Diese Entwicklung wird Berlin stärker verunsichern als London oder Paris. Großbritannienund Frankreich, aber auch viele kleinere europäische Partner haben nach 1945 ihre eigenstän-dige Handlungsfähigkeit nie bezweifelt, sahen sie nicht in Frage gestellt. Die Bundesrepublikhingegen dachte und agierte jahrzehntelang wesentlich gemeinschaftsbezogen. Daher hattendie Deutschen nach der Rückgewinnung ihrer Souveränität 1990 sichtlich Mühe, eigene nati-onale Interessen zu formulieren.

Wir besitzen außerdem kein außenpolitisch geschultes, erfahrenes Führungspersonal, das an-deren westlichen Staaten vergleichbar, ihnen gewachsen wäre. Es ist bestürzend, wie wenigeinschlägige Experten in Regierung und Parlament zu finden sind. Dieser Mangel führt dazu,dass in Deutschland bisher weithin unbekannt bleibt, dass sich die transatlantischen Bezie-

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hungen in einer Krise befinden, die die üblichen Irritationen der vergangenen Jahrzehnte dra-matisch übertrifft.

Wenn wir uns nicht zu größeren Anstrengungen aufraffen, uns auf papierne Projekte und Re-solutionen beschränken, werden wir gemeinsam mit unseren europäischen Partnern das Ver-hältnis zu den USA ruinieren.

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Die fortwährende Relevanz der NATO

Robert W. Boehme

In der Folge der Terroranschläge vom 11. September erhoben sich auf beiden Seiten des At-lantiks Fragen über die Zukunft der NATO. Doch die Zukunft der NATO ist seit ihrer Grün-dung im Jahr 1949 immer wieder in Frage gestellt worden. Diese Debatten haben letztlichimmer zu einer Stärkung und Erneuerung des Bündnisses geführt. Sie sind normaler Be-standteil des Prozesses, mit dem demokratische Gesellschaften ihre Politik und ihre Institutio-nen auf den Prüfstand stellen und notwendige Anpassungen vornehmen. So sind auch bei derdiesjährigen Münchener Sicherheitskonferenz wichtige Themen angesprochen worden, wiedie angemessene Rolle der NATO im Kampf gegen den Terrorismus, die wachsende Kluftzwischen den USA und ihren Verbündeten bei den militärischen Fähigkeiten und Möglich-keiten der Stärkung transatlantischer Zusammenarbeit in den Rüstungsindustrien. Doch dieGrundprinzipien bleiben immer gewahrt: Die kollektive Verteidigung muss das Fundamentunserer Sicherheitspolitik bleiben, ebenso wie die transatlantischen Beziehungen von lebens-wichtiger Bedeutung für den Fortbestand der gemeinsamen Werte der NATO-Gemeinschaftsind.

Die gegenwärtige Diskussion hat vor allem für Deutschland wichtige Implikationen. DieBundesrepublik Deutschland ist in der Vergangenheit Hauptnutznießer der NATO-Präsenz inEuropa gewesen. Die NATO bildete den Rahmen für Deutschlands Integration in die transat-lantische Gemeinschaft in der unmittelbaren Nachkriegszeit und für seine Wiedervereinigungnach dem Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Krieges. Mit dem Rückhalt der Nordat-lantischen Allianz nimmt Deutschland eine immer bedeutender werdende diplomatische undmilitärische Rolle in Europa und in der Welt ein. Europa selbst hat sich verändert währendDeutschland in das Zentrum eines neuen, größer werdenden Europa gerückt ist. Gegenwärtigsteht Deutschland an der Spitze von NATO-Truppen in Mazedonien und Bundeswehreinhe i-ten sind integraler Bestandteil der internationalen Streitkräfte in Afghanistan. Ein Großteil dernoch in Europa stationierten amerikanischen Truppen befindet sich in Deutschland. Hier inBayern wird die fortdauernde Bedeutung der NATO durch die Präsenz größerer US Militär-verbände in Würzburg, Bamberg, Hohenfels und Grafenwöhr unterstrichen. Truppen aus die-sen Standorten sind an NATO-Operationen im Balkan aktiv beteiligt – nur wenige hundertKilometer von der Südgrenze Bayerns entfernt. Die NATO hat eine zentrale Rolle in diesensehr positiven Entwicklungen gespielt.

Die Kernaufgabe der NATO, die kollektive Verteidigung ihrer Mitgliedsstaaten, bleibt in derheutigen unsicheren Welt von größter Relevanz. Die NATO bildet ein wichtiges Element derKontinuität in dem ständigen Wandel, der Europa und die ganze Welt ergriffen hat. Seit demEnde des Kalten Krieges hat eine Erweiterungsrunde im Bündnis damit begonnen, jene Gren-zen zu verwischen, die Stalin quer durch Europa gezogen hatte; eine weitere solche Rundewird als Ergebnis des Prager Gipfels im November erwartet. Die NATO hat eingegriffen, umdem Krieg in Bosnien-Herzegowina ein Ende zu bereiten. Die NATO hat dem staatlich sank-tionierten Morden im Kosovo ein Ende gemacht. Die NATO hat neue Formen der Kooperati-on geschaffen: im Ständigen Gemeinsamen Rat mit Russland, in der NATO-Ukraine-Kommission, in der Partnerschaft für den Frieden und im Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat.Außenminister Colin Powell hat es in seiner Anhörung vor dem Kongress auf den Punkt ge-bracht: "Die Bedeutung der NATO wird ersichtlich durch die Tatsache, dass zehn Jahre nachBeendigung des Kalten Krieges Nationen noch immer danach streben, in das Bündnis aufge-nommen zu werden – nicht aber, es zu verlassen."

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Die eigentliche Frage ist deshalb nicht, ob die NATO überhaupt noch relevant ist, sondernvielmehr wie sie den neuen Herausforderungen begegnet, mit denen sie heute konfrontiertwird. Die Einbindung Deutschlands in den Fünfziger Jahren, die eindeutige Antwort auf diesowjetische Raketenrüstung in den Sechziger und Siebziger Jahren, die INF-Nachrüstung inden Achtziger Jahren als notwendige Antwort auf weitere sowjetische Rüstungsanstrengun-gen und der Zusammenbruch des Warschauer Paktes in den Neunziger Jahren waren Heraus-forderungen, die zu ihrer Zeit ebenso bedeutend waren wie diejenigen, mit denen sich dieNATO heute konfrontiert sieht. In all diesen Fällen hat sich die NATO der Situation erfolg-reich angepasst und eine wirkungsvolle Antwort gegeben. Zweifellos wird dies der NATO inder Auseinandersetzung mit dem internationalem Terrorismus und der Verbreitung von Mas-senvernichtungswaffen erneut gelingen. Ein erweitertes Bündnis, das gemeinsame Verteidi-gungs- und Einsatzplanungen vornimmt, die Interoperabilität seiner Mitglieder fördert undauf wirklichkeitsnahe Militärübungen drängt, wird in der Lage sein, wirksam auf Bedrohun-gen der internationalen Sicherheit zu antworten.

Die NATO im 21. Jahrhundert: Neue Fähigkeiten, neue Mitglieder, neueBeziehungen

Die schnelle und eindeutige Antwort der NATO auf die Anschläge des 11. September ist einBeweis für die fortdauernde Bedeutung der NATO. Durch die Ausrufung des Bündnisfallesnach Artikel 5 zum ersten Mal in ihrer Geschichte, hat die NATO ein deutliches Zeichen da-für gesetzt, dass die Allianz geeint und entschlossen ist den Terrorismus zu besiegen.AWACS Aufklärungsflugzeuge der NATO überwachen den Luftraum über amerikanischenStädten und ermöglichen so der US-AWACS-Flotte, ihre wichtigen Aufgaben im Auslandwahrzunehmen. NATO-Schiffe patrouillieren im östlichen Mittelmeer. Alle NATO-Mitgliedsstaaten gewähren uneingeschränkte Überflugrechte und Zugang zu Häfen und Mili-tärbasen; sie bieten Betankungskapazitäten und unternehmen verstärkte nachrichtendienstli-che Anstrengungen.

Streitkräfte der Alliierten und ihrer Partner beteiligen sich an der Operation Enduring Free-dom und an der International Security Assistance Force. Die Beiträge zur Operation EnduringFreedom umfassen weitreichende Luftaufklärung, Betankung, Fracht und Luftunterstützungs-aktionen, eine Vielzahl von Einsätzen von Sondereinheiten wie ABC-Spezialeinheiten, Mi-nenräumkommandos, Sanitätseinheiten, sowie eine große Anzahl alliierter Patrouillenschiffe.Fast alle Teilnehmer an der International Security Assistance Force, die derzeit unter brit i-schem Kommando steht und bald, so hoffen wir, unter türkischem Kommando sein wird, sindentweder NATO-Mitglieder, Anwärter auf NATO-Mitgliedschaft oder NATO-Partnerländer,die im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden mit der NATO üben und trainieren. Zusam-men haben diese Verbündeten und Partner fast 4.000 Soldaten nach Afghanistan entsandt.Fünfzig Jahre Kooperation im Rahmen der NATO haben solcher Zusammenarbeit den Weggeebnet.

Die Anschläge des 11. September symbolisieren eine umfassendere und langfristigere Bedro-hung für die nordatlantische Allianz. Diese Bedrohung beinhaltet auch den möglichen Einsatzvon Massenvernichtungswaffen. Kein Bündnispartner ist gegen diese doppelte Bedrohungimmun. Um dieser Tatsache Rechnung zu tragen, haben die NATO-Minister bei ihrem Tref-fen in Brüssel im vergangenen Dezember vereinbart, ihre gemeinsamen Bemühungen in dieseRichtung zu verstärken. Wenn Präsident Bush gegen Jahresende in Prag mit den Führern derBündnispartnern zusammentrifft, hoffen wir, dass diese bereit sein werden ein Aktionspro-

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gramm zu verabschieden, mit dem die NATO besser in die Lage versetzt wird, diesen Bedro-hungen zu begegnen.

Das Gipfeltreffen in Prag wird ein Meilenstein für unsere Anstrengungen sein, ein Bündnisfür das neue Jahrhundert zu gestalten. Unsere Agenda wird drei Punkte umfassen:

– Wir wollen sicherstellen, dass die NATO die Mittel und Möglichkeiten hat, die gegen-wärtigen Bedrohungen unserer Nationen abzuwehren.

– Die NATO-Mitgliedschaft soll auf weitere der jungen europäischen Demokratien aus-dehnt werden.

– Die Beziehungen der NATO zu Russland, der Ukraine und anderen Partnerstaaten sollenintensiviert werden.

Es ist kein Zufall, dass dieses neue Arbeitsprogramm, unter der Überschrift "neue Fähigkei-ten, neue Mitglieder, neue Beziehungen", die bei der Gründung der NATO im WashingtonerVertrag von 1949 niedergelegten Ziele wiederholt: die Freiheit, das gemeinsame Erbe und dieKultur unserer Völker zu sichern, mit allen Völkern und Regierungen in Frieden zu leben, unddie Stabilität und das Wohlergehen der nordatlantischen Region zu gewährleisten.

Neue Fähigkeiten

Das strategische Konzept der NATO sah schon 1991 vor, dass "die Sicherheitsinteressen desBündnisses durch andere Gefahren weitreichender Natur beeinträchtigt werden können, wiez.B. die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, die Unterbrechung der Versorgung mitlebenswichtigen Ressourcen, und Akte von Terrorismus und Sabotage". Das strategischeKonzept von 1999 wiederholte diese Aussage und stellte fest, dass neue Gefahren für Friedenund Stabilität im euro-atlantischen Raum deutlicher hervortraten: Unterdrückung, ethnischeKonflikte, die Proliferation von Massenvernichtungswaffen und die weltweite Verbreitungvon Waffentechnologien und Terrorismus.

Der sogenannte "capabilities gap" ist das schwerwiegendste langfristige Problem der NATO,das in Angriff genommen werden muss. Die NATO-Einsätze in Bosnien und im Kosovo ha-ben Defizite besonders bei jenen Fähigkeiten aufgezeigt, die für eine moderne Kriegsführungerforderlich sind, und sie haben die Diskrepanz zwischen den militärischen Fähigkeiten derUSA und ihrer Verbündeten schonungslos offen gelegt. Es gab zwar beim Washingtoner Gip-fel im Jahr 1999 ermutigende Gespräche, aber kaum Konsequenzen, wie die letzte Siche r-heitskonferenz in München im Februar 2002 deutlich gemacht hat. Die NATO-Bündnispartner brauchen flexible Einsatztruppen, die in der Lage sind, größere Entfernungenschnell zu überwinden und sofort überwältigende Feuerkraft zur Wirkung zu bringen. Ge-genwärtig verfügen die USA über den weitaus größten Anteil solcher Streitkräfte im Bündnis.Im Vergleich dazu sind die Fähigkeiten anderer Bündnispartner in so kritischen Bereichenwie Transport, Präzisionswaffen, Überwachung und Nachrichtenvermittlung, sowie Schutzvor biologischen und chemischen Kampfstoffen äußerst begrenzt. NATO-GeneralsekretärRobertson hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Lücke zwischen den USA und ihren europäi-schen Verbündeten zu schließen und will dies zu einem zentralen Thema des Prager Gipfelsmachen. Wir begrüßen solche Initiativen und werden unsere Bündnispartner weiter anhalten,ihre Verteidigungsanstrengungen darauf zu konzentrieren. Das bedeutet, die Verteidigungs-ausgaben zu optimieren und Mittel zu bündeln um gemeinsam das zu erreichen, wozu einzel-ne Bündnispartner alleine nicht fähig sind. Dies bedeutet auch wachsende Zusammenarbeitüber den Atlantik hinweg. Das Joint Strike Fighter Program z.B. ist ein Modell einer solchen

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Zusammenarbeit für mehr Effizienz zwischen den Vereinigten Staaten und einigen Bündnis-partnern. Aber diese Maßnahmen allein sind nicht ausreichend. Wenn es den BündnispartnernErnst damit ist, die Lücke zu schließen, dann müssen sie bereit sein, ihre Verteidigungsausga-ben wesentlich zu erhöhen.

Neue Mitglieder

Unser zweites Ziel für Prag ist die Fortsetzung des Aufbaus einer Euro-Atlantischen Gemein-schaft durch die Aufnahme jener jungen europäischen Demokratien, die ihre Entschlossenheitbewiesen haben, die Grundsätze von Demokratie, individueller Freiheit und Rechtsstaatlich-keit zu achten, die ihre Absicht deutlich gemacht haben, Stabilität zu fördern, und die ihreAnstrengungen für eine kollektive Verteidigung unter Beweis gestellt haben. Die Erweiterungbleibt nach dem 11. September eine der Prioritäten der Bush-Regierung. Um den Terrorismuszu besiegen, brauchen wir die umfassendste und breiteste Koalition der Ländern, die unserWertesystem teilen und in der Lage sind, erfolgreich mit uns zusammenzuarbeiten. Wenn dieFreiheit in Gefahr ist, müssen wir unsere Entschlossenheit demonstrieren, alles zu ihrer Wah-rung zu tun. Die Erweiterung des Bündnisses wird diese Demokratien stärken und die Regionder Stabilität und Sicherheit vergrößern.

Präsident Bush sagte im vergangenen Jahr in Warschau: "Yalta hat keine natürliche Teilungbestätigt, sondern eine lebendige Zivilisation zerschnitten." Er machte deutlich, dass es seinZiel ist, diese willkürlichen Trennungslinien auszuradieren und jede europäische Nation, dienach Demokratie, freien Märkten und einer zivilen Gesellschaft strebt, "im europäischen Hauswillkommen zu heißen". Der Erweiterungsprozess, der 1997 seinen Anfang nahm, hat dasVersprechen der NATO erfüllt und uns der Vollendung der Vision der NATO-Gründer voneinem freien und vereinten Europa nähergebracht.

Seit dieser Rede des amerikanischen Präsidenten in Warschau haben wir, gemeinsam mit un-seren Bündnispartnern, eng mit den gegenwärtig neun Beitrittsaspiranten zusammengearbei-tet, um ihnen bei ihren Vorbereitungen zu helfen. Nur so erreichen wir, dass die Länder, de-nen die Mitgliedschaft angetragen wird, zur Stärke und Vitalität des Bündnisses beitragenkönnen. Ein US-Team unter der Führung des amerikanischen NATO-Botschafters NicholasBurns hat erst kürzlich Reisen in alle neun Beitrittsländer unternommen, um zu unterstrei-chen, wie wichtig es ist, dass diese in den Monaten vor dem Prager Gipfel notwendige Re-formschritte in Angriff nehmen. Unser Ziel ist es, für diese historischen Entscheidungen einenfesten Konsens innerhalb der Allianz zu schmieden.

Im Hinblick auf die Fähigkeiten und Beiträge der neuen Mitglieder setzt der Vertrag von Wa-shington fest, dass die Länder, denen die Mitgliedschaft angeboten wurde, in der Lage seinsollten, für die Prinzipien des Vertrags einzutreten und zur Sicherheit der europäisch-atlantischen Region beizutragen. Viele der Aspiranten haben ihre Entschlossenheit, zur euro-atlantischen Sicherheit und Stabilität beizutragen, schon eindrucksvoll demonstriert. Die Vil-nius Gruppe (die neun Beitrittskandidaten) erklärte bei einem Treffen in Sofia im Oktoberletzten Jahres ihre gemeinsame Absicht, den "Kampf gegen den Terrorismus" zu unterstützenund "als Verbündete der Vereinigten Staaten zu handeln". Zudem haben sie als Einzelne alsde-facto Verbündete gehandelt, indem sie Überflugrechte gewährten, Transit- und Stationie-rungsrechte erteilten und die amerikanischen Anstrengungen sowohl mit militärischen undpolizeilichen Maßnahmen wie mit medizinischer Hilfe und Transportleistungen unterstützten.Die meisten von ihnen sind an der International Security Assistance Force in Afghanistanbeteiligt. Schon vor dem 11. September haben die meisten Beitrittskandidaten eine aktive

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Rolle bei den NATO-Bemühungen gespielt, weitere kriegerische Auseinandersetzungen imBalkan zu verhindern. Sieben der neun Länder haben für NATO-Operationen im Kosovo undacht haben für NATO-Operationen in Bosnien Soldaten zur Verfügung gestellt.

Die Beitrittsländer haben Jahrzehnte kommunistischer Herrschaft überwunden und stellen nunihre Fähigkeit und Bereitschaft unter Beweis, einen Beitrag zu unserer gemeinsamen Siche r-heit zu leisten. Die NATO-Mitglieder müssen nun bereit sein zu entscheiden, inwieweit jedeseinzelne dieser Länder dafür vorbereitet ist, die volle Bandbreite der Bündnisverpflichtungenzu erfüllen. Würden wir diejenigen, die dazu vorbereitet sind, nach dieser historischen Leis-tung nicht aufnehmen, würden wir jene Grundprinzipien aufgeben, die immer ein Quelle derStärke und der Lebensfähigkeit der NATO gewesen sind.

Neue Beziehungen

Unser drittes Ziel für Prag ist es, das Kernprinzip der NATO, mit allen Völkern in Frieden zuleben und die Stabilität im euro-atlantischen Raum zu sichern, weiter voranzubringen. Einesder Gründungsziele der NATO war ein vereintes Europa, von dem, wie Winston Churchilleinst sagte, "keine Nation auf Dauer ausgeschlossen sein sollte". Um diese Vision zu erfüllen,müssen wir weiterhin unsere Hand ausstreckt halten und die Zusammenarbeit und Integrationmit allen Partnern der NATO vorantreiben.

Die NATO und Russland haben Maßnahmen eingeleitet, um ihrer weit reichenden Zusam-menarbeit nach dem 11. September neuen Impetus und eine neue Richtung zu geben. Präsi-dent Bush hat Russland unsere Unterstützung zugesichert, solange es "umfassende Reformenund Demokratie in allen Bereichen und eine enge Anbindung an Europa" anstrebt sowie Part-nerschaften mit den großen europäischen Institutionen, einschließlich der NATO aufbaut. Beiihrem jüngsten Ministertreffen in Brüssel einigten sich die NATO-Partner darauf, einen neuenNATO-Russland Rat einzurichten, um gemeinsame Entscheidungen und Aktionen in Berei-chen, die für beide Seiten wichtig sind, zwischen Russland und der NATO zu erleichtern. DieAllianz hat in Brüssel hart daran gearbeitet, diese neue Institution soweit zu entwickeln, dasssie bis zum NATO-Ministertreffen im Mai dieses Jahres in Reykjavik voll funktionsfähig seinwird. Diese sogenannte "Zwanziger"-Beziehung wird gemeinsame Entscheidungen der ge-genwärtig 19 Mitglieder nicht beeinträchtigen. Sie wird auch nicht dazu führen, dass anderePartner marginalisiert werden. Vielmehr wird sie Russland die Möglichkeit eröffnen, an derEntwicklung kooperativer Mechanismen in von der Allianz vorgegebenen Bereichen teilzu-haben. Dazu gehören die Terrorismusbekämpfung, der Katastrophenschutz, die Luftraum-überwachung und gemeinsame Ausbildungs- und Übungsaktivitäten.

Unsere Vision der Kooperation in der NATO schließt sämtliche Partner ein, inklusive derUkraine, der kaukasischen und zentralasiatischen Länder und der Mittelmeer-Dialog-Staaten.Die NATO ist die einzige Institution, die den Kontinent in der Sicherheitskooperation verei-nen kann, und sie bleibt der Dreh- und Angelpunkt einer Erweiterung und Vertiefung euro-atlantischer Sicherheit. Wir wollen die Zusammenarbeit der NATO-Partnerstaaten mit jenenLändern Zentralasiens verstärken, die eine so konstruktive Rolle beim Kampf gegen den Ter-rorismus gespielt haben. Die Partnerschaft für den Frieden und der Euro-Atlantische Partner-schaftsrat (EAPC) haben erfolgreich als Integrationsträger fungiert, doch es kann noch vielmehr getan werden, um die Zusammenarbeit zwischen der NATO und diesen Ländern inner-halb dieser Kontexte voranzutreiben.

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Fast 53 Jahre nach ihrer Gründung bleibt die NATO Kern des amerikanischen Engagementsin Europa und das Fundament amerikanischer Sicherheit und Stabilität. Die NATO ist in derLage, neuen Bedrohungen zu begegnen, indem sie die Zusammenarbeit mit früheren Gegnernausbaut und für Stabilität in Südosteuropa sorgt, damit diese Region am europäischen Integ-rationsprozess teilhaben kann. Die Grundpfeiler der NATO – ihre gemeinsamen Werte unddie gemeinsame Verpflichtung zur Verteidigung der Freiheit – sind stark und unverrückbar.Diese Grundpfeiler sind im gegenwärtigen Kampf gegen Terrorismus und Massenvernich-tungswaffen relevanter denn je.

Es wartet viel Arbeit auf die transatlantische Gemeinschaft. Doch darin liegt die historischeChance unser Ziel der Verteidigung, Integration und Stabilisierung der euro-atlantischen Re-gion zu erreichen. Das Ziel eines Europas, geeint, frei und in Frieden wird Realität. DerNATO-Gipfel in Prag im November dieses Jahres wird ein weiterer Schritt in Richtung aufdie Realisierung dieses Ziels sein. Gleichzeitig wird seine Agenda der 'neuen Fähigkeiten,neuen Mitglieder und neuen Beziehungen' die Grundlage dafür schaffen, die Herausforderun-gen von morgen zu bestehen.

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NATO out of business?

Michael Staack

Die Geschichte der NATO ist eine Geschichte ihrer Krisen. Seit seiner Gründung (1949) siehtsich das Nordatlantische Verteidigungsbündnis vor die Aufgabe gestellt, Interessensgegensät-ze zwischen seinen Mitgliedern, besonders zwischen der Führungsmacht USA und den euro-päischen Alliierten, durch echte und oft auch durch Formelkompromisse zu überbrücken. Derlange Katalog der Krisen reicht vom anglofranzösisch-amerikanischen Konflikt über eineWiederbesetzung des Suezkanals (1956), den Austritt Frankreichs aus der Militärintegration(1966), die immer wiederkehrenden Debatten über transatlantische Lastenteilung seit den60er-Jahren, den Streit über Osthandel und Entspannungspolitik in den 70er- und frühen 80er-Jahren bis zur Abkopplungsdebatte im letzten Jahrzehnt des Ost-West-Konflikts, ausgelöstdurch Doppelbeschluss und SDI. Unmittelbar vor dem Ende der Blockkonfrontation, imFrühjahr 1989, drohte der Dissens über die von den USA geplante Stationierung neuer nukle-arer Kurzstreckenraketen sogar das 40. Jubiläum der Allianz zu überschatten. Es ist nahezuvergessen, dass der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher seinerzeit – zuRecht und mit Erfolg – eine Mehrheit der Verbündeten gegen das nicht mehr zeitgemäßeVorhaben der Führungsmacht mobilisierte. Ganz generell war die militärische Strategie derAllianz, insbesondere die angemessene Kombination von konventionellem und Militärpoten-zial, eine beständige Quelle transatlantischen Disputs, nahezu immer ausgelöst durch ein-schneidende, unilaterale Veränderungen der US-amerikanischen Militärstrategie.

Dennoch war die NATO erfolgreich. Ungeachtet aller Krisen hielt sie zusammen. Keines ih-rer Mitglieder ist je aus dem Bündnis ausgetreten. Die politische Strategie stimmte. Das seitdem "Harmel-Bericht" von 1967 verfolgte Konzept von Verteidigungs- und Verhandlungsbe-reitschaft leistete einen wesentlichen Beitrag zur Beendigung der stets hochgefährlichen Kon-frontation von Ost und West. Auf diese Weise wurde die Nordatlantische Allianz tatsächlichzum "erfolgreichsten Verteidigungsbündnis der Geschichte". Nach der Epochenwende1989/90 wurde sie nicht aufgelöst, sondern umgebaut für neue Aufgaben: Dialog und Einbin-dung der ehemaligen Gegner im Osten unter Einschluss der Russischen Föderation, Krisenre-aktion mit UN-Mandat in Europa und weltweit, transatlantisches Kooperationsforum unterveränderten Rahmenbedingungen. Zum 50. Jubiläum gab sich die NATO auch ein neues"Strategisches Konzept" (1999), in dem der internationale Terrorismus als bestehende Bedro-hung ausdrücklich benannt wurde. Ihre Attraktivität zeigte sich nicht zuletzt in der Außen-wahrnehmung: Die Mitgliedschaft in der NATO ist ein erstrebenswertes Gut. Frankreich nä-herte sich der militärischen Integration wieder an. Mit Polen, Ungarn und der TschechischenRepublik sind bereits 1999 drei neue Mitglieder hinzugekommen, eine zweite Erweiterungs-runde steht im Herbst dieses Jahres bevor. Auch der Prozess der Neubestimmung im Jahr-zehnt nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes wurde geprägt durch Konflikte und divergie-rende Interessen. Die Befürchtung, aus dem Konzept der "interlocking institutions" (NATO,EU/WEU, KSZE/OSZE) einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur würde die Realitätvon "interblocking institutions", war anfangs durchaus berechtigt. Gleichwohl hat sie sichnicht bewahrheitet.

Auch nach dem terroristischen Angriff auf die Vereinigten Staaten von Amerika am 11. Sep-tember 2001 reagierte die Nordatlantische Allianz schnell und angemessen. Dem Bekenntnispolitischer Solidarität mit der im eigenen "homeland" schwer getroffenen Führungsmachtfolgte, erstmals in der Geschichte der Allianz, die bis heute nicht widerrufene Feststellung desBündnisfalls. Operative Schritte folgten daraus nicht, weil sie nicht angefordert wurden. Zur

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Bekämpfung des internationalen Terrorismus bevorzugte die Administration von PräsidentGeorge Bush die bilaterale Kooperation, auch und gerade im militärischen Bereich. Auch alsKonsultationsforum wurde die NATO lediglich auf der Ebene der Routinestrukturen genutzt.Daran hat sich, mehr als ein halbes Jahr nach den verbrecherischen Anschlägen, nichts geän-dert. Die Frage drängt sich auf: Handelt es sich auch diesmal um eine neue Etappe in der lan-gen Reihe von NATO-Krisen oder gibt es diesmal wirklich eine neue Qualität, die den Zu-sammenhalt des Bündnisses ernsthaft gefährden könnte?

Ein Blick auf die Theorien der internationalen Politik kann die Antwort erleichtern. Der wis-senschaftliche Neorealismus hatte das Auseinanderfallen der NATO schon für die Jahre nachdem Ende des Ost-West-Konflikts prognostiziert. Aus der Sicht dieses Ansatzes bedarf eseiner überragenden Bedrohung, damit Staaten sich auf kürzere oder längere Frist zu einer Al-lianz zusammenfinden. Anderenfalls würden sie der Erweiterung ihrer HandlungsautonomieVorrang geben, folglich auf Bindungen verzichten, die den eigenen Handlungsspielraum be-schränken. Folgt man dieser Theorie, so ist eine Allianz ohne Gegner nicht überlebensfähig.Auf viele Bündnisse in der Geschichte trifft die Prognose zu. Im Fall der NATO hat sie sichals falsch erwiesen. Der alte Gegner hat spätestens mit der Auflösung der Sowjetunion (1991)die weltpolitische Bühne verlassen. Dennoch löste sich die Nordatlantische Allianz nicht auf,sondern definierte wichtige neue Aufgaben und öffnete sich für neue Mitglieder. Sie war– und ist – nicht mehr als klassisches Bündnis zu betrachten, sondern als eine spezifischeForm der Integration mit Kernfunktionen nach außen wie nach innen. Mit seinem Konzept der"pluralistischen Sicherheitsgemeinschaft" hat Karl W. Deutsch schon 1957 ("Political Com-munity and the North Atlantic Area: International Organization in the Light of Historical Ex-perience", Princeton/N.J.) ein die NATO zutreffend charakterisierendes Modell entwickelt.Nach seinem Verständnis zeichnet sich eine Sicherheitsgemeinschaft zwischen Staaten da-durch aus, dass sie Gewalt als Mittel zur Interessensdurchsetzung weitestgehend überwundenhat ("no war community"). Damit sich, darüber hinausgehend, eine pluralistische Sicherheits-gemeinschaft konstituieren kann, müssen drei weitere Bedingungen erfüllt sein:

– die Übereinstimmung ihrer Mitglieder in Bezug auf die grundlegenden politischen Werte(Wertekonsens);

– die Fähigkeit der beteiligten Regierungen bzw. politischen Entscheidungsträger, auf Be-dürfnisse, Aktionen oder Botschaften der Partner regelmäßig schnell und angemessen zureagieren, ohne gewaltsame Mittel in Betracht zu ziehen (gewaltfreie Problembearbei-tung);

– die gegenseitige Vorhersehbarkeit des politischen. ökonomischen und sozialen Verhaltens(Erwartungsverlässlichkeit).

Sie besteht aus den sie tragenden Gruppen in Regierung, Parlamenten und Gesellschaften, auseinem kontinuierlichen Prozess der politischen Kommunikation, aus institutionellen Mecha-nismen zur Durchsetzung von Regeln und deren Einhaltung.

Die NATO erfüllt alle diese Bedingungen. Sie ist eine Wertegemeinschaft, sie gewährleistetintern weitestgehend gewaltfreie Problemverarbeitung, sie schafft Erwartungsverlässlichkeitdurch beständigen Dialog und Konsultation. Ihre sicherheitsbildende Wirkung richtet sichnicht nur nach außen, sondern genauso nach innen. In gewissen Grenzen relativiert sie dashegemoniale Potenzial der Führungsmacht und fördert die Beteiligung der kleineren Verbün-deten. Auf Grund dieser Vorzüge stellte nach 1989 keines ihrer Mitglieder die Existenz inFrage. Als Sicherheitsgemeinschaft blieb sie unverändert attraktiv, auch ohne einen anderenGegner als regional begrenzte Unordnung und Instabilität.

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Vor diesem Hintergrund ist erneut zu fragen: Besitzt die gegenwärtige NATO-Krise eine an-dere Qualität als die zahlreichen Krisen der Vergangenheit? Dafür gibt es ernsthafte Anze i-chen. Es ist vor allem die Führungsmacht USA unter der Bush-Administration, die die Funk-tion der NATO zumindest vorübergehend in Zweifel zieht. Sie setzt – nicht erst seit dem 11.September – auf bilaterale Absprachen und "Koalitionen a la carte". Statt die Mechanismender Konsultation zu nutzen, bevorzugt sie unilaterale Entscheidungen. Ihre Bereitschaft,Kompromisse mit den Alliierten einzugehen, erscheint sehr eng begrenzt. Sie versteht dieNATO nicht als ständige Struktur der Information und Abstimmung, sondern als ein bei Be-darf zu aktivierendes Instrument. Eine ähnliche Haltung dominierte im Kongress der Verei-nigten Staaten bereits während der Clinton-Administration. Im Kongress herrscht nicht nurder Blick nach innen vor, sondern die Neigung, eigene Kräfte und eigene Durchsetzungsfä-higkeit zu über-, den Beitrag der Partner und der Sicherheitsgemeinschaft NATO aber zu un-terschätzen. Diese Positionen können selbstschädigende Folgen zeitigen. Amerikas europäi-sche Verbündete sollten darauf nicht durch beleidigten Rückzug oder durch Attentismus ant-worten. Stattdessen sollten sie von sich aus den transatlantischen Dialog suchen, selbstbe-wusst ihre Interessen wahrnehmen sowie den Ausbau ihrer außen- und sicherheitspolitischenFähigkeiten beschleunigen. Dazu gehört an vorderster Stelle die außenpolitische Koordinationinnerhalb der Europäischen Union, aber auch die zügige Umsetzung der Europäischen Si-cherheits- und Verteidigungspolitik. Die europäischen NATO-Partner müssen wieder mehrfür die Verteidigung leisten und diese Anstrengungen untereinander besser abstimmen, abersie sollten auch zukünftig ganz bewusst ihre "Spezialisierungsvorteile" im gesamtwestlichenVerbund beibehalten, und diese liegen bei konfliktpräventiven, politisch-diplomatischen so-wie wirtschaftlichen Strategien und Instrumenten. Über die Zukunft der NATO, so steht zuvermuten, wird nicht zuletzt in der amerikanischen Innenpolitik entschieden. Auf diese kannEuropa nur Einfluss nehmen, wenn es mit einer Stimme spricht – und auch das lediglich be-dingt. Joseph Nye, Harvard-Professor und Grenzgänger zwischen Wissenschaft und politi-scher Praxis, schreibt in seinem jüngst erschienenen Buch "The Paradox of American Power",dass Amerika führen, aber zugleich kooperieren müsse. Es sollte seine Politik nicht übermili-tarisieren und sich vor Hybris hüten. Die Kosten des Multilateralismus in der NATO und an-deren internationalen Organisationen würden aufgewogen durch seine gewichtigeren Vorteile.Der Macht Amerikas – so Nye weiter – seien auch heute Grenzen gezogen: "Unser Wunsch,alles im Alleingang zu machen, wird uns am Ende schwächen." Folgt man dieser Einsicht, soliegen die Konsequenzen für die Sicherheitsgemeinschaft NATO auf der Hand.

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The Future of NATO: Transforming not Withering

Emil J. Kirchner

It would be premature to speak of a withering of NATO. Substantial role adjustments after theend of the cold war, and its temporary neglect by the US in the Afghan conflict, should not beequated with a terminal decline of NATO. NATO's record in collective defence and sharedvalues will provide a continued lifeline for its survival. In addition, the fight against globalterrorism, or so-called rogue states, will be long and will present not only challenges but alsoopportunities for NATO to engage in collective security missions. However, it would bewrong to maintain that it is business as usual with NATO. There are three factors which areaffecting NATO's role, both in collective defence and collective security. Firstly, the changingnature of security threats, especially in the European context, has implications on states andalliances in collective defence terms. Secondly, the increased ability of the EU to act as a se-curity actor poses challenges to and adjustments of NATO, especially with regard to collecti-ve security. Thirdly, and possibly the most serious challenge for NATO to conduct collectivedefence and collective security, is the inclination by the US to resort to a unilateral instinct indefence and security matters entails. In the following, the three factors will be examined moreclosely and used for an evaluation of NATO's role.

Alliance Theory and the New Security Threats

Alliance theory has provided the framework for understanding not only the evolution of thepost-war European security order, but also the evolution of the European state system since1648.1 The contemporary debate on alliances has been framed by the question of whetherstates balance power, interests or threats.2 The traditional concern of the theory of alliances –the determination of which states will align with other states and the reasons for doing so – isnot particularly relevant to our understanding of contemporary European security. The con-temporary threats posed to European stability are generally aimed 'above' and 'below' the sta-te. Many of the new security challenges target the functioning of society or threaten societalintegrity; the state itself is largely bypassed as a target of threat. Other security challengestarget the governance structure of the European state system or the milieu goals of its mem-ber-states, particularly a continent dedicated to democracy and the market. The majority ofprobable threats to European security are likely to be perpetrated by non-state actors. No-netheless, only the state can discharge the important functional role of responding to thesedisparate security threats. In that sense the state remains alive and well. However, it makes

1 For the period 1648-1945, see William L. Langer, European Alliances and Alignments, 2nd edition (New

York: Random House, 1950); A.J.P. Taylor, The Struggle for Mastery of Europe, 1848-1918 (Oxford: Cla-rendon Press, 1954); Kalevi J. Holsti, Peace and War: Armed Conflicts and International Order, 1648-1989(Cambridge: Cambridge University Press, 1991); and Randall Schweller, Deadly Imbalances: Tripolarityand Hitler's Strategy of World Conquest (New York: Columbia University Press, 1998). For the post-warperiod, see Arnold Wolfers (ed.), Alliance Policy in the Cold War (Baltimore: Johns Hopkins UniversityPress, 1959); Robert Endicott Osgood, NATO: The Entangling Alliance (Chicago: University of ChicagoPress, 1962); George Liska, Nations in Alliance: The Limits of Interdependence (Baltimore: Johhns Hop-kins University Press, 1962); and Stephen Walt, The Origins of Alliances (Ithaca: Cornell University Press,1987).

2 These three approaches are represented by, respectively, Kenneth Waltz, Theory of International Politics(Reading: Addison-Wesley, 1978); Stephen Walt, The Origins of Alliances, and Randall Schweller, DeadlyImbalances.

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little sense to calculate whether European states, in seeking membership in NATO or the EU,are balancing against a threatening state or bandwagoning with a threatening state. Alliances,as either formal or informal institutions, are regarded as mechanisms for regulating disequi-libria in the international system. The new security agenda has rendered this debate under therubric of alliance theory somewhat beside the point: the state is neither the sole actor nor theprimary target of the threats posed to European security and stability. Consequently, state be-haviour can not be meaningfully categorized as either bandwagoning or balancing in the newsecurity environment since there is no specific antagonist that poses an unvarying source ofthreat.

The Link between EU and NATO

Many of the security threats, at least as perceived by Europeans, are of a non-military kind,involving ethnic conflicts, migratory pressures, organised crime, terrorist activities, and envi-ronmental degradation. As far as the European security environment is concerned many ofthese are situated in Central and Eastern Europe and are associated with economic deprivationand weak civil societies. It is in the interests of both NATO and the EU to deal with these newthreats, otherwise they may spread westward or transform into a system-wide threat. Howe-ver, a traditional alliance like NATO is ill-equipped to foster solutions to the dilemmas ofcollective action posed by these new security threats. In contrast, the EU system of governan-ce has advantages in this respect. First, the EU system of governance mitigates the porousnessof the European states' territoriality in a way that maximizes the benefits of continued open-ness and attenuates the contagion mechanisms that activate the new security threats. Second,the EU system of governance-particularly the offer of membership and the strictures of theacquis communautaire-prevents or dampens the prospects for weak civil societies, corruptstate structures, or the criminalisation of economies.3 Third, a reliance upon the EU system ofgovernance holds open the promise of integrating the 'old' and 'new' security agenda.

However, in spite of these potential advantages in foreign and security policy, the EU suffersfrom too much rhetoric and too little action when it comes to deal with international crisissituations. There are many instances where the EU has failed to be an effective internationalpartner, like the conflicts in the Gulf, Bosnia and Kosovo. It has somewhat rectified this pictu-re with the joint EU-NATO intervention in Macedonia, the uniformly solid backing of theU.S. after the attacks of 11th September4, and the widespread willingness for military engage-ment in Afghanistan. There now also exist structures and (planned) capabilities at EU level interms of the European Rapid Reaction Force (ERRF), the Civilian Police Force, and the vari-ous committees which have been set up to facilitate decisions on a European Security andDefence Policy (ESDP).5 Nonetheless, it has some way to go to be an effective actor in inter-national crisis situations and to establish the necessary collective capacity, especially withregard to military expenditures, air and sea logistics, and modern warfare technology.

3 For further analysis of this point see Dan Reiter, 'Why NATO Enlargement Does Not Spread Democracy',

International Security, 25:4, 41-67.4 Besides the aspect of solidarity with the US, the EU also agreed on a counter terrorist agenda, including a

common legislative framework on definitions of terrorism, and a European arrest warrant to replace natio-nal extradition procedures.

5 See Gilles Andreani, Christophe Bertram and Charles Grant, Europe's Military Revolution (London: Centrefor European Reform, 2001).

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Whether the EU will become a more effective actor in military matters depends partly on thepriority the EU intends to give to military as against non-military matters in the fight againstinternational terrorism, and partly on the U.S. preference for either unilateral or multi-lateralmilitary means, like NATO, for the same purpose. A number of scenarios, though interrelated,can be envisaged which will have implications on NATO's future role. A high priority on non-military means by the EU could not only impede moves to enhance its military capacity, butalso affect the contributions to NATO by some of the EU states, and undermine relations withthe U.S. On the other hand, by prioritising both non-military and military means, the EUcould increase its effectiveness in crisis management instances, strengthen collaboration withNATO (either through joint actions or complement its military capacity through the borro-wing of military assets and planning facilities) and promote its claim for equal status with theU.S. in transatlantic affairs. However, were the U.S. to insist on unilateral military action andlargely neglect NATO in the fight against international terrorism, this could not only weakenNATO directly, but could also result in a strengthening of an independent EU military capa-city, which indirectly could reinforce the decline of NATO. It is important to dwell on thesescenarios and their underlying reasons a bit more, especially the last one which has the grea-test potential implications for NATO.

The U.S. Factor

On September 12, 2001, NATO's 19 member countries invoked for the first time in the histo-ry of the alliance Article 5: ("an attack on one is deemed an attack on all")

Thanks, said the Pentagon: don't call us, we may call you. In practice this has meant the U.S.has not called on NATO support in the Afghan conflict. Instead, the U.S. has used UN Secu-rity Council Resolution 1368 as legitimation for a U.S. riposte to the attacks it suffered.6 Withits mainland violated for the first time in the history of the Republic, and as the world's onlyremaining superpower (a state unrivalled in political, military and economic power), the U.S.instinct is to confront its enemies everywhere on the battlefield.

It is this notion of "everywhere on the battlefield" which is causing concern in European-American relations and signals differences in the perception of and response to securitythreats. Whereas the Americans seek to respond to the proliferation of weapons of mass de-struction, including nuclear as well as chemical and biological, and to terrorist activities a-nywhere on the globe,7 the European countries largely have a regional perspective, and confi-ne their concerns primarily to the consolidation of the EU and to its enlargement. Whilst theU.S. has chosen military means as the main weapon in the fight against international terro-rism, the Europeans favour diplomatic dialogue, political accommodation and positive eco-nomic incentives to address the potentially destabilising behaviour of so-called "failed sta-

6 In its emergency meeting the EU backed a "legitimate" US right to retaliate with "targeted" actions.

7 US has strengthened relations with Russia, China, Pakistan and India. Established a network of forward

bases stretching from the Middle East across the entire length of Asia, from the Read Sea to the Pacific. Theaim is to provide platforms from which to launch attacks on any group perceived by the US administrationto be a danger to the US. As well as bases, the US is sending in military advisers to a host of countries, e.g.the Philippines and Yemen. Also send 200 advisers plus Huey helicopters to Georgia to help battle elementsof al-Qaida as well as Chechen rebels

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tes". 8 Americans prefer self-reliance (e.g. missile defence) or a unilateral course, and see mul-ti-lateralism and international treaties as undue constraints on America's ability to have itsown way. 9 It is these concerns, together with the constraints perceived from NATO's unani-mous decision-making procedure, which have motivated the U.S. not to fight with the aid ofthe allies; perceiving them to get in the way or limit America's room for manoeuvre. Incontrast, European countries seek to rely primarily on international institutions, regimes andnorms in the fight against international terrorism.

In line with the proclivity to rely on sheer power and unilateral instinct, the U.S. has increasedits military budget for 2003 by 48 $billion, a rise of 14t%. This has created an almostunbridgeable gap with the military spending of its European allies. This gap is particularlyworrying with regard to research and development: whereas the U.S. spends about $28,000 onresearch and development for each member of its armed forces, the European average is about$7,000. The consequence of this divergence is as Kori Shake of the U.S. National SecurityCouncil notes: "Few European armed forces have the capability to contribute substantially tohigh-intensity combat operations of the kind the U.S. is carrying out; they lack the equipmentand as a result operate very differently from U.S. forces". 10 The growing gap in militarytechnology between the U.S. and Europe has resulted in questions as to whether NATOcountries can ever fight together again. According to Nicholas Burns, U.S. Ambassador toNATO, "without dramatic action to close the capabilities gap, we face the real respect of afuture two-tiered alliance, and risk an alliance that is so unbalanced that we may no longerhave the ability to fight effectively together in the future". 11

Whilst there is indeed fear of that this could happen, mechanisms and efforts to prevent it arein short supply. Whereas formerly the cold war was a binding element, combining security,political and economic interests, the post-cold war period, and especially the events of 11th

September have contributed to diverging interests between the Europeans and the Americans.A few examples will help to illustrate this point. For some in the U.S. administration theESDP wastefully duplicates the NATO alliance without adding military punch. Some Euro-peans in turn maintain that the U.S. idea of burden-sharing is to get its allies to take up moreof the burden so that it can tell them where to carry it. Another European argument voiced isthat the Americans do not want a stronger ESDP, because it would enable the Europeans todemand a much more powerful vo ice in decision-making.

Neither side seems to stress, at least explicitly enough, the need for" interoperability" betweenallies, meaning compatible equipment and doctrines that would make NATO forces seamlessin combat. Rather both seem determined to maintain (in the U.S. case) or to reach (in the Eu-ropean case) either a leading or independent position with respect to the other. On the U.S.side this can be observed through efforts on missile defence, disproportionate outlays in mili-

8 Wyn Q. Bowen, 'Missile defence and the transatlantic security relationship', International Affairs 77:3

(2001), 485-507; and William Wallace, 'Europe, the necessary partner', Foreign Affairs 80:3, March-June2001, 22-3.

9 Ivo H. Daalder, 'Are the United States and Europe heading for divorce?', International Affairs 77:3 (2001),553-567.

10 Quoted by Alexander Nicoll, 'US military might gains greater power from anti-terror campaign', The Finan-cial Times, 7.2.2002

11 Ibid.

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tary expenditures, technological advancement, and lack of intelligence sharing. 12 On the Eu-ropean side, efforts to close the gap with the Americans on satellite intelligence gathering areequally revealing. Europe relies on America's satellite based Global Positioning System(GSP) to target precision weapons and locate enemy and friendly forces. In December 2001,the Pentagon warned the Europeans against developing Galileo – an alternative, independent,navigation system of 30 satellites, estimated to cost $3 billion. The Pentagon argued that be-cause Galileo did not incorporate the latest technology (i.e. American), an enemy could turn itagainst the event of a war. The U.S., meanwhile, is embarking on a secret $25 billion projectfor a new network of spy satellites.13 The implications of launching the Galileo project are farreaching. As Layola de Palacio, EU Commissioner responsible for the project explained "Ga-lileo is indispensable for European industry, for technological capacity, but also for other is-sues, such as autonomy and sovereignty". 14 Whilst being made available free of charge at themoment, there are concerns that the U.S. could turn off the GPS to other nations,15 either bydegrading the quality or charging for the signals. Galileo, which is a civil programme andunder civil control, is a key test of whether Europe can handle a large complex technologythat offers an alternative vision to the U.S.

Whilst Europeans should pay some attention to the issue of interoperability and duplication, itis also important for the Americans to realise that reducing Europe's dependence doesn't redu-ce its desire to work with the U.S. Given that the assets that the EU is most likely to need arealso in short supply in U.S. forces, Kori Shake sensibly suggests that the EU should focus onequipment and technology that would improve on the tasks it can do, such as peace keeping –even if this involved duplicating U.S. assets.16 In her view, at the tactical level, the EU peace-keeping missions are likely to require unmanned aerial vehicles as well as Airborne EarlyWarning and Command (AWACs) aircraft. EU countries could save money by pooling thecost of developing these systems, and then run them as EU squadrons, just as NATO has itsown AWACs aircraft. Provided that these EU units were also available to NATO, they shouldpose no political problems. Such a move would increase Europe's military options in a crisisand make it less dependent on the U.S, and could reduce the burden on heavily taxed U.S.military assets. This view is echoed by Andreani et al who suggest that "Europe should notseek to mimic the U.S. approach but forge its own strategy and style, develop own know-howand capabilities in peace keeping, learn to integrate the use of force with soft power instru-ments, and accept confrontation when necessary, while recognising its limits". 17

The EU will continue to rely on peacekeeping activities and will complement these with otherpolicies, such as the recent preferential trade package for Pakistan. However, by relying onpeacekeeping activities, the EU indirectly promotes an unequal division of labour with theU.S. If this division of labour became too engrained it could affect transatlantic solidarity. Asthe Secretary General of NATO, George Robertson, has warned: "Transatlantic solidarity is

12 The US has not trusted many European intelligence agencies to share its secrets in the past. On the one

hand, European agencies need to prove they are secure. On the other, American counterparts have been overanxious to protect their technology and sources.

13 Richard Norton-Taylor, 'Top gun – and the rest', The Guardian, 13.2.02.

14 Quoted by Richard Norton-Taylor, 'Top gun – and the rest', The Guardian, 13.2.02.

15 The GPS service was suspended during the Gulf war in 1991.

16 Kori Shake, Constructive Duplication: Reducing EU reliance on US Military Assets (Centre for EuropeanReform, Working Paper, January 2002).

17 See Gilles Andreani, Christophe Bertram and Charles Grant, Europe's Military Revolution (London: Centrefor European Reform, 2001: 76).

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bound to break up, if the Americans fight from the sky and the Europeans fight in the mud"e.g. putting peacekeepers on the ground.18 Yet since the Europeans do not have the resourcesto fight the U.S. on its own ground –hi-tech military hardware- there seems to be no alternati-ve. It can therefore be safely assumed that the U.S. military position will continue to provokeanger, admiration, ambivalence and resentment by its European allies.

The Future of NATO

A number of points can be made about NATO's future:

Firstly, one principle task of NATO remains to bind the U.S. into Europe's security arrange-ments. The U.S. and Europe still form a pluralistic security community; one in which basicvalues are unquestionably shared and the use of force to resolve differences is by definitionexcluded.19

Secondly, NATO will continue to preserve the form of the transatlantic security guarantee andto extend it to the new democracies of Eastern Europe. Its military expertise may also endure,though not to fight wars against a common enemy. Instead, it may emerge as a militarycontractor for coalitions of the willing", e.g. to command the international stabilisation forcein Afghanistan. 20

Thirdly, NATO has been transformed into a security-shaping organisation – and is no longerpurely a defence alliance

Fourthly, the extent to which NATO will transform towards a security organisation will besignificantly affected by NATO's enlargement and especially relations with the Russian Fede-ration. NATO enlargement offers two very different views of the future. NATO may remainan alliance dedicated to the task of collective defence. This future evolution would precludethe enlargement of the alliance into the territory of the former Soviet Union, with the excepti-on of the three Baltic states (Estonia, Latvia and Lithuania). In this scenario, the Americansecurity guarantee would remain undiluted and intact, the Russian Federation would remainthe putative adversary of the alliance and be treated as the most likely challenger of the Euro-pean status quo even in an otherwise cooperative environment, and American leadership anddominance in the alliance would remain largely intact. The alternative institutional futurewould be a NATO transformed into a collective security organisation in which the RussianFederation and the European states of the former Soviet Union would be members. Such adevelopment would have several untoward consequences for European stability: first, itwould dilute, if not invalidate, the American security guarantee; second, NATO itself wouldbe transformed from a defensive alliance into a substitute for the Organisation for Securityand Cooperation in Europe with the attending governance problems, particularly the unit veto;third, American dominance would come to an effective end owing to the combination of inc-reased size and heterogeneity of membership; finally and most problematically, an Americaninability to control the evolution of either NATO or the European security order could lead tostrategic retrenchment or unilateralism or both.

18 Quoted by Richard Norton-Taylor, 'Top gun – and the rest', The Guardian, 13.2.02.

19 See Mary Hampton, 'NATO at the Creation', Security Studies, 4:3 (Spring 1995)

20 See Philip Stephens, 'blind to the world's dangers', The Financial Times, 8.3.02.

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Developments in Russia-NATO relations in the spring of 2002 indicated that NATO was mo-ving closer towards a collective security organisation. The Russian Federation was offerednearly equal status in the North Atlantic Council, but denied a veto.21 This would enable theRussian Federation to participate in NATO peacekeeping operations, to contribute to the ex-change of information over weapons of mass destruction between the two bodies, and to pro-vide aid to NATO sea and air rescue missions. Moreover, if the Russian Federation were tojoin NATO, it would presumably stay outside the military structure.

Fifthly, there can be little doubt that an Alliance with less U.S. military involvement and withmore involvement from former Warsaw Pact members will be a very different actor from thebody founded in 1949 and even from the body reinvented in April 1999.22 Yet, the end of theEast-West conflict and the goal of constructing a Euro-Atlantic community imply that NATOmust make the difficult transition to a collective security organisation. However, such an e-volution, were it not matched by a parallel evolution of the EU toward a de jure and de factosovereignty, would disrupt the institutional context which fortified the long post-war peaceand has sustained it since 1989.

21 To deal with a serious stalemate in the North Atlantic Council, the alliance would introduce a system of

"retrieval", a safeguard mechanism allowing an issue to be withdrawn if consensus proves impossible. SeeJudy Dempsey, 'NATO woos Russia with offer of closer relations', The Financial Times, 25.2.02.

22 Jolyon Howorth, CESDP after 11 September: From Short-term Confusion to Long-term Confusion?, Euro-

pean Union Studies Association Review, vol. 15, No1, Winter 2002, p.3.

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Was wird aus der NATO?

Stefan Fröhlich

Der 11. September hat nach Einschätzung vieler Experten zu einem Bedeutungsverlust desBündnisses geführt, zumindest dessen Charakter entscheidend verändert.1 Abgesehen davon,dass die Beistandspflicht nach Art. V des NATO-Vertrages ausgerufen wurde, ist der Ein-druck weit verbreitet, die NATO sei im Feldzug gegen den internationalen Terrorismus irre-levant – nicht nur, weil die Amerikaner diesmal allein handelten, sondern auch weil lediglichzwanzig Prozent des Kampfes gegen asymmetrische Bedrohungen wie den Terrorismus mili-tärischer Natur sind. Der Rest hat mit Polizeiarbeit, Einwanderungsfragen, Auslieferungsver-fahren und Maßnahmen zur Vernichtung der Finanzquellen von Terrororganisationen zu tun.

Dieser Eindruck ist nicht nur falsch, er ist für die westliche Allianz auch gefährlich. Ganzunabhängig von der Entscheidung Washingtons, wie es reagieren wollte, ließ sich vieles ebennur mit Hilfe der NATO organisieren: die breite politische Unterstützung, die Freigabe desLuftraumes, der Zugang zu Flugplätzen und Häfen. Wenn dennoch der Eindruck entstand, dasBündnis sei in diesem Kampf überflüssig, so hatte dies auch damit zu tun, dass natürlich dernotwendige Zugang zu Luftraum und Stützpunkten in Zentralasien und Südostasien eine weitbreitere Koalition erforderte. Im Übrigen gilt: Nur weil in Afghanistan die militärischen Fä-higkeiten und Strukturen der NATO nur begrenzt gebraucht wurden, heißt das noch nicht,dass sie künftig auch in anderen Konfliktszenarien irrelevant wäre.

Allerdings wäre eine stärkere NATO-Komponente in dem Krieg schon deshalb wünschens-wert gewesen, weil auf diese Weise die europäischen Restriktionen für NATO-Einsätze hin-fällig geworden wären. 2 Die NATO wäre jenseits der europäischen Peripherie tätig geworden,als Verteidigungs- und Ordnungsmacht. Dem Bündnis wäre im Rahmen der geltenden Ver-träge die dringend notwendige neue politische und militärische Rolle zugewachsen; sie wäredurch einen solchen Einsatz entscheidend gestärkt worden. Diese Chance ist nicht genutztworden. Dennoch führt an einer solchen Entwicklung, wie sie von den Amerikanern ge-wünscht wird, kein Weg vorbei. 3 Die NATO leidet vor allem unter den unterschiedlichenGestaltungsvorstellungen künftiger euro-atlantischer Sicherheitspolitik auf beiden Seiten undden extremen militärischen Ungleichgewichten im Bündnis. Über beide Aspekte müssen Eu-ropäer und Amerikaner eine vertiefte Debatte führen.

Konsens besteht hingegen hinsichtlich der folgenden sechs Funktionen des Bündnisses:

– Die NATO ist und bleibt die wichtigste Institution zur Sicherung des Einflusses und derPräsenz der USA in ganz Europa.

– Die militärische Präsenz erfüllt eine für beide Seiten fundamentale geostrategische Funk-tion, weil die in Europa stationierten amerikanischen Kräfte als Einsatzbasis für den Na-

1 Foster, Anthony/Wallace, William: What is NATO for?, in: Survival, 43, 4 (Winter 2001), S.107-122.

2 So Klose, Hans-Ulrich: Deutschland in seiner internationalen Verantwortung – Herausforderungen an diedeutsche Sicherheitspolitik, in: Clausewitz-Information, H.2, 20.2.2002, hrsg. v.d. Führungsakademie derBundeswehr.

3 Fröhlich, Stefan: Der Ausbau der europäischen Verteidigungsidentität zwischen WEU und NATO, in: ZEIDiscussion Paper, C 19 (1998), S.28.

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hen Osten und die Golfregion dienen. Dies hat sowohl der Golfkrieg wie auch die Koso-vo-Intervention gezeigt. Dies hat aber selbst die Verlegung des Ständigen Einsatzverban-des der NATO im Mittelmeer und die Entsendung von Awacs-Flugzeugen in die USA imRahmen des Einsatzes gegen das Taliban-Regime in Afghanistan gezeigt.

– Das Bündnis ist das zentrale Konsultationsforum, um amerikanische Sicherheitspolitikmultilateral einzubinden.

– Die Fähigkeit zur kollektiven Selbstverteidigung (Art. 5), die auch im neuen strategischenKonzept zu den Hauptaufgaben zählt, stellt unverändert eine residuale Sicherheitsvorsorgedar, auch wenn die Hauptbedrohungen für das Bündnis heute anderer Natur sind.

– Die militärische Integration des Bündnisses ist nach wie vor das einzige wirklich funktio-nierende Instrument zum Krisen- und Konfliktmanagement für Konflikte und Krisen inEuropa und dessen Peripherie.

– Die ordnungspolitische Gestaltungsaufgabe im Rahmen der Osterweiterung war und istdie zentrale neue Zweckbestimmung der Allianz; die NATO ist Stabilitätsinstrument undWunschpartner für die Beitrittskandidaten.

Die Erfüllung dieser Funktionen allein ist Grund genug für die Existenzberechtigung derNATO. Sie zeigt vor allem, wie sehr erstens das Bündnis die entscheidende institutionelleKlammer zur Bindung der USA an Europa ist und dass zweitens eine Vielzahl der EU-Beitrittskandidaten – vor allem solche mit keiner unmittelbaren Beitrittsperspektive – gleich-sam mit Nachdruck die Mitgliedschaft in der NATO anstreben. Gerade mit Blick auf die imHerbst 2000 anstehende, zweite NATO-Erweiterungsrunde ist die stabilisierende Funktion fürdas krisenbelastete Umfeld von Staaten wie Bulgarien, Rumänien oder Litauen von zentralerBedeutung. Eine Mitgliedschaft würde nicht alle Probleme lösen, aber sie würde der NATOeine viel unmittelbarere Präsenzberechtigung beispielsweise in Mazedonien, in Bosnien oderim Kosovo geben, wo das Bündnis seine Funktionsfähigkeit bereits bewiesen hat; abgesehendavon würde sie die USA an solche Krisenherde binden, solange die Europäer ihre militäri-schen Fähigkeiten ausbauen. 4

Neben dieser zentralen Funktion erwachsen dem Bündnis vor allem drei wesentliche Reform-aufgaben: der Kampf gegen den internationalen Terrorismus, der nicht zwangsläufig in jedemFall eine Reaktion der NATO zur Folge haben muss (Stichwort: "mehr Flexibilität"); dasSchließen der militärischen Lücke durch die Europäer bzw. Klärung der Frage nach demkünftigen Entscheidungszentrum für die europäische Sicherheit (Stichwort: "militär-technologisches Ungleichgewicht"); die Definition gemeinsamer, vitaler Interessenzonen(Stichwort: "strategische Reichweite" des Bündnisses).

1. Die NATO muss den Kampf gegen den Terrorismus als zentrale Aufgabe begreifen, auchwenn die Verteidigung gegen solche asymmetrische Bedrohungen nicht zu deren raison d‘êtrewerden darf. Sie hat dem bereits in ihrem Strategischen Konzept entsprochen und den Kampfgegen den Terrorismus zu den prioritären Aufgaben erklärt. Seit dem Washingtoner Gipfelbemüht sich das Bündnis, seine Fähigkeiten zur Aufklärung und Bekämpfung biologischer,chemischer und radiologischer Angriffe zu verbessern. Bereits jetzt zählt das Bündnis aufGrund seiner militärischen Fähigkeiten und als Koordinationsstelle zum Austausch von In-formationen zu den wichtigsten Organisationen im Kampf gegen den Terrorismus.

2. Die Europäer müssen sich mit Nachdruck der Aufgabe stellen, ihre militärischen Fähigkei-ten zu verbessern, wollen sie ein gleichwertiger Partner der USA im Bündnis sein. Andern-

4 Hopkinson, William: Enlargement: A New NATO, Chaillot Papers 49 (Oktober 2001), hrsg. v. WEU Insti-

tute, S.98f.

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falls werden die USA, die über diesen Punkt ebenso pragmatisch wie emotionslos denken, dasInteresse am Bündnis verlieren. Schon heute können die Amerikaner in vielen Fällen aufGrund der technologischen Lücke mit den Europäern gar nicht mehr gemeinsam operieren, jaihre Fähigkeit zur Bewältigung einer Krise kann dadurch sogar eingeschränkt werden. Dieverbleibende politische Rolle der NATO wird ohne die dominante militärische Bedeutung desBündnisses über die Jahre geringer werden, weil Anspruch und Wirklichkeit zu stark ausei-nanderklaffen. 5 Eine Aufgabenteilung, wonach die Amerikaner für die Hightech-Einsätze, dieEuropäer hingegen für die "einfachen" Aufgaben zuständig sind, schadet der Allianz in jedemFall.

Deshalb ist es auf Dauer unerlässlich, dass die Europäer mehr Investitionen in ihre militäri-sche Fähigkeiten tätigen; dies gilt gleichermaßen für die Schlüsselbereiche Aufklärung,Transport und mobile Präzisionswaffen. Obwohl die Europäer bis 2003 über eine SchnelleEingreiftruppe verfügen wollen, wird vieles nach Einschätzung von Militärexperten erst imJahr 2012 oder 2015 zur Verfügung stehen. Die Stärkung der militärischen Fähigkeiten sollteallerdings im Rahmen der NATO erfolgen, andernfalls bekommt das Bündnis eine Bruch-stelle. Damit würde die jeder Bündnisverpflichtung innewohnende Gefahr verschärft, durchdie Auslösung des Bündnisfalls aus amerikanischer Sicht praktisch "ungewollt" in Konflikteverwickelt zu werden. Autonomie darf daher nur heißen, dass die EU in einer europäischenKrise handelt, nachdem die USA im Rahmen des NATO-Entscheidungsprozesses mit be-schlossen haben, sich nicht zu beteiligen, aber die EU auf NATO assets zurückgreifen kann.

3. Die USA haben schon auf dem Washingtoner Gipfel 1999 angestrebt, die Allianz künftigauch als Instrument für Aufgaben außerhalb Europas auszurichten. Die Verständigung auf die"Peripherie Europas" stellt lediglich einen vagen Reichweitenkompromiss im neuen Strategi-schen Konzept dar. Dass die Europäer noch auf längere Sicht nicht in der Lage sein werden,Krisenmanagement in größerem Umfang durchzuführen, ändert nichts daran, dass Washing-ton eine Beteiligung Europas an einer strategischen Partnerschaft einfordert. Das Anliegen,der EU deutlich zu machen, dass europäische Interessen auch im Nahen Osten und PersischenGolf, im Kaukasus oder im erweiterten Mittelmeerraum tangiert sind, wird weiterhin beste-hen.

Die Herausforderungen für den künftigen Bestand des Bündnisses liegen demnach vor allemauf europäischer Seite. Man braucht kein Prophet zu sein, um andernfalls über kurz oder langeinen deutlichen Wertverlust des Bündnisses und womöglich auch Europas aus amerikani-scher Sicht vorherzusagen.

5 Vgl. Colin Powell im Interview, in: Financial Times, 14.2.2002.

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Welche Zukunft für die NATO?

Edwina S. Campbell

In den sechs Monaten seit dem 11. September 2001 hat eine Diskussion über die Zukunft destransatlantischen Bündnisses angefangen, deren Themen schon vor dem Angriff auf die USAvoraussehbar waren, die niemand aber ansprechen wollte. Im Frühjahr 2001 wurden Sym-ptome der transatlantischen Ennuie diskutiert, die Kernfrage blieb aber unberuhigt: welcheRolle die NATO-Mitgliedschaft in der Außen- Sicherheits- und Verteidigungspolitik des je-weiligen Mitgliedsland noch spielte ein Jahrzehnt nach Ende des Kalten Krieges. Niemandwar bereit, die Wahrheit zu sagen, dass im Vergleich zu den Jahren 1949-89, ihre Rolle inne r-halb des Bündnisses nicht mehr von den Mitgliedsländern als zukunftsbestimmend einge-schätzt wurde. Es war eher der Fall, dass die Europäische Union (EU) diese zukunftsbestim-mende Rolle für die europäischen Bündnispartnern übernommen hatte, während die Verei-nigten Staaten in den 90er-Jahren langsam zu der Überzeugung gekommen waren, dass ihregroßen außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen im neuen Jahrhundert außerhalbEuropas und ohne Hilfe der Europäer gemeistert werden müssten.

Doch in den ersten Tagen nach dem 11. September schienen die gegenseitigen Enttäuschun-gen des Frühjahrs widerlegt zu sein. Die schnelle und scheinbare "uneingeschränkte" Unter-stützung der Alliierten im Nordatlantischen Rat, die Erwähnung des Artikels 5 des Nordat-lantischen Vertrags, waren ursprünglich von den Amerikanern als Zeichen empfunden, dassdie Europäer die gleiche Lagebeurteilung, die gleiche Drohungsanalyse als die USA akzep-tierten. Dies zeigte sich schon vor Ende des Jahres als ein falsches Bild. In der Tat gab es gro-ße Unterschiede, wie Amerikaner und Europäer die Gefahren einschätzten und was sie voneinander erwarteten. Die NATO ist historisch erfolgreich gewesen, weil sie auf der Basis ei-ner gemeinsamen Drohungsanalyse gegründet und aufgebaut worden ist, die aber nicht mehrexistiert. Die heutige transatlantische Kluft, was die Bewältigung der neuen Risiken betrifft,droht eher das Bündnis zu sprengen.

Krieg. Feind. Worte die die Deutschen sehr ungern hören. Dass im Krieg gegen einen Feindgekämpft werden muss, dass es keine Alternative gibt, auf bestimmte Herausforderungen mi-litärisch zu reagieren, ist immer noch kaum begreiflich im Kontext der bundesdeutschen au-ßenpolitischen Diskussion, wie sie sich seit dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat. Die Bun-desdeutschen redeten 35 Jahre lang vom "Friedensdienst" der Bundeswehr, von den trennen-den "Feindbildern" zwischen Ost und West. Die Hauptaufgabe der NATO wurde schon in den70er-Jahren uminterpretiert als Instrument der Entspannungspolitik zu sein, die ursprünglicheVerteidigungs- und Abschreckungsrollen wurden beiseite geschoben, sogar teils vergessen.Aus dieser Vergessenheit wuchs die Doppelbeschlusskrise der 80er-Jahren – weil die Ameri-kaner immer noch die Hauptaufgaben des Bündnisses als Verteidigung und Abschreckungsahen. Und sie tun es noch heute, aber mit weniger Hoffnung, dass die NATO in der Lage ist,diese Aufgaben zu bewältigen.

Hat man nicht seit zehn Jahren die falsche Frage gestellt – wie kann man die NATO retten?Während der 90er-Jahre schien niemand daran zu denken, dass das Bündnis ein Mittel war,bestimmte Ziele zu erreichen, die zwischen 1989-91 tatsächlich erreicht worden sind. Wäre esnicht klüger gewesen, nach Ende des Kalten Krieges sich zu fragen, welche Ziele wir jetzterreichen wollten, und welche Mittel notwendig wären, um dies zu tun? Stattdessen gab esden etwas peinliche Spruch, "out of area or out of business," als ob die Alliierten sich neueKunden (Krisen) wünschten, um das alte Geschäft aufhalten zu können. Kundschaft fanden

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sie leider reichlich in Ex-Jugoslawien. Aber sie entdeckten auch 1999 in der Luft über Koso-vo und Belgrad, dass der Mangel eines transatlantischen strategischen Konsens doch dazuführen könnte, dass man "out of area" und trotzdem "out of business" würde.

Zur gleichen Zeit versuchten deshalb die Bündnispartner mit der NATO-Erweiterung, undnicht mit "out of area" Aufgaben, einen neuen transatlantischen Konsens zu Stande zu brin-gen. Dies schien vorübergehend erfolgreich zu sein, da die EU in den 90er-Jahren nicht bereitwar, den ehemaligen Warschauer-Pakt Ländern die EU-Mitgliedschaft anzubieten. Mit derPartnerschaft für den Frieden und der NATO-Mitgliedschaft für Polen, Ungarn und dieTschechische Republik spielte die NATO die Integrierungsrolle, die ursprünglich die osteuro-päischen Staaten von der EU erhofft hatten. Diese NATO-Rolle war auch der deutschen Au-ßenpolitik sehr bequem, weil sie an die alte Versöhnungs- und Entspannungspolitik erinnerteund keine schwierige Entscheidungen über "out of area" Bundeswehr-Einsätze oder umstrit-tene Verteidigungshaushaltsfragen verlangte. Aber die Möglichkeit mit dieser Integrierungs-rolle – die NATO-Erweiterung als gesamteuropäische vertrauensbildende Maßnahme – einenneuen transatlantischen Konsens über die Zukunft des Bündnisses zu finden ging am 11.September 2001 zu Ende.

Die Vereinigten Staaten haben seitdem andere Sorgen und ihre Bündnispartner haben Ent-scheidungen zu treffen. Amerika befindet sich im Kriegszustand, und so hart es klingen mag,wird allein entscheiden, welche Ziele, welche Mittel, welche Maßnahmen notwendig sind, umdas Fortbestehen der Vereinigten Staaten zu sichern. Das heißt aber nicht, dass die Amerika-ner, wenn sie diese Entscheidungen überlegen, kein Interesse daran haben, mit Bündnis- undKoalitionspartnern zusammenzureden und auf ihre Interessen aufzupassen. Aber diese Partnerverspielen ihren Einfluss, nicht nur wenn sie mitreden wollen ohne in der Lage zu sein mitden eigenen militärischen Fähigkeiten einen Beitrag zur Kriegsführung zu leisten, sondern inerster Linie weil sie manchmal den Eindruck erwecken, "mitreden" nur kritisierend zu verste-hen, als eine Chance, ein "Feindbild Amerika" aufzubauen, gegen das als Spiegelbild eineeuropäische Identität entwickelt werden kann.

Tatsache ist, dass die große Zukunftsfrage nicht die NATO betrifft, sondern die EuropäischeUnion. Was wird aus der heutigen Rhetorik einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- undVerteidigungspolitik? Wird es je eine einheitliche Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspo-litik geben? Vielleicht. Sie ist auf jeden Fall langfristig nicht auszuschließen. Aber kurzfristigsind Amerikaner konfrontiert mit einem Europa, das sie nur an ihre eigene Geschichte vor1865 erinnern kann: ein Amerika mit sich selbst beschäftigt, unzuverlässig und unberechen-bar. Bestimmt nicht in der Lage, ein verlässlicher Partner zu sein, was die Aufrechterhaltungder damaligen Weltordnung betraf. Europas Plädoyer, dass es Zeit bedürfte, um die eigenepolitische Zukunft zu gestalten, war vielleicht vor dem 11. September berechtigt und ist im-mer noch verständlich. Aber die jetzigen Herausforderungen werden möglicherweise den Eu-ropäern nicht die Zeit erlauben, die sie sich wünschen. Und die Amerikaner sind nicht bereit,die Kosten der Unentschlossenheit Europas mit der eigenen Existenz zu bezahlen. Der Preisist zu hoch.

Wir brauchen in der Tat ein neues transatlantisches Gespräch, das davon ausgeht, dass seitdem 11. September alle Rollen, Organisationen und die Politik neu- und umdefiniert werdenmüssen, und dass unsere Erwartungen an einander endlich aus den Parametern und Katego-rien des Kalten Krieges weiterbringen wird. Die transatlantische Beziehung die die NATO 40Jahre lang verkörperte wuchs aus den gemeinsamen Erfahrungen der demokratischen Ländernim Zweiten Weltkrieg. Die wichtige Frage heute ist nicht, ob die NATO als Organisation

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weiterexistiert, sondern welche transatlantische Beziehung aus diesem Krieg wachsen wird.Die Erfahrungen die wir jetzt miteinander machen werden prägend für das 21. Jahrhundert.

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Die NATO ist tot – es lebe die NATO∗∗

Klaus-Dieter Schwarz

Die Nachricht, dass die NATO tot sei, macht wieder die Runde. In der Tat spielt sie im "Krieggegen den Terror" bestenfalls eine Nebenrolle, trotz Erklärung des Bündnisfalls zum erstenMal in ihrer Geschichte. Doch selbst wenn die Europäer geeignete militärische Fähigkeitenhätten aufbieten können, das Pentagon wollte den Krieg in Afghanistan weitgehend alleineführen und sich nicht wie im Kosovo-Krieg vor drei Jahren in die Planung und Durchführungder Militäroperation hineinreden lassen. Daraus jedoch zu folgern, dass die NATO nicht mehrgebraucht werde, ist ein Trugschluss. Schließlich ist sie nach 1989 wegen Verlust ihres Geg-ners auch nicht bedeutungslos geworden. Die NATO hat den Kalten Krieg überlebt, weil sichihre Aufgaben grundlegend verändert haben.

Verteidigung: Das neue Strategische Konzept der NATO von 1999 beschreibt die kollektiveVerteidigung gemäß Artikel 5 des Nordatlantikvertrages unverändert als vorrangige militäri-sche Aufgabe des Bündnisses. Sie spielt jedoch nicht mehr die zentrale Rolle, da es in derheutigen strategischen Lage nicht um territoriale Verteidigung gegen massive militärischeBedrohungen geht, sondern um lokales, regionales oder weltweites Krisenmanagement. Dar-aus folgt, dass Verteidigung nicht mehr kollektiv erfolgen muss, wie der 11. September unddie Erklärung des Bündnisfalls gezeigt haben. Tatsächlich bedeutet die Beistandsverpflich-tung nicht viel, liest man den Wortlaut des Artikels 5 genau. Dennoch war die Demonstrationpolitischer Solidarität mit den USA kein symbolischer Akt, sondern formal und moralischgeboten. Die Erwartung indessen, die USA würden die Allianz als Forum zur Beratung, wiein Artikel 4 des NATO-Vertrages gefordert, und als Instrument zur Unterstützung ihres mili-tärisches Vorgehens nutzen, wurde nicht erfüllt. Trotz Erwähnung des Terrorismus als globaleGefahr im Strategischen Konzept erwies sich, dass die NATO ungeeignet ist für die Art derOperationen, die gegen die Taliban und Al Qaida erforderlich war: "Die Mission bestimmt dieKoalition, nicht umgekehrt", wie Verteidigungsminister Rumsfeld feststellte. Das heißt: DieUSA entscheiden je nach Bedarf und Fähigkeiten der Partner über deren Mitwirkung und be-nutzen die NATO als Dienstleistungsunternehmen für amerikanisch geführte Militäroperatio-nen.

1. Krisenmanagement: Die NATO hat sich von einer "force in being" zu einer "force in ac-tion" gewandelt. Dieser Prozess der Anpassung nach dem Wegfall des ursprünglichen Bünd-niszwecks war mühsam und unentschlossen, zudem politisch und militärisch umstritten. Aberdie NATO konnte angesichts des Krieges und Völkermordes auf dem Balkan nicht passivbleiben und musste erkennen, dass ohne ihr Eingreifen nicht nur das Schicksal des Balkans,sondern ihr eigenes auf dem Spiel stand. Insofern traf das Schlagwort "out of area or out ofbusiness" den richtigen Punkt. Doch die darin zum Ausdruck gebrachte Neigung der USA,das Bündnis als Instrument amerikanischer Weltmachtpolitik und Globalstrategie zu betrach-ten, überfordert und schwächt den Bündniszusammenhalt. Deshalb beschränkt sich das Kri-senmanagement der NATO auf den euro-atlantischen Raum und auf Ad-hoc-Koalitionen vonMitglied- und Nichtmitgliedstaaten, die dazu fähig und bereit sind. Integrierte Militärstruktur,interoperable Streitkräfte und Partnerschaften der NATO erleichtern die Bildung solcher Ko-alitionen. Sie haben sich bewährt und gelten als Modell für künftige Operationen.

∗ Dieser Beitrag wurde vorab abgedruckt in: Die Welt, 14.5.2002.

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2. Erweiterung: Weder Verteidigung gegen neue und nicht klar bestimmbare Bedrohungenwie der Terrorismus noch Krisenbewältigung in zerbrechlichen oder zerfallenen Staaten kön-nen den alten Bündniszusammenhalt wieder herstellen. Denn die neuen Gefahren betreffennicht die Sicherheitsinteressen aller Bündnispartner bzw. die Kosten militärischer Interventionin Bürgerkriege sind unpopulär. Die NATO musste sich daher auf ein neues gemeinsamesZiel besinnen, das auf allgemeine Zustimmung stieß und Erfolg versprach. Es lag in der Logikder Überwindung des Ost-West-Konflikts, nach gelungener Verteidigung der Freiheit deswestlichen Teils Europas das Gleiche für den östlichen Teil zu tun, also ein "ganzes und frei-es" Europa zu schaffen. Das ist Sinn und Zweck der NATO-Erweiterung möglichst parallelzur EU-Erweiterung. Etwa 30 Mitgliedstaaten werden in den nächsten Jahren beiden Organi-sationen angehören. Die zweite Runde der NATO-Erweiterung umfasst 9 Beitrittskandidaten,7 können auf dem Prager NATO-Gipfel im November 2002 mit einer Einladung zur Mit-gliedschaft rechnen. Damit verwandelt sich die NATO in eine gesamteuropäische Siche r-heitsgemeinschaft, die den europäischen Charakter der NATO ebenso verstärkt wie denzweiten Pfeiler der politischen und wirtschaftlichen transatlantischen Beziehungen. Auch dieUSA haben realisiert, dass die erweiterte NATO eine diffusere und militärisch wenigerhandlungsfähige Organisation sein wird, die sich vorwiegend auf die Sicherheit der europäi-schen Region konzentriert. Das ist der Preis für den Gewinn an Sicherheit für das gesamteEuropa.

3. Russland: Die NATO-Erweiterung darf Russland nicht ausgrenzen. Diese Forderung istnach dem spontanen Schulterschluss Moskaus mit Washington im Kampf gegen den interna-tionalen Terrorismus noch berechtigter als vor dem 11. September. Russischer Widerstandgegen die Aufnahme der baltischen Staaten in die NATO ist nicht mehr zu erwarten. EinBündnisbeitritt Russlands liegt dagegen in weiter Ferne und wird von Präsident Putin auf ab-sehbare Zeit ausgeschlossen. Statt dessen soll künftig der NATO-Russland-Rat über be-stimmte Themen gemeinsamer Interessen (Proliferation, Terrorismus, Friedensoperationen)zu 20 beraten und womöglich entscheiden, statt wie bisher in der Formation 19 plus 1 vorherfestgelegte Standpunkte kontrovers zu diskutieren. Damit erhält Russland Mitgliedstatus, alsoauch Vetorecht, allerdings nicht in NATO-internen Angelegenheiten. Dieser aufgewertete Ratkann dazu dienen, den von Putin nach dem 11. September mutig gegen Widerstand aus derpolitischen Klasse eingeschlagenen Kurswechsel in der russischen Außen- und Sicherheits-politik zu festigen. Er sollte auch Einfluss nehmen können auf die amerikanische Außen- undSicherheitspolitik, vor allem auf die Gestaltung der strategischen Rahmenbedingungen desinternationalen Systems, auf das Verhältnis zwischen Abschreckung und Verteidigung, zwi-schen nuklearer Rüstung und Abrüstung, auf die Verhinderung der Ausbreitung von Massen-vernichtungswaffen und weit reichenden Trägermitteln.

4. Amerika: In der Bush-Administration gibt es nicht eine, sondern drei Meinungen über diekünftige Rolle der NATO. Das Pentagon hält nicht viel von NATO-Erweiterung und nochweniger von engerer Kooperation mit Moskau. Es betrachtet die Assistenz einzelner Partnerbei Militäroperationen als nützlich, die Verwendung der NATO-Organisation jedoch als Be-schränkung der eigenen Handlungsfreiheit. Dies sieht der Nationale Sicherheitsrat ebenso,doch aus entgegengesetzten Gründen. Man befürwortet die Erweiterung und EinbindungRusslands als primäre Aufgabe der NATO zur Vollendung der Überwindung der europäi-schen Teilung. Dazu passt das Konzept militärischer Arbeitsteilung, wonach die Europäersich um die europäische Sicherheit kümmern, vor allem auf dem Balkan, und die USA um dieglobale Sicherheit, besonders im Mittleren Osten und in Asien. Eine dritte Auffassung, ver-treten im Außenministerium und von internationalistisch gesonnenen Republikanern, will dieEuropäer stärker am globalen Krisenmanagement beteiligen und die NATO als Bündnis zurVerteidigung gegen Terrorismus und für Maßnahmen gegen die Verbreitung von Massenver-

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nichtungswaffen nutzen. Welche Auffassung sich durchsetzt, entscheidet der Präsident vonFall zu Fall. Offensichtlich steht er den Ansichten des Pentagon und Nationalen Sicherheits-rates näher als denen seines Außenministers. Das entspricht der unilateralistischen Gangartder amerikanischen Außenpolitik seit Beginn seiner Administration, die sich nach dem 11.September im Prinzip nicht verändert hat, wie die Europäer erwartet haben. Man wird sehen,wie der Präsident in Phase Zwei der Anti-Terror-Kampagne entscheidet, ob er gegen den Irakmultilateral vorgeht oder ohne Rücksicht auf die Bedenken der Bündnispartner und auf dieRisiken für die Sicherheit in der gesamten Nahost-Region.

5. Europa: Die NATO war immer beides, ein militärisches und politisches Bündnis. Es wirdkünftig politischer und europäischer auf Kosten seiner militärischen Substanz. Zugleich wirddie Asymmetrie im transatlantischen Sicherheitsverhältnis angesichts enormer Steigerung deramerikanischen Verteidigungsausgaben und des wachsenden technologischen Abstandes zwi-schen den militärischen Fähigkeiten der USA und Europäer immer größer. Diese Trends ve r-ringern die amerikanische Kooperationsbereitschaft und europäische Kooperationsfähigkeit:Sie können zu einer Erosion des Bündnisses führen. Deswegen kommt es darauf an, dass diewichtigsten Staaten in der Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik (ESVP) verstärkt zu-sammenarbeiten, um die Bündnis- bzw. Koalitionsfähigkeit mit den USA zu erhalten. DieBush-Regierung unterstützt das ESVP-Projekt und den Aufbau einer leistungsfähigen Krisen-reaktionsstreitkraft. Dieses Vorhaben entlastet das militärische Engagement der USA in Eu-ropa und kann in Zukunft amerikanische Militäroperationen außerhalb Europas unterstützen,beispielsweise durch Bereitstellung einer robusten und durchhaltefähigen Peacekeeping Forcein Afghanistan. Außerdem verfügt die ESVP über Fähigkeiten zur nicht-militärischen Krisen-bewältigung, die eine umfassende Einwirkung auf Ursachen und Konsequenzen gewaltsamerKonflikte ermöglichen, deren Natur sich von traditionellen Bedrohungen der internationalenOrdnung unterscheidet. Europa leistet damit einen bedeutenden Beitrag zur Modernisierungder NATO. Was noch fehlt, sind politischer Wille und finanzielle Mittel, diesen Beitrag un-verzüglich zu verwirklichen.

Fazit: Die alte NATO ist tot, es lebe die neue! Sie ist eine multifunktionale Sicherheitsorgani-sation geworden und erfüllt vor allem die Aufgabe, den europäischen Raum zu stabilisieren.Dieser Zweck sichert ihren Fortbestand und erlaubt es den USA, ihre sicherheitspolitischeAufmerksamkeit anderen Regionen zuzuwenden. Daraus folgt für die EU, dass der Aufbaueiner selbstständigen Krisenreaktionsfähigkeit in enger Kooperation mit der NATO an Be-deutung gewinnt. Dieses Vorhaben macht die EU-Staaten zu einem wertvolleren Bündnis-partner und gewährleistet, dass die transatlantische Allianz weiterhin ihre wichtigste Funktionerfüllt: die institutionelle Einbindung der USA in die europäische Siche rheit.

Literatur

Bertram, Christoph: Europa in der Schwebe, Der Frieden muss noch gewonnen werden, Bonn1997.

Haftendorn, Helga: Der Wandel des Atlantischen Bündnisses nach dem Ende des KaltenKrieges, in: Monika Medick-Krakau (Hrsg.), Außenpolitischer Wandel in theoretischerund vergleichbarer Perspektive: Die USA und die Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 1999, S.257–289.

Forster, Anthony/Wallace, William: What is NATO for?, in: Survival, Vol.43, No.4, 2001-02,S.107–122.

Gordon, Philip H.: NATO After 11 September, in: Survival, Vol.43, No.4, 2001-02, S.89-106.

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Die Nützlichkeit der NATOÜberlegungen zur künftigen Bedeutung der NATO

Erich Reiter

Die bange Frage nach der Zukunft der NATO ist für einen Außenstehenden gar nicht so leichtverständlich. Denn trotz dem vor 13 Jahren abhanden gekommenen Feind gibt es sie nochimmer und sie entwickelt sich den heutigen Umständen entsprechend weiter. Die NATO musssich nicht eine Begründung suchen; sie ist als zentrales Element des europäischen Sicher-heitsgefüges zumindest solange unersetzlich, bis es eine staatsartige, sicherheitspolitischhandlungsfähige EU gibt. Und auch dann wird sie nicht überflüssig, sondern eine neue Formder transatlantischen Sicherheitskooperation darstellen, in der die Dominanz der USAschwinden wird.

1. Vorbemerkung

Die klar definierbare Aufgabenzuordnung an die einzelnen Institutionen der Sicherheit(OSZE, EU, UN, NATO, WEU?) der Zeit des Ost-West-Konfliktes ist passee. Damals kamder NATO die Verteidigungs- und Abschreckungsfunktion zu. Seitdem hat sie sich zu einerMehrzweckorganisation entwickelt, zu einer Institution zur umfassenden Behandlung vonsicherheitspolitischen Fragen, wobei neben Konfliktprävention, Operationen des Krisenma-nagements und der militärischen Krisenreaktion auch die Aufgaben der Bekämpfung des Ter-rorismus und der Proliferation von Massenvernichtungswaffen (letztere beiden allerdings inrecht unverbindlicher Form) festgeschrieben wurden. Nach der strategischen Wende 1989/91hat sie entscheidende Beiträge zur Entwicklung der europäischen Sicherheitsarchitektur ge-leistet. Durch den Nordatlantischen Kooperationsrat bzw. den Euro-Atlantischen Partner-schaftsrat, die Partnerschaft für den Frieden, den Sicherheitsvertrag mit Russland, die ChartaNATO-Ukraine und die erste Osterweiterung um Polen, Tschechien und Ungarn sowie diebevorstehende zweite Osterweiterung hat sie Europas Landschaft nachhaltig verändert, indemeine große Zone der Stabilität geschaffen und die größte Zusammenarbeit von Streitkräften inder Geschichte herbeigeführt wurde. Durch den IFOR/SFOR-Einsatz der NATO in Bosnien-Herzegowina und den Luftkrieg gegen Jugoslawien zur Beendigung der serbischen Terror-herrschaft im Kosovo (Allied Force) hat die NATO neue Realitäten in Europa gesetzt.

2. Gemeinsame Interessensbasis

Wenn trotz dieser eindrucksvollen sicherheitspolitischen Erfolgsbilanz besorgt die Frage nachdem Stellenwert der NATO gestellt wird, so ist das vordergründig durch die Vorgangsweiseder USA in ihrem Kampf gegen den Terrorismus begründet. Denn das amerikanische Ver-halten hat den Europäern stärker als zuvor bewusst gemacht, wie wenig ihr transatlantischerVerbündeter von ihnen hält, wenn es ernst wird. Die essenzielle Frage ist die, wie groß diegemeinsame Interessensbasis bzw. welche Entwicklung diesbezüglich zu erwarten ist; darausund aus den sicherheitspolitischen Herausforderungen resultiert die strategische Funktion desBündnisses.

Amerikanische Sicherheitspolitiker haben schon in der Mitte der 90er-Jahre die Sinnhaftigkeitdes Fortbestandes der NATO davon abhängig gemacht, dass sie sich globalisiere, also zur

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weltweiten Wahrnehmung der gemeinsamen transatlantischen Interessen fähig werde. Wennsich die USA für die europäische Sicherheit interessieren, dann müssen auch die Europäergewillt sein, die gemeinsamen Interessen außerhalb Europas wahrzunehmen, auch im Bereichdes Mittleren Ostens. Die amerikanische Politik nach dem 11.9. hat demonstriert, dass dieUSA die NATO derzeit nicht als das globale Instrument ansehen, mit dem sie ihre Interessenwahrnehmen können.

An Stelle der früheren Debatten über das burden-sharing, also der Lastenverteilung innerhalbdes Bündnisses, ist in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre die Debatte über die Wahrnehmungder gemeinsamen Interessen von Amerikanern und Europäern getreten. Die Europäer waren jaaus amerikanischer Sicht (nicht zu Unrecht) immer schon Trittbrettfahrer der Sicherheit, weilAmerika für die Sicherheit Europas mehr aufwenden musste als die Europäer selbst. Damalsallerdings hatten die USA ihrerseits ein großes Interesse daran, dass Westeuropa nicht vonden Sowjets überrollt wurde. Für die Gegenwart wird oft argumentiert, dass trotz der Richtig-keit der Argumentation, den Amerikanern eine Kompensation für ihr weiteres Engagement inEuropa gebührt, es doch auch eine Tatsache sei, dass sie selbst ein Interesse am Weiterbeste-hen der Allianz haben müssen, weil ihnen außer den Europäern keine verlässlichen Bündnis-partner für die Wahrnehmung westlicher Interessen und zur Durchsetzung westlicher Wertezur Verfügung stehen. Stehen ihnen die Europäer aber wirklich zur Verfügung?

Die Bereitschaft der meisten europäischen Ländern zu einem globalen Engagement blieb ge-ring. Eine häufige europäische Befürchtung war die, dass eine Ausweitung des Handlungs-rahmens der NATO als globaler Akteur von Russland als konfrontative Maßnahme gewertetwürde. Den meisten europäischen Ländern ist viel an einer Einbindung Russlands in die euro-päisch-atlantische Sicherheitsarchitektur gelegen. (Zuletzt haben aber auch hier die USA ge-zeigt, dass man aus der Position der Stärke durchaus mit Russland in ein gutes Einvernehmenkommen kann.)

Außer dem Verzicht auf eine globale Rolle sind auch andere Möglichkeiten zum Ausbau derNATO im Sinne gemeinsamer Interessenswahrnehmung von europäischer Seite bewusst nichtwahrgenommen worden. Mit dem neuen strategischen Konzept von 1999 ist klar geworden,dass es den Amerikanern nicht gelungen ist, ihre Bündnispartner auf eine konsistentere Politikgegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und der Bekämpfung des Terrorismussowie der internationalen Kriminalität im Rahmen der NATO festzulegen. Auch wurde dievon der NATO seit 1996 im Grundsatz akzeptierte europäische Sicherheitsidentität mit derMöglichkeit europäisch geführter Einsätze in jenen Fällen, in denen die USA nicht oder nurmittelbar involviert sein wollten, von den Europäern nicht entsprechend verfolgt, obwohl imFrühjahr 1999 diese Option auf Grund der aktivierten neuen Kommandostruktur der NATOoperativ umgesetzt wurde.

Die Europäer haben vielmehr im Rahmen der GASP die Europäische Sicherheits- und Vertei-digungspolitik kreiert und haben dafür auch eine Struktur und Organisation gefunden; was sienoch nicht haben – und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in den nächsten Jahren noch nichthaben werden – sind die ohnedies sehr bescheiden geplanten militärischen Ressourcen füreine eigene Eingreiftruppe. Dies, obwohl das massive militärische Defizit der europäischenVerbündeten seit vielen Jahren bekannt ist und durch die Aktion "Allied Force" auch so starkbewusst wurde, dass sich auf dem Kölner EU-Gipfel von 1999 erstmals alle EU-Mitgliedstaaten zur Notwenigkeit autonomer militärischer Kapazitäten bekannten.

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3. Transatlantische Dissonanzen

Die Anschläge des 11. September 2001 haben zwar in weiten Teilen der Welt und insbeson-dere in Europa große Betroffenheit und starke Anteilnahme sowohl am Schicksal der Men-schen als auch am Staat USA hervorgerufen. Die Maßnahmen der USA in dem von ihr er-klärten Krieg gegen den Terrorismus haben jedoch die latenten Probleme zwischen den USAund Europa im sicherheitspolitischen Bereich aktiviert. Mangels der Fähigkeit (jedenfalls aus-reichender Fähigkeit) der Europäer in der NATO zu einer umfassenden Teilnahme an ihremKampf gegen das Taliban-Regimes Afghanistans haben die Amerikaner in bilateralen Verei-nigungen ihren Krieg vorbereitet und durchgeführt. Die Aktivierung des Artikel V des Wa-shingtoner Vertrages kurz nach den Anschlägen des 11.9. wurde zwar als Solidarisierung zurKenntnis genommen, von manchen Amerikanern aber auch als überflüssige Deklaration be-trachtet. Die Devise der USA war die, dass sich aus den Zielen die Bündnisse ergeben undnicht umgekehrt, dass Bündnisse Zielsetzungen bestimmen. Europäische Appelle, an den Ent-scheidungen beteiligt zu werden, klangen fast bittend.

Bei der Münchner Konferenz über Sicherheitspolitik Anfang Februar dieses Jahres kamen dieunterschiedlichen Auffassungen bei den Diskussionen sehr deutlich zum Vorschein. Zwardrückten die amerikanischen Politiker und Analytiker in warmen Worten ihre Bekenntnissezur NATO und ihre Freundschaft zu den europäischen Verbündeten aus, doch sie machtenden Europäern auch klar, dass für diesen Krieg eine hochtechnologisch gerüstete Streitmachterforderlich ist, die nun einmal nur die USA zur Verfügung haben. Die Europäer müssteneben deutlich mehr in ihre Streitkräfte investieren und diese sowohl technologisch als auchhinsichtlich der Interventionsfähigkeit massiv auf- bzw. umrüsten. Die Europäer gestandenihre eigenen militärischen Defizite ein, beklagten diese auch und meinten, eigentlich solltendiese beseitigt werden. An die tatsächliche, rasche Behebung geht man aber nicht heran. Da-für gab es verschiedene europäische Hinweise des Erfordernisses, die Ursachen des Terroris-mus zu beseitigen, worunter der Nord-Süd-Konflikt sowie Armut und Hunger in der DrittenWelt identifiziert wurden. Den Amerikanern hingegen schien lediglich wichtig, ob ein Landbereit ist, an dem von ihnen geführten Krieg gegen den Terrorismus teilzunehmen.

Die Hoffnung, dass die Tragödie vom 11.9. die USA und Europa wieder enger zusammen-schmieden werde, hat sich nicht erfüllt. In Europa hat sich viel Unmut über die amerikanischeWeltpolitik, die Politik gegenüber Krisenregionen und den Problemstaaten, aufgestaut und istteilweise auch abgeladen worden. Angesichts der von den USA vorgeführten technischenLeistungsfähigkeit und militärischen Überlegenheit ist der Solidaritätsvorrat rasch ge-schrumpft. Von amerikanischer Überheblichkeit und Engstirnigkeit wurde und wird gespro-chen. Eine europäische Ministerin bezeichnete Äußerungen des US-Präsidenten Bush gegen-über Arafat schlicht als dumm. Ein anderer Außenminister sprach von der US-Politik alssimplistisch. Amerikaner wiederum warfen den Europäern ihre Politik gegenüber den Prob-lemstaaten, etwa im Falle Irans, als beschönigende Verdrängung und strategische Naivitätvor, wodurch sich Europa als Weltakteur bloßstelle.

Die Erfahrung ihrer Einflusslosigkeit und Machtlosigkeit ist es, die die Europäer gegenüberden Amerikanern aufbringt. Es sind reflexhafte Empörungen, die einem Amerika gelten, dassnach dem Schock des 11.9. nicht in sich ging und die Ursachen dafür erforschte, warum es zudiesen Anschlägen kam, den Friedensdialog mit den Problemstaaten suchte usw., sondern sichsehr schnell wieder gefunden hat und gegen seine (jedenfalls als solche gesehene) Feinde ak-tiv vorgeht und seine Rolle als einzige Weltmacht bestätigt. Es lässt sich dabei von Freundenund Verbündeten keine Fesseln anlegen.

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Während man in den europäischen Parlamenten über die allfällige Entsendungen von ABC-Spürpanzern und Sanitätszelten nach Afghanistan epische Debatten führte, demonstrierten dieAmerikaner am Hindukusch mit einer geradezu unglaublich eingespielten Interventionsma-schinerie, wie militärische Macht im 21. Jahrhundert global eingesetzt wird (so die FAZ vom8.12.2001).

Die NATO-Mitglieder, insbesondere die größeren, haben sich zwar als verlässliche Bündnis-partner der USA in bilateraler Form darzustellen versucht und ihre Mitwirkung im Kampfgegen den Terrorismus angeboten. Die Beiträge der NATO zum Kampf gegen den Terroris-mus waren aber geringfügig. (Überflugs-, Durchfahrts- und Hafenrechte sowie die Abstellungeiniger Awacs-Flugzeuge zur Überwachung des amerikanischen Luftraumes und ein Flotten-verband, der auf Abruf im Mittelmeer bereit gestellt wurde.) Die NATO selbst hat trotz derAusrufung des Verteidigungsfalles eine Nebenrolle gespielt. Die Akteure waren die einzelnenStaaten, nicht die NATO (– und auch nicht die EU)!

Die Luftangriffe im Kosovo-Krieg 1999 und vor allem die Maßnahmen nach dem 11.9.2001haben deutlich vor Augen geführt, dass die Allianz als Ganzes nicht in der Lage ist, rasch undeffizient zu reagieren, dass sie zu Krisenmanagement-Operationen nicht im Stande ist undinsbesondere, dass sie neuen Bedrohungsformen gegenüber nicht reagieren kann. Die Ausru-fung des Bündnisfalles ist das eine, die Fähigkeit und Bereitschaft als Bündnis rasch zu rea-gieren und entsprechende Ressourcen einsatzbereit zu haben, etwas anderes.

4. Die Gegenwart der Allianz und Fragen nach ihrer Zukunft

Trotz der vorhin dargestellten Umstände bleiben die europäischen Partner ideologisch undwertemäßig Verbündete der USA. Schon in der Durchsetzung oder Verteidigung der Werteergeben sich allerdings bedeutsame Auffassungsunterschiede. Vereinfacht lässt sich das Be i-spiel 11.9. so darstellen, dass die USA den Terrorismus bekämpfen, wo immer sie ihn antref-fen und jeden als Feind sehen, der das, was sie als Terrorismus betrachten, nicht bekämpftoder gar unterstützt. Die Europäer wollten sich wohl auch gegen den Terrorismus verteidigen,sind aber in der aktiven Bekämpfung vorsichtig und setzen auf Diplomatie und Beseitigungder Ursachen des Terrorismus. (Wobei letzteres mehr Wunschdenken als realistische Mög-lichkeit ist.)

Auch wenn die Europäer zu einem gemeinsamen Kampf mit den Amerikaner bereit sind, dieMöglichkeiten dazu sind zu sehr begrenzt. Die von den Amerikanern gewählte Luftkriegsfüh-rung mit modernsten Waffensystemen steht ihnen nicht in ausreichendem Maße zur Verfü-gung. So bliebe nur die Arbeitsteilung, dass die Amerikaner den high-tech-Krieg und die Eu-ropäer den einfacheren Bodenkrieg durchführen. Zur Erbringung der damit verbundenen Op-fer sind die Gesellschaften in Europas Staaten allerdings nicht bereit. So bleibt nur begrenzteUnterstützung übrig, die eher symbolischen als militärischen Wert hat! Die reale Möglichkeiteines gemeinsamen Kampfes durch die USA und die europäischen NATO-Partner (und auchandere Europäer) ist derzeit ganz einfach nicht gegeben. Die NATO wurde von den USA imAfghanistan-Kampf nicht auf ein Abstellgleis geschoben; sie steht militärisch gesehen schonlängst dort. Aber diese Feststellung besagt nicht mehr und nicht weniger, als dass die NATOals Ganzes die Funktion als Krisen- und Konfliktmanager nicht – zumindest noch nicht – ge-schafft hat.

Wenn die Europäer im Rahmen der NATO gleichwertige Partner der USA sein wollen, damitdie NATO selbst wiederum einen sowohl politisch als auch militärisch erstklassigen Stellen-

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wert besitzt, müssen sie die Fähigkeit zu modernen militärischen Konfliktmanagement erwer-ben – und zwar rasch. Sie werden es aber nicht. Deshalb ist die NATO im Hinblick auf ihreWeiterentwicklung unter dem Aspekt der sonstigen Funktionen der Allianz zu beurteilen.

Welche der traditionellen und der nach Ende der Ost-West-Konfrontation dazugewonnenFunktionen wird die NATO weiterhin ausüben, kommen andere dazu und welchen Stellen-wert bzw. welche Bedeutung für die europäische Stabilität und die transatlantischen Bezie-hungen werden diese Funktionen haben?

Auf die Frage von Reformen der NATO ist hier meines Erachtens nicht einzugehen; sie stelltsich zwar im Zusammenhang mit der Erweiterung der NATO, die ja die Handlungsfähigkeitder Allianz in verschiedenen Bereichen weiter beeinträchtigen wird. Da die gemeinsame In-teressensbasis (für Aufgaben außerhalb der alten Kernfunktion der gemeinsamen Verteid i-gung) aber schon unter den jetzigen NATO-Mitgliedern nicht immer gegeben ist, wird durchdie Osterweiterung keine neue Problematik eintreten, sondern die alte allenfalls verstärktwerden. Ein Abgehen vom Konsensprinzip in der NATO erscheint ohnedies unrealistisch.

Diejenigen, die das "Siechtum der Allianz" beklagen, berücksichtigen zu wenig, dass der"Alterungsprozess" einer Allianz, deren Kernaufgabe in einer Reservefunktion für die Wie-derkehr einer bedrohlichen Lage ist, eine Selbstverständlichkeit darstellt. Auch ist es selbst-verständlich, dass nach dem Wegfall der Ost-West-Konfrontation die Interessendifferenzendeutlicher als früher hervortreten. Nichts ist auf ewig ausgelegt, auch die NATO nicht. JedeInstitution ist ein Kind ihrer Zeit und entwickelt sich nach Maßgabe des Interesses ihrer Mit-glieder weiter. Die gesamte sicherheitspolitische Situation, also die globale Lage und inner-halb derselben die strategische Situation Europas, stellen den Rahmen für die Weiterent-wicklungsmöglichkeiten der NATO dar.

Die künftige Rolle und Bedeutung der NATO hängt nicht alleine von ihren militärischenKernaufgaben und von ihrer Möglichkeit als globaler Akteur im Rahmen von Krisen- undKonfliktmanagementaufgaben ab. In Zeiten eines geänderten Risikobildes gibt es auch andereHerausforderungen, deren Bewältigung von hervorragender Bedeutung ist.

5. Zur Lage

Die internationale Ordnung und die Machtverhältnisse werden durch das Verhalten der größe-ren Mächte bestimmt, die politische, ökonomische und militärische Stärke besitzen und imStande sind, in ihrem regionalen Rahmen prägend zu wirken und durch die Gestaltung ihrerinternationalen Beziehungen und die Verhältnisse zu den anderen Staaten nachhaltige Wir-kung zu erzielen. Dadurch spielt die Anzahl der großen Akteure eine wichtige Rolle und dievon ihnen gestalteten Bündnisse und Kooperationsformen, insbesondere dann, wenn größereMächte untereinander selbst Bündnisse abschließen.

Zu den großen Akteuren der Welt rechnet man allgemein die USA, die Europäische Union,Russland, China und Japan. Jüngst ist die Jungatommacht Indien in diesen Kreis aufgerückt.Eine reale Weltmacht von all diesen sind aber nur die USA. Russland ist es trotz seinesAtompotenzials und seiner großen konventionellen Streitkräften auf Grund seiner wirtschaft-lichen Schwäche und seiner sozialen Probleme nicht; die weitere Entwicklung ist ungewiss.Die EU ist zwar eine wirtschaftliche Großmacht, eine globale politische Macht aber ist sienicht und eine militärische Macht erst recht nicht. Ähnliches gilt für Japan, das allerdings An-zeichen einer Entwicklung größerer politischer Aktivität – und eines Tages wohl auch zu grö-

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ßerer militärischer Fähigkeit – zeigt. China ist eine regionale Großmacht und im asiatisch-pazifischen Raum der eigentliche Herausforderer der Weltmacht USA im Ringen um Ein-fluss. Ob es China allerdings in absehbarer Zeit gelingen wird, eine Weltmachtrolle einzu-nehmen, bleibt dahingestellt, insbesondere auch im Hinblick darauf, dass die innere Ent-wicklung des Riesenreiches schwer voraussagbar ist. Indien gewinnt zunehmend Bedeutungals künftiger strategischer Partner der USA, ohne seine Bindungen mit Russland zu reduzie-ren.

Trotz der dominierenden Rolle der USA kann man nicht von einer unipolaren Welt sprechen.Denn trotz ihrer strategischen Überlegenheit und ihres großen und derzeit uneinholbar er-scheinenden militärtechnologischen Vorsprungs sind auch die USA von der Kooperation mitVerbündeten abhängig. Auch die USA haben nur begrenzte Ressourcen, auch militärisch, undsie mussten ihr Konzept, gleichzeitig zwei größere regionale Kriege auf verschiedenenSchauplätzen führen zu können, bereits revidieren. Die Situation nach der von den Amerika-nern eingeleiteten strategischen Wende im Hinblick auf die Entwicklung einer Raketenab-wehr und der Militarisierung des Weltalls wird möglicherweise eine neue Situation ergeben.Aber auch diese Maßnahmen dienen mehr dem Schutz des eigenen Landes als der militäri-schen Beherrschung des Restes der Welt.

Wir leben also durchaus in einer multipolaren Welt, in der neben den größeren Akteuren auchnoch eine Reihe kleinerer regionale Mächte mitzuspielen versucht. In dieser Welt sind dieUSA mit Abstand die größte Kraft, die einzige Weltmacht, aber nicht die Beherrscherin derWelt. Um eine dominierende Rolle spielen zu können werden die USA weiterhin auf ihre tra-ditionellen Bündnisse, insbesondere auf die NATO in Europa und auf Japan für Ostasien an-gewiesen sein.

Die künftigen Funktionen der NATO sollen deshalb unter dem Aspekt betrachtet werden, wasAmerikaner und Europäer jeweils von der NATO erwarten (können). (Dabei werden spezifi-sche Interessen Kanadas ebenso außer Acht gelassen wie die der Türkei.)

6. Die Nützlichkeit der NATO

Was erwarten sich die USA von der NATO bzw. welche Aufgaben kann die NATO aus derSicht der US-Interessenslage erfüllen?

– Auf Grund der weit gehenden Deckungsgleichheit EU und NATO – jedenfalls was diegrößeren Akteure in Europa anlangt – ist und bleibt die NATO weiterhin eine sicherheits-politische Parallele zur EU. Die Existenz der NATO gibt den USA somit Einflussmög-lichkeiten auf die europäische Weiterentwicklung, die sie sonst nicht hätten.

– Durch die Existenz der NATO wird die Notwendigkeit zur Entwicklung einer eigenenEuropäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik relativiert. Solange es die NATO gibt,ist die ESVP keine absolute Notwendigkeit, weshalb ihre Realisierung auch auf die langeBank geschoben wird. Eine eigenständige Europäische Sicherheits- und Verteidigungspo-litik liegt nicht im strategischen Interesse der USA, denen eine Mehrzahl von Bündnis-partnern lieber ist als ein großer Gesprächspartner.

– Die NATO gibt nicht nur den USA Einflussmöglichkeiten auf die europäische Entwick-lung, sie begrenzt auch den Einflussbereich Russlands. Trotz der ersichtlichen – jedochkeineswegs irreversiblen – Verbesserung der strategischen Beziehungen USA/Russlandkann den USA nicht an einem großen Einflussbereich Russlands gelegen sein. NATO und

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NATO-Erweiterung dienen deshalb der Reduzierung der Möglichkeit einer künftigen rus-sischen Hegemonialrolle.

– Organisation und militärische Strukturen der NATO geben den USA in Europa eine großeBasis für militärische Maßnahmen und Vorkehrungen, wie sie sie sonst auf der Welt nichtvorfinden. Die europäische Infrastruktur ist auch weiterhin im Hinblick auf den Nahenbzw. Mittleren Osten für die USA unverzichtbar.

– Schließlich hat die NATO auch für die USA eine Reservefunktion im militärischen Be-reich. Man weiß letztlich nicht, wie sich die Situation morgen oder übermorgen entwi-ckeln wird, weshalb die Allianz im Hinblick auf die Erhaltung des Einflussbereiches ameurasischen Doppelkontinent auf absehbare Zeit unverzichtbar ist.

Warum ist für die meisten europäischen Staaten die NATO weiterhin relevant?

– Die NATO gibt eine militärische Rückversicherung, hält die USA in Europa bzw. veran-lasst die USA, sich auch mit europäischen Problemen in höherem Maße auseinander zusetzen als sonst. (Bosnien und Herzegowina, Kosovo)

– Für den Fall der Wiederkehr des Erfordernisses nuklearer Abschreckung ist die NATO derGarant für Nuklearschutz durch die USA.

– Solange das Militärbündnis NATO existiert, haben die Europäer weder die Notwendig-keit, eigene vereinte starke Streitkräfte aufzustellen, noch im nationalen Bereich ernsthafteMaßnahmen zur Verbesserung ihrer Verteidigungsfähigkeit vorzunehmen, weil sie sich inder Stärke des Militärbündnisses als solches ausreichend wohl fühlen.

– Gerade im Hinblick auf künftige Herausforderungen (wie z.B. das einer europäischen Ra-ketenabwehr), die jedoch von den Europäern nicht rechtzeitig in Angriff genommen wer-den, kann das Bündnis mit den USA für die europäischen Interessen existenziell werden,weshalb es töricht wäre, die NATO von europäischer Seite in Frage zu stellen.

– Den Europäer blieb dank der US-Führung in der NATO die Rivalität um eine europäischeFührungsmacht erspart; diese wäre dem Aufbau einer europäischen Verteidigungsorgani-sation gegen die Sowjets nicht förderlich gewesen. Auch für heute gilt, dass Europa keineeigene militärische Führungsmacht braucht, weil diese nach wie vor über die NATO inden USA gegeben ist.

Die Bedeutung der NATO, sowohl für die USA als auch für die Europäer, lässt sich losgelöstvon der aktuellen Situation in geopolitischen und geostrategischen Überlegungen ersehen. DieNATO wird dabei in ihrer Bedeutung für die USA zunehmend in eine Reservefunktion ge-drängt. Die Bedeutung ist daher relativ geringer, insbesondere deshalb, weil die Europäermangels ausreichender moderner militärischer Interventionsfähigkeit kein nützlicher Partnerfür globale Aktionen der USA sind – und überwiegend auch gar nicht sein wollen. Da aberauch anderen Staaten diese Interventionsfähigkeit fehlt, ist es nur logisch, wenn sich die USAfür ihre Aktionen und Vorhaben jeweils Partner oder Verbündete unter regionalen Gesicht s-punkten auswählen. Dabei haben die europäischen NATO-Länder selbstverständlich aucheinen hervorragenden Stellenwert als regionale Bündnispartner. Aus einer geopolitischen Be-trachtung sind dabei Deutschland und Polen die wichtigsten Verbündeten. Man wird sich aberhüten, die europäische NATO auseinander zu dividieren um spezielle Beziehungen mit her-vorstechenden Partnerländern ersichtlich zu machen.

Wenn nun der Stellenwert der NATO geringer erscheint als in der Zeit des Ost-West-Konfliktes, so liegt das ganz einfach daran, dass Europa nicht mehr dieselbe Bedeutung hatwie früher. Das lässt sich weder durch Reformen noch durch neue Aufgaben ändern. DieRolle Europas wiederum würde dadurch bedeutender, wenn die EU im Stande wäre, eine die-sen Namen auch verdienende GASP zu betreiben und sie sich zum Aufbau einer gemeinsa-

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men Interventionsstreitmacht (womit nicht die Abstellung von Landeskontingenten gemeintist) von anderer Qualität und Quantität als den äußerst bescheidenen ESVP-Zielsetzungenentschlösse. Dann hätte sich der Zweck der NATO in der jetzigen Form erübrigt und nur dannentstünde eine transatlantische Allianz in gleichberechtigter Partnerschaft.

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Wohin entwickelt sich die NATO?

Carlo Masala

Dass nach dem 11. September nur wenig anders sein wird als vorher, ist dem politisch ve r-sierten Beobachter recht schnell deutlich geworden. Die Anschläge auf das World TradeCenter sowie das Pentagon sind in ihrer Bedeutung für die Entwicklungstendenzen der inter-nationalen Politik nicht mit dem Ende des Ost-West-Konflikts vergleichbar. Wohl aber habensie bestimmte Entwicklungstendenzen im internationalen System, die sich schon seit 1990abzeichnen, beschleunigt.1 Uneinigkeit besteht in der gegenwärtigen Debatte, hinsichtlich derRolle der NATO. Nicht nur im Kampf gegen den internationalen Terrorismus, sondern auchmit Blick auf ihre zukünftige Bedeutung für die transatlantische Sicherheits- und Verteid i-gungspolitik. Vor diesem Hintergrund hat Reinhard C. Meier-Walser die Frage nach der Zu-kunft der Allianz gestellt und die Antwort bereits formuliert: "Die NATO benötigt [...] eineneue Mission [...]."2

Eine solche Einschätzung macht skeptisch. Die Allianz hat sich nach 1990 beständig neueMissionen zugewiesen, ohne dass diese "Selbstmissionierung" dazu beigetragen hätte, diestrukturellen Probleme unter denen die Allianz und ihre Mitglieder nach dem Ende des Ost-West-Konflikts operieren muss, abzumildern, bzw. eine neue Basis für transatlantisches Han-deln, die bis 1990 in der gemeinsamen Bedrohung durch die UdSSR und ihre Verbündetenlag, herzustellen. 3 So lange, so lautet die Gegenthese, keine einheitliche existenzielle Bedro-hung für die Staaten des transatlantischen Raumes existiert, so lange wird es für die NATOals politisch-militärischer Allianz keine neue Mission geben, die die Basis für gemeinsamesHandeln bilden wird. Und der Kampf gegen den internationalen Terrorismus sowie gegen die"Achse des Bösen" (Georg W. Bush), dies zeigt die Diskussion um einen möglichen Militär-schlag gegen den Irak sehr deutlich, stellt nicht den zukünftigen Kitt für die transatlantischenSicherheitsbeziehungen des 21. Jahrhunderts dar. Darüber kann auch eine mögliche Auswei-tung der NATO-Aufgaben, wie es die Vereinigten Staaten anstreben, auf die Bekämpfung desTerrorismus und der Proliferation nächsten Herbst in Prag nicht hinwegtäuschen.

Wenn gegenwärtig jedoch keine einheitliche existenzielle Bedrohung abzusehen ist, welcheRolle wird die NATO zukünftig noch erfüllen? Welche Zukunft hat die NATO dann über-haupt noch? Der 11. September hat zumindest auf diese Fragen einige erhellende Antwortengegeben. Er hat vorläufig die amerikanische Hegemonialposition gegenüber den europäischenStaaten verstärkt. Vor die Wahl gestellt "either with us or against us" (Georg W. Bush), ent-schieden sich alle europäischen NATO-Partner unisono für die erste Option, nicht zuletztdeshalb, weil sie sich durch die nationale (und nicht europäisch koordinierte) Bereitstellungvon Streitkräften, Mitspracherechte an dem bevorstehenden Kampf gegen den Terrorismusversprachen. Doch in dieser Hoffnung wurden sie enttäuscht. "Wir bestimmen die Mission derKoalition und nicht umgekehrt" (Donald Rumsfeld) lautet seit dem 11. September die – con

1 Vgl. Link, Werner: Hegemonie und Gleichgewicht im "Langen Feldzug" gegen den internationalen Terro-

rismus, Ms. 2002 i.E.2 Meier-Walser, Reinhard C.: Editorial. Was wird aus der NATO?, in: Politische Studien 53/2002, Nr.318,

S.5-7, S.7.

3 Hierzu vgl. Yost, David S.: NATO transformed. The Alliance’s new role in international security,Washington 1998.

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variazione – immer wieder geäußerte amerikanische Devise. Und den Europäern wird seiteinigen Wochen auch deutlich gemacht, dass ihre Bedenken gegen einen möglichen Militär-schlag gegen den Irak, dass ihre Warnungen vor militärischen "Abenteuern" (Gerhard Schrö-der) in Washington kein Gehör finden. "Wir suchen uns unsere Verbündeten selbst aus, odermachen es notfalls allein", verkündete Senator John McCain. 4 Auf die NATO bezogen lassendiese Äußerungen nur den Schluss zu, dass die Zukunft der NATO davon abhängen wird, wiesich die Europäer im Fall einer möglichen Invasion im Irak verhalten werden. Sollten sie sichan einer solchen nicht nur nicht beteiligen, sondern diese auch kritisieren und den USA keineStationierungs- und Überflugsrechte erteilen, dürften die Tage der NATO als Militärallianzgezählt sein. Dies schließt nicht aus, dass die Allianz als politischer Debattierklub weiterexis-tiert, als militärische Allianz wird sie jedoch an Bedeutung verlieren. Tony Blair scheint einesolche Entwicklung, mit seinem Vorschlag eines reformierten NATO-Russland Rates ("20"statt 19+1), bereits vorwegnehmen zu wollen. 5 Sollte dieser realisiert werden, dann stünde derNATO ihre OSZEisierung bevor und damit der Absturz in die Bedeutungslosigkeit.

Je stärker die amerikanische Hegemonialpolitik in Europa sein wird, desto wahrscheinlicherist es jedoch, dass sich Gegenmachtbildungstendenzen herauskristallisieren. So wie der Koso-vo-Krieg die europäische Gegenmachtbildung gegenüber den USA forcierte6, so zeigen sichbereits heute – wenngleich auch noch sehr verhalten – europäische Gegenmachtbildungsten-denzen, die gegenwärtig noch darin bestehen, vor einem Angriff auf den Irak zu warnen, dieFormulierung der "Achse des Bösen" zu kritisieren und eine stärkere Rolle des UN-Sicherheitsrates im Kampf gegen den Terrorismus einzufordern. Es ist jedoch zum gegenwär-tigen Zeitpunk noch unklar, bis zu welchem Punkt die Europäer bereit sind, diesen Prozessder Gegenmachtbildung voranzutreiben. Von den großen europäischen Staaten (Deutschland,Frankreich, Großbritannien und Italien), die in dem Prozess der Gegenmachtbildung gemein-same Führung ausüben müssten, haben sich zwei ohne Bedingungen (Großbritannien undItalien) an die Seite der USA gestellt. Der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland kritisiertzwar mögliche Invasionspläne gegen den Irak, lässt sich bislang jedoch ein Hintertürchen füreine mögliche deutsche Beteiligung an einer solchen Operation offen. 7 Lediglich Frankreichscheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt, wie auch in der Vergangenheit, eine klare Konzeptioneines europäischen Gegengewichts zu den USA im Rahmen einer balancierten NATO zu ve r-treten. Ohne Partner wird die V. Republik jedoch nicht in der Lage sein, diese Vision in dieRealität umzusetzen.

Mithin: Ob es zu einer europäischen Gegenmachtbildung und damit a la longe zu einer Trans-formation der NATO kommen wird, erscheint zum heutigen Zeitpunkt mehr als fraglich.

Dass aus meiner Sicht wahrscheinlichste Szenario für die Zukunft der Allianz liegt darin, ihregegenwärtige Rolle, als ihre zukünftige Rolle zu akzeptieren. Denn viele Beobachter, die seitdem 11. September das Siechtum der Allianz konstatieren und ihre Marginalisierung bekla-

4 Stein, Ewald: Die NATO kämpft – um ihr Selbstverständnis, in: Handelsblatt, 14.2.2002, S.7.5 Vgl. Bacia, Horst: Eine Allianz in der Allianz? Die NATO und Russland auf der Suche nach neuen Bezie-

hungen, in: FAZ, 7.3.2002, S.12.

6 Vgl. Masala, Carlo: Von der hegemonialen zur partnerschaftlichen Allianz, in: Reinhard C. Meier-Walser/Susanne Luther (Hrsg.), Europa und die USA – Die transatlantischen Beziehungen im Spannungs-feld zwischen Globalisierung und Regionalisierung, München 2002, i.E.

7 Vgl. Schröders Äußerungen zu der Rolle der Spürpanzer für den Fall eines amerikanischen Angriffs, in: DieWelt, 18.3.2002.

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gen8, haben das Faktum übersehen, dass die NATO bereits seit geraumer Zeit nicht mehr daseinheitliche Bündnis ist, als das es die Verteidigungsplaner in den Hauptstädten der Mit-gliedsstaaten und im Brüssler Hauptquartier gerne beschwören. Vielmehr ist sie zu einer"Vermittlungsagentur für militärische Koalitionen" geworden. Jede wichtige NATO-Entscheidung der vergangenen 12 Jahre ist nicht innerhalb der NATO getroffen worden, son-dern außerhalb – durch die Hauptmächte der Allianz. Jede militärische Intervention der Alli-anz wurde durch militärische Koalitionen durchgeführt, an denen sich einige, aber nicht alleAllianzmitglieder beteiligt haben.

Und auch die Rolle der NATO nach dem 11. September fügt sich in dieses Bild. Sie ist nichtgenutzt worden, weil ihre führende Macht sie nicht nutzen wollte.

In diesem instrumentellen Charakter der Allianz liegt auch ihre Zukunft. Wenn es im Interes-se des Allianzhegemons liegen sollte, die NATO als militärisches Instrument zu nutzen, wirdsie dies auch zukünftig machen. Wenn eine Einbeziehung der Allianz (und damit auch dieEinräumung gewisser Mitspracherechte für die europäischen Allianzmitglieder) nicht im ame-rikanischen Interesse liegt, dann wird die Allianz keine maßgebliche Rolle bei zukünftigenmilitärischen Operationen übernehmen.

Für die Europäer hingegen wird es – so lange sie nicht bereit sind mehr Geld in ihre Verteid i-gung zu investieren und ein politisches Gegengewicht gegenüber den Vereinigten Staatenherzustellen – auch zukünftig keine Alternative zur Allianz und zur Gefolgschaft geben.

Was bedeutet dies mit Blick auf die von Reinhard C. Meier-Walser gestellte Frage nach derzukünftigen Mission? Die Antwort lautet: Mission impossible.

8 Vgl. stellvertretend Stelzenmüller, Constanze/Thumann, Michael: Kein Feind, kein Ehr’, in: Die Zeit,

10.1.2002.

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Zur Zukunft der NATO: Reflexionen eines Amerikanersin Deutschland

James W. Davis

Obwohl die Geschichte der NATO immer von "Krisen" geprägt war – man denke an jenetransatlantische Streitigkeiten über Nuklearstrategie, die etwa alle zehn Jahre stattgefundenhaben – sind die gegenwärtigen Streitigkeiten anderer Art. Im Zeitalter des Kalten Kriegeswaren die Alliierten im Großen und Ganzen über das Ziel des Bündnisses einer Meinung. DieNATO war da, um einen Angriff auf Westeuropa seitens des Warschauer Paktes abzuschre-cken und im Falle eines Angriffes eine erfolgreiche Verteidigung zu leisten. Bei den Streitig-keiten der 50er-, 60er-, 70er- und 80er-Jahre ging es nicht um Ziele, sondern sie hatten mitder passenden Strategie und den dafür notwendigen militärischen Fähigkeiten zu tun. Mit demScheitern des kommunistischen Experiments und dem Zerfall des sowjetischen Imperiumsgewann die NATO weitere Aufgaben hinzu. Sie schien nicht nur als Rückversicherung ge-genüber einer residualen russischen Bedrohung notwendig, sondern auch als Stabilisierungs-faktor für Ost- und Südosteuropa. Hier spielt die NATO eine entscheidende Rolle bei derEtablierung einer demokratietreuen Ethik bei den osteuropäischen Militärs, zudem trägt siezur Vermeidung von irredentistischen Ansprüchen, neuen Rivalitäten und Rüstungsspiralenzwischen den Staaten der früheren Einflusssphäre der Roten Armee bei und ist der einzigeGarant für den Waffenstillstand im Balkan. Der fortdauernde Prozess der NATO-Osterweiterung ist in dieser Hinsicht als Teil des noch nicht abgeschlossenen Prozesses derBewältigung von ideologisch geprägten geopolitischen Auseinandersetzungen des 20. Jahr-hunderts zu sehen. Und selbst wenn die Stabilisierung des Balkans noch ein gutes Jahrzehntdauern dürfte, ist sie eine vorübergehende Aufgabe und keine andauernde raison d'être.

Nun befindet sich die NATO im 21. Jahrhundert zum ersten Mal in einem nach Artikel 5 de-finierten Krieg. Er ist weit weg von Europa und wird mit einem Feind geführt, der nichtEuropa, sondern die USA angriff, und der nicht als klassischer Feind im Sinne einer territorialdefinierten politischen Einheit zu verstehen ist. Es wäre tatsächlich merkwürdig, wenn beieiner solchen Herausforderung alle einer Meinung wären, keine Diskussionen stattfänden undes an kritischen Stimmen fehlen würde. Wohin der Krieg führen wird, und welche Auswir-kungen er letztendlich auf die NATO haben wird, weiß keiner. Jedoch sind einige Tatsachenklar, die für berechtigte Unruhe, vor allem in Europa, sorgen.

Mit den Terroranschlägen des 11. Septembers ist die so genannte "Post-Cold War Era", wasauch immer das war, vorbei. Europa, für Jahrhunderte der Drehpunkt der internationalenPolitik, ist erfreulicherweise nicht mehr als Arena eines Groß- bzw. Supermacht-Wettkampfeszu bezeichnen. Sicherheitspolitisch gesehen, hat sich der Fokus der Weltpolitik nach Südenund Osten verschoben und umfasst einen Gürtel der Instabilität, der vom Horn Afrikas überden Nahen Osten und Zentralasien bis nach Südostasien reicht. Ob die Mehrheit der Staatendieser Region nur zufälligerweise nicht demokratisch und zum größten Teil mit islamischenBevölkerungen besiedelt sind, oder ob es einen kausalen Nexus zwischen dem Islam, Autori-tarismus und Instabilität gibt, bleibt ungeklärt. Zweifellos sind allerdings die USA, Russland,China, sowie eine Reihe von regionalen Mächten wie Indien, Pakistan, Iran, Irak und die Tür-kei die wichtigsten Players.

Und wo bleibt Europa? Ungeachtet der Bestrebungen Javier Solanas ist die gemeinsameeuropäische Außen- und Sicherheitspolitik in den Monaten nach dem 11. September eher vonihrer Abwesenheit gekennzeichnet (hier ist die englische Bedeutung des deutschen Akronyms

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GASP ganz passend). Anstatt eine europäische Antwort auf die Herausforderungen des inter-nationalen Terrorismus zu formulieren und einen gemeinsamen europäischen Beitrag zu denmilitärischen Aktionen zu leisten, bemühen sich die Europäer um nationale Profilierungen,und zwar häufig ganz gezielt gegeneinander. Die Engländer bewahren ihre "Special Rela-tionship" durch engste Zusammenarbeit mit den Amerikanern, beschränken allerdings ihreZusammenarbeit mit ihren EU-Partnern auf Dinner Partys in Downing Street, zu denen zu-nächst weder Solana noch der amtierende EU-Präsident eingeladen sind. Und die deutsch-französischen Beziehung, aus der der Kern einer europäischen Sicherheitsidentität entstehensoll? Während die Deutschen sich eine Regierungskrise um die Frage der "Bereitstellung" vonBundeswehrsoldaten erlauben, spricht Jacques Chirac mit Stolz von den schon im Einsatzbefindlichen französischen Truppen!

Tatsache ist, dass Europa, militärisch gesehen, nach wie vor weltpolitisch nur durch dieNATO (was nichts anders heißt, als ein Anhängsel der Hyperpuissance USA zu sein) vonBedeutung ist. Ohne die NATO sind die Europäer – als einzelne Staaten oder als europäischesGanzes – nur von regionaler Bedeutung. Vielleicht wären einige damit zufrieden, aber dieRhetorik der meisten deutet auf etwas anderes hin. Gerade weil sie noch eine Hauptrolle aufder Weltbühne in Anspruch nehmen, haben sie nach wie vor ein Interesse an einer handlungs-starken NATO.

Und die USA? Wie stehen sie zur NATO? Wie uns die Franzosen immer erinnern, ist dieNATO sowohl eine militärische als auch politische Organisation. Und obwohl die Amerika-ner auf Grund ihrer zweifellos militärischen Überlegenheit in den meisten Krisenregionen derWelt durchaus ohne die Europäer zurecht kommen können, sind sie nach wie vor an der poli-tische Unterstützung Europas interessiert, wenn auch nicht darauf angewiesen.

So ist es eine Ironie der transatlantischen Beziehungen, dass sowohl Amerika als auch Europagerade den Teil des Bündnisses missachten, der für sie am vorteilhaftesten zu sein scheint.Die Amerikaner neigen immer mehr zur Überheblichkeit in der politischen und diplomati-schen Zielsetzung, scheinen der Meinung zu sein, dass sie alle Antworten haben, und erwar-ten, dass ihre geschätzten Verbündeten "ja und Amen" zu allem sagen. Für nicht wenige Mit-glieder der Bush-Administration dient die NATO als multilateral gefärbtes Feigenblatt, hinterdem sie ihre Präferenz für potente unilaterale Einsätze verstecken können.

Wo die Amerikaner praktische Entscheidungen treffen, beschäftigen sich die Europäer mitabstrakten Diskussionen, die oft fern von der Realität und den Erfordernissen des Momentserscheinen. Sie verlangen einen Platz am Tisch – so etwa eine gleichberechtigte Rolle bei denEntscheidungen über die Kriegsführung in Afghanistan – auch wenn sie auf Grund einer an-dauernden Vernachlässigung ihrer Streitkräfte (Großbritannien ausgenommen) nicht einmal inder Lage sind, ihre Truppen rechtzeitig zum Einsatz zu bringen. Ein früherer US-Botschafterhatte daher wohl Recht, als er zu mir sagte: "Wir haben beide eine Macke."

Die Interessen der USA und Europas sind nicht die gleichen, sondern sie konvergieren in derNATO als einem unentbehrlichen Mittel der Außen- und Sicherheitspolitik, und das erlaubteinen gewissen Optimismus, was das Weiterbestehen des Bündnisses betrifft. Die langfristi-gen Perspektiven der erfolgreichsten Allianz der Geschichte werden allerdings dadurch nichtgesichert. Sie hängen von einem gemeinsamen Verständnis politischer und militärischer Zieleab. Wenn die NATO Zukunft hat, ist diese in der Bewältigung von Sicherheitsbedrohungenzu finden. Und die zurzeit gefährlichsten scheinen – auch wenn man die Wortwahl des ameri-kanischen Präsidenten als nicht sehr hilfreiche Hyperbel bezeichnet – Netzwerke von Terro-risten und deren Helfershelfer zu sein sowie die Entwicklung und Proliferation von Massen-

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vernichtungswaffen seitens autoritärer Regime mit systemrevisionistischen Ansprüchen. Ohneein klares Bekenntnis zur Notwendigkeit gemeinsamer Strategien hinsichtlich der Bekämp-fung dieser Feinde – und sie sind unsere Feinde – wird die NATO, zwar nicht ganz irrelevant,aber nicht mehr als zu einem regionalen Forum werden, für das die USA immer weniger Inte-resse haben werden.

Gemeinsame Strategien für die Bekämpfung neuer Bedrohungen werden nur zum Teil auf dieLehren des Kalten Krieges zurückgreifen können. Wo wir mit Bedrohungen konfrontiert sind,die ihre Wurzeln in autoritären Regimen haben, werden klassische Abschreckungs-, Verteid i-gungs- und Containmentstrategien eine Rolle spielen müssen. Aber wo wir mit immer ge-fährlicher werdenden Terrornetzwerken, die nicht territorial definiert sind, zu tun haben, wer-den wir präventiv und präemptiv in die Offensive gehen müssen. Die Legitimität derartigeraktiver Verteidigungsmaßnahmen wird nicht selbstverständlich sein, selbst in manchen Krei-sen der NATO-Mitgliedsländer. Die Notwendigkeit einer breiten Unterstützung in der öffent-liche Meinung sowie die Geheimhaltungserfordernisse erfolgreicher militärischer Operatio-nen stellen eine wichtige politische Herausforderung dar, obgleich diese durch ihren Gegen-satz spannungsgeladen ist. Was wir aber aus dem Chaos im ehemaligen Jugoslawien gelernthaben – eine Lehre, die sich nach dem 11. September bestätigt hat, ist, dass die politischeFührung einer Demokratie durchaus Zustimmung für Gewaltmaßnahmen bekommen kann,sofern sie eine offene Diskussion mit sachlichen Argumenten führt.

Wir sollten uns keine Illusionen machen. Die Reorientierung der NATO wird nicht leichtsein. Und wir werden heftige Auseinandersetzungen innerhalb der Allianz erleben, selbstwenn wir uns über das Ziel einig sind. In dieser Hinsicht gibt die NATO-Osterweiterung zueiniger Besorgnis Anlass. Ohne eine Reform des Entscheidungsmechanismus der NATO wirdihre Handlungsfähigkeit beeinträchtigt sein, denn je mehr neue Mitglieder eine Stimme in derNATO haben werden, desto schwieriger wird es in Zukunft sein, zu einem Konsens zu kom-men.

Allerdings sind Auseinandersetzungen unter Verbündeten normal, auch in Momenten ge-meinsamer existenzieller Bedrohung, wie es im Falle der Alliierten im Zweiten Weltkrieg undder NATO-Partner im Kalten Krieg geschah. Aber was die NATO von anderen Bündnissenwie der Anti-Hitler-Koalition, die nach dem Sieg über den gemeinsamen Feind auseinanderbrach, unterscheidet, ist das Bekenntnis zu Liberalität und zu demokratischen Werten. WennStaaten bereit sind, ihre Söhne aus Achtung vor diesen Werten zu opfern, und hier denke ichan jene Europäer, die in Afghanistan im gemeinsamen Kampf mit den Soldaten meines Lan-des gestorben sind, müssten sie auch die Weitsicht besitzen, etwaige Meinungsunterschiedezum Nutzen des Ganzen in realistischen Grenzen zu halten.

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NATO oder was?

Rüdiger Moniac

Nine-eleven sollte das Schlüsselwort für die von allen gewollte und deshalb anfangs fast fre-netisch beklatschte Wiedergeburt der NATO werden. Im Brüsseler Hauptquartier glaubtenPR- und Politik-Strategen aus Nine-eleven schnell ein, nein, das Werkzeug dafür machen zukönnen. Die magische Zahl zwang die europäischen Partner in eine geradezu traumwandleri-scher Einigkeit mit Amerika. Flugs, innerhalb von Stunden nur, war der Artikel-Fünf-Beschluss verabschiedet. Der Angriff auf die USA war zum Angriff auf alle Mitgliedstaatendes Bündnisses geworden. Seitdem ist ein gutes halbes Jahr vergangen. Nun: Was ist darausheute geworden? Der telefonische Notruf in den USA, zum Synonym geworden für den 11.September, erschüttert, bewegt, erdrückt – im Gegensatz zu uns Europäern – die Amerikanerimmer noch zutiefst.

Was haben wir daraus zu lernen? Erstens: Nirgendwo ist mehr der haltbare Leim vorhanden,der einst die Allianz zusammenhielt, als es darum ging, die Schwachen zu einen und in einemBündnis gegen die machtpolitischen Herausforderungen der Sowjetunion zu versammeln.Zweitens: Der 11. September, obwohl in der Art der eiskalten selbstmörderischen Ausführungin der modernen Geschichte beispiellos, hat nicht und nicht fortdauernd genug die angster-zeugende Wirkung entfaltet, die letztendlich zu Politik wird. Normale Menschen verlangendanach, dass unsere Politiker Vorsorge gegen derartige tiefe Schatten werfenden Widrigkeitentreffen. Drittens schließlich: Darüber zu lamentieren, hat wenig Sinn und bringt nichts. Essind Schlüsse zu ziehen, Schlüsse nicht alltäglicher Art jedenfalls, auf die nur der kommt, derden Mut zum Außergewöhnlichen, ja zum – vielleicht – noch nie da Gewesenen hat.

Man kann der Stimmung nachlaufen, auch Stimmungen. Aber macht das Größe aus? Schauenwir uns um: Alles, jedenfalls fast alles auf dem Sektor der Sicherheitsvorsorge wird heute inder Gesellschaft (um diesen amorphen Begriff zu benutzen) toleriert. Das schleichende Ver-hungern unserer Bundeswehr, weil man ihr nicht genug finanzielle Nahrung gewährt. Wererregt sich denn darüber, dass der Verteidigungsetat in seinem Geldwert faktisch schrumpft(weil er nicht mehr wächst und durch, wenn auch nur leichte Inflation an Finanzkraft ve r-liert)? Oder das schrecklich gleichgültige Achselzucken vieler über die fortschreitendeDeformierung des Gedankens der allgemeinen Wehrpflicht. Heute glauben politische Parteiensogar Wasser auf ihre Wahlmühlen leiten zu können, wenn sie die Wehrpflicht abschaffenwollen. Oder, und das sei nur das dritte von viel mehr möglichen Beispielen für eine erschre-ckend wachsende Sorglosigkeit gegenüber Gefahren, die längst hinter dem Horizont lauern:Eine Zusammenarbeit zwischen zivilen (auch polizeilichen) und militärischen Dienststellenwird nicht mehr geübt, um in Katastrophenfällen, bei überregional wirkenden Unglücken, bei– ja man stelle sich vor – terroristischen Angriffen ungeahnter Skrupellosigkeit bereit zu sein,helfen zu können, so schließlich das Schlimmste noch zu verhindern.

Das ist der Mikrokosmos Deutschland. Und damit rückt der weitere Horizont, der Makrokos-mos der NATO, vor unser aller Auge. Der europäische Horizont dieses ehemals Schicksals-gemeinschaft genannten Bündnisses zeigt ähnliche Zeichen allgemeiner Sorglosigkeit vor dennicht verschwundenen, nur in anderer Gestalt auftretenden Weltgefahren. Ein Headline Goalhat sich Europa gesteckt. 60.000 Soldaten Landstreitkräfte mit entsprechenden Fähigkeiten zuWasser und in der Luft will die EU in gut einem Jahr mit einer Durchhaltefähigkeit von einemJahr verfügbar haben. Das Papier ist geduldig, auf dem das steht. Die Wirklichkeit, über die

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die Fachleute berichten könnten, es aber nicht tun, weil ihnen doch keiner zuhören mag, siehtfreilich anders aus. Deprimierend sieht sie aus.

Nochmals die Frage wiederholt: Was müssen wir lernen? Nicht, dass nicht bekannt wäre, wasalles schief läuft auf dem Felde der (inneren wie äußeren) Sicherheitsvorsorge. Lernen müs-sen wir vielmehr, nach den Politikern zu suchen, die der darin steckenden Verantwortungnicht ausweichen wollen. Denn wer als Politiker erkannt hat, welche Sicherheitsmängel woliegen, und nicht ausweichen will, dies zu korrigieren, wird, wenn er die Tatsachen selbst be-greift und dann anderen begreiflich zu machen weiß, Unterstützung finden. Damit, dass erdabei das Vertrauen seiner Zuhörer gewinnt, erklimmt er die erste Stufe auf der Leiter zurErneuerung und Wiedergeburt eines modernen Sicherheitsdenkens und -fühlens, das heuteeben nicht da ist, weil es über die Jahre des Bramabarsierens über die Friedensdividende undüber die Freunde, von denen wir angeblich umgeben sind, bis zur Unscheinbarkeit zerfaserte.

Wenn das, dieses moderne Sicherheitsdenken, sich wieder eingebürgert hat, ja eingeBÜR-GERt hat (und den Bürger als den Verantwortungsträger in der Politik erreicht und estimiert),kann über die Erneuerung der NATO nachgedacht werden. Dass sie als Versicherung, aberauch als Handlungsorganisation für Herstellung von Sicherheit unbedingt gebraucht wird,steht außer Frage. Denn wo in der modernen Geschichte hat es die Kombination von Machtund Demokratie (wie sie bei unserem entscheidenden Bündnispartner vorhanden ist) je gege-ben? In seinem sicheren Schatten zufrieden zu leben, ist eine halbe Sache. Die ganze ist, mitihm von gleich zu gleich zusammenzuarbeiten. Wenn sich Europa beklagt, es habe keinenEinfluss auf die Politik der USA, ist das nicht Amerika anzulasten. Das ist der europäische, istunser Fehler. Korrigieren lässt er sich nur, wenn, beginnend in Deutschland, Bürgersinn inSachen Sicherheit entwickelt wird, und auf dieser soliden Basis Deutschlands Politik mit be-hutsamer Beharrlichkeit unseren Partnern zeigt und sagt, was Europa gemeinsam zu tun hat,um ein wirklich ebenbürtiger und damit geachteter Sicherheitspartner der USA zu werden.

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Die NATO muss Strategien und Strukturen ändern

Bernhard Moser

Die Ereignisse nach dem 11. September waren und sind Anlass, über die Zukunft der NATOnachzudenken.

Die Entscheidung der USA, sich im Kampf gegen den Terrorismus Bündnispartner – an denStrukturen der NATO vorbei – zu suchen, ist das Ergebnis von Problemen, mit denen die Al-lianz konfrontiert ist, die ich aufzulisten versuche. Danach stelle ich den Erklärungsversuchfür die "transatlantischen Dissonanzen" von Weidenfeld vor und schließe darauf aufbauendmit Überlegungen wie es mit der NATO weitergehen könnte.

1. Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt

Dies ist die unangenehme Erfahrung, mit der die NATO nach den Anschlägen am 11. Sep-tember konfrontiert wurde. Hatte man doch wenige Tage nach den Terrorattacken erstmals inder 52-jährigen Geschichte den Bündnisfall erklärt und war dann doch von den USA an denRand gedrängt worden. Im Kampf gegen den Terrorismus suchten sich die USA – vorbei anden Bündnisstrukturen – seine Bündnispartner nach eigenen Vorgaben aus: "Der Auftrag be-stimmt die Koalition, nicht die Koalition bestimmt den Auftrag" (US-VerteidigungsministerRumsfeld).

Die einen begannen daraufhin, die NATO bereits zu Grabe zu tragen: Mit der 'kosmischenBedeutung', die der Allianz in den Jahrzehnten der sowjetischen Bedrohung zukam, sei esjetzt vorbei, verkündete die International Herald Tribune; im Pentagon werde das Bündnis alsirrelevant abgetan. Francois Heisbourg, neuer Chef des Londoner International Institute forStrategic Studies, senkt den Daumen: Der alten NATO sei 'wahrlich der Garaus gemacht'worden. Und Charles Krauthammer, Kolumnist der Washington Post, schwingt triumphierenddas Totenglöcklein für den Multilateralismus, der die 'Kriegführung per Komitee' betreibeund, 'wie Clinton im Kosovo 18 Staaten ein Veto über Bombenziele geben will.' Nur einLeitmotiv und Erfolgsrezept gebe es künftig für die US-Außenpolitik: den Alleingang."1

Jacques Schuster sprach sogar vom "Tod der NATO"2. Auf der anderen Seite beschworenandere leidenschaftlich den Weiterbestand der Allianz, wie der ehemalige NATO-Oberbefehlshaber Wesley Clark3, plädierten für tief greifende Reformen, wie der ehemaligeVorsitzende des NATO-Militärausschusses, Klaus Naumann4, oder urgierten Hilfe für dieNATO wie deren Generalsekretär George Robertson. 5

Sollte dies tatsächlich das Ende des Bündnisses sein? War es doch der NATO in den letzten10 Jahren – trotz Verlust des gemeinsamen Feindes – gelungen, sich ein neues strategisches

1 Stelzenmüller, Constanze/Thumann, Michael: Kein Feind, kein Ehr&apos, in: Die Zeit 03/2002.2 Schuster, Jacques: Der Tod der NATO, in: Die Welt, 2.2.2002.3 Clark, Wesley K.: Wir brauchen die Konsensmaschine der NATO, in: Die Welt, 26.2.2002.

4 Naumann, Klaus: Die NATO muss Strukturen und Strategien gravierend ändern, in: Die Welt, 16.9.2001.5 Robertson: Die NATO braucht Hilfe. Pnn online. 2.3.2002.

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Konzept zu geben (von einem Bündnis kollektiver Verteidigung hin zu einem der kollektivenSicherheit) zu geben, eine Erweiterung zu verkraften, sich der Neubewertung der Beziehun-gen zu Russland zu stellen und die Funktionsfähigkeit in den Einsätzen in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo unter Beweis zu stellen. Man hätte erwarten können, dass dieserAngriff von außen dem Bündnis neuen Schwung verleihen sollte. Aber es kam eben anders.

In dieser "Erfolgsstory" der NATO der letzten 10 Jahre stecken, meiner Meinung nach, wennman "tiefer gräbt", auch Ursachen für die derzeitige Situation, die sich wiederum in den trans-atlantischen Beziehungen widerspiegeln.

Um die Frage nach der Zukunft des Bündnisses beantworten zu können, ist es erforderlich,sich diesen Fragen zu widmen.

2. Das neue strategische Konzept: Transatlantische Dissonanzen

In dem Konzept finden sich viele Kompromissformulierungen, die Raum für Interpretationenlassen und daher zu Konflikten führen können. 6

Uneinigkeit über die Notwendigkeit eines UNO-Mandates

Hinsichtlich der Mandatierung der neuen Einsatzspektren wird mehrfach auf die Hauptver-antwortung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen für die Bewahrung von Frieden undSicherheit hingewiesen. Für alle NATO-Einsätze wird "Übereinstimmung mit der Charta derVereinten Nationen angestrebt", was natürlich auch heißt, dass es Fälle geben kann, in denendies nicht möglich ist. Die NATO macht damit die Selbstmandatierung nicht zur Regel, lässtsie aber in nicht näher definierten Ausnahmefällen zu.

Erst jüngst, bei der 38. Sicherheitskonferenz in München (23.2.2002), wehrte sich der stell-vertretende US-Verteidigungsminister, Paul Wolfowitz, gegen die Ansicht, für Kampfeinsätzeseien UN-Mandate notwendig. Daran nehme er "großen Anstoß". Das sei vielleicht der"größte Meinungsunterschied" zwischen den Europäern und der USA. 7

Aktionsradius der NATO

Die NATO gab sich neue Aufgaben der Krisen- und Konfliktbewältigung mit globaler Di-mension – wie den Kampf gegen den Terrorismus -, sie umschrieb jedoch den euro-atlantischen Raum als ihre geografische Reichweite. Das strategische Konzept der NATOformuliert also eine globale Aufgabenstellung für einen regionalen geografischen Wirkungs-bereich, der obendrein nur vage definiert ist. Diese Formel war letztlich der Kompromiss ausden Debatten der Neunzigerjahre, als die Europäer – vornehmlich die Franzosen – eine Be-schränkung des Wirkungsraumes auf Europa und Nordamerika forderten, während die Ame-

6 Varwick, Johannes: Die Zukunft der NATO. Probleme und Perspektiven des transatlantischen Bündnisses

nach seinem 50. Geburtstag (www.dgap.org/texte/nato.pdf)

7 NATO besorgt wegen US-Alleingängen und Schwächung der Allianz. Saarland Online.www.sol.de/news/weltnews/81823.php3

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rikaner die NATO in globale Aufgaben ohne expliziten territorialen Fokus einbeziehen woll-ten. 8

Doch die Zeiten haben sich geändert. Jetzt sind es die USA, die eine globale Aufgabe wie dieTerrorbekämpfung nicht im Rahmen der NATO durchführen wollen. Zu möglichen Ursachenetwas später.

Rolle der Atomwaffen

Im Vorfeld des Washingtoner Gipfels war ein Streit über die künftige Rolle der Atomwaffenentstanden, nachdem der deutsche Außenminister Fischer vorgeschlagen hatte, die Optioneines nuklearen Ersteinsatzes zu überdenken. Die Sicherheitslage – so Fischer – rechtfertigediese Option nicht mehr. Insbesondere die drei Nuklearmächte der NATO verwiesen – unter-stützt von der Mehrheit der Bündnispartner – darauf, dass Bedrohungen durch biologische,chemische oder atomare Waffen auch künftig nur durch nukleare Gegendrohungen beant-wortet werden können.

Im Konzept hieß es dann unmissverständlich, dass nukleare Streitkräfte auch weiterhin einewesentliche Rolle spielen werden, indem sie dafür sorgen, dass "ein Angreifer im Ungewissendarüber bleibt, wie die Bündnispartner auf einen militärischen Angriff reagieren würden".Zudem werde das Bündnis "angemessene nukleare Streitkräfte in Europa beibehalten". 9

In jüngster Zeit war das Thema "Atomwaffen" durch neue US-Pläne wiederum in die Schlag-zeilen gekommen. Einem zum Teil streng geheimen Bericht des Pentagon an den US-Kongress ("Nuclear Posture Review": eine Übersicht über die atomare Verteidigungsbereit-schaft der USA) zufolge existieren Pläne, eine neue Generation von Nuklearwaffen für einenmöglichen Einsatz gegen insgesamt sieben Staaten zu entwickeln. Zusätzlich zu den von Prä-sident Bush im Januar 2002 in seiner Rede an die Nation als "Achse des Bösen" bezeichnetendrei Länder Irak, Iran und Nordkorea handelt es sich dabei um Libyen, Syrien, sowie Chinaund Russland. Die genannten Staaten stehen, mit Ausnahme von China und Russland, auchauf der Liste jener Länder, die den Terrorismus unterstützen.

In dem Bericht heißt es unter anderem, dass die neu zu entwickelnden Atomwaffen in dreiverschiedenen Szenarien verwendet werden können: gegen militärische Ziele, die mit her-kömmlichen Mitteln nicht bekämpft werden können, als Gegenschlag auf einen Angriff mitatomaren, biologischen und chemischen Waffen oder "im Falle von überraschenden Ent-wicklungen". Die USA, so der Bericht, sähen sich mit neuen Eventualfällen konfrontiert, etwa"einer Attacke des Irak gegen Israel oder dessen Nachbarn oder einer nordkoreanischen Atta-cke auf Südkorea oder eine militärische Konfrontation über den Status von Taiwan". Eineweitere Überlegung sei der Einsatz von Nuklearwaffen, um feindliche Vorräte von biologi-schen, chemischen und anderen Vernichtungswaffen zu eliminieren. 10

Kritiker befürchten, dass diese Überlegungen den Schritt vom Abschreckungsmittel hin zuaggressiven Präventivangriffen beinhalten könnten. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung kamzu einem ungünstigen Zeitpunkt: Am Vorabend einer Reise von US-Vizepräsident Cheneynach Europa und in den Nahen Osten mit dem Ziel, die weitere wichtige Unterstützung wich-

8 Varwick, Johannes: Die Zukunft der NATO.

9 Ebd.10 Der Standard, 11.3.2002. S.3.

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tiger befreundeter Staaten für den Anti-Terror-Krieg zu konsolidieren und Druck auf den Irakauszuüben. Die Irritationen bei den Verbündeten waren vorherzusehen, ganz abgesehen vonGedanken, die sich China und Russland machen mussten.

3. Der Einsatz im Kosovo

Für NATO-Generalsekretär Robertson zählt der in nur 78 Tagen gewonnene Krieg im Kosovozum "Höhepunkt" in der NATO-Geschichte.

Nicht nur der bereits erwähnte Kolumnist der "Washington Post" sieht dies anders, sondernauch die USA dürften ihrerseits andere Erfahrungen gemacht und die Lehren daraus gezogenhaben: Die USA könnten wegen ihrer negativen Erfahrungen mit der Schwerfälligkeit kollek-tiver Entscheidungsprozesse bei den Luftangriffen gegen Jugoslawien im Kosovo-Konflikt1999 nicht mehr bereit gewesen sein, in Afghanistan im Rahmen der Allianz vorzugehen,sondern sie setzten auf die bilaterale Karte.

Dazu kommen noch Dissonanzen in einer Reihe weiterer Fälle.

4. Die Fortführung des Kampfes gegen den Terrorismus

Europäer und Amerikaner sind sich zunehmend uneins über den Fortgang des Antiterrorfeld-zuges, wie die 38. Sicherheitskonferenz in München, aber auch die Stellungnahme vonNATO-Generalsekretär Roberts beim Weltwirtschaftsforum in New York zeigte.

In seiner Rede zur Lage der Nation im Januar 2002 hatte US-Präsident Bush Nordkorea, Iranund Irak vorgeworfen, den Terrorismus zu unterstützen und damit Spekulationen über mögli-che Angriffe außerhalb Afghanistans genährt.

Der einflussreiche US-Senator John McCain wurde in München noch deutlicher: "Die nächsteFront ist klar. In Bagdad sitzt ein Terrorist. Der Tag der Wahrheit kommt." Diktatoren, dieMassenvernichtungswaffen bauten und Terroristen Unterschlupf gewährten, müssten jetztwissen, dass allein schon dieses Verhalten den "casus belli" bedeute, warnte McCain.11

Der deutsche Verteidigungsminister Rudolf Scharping stellte klar: "Es gibt keine militäri-schen Planungen, was den Irak angeht." Der Irak stelle zweifellos ein politisches Problem dar.Aber das müsse man mit internationaler Überwachung und mit Druck anfassen "und nicht amfalschen Ende beginnen, nämlich mit militärisch-operativer Planung", sagte Scharping. 12

Auch Karl Lamers, außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, mahnte die Amerika-ner: "Bitte beteiligen Sie uns auch bei der Planung der Strategie. Es kann nicht sein, dass Sieallein entscheiden und wir folgen müssen." Die Europäer müssten dafür sorgen, dass sie auchgebraucht werden, sagte Lamers.13

11 Kampf gegen den Terror: Zwist USA – Europa, in: Die Presse, 4.2.2002.

12 Ebd.13 Ebd.

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NATO-Generalsekretär Robertson machte beim Weltwirtschaftsforum in New York klar, dassdie Wertung des Terrorangriffes vom 11. September als NATO-Bündnisfall keineswegs auchfür Irak, Iran oder Nordkorea gelte. "Da müssen die USA schon überzeugende Beweise vorle-gen."14

5. Das "liebe Geld" und "die Lücken"

NATO-Generalsekretär Robertson forderte in München die europäischen NATO-Staaten auf,ihre Militärbudgets zu erhöhen, damit die Lücke in der Militärtechnologie nicht weiterwachse.

Ein einziger Blick auf die Verteidigungsausgaben sagt alles. Die europäischen NATO-Staateninvestieren laut Robertson rund 140 Mrd. US-Dollar jährlich in ihre Verteidigung. Im neuenHaushaltsentwurf der USA sind für Verteidigung 379 Mrd. US-Dollar vorgesehen. 15

Die Gründe für die Finanzierungslücke sind vielfältig. Nach dem Ende des Kalten Kriegeswurde die Beschneidung der Militäretats als "Friedensdividende" verstanden. Wo keine Be-drohung ist, braucht es auch keine Soldaten, so das bequeme Kalkül.

Der bayerische Ministerpräsident Stoiber forderte in München von den Europäern mehr Be-reitschaft zu erheblichen finanziellen Aufwendungen zur Verteidigung von Freiheit und Si-cherheit. Eine Erhöhung des Militärbudgets wie in den USA sei in Europa nicht denkbar, aberdie Europäer dürften sich nicht nur auf die USA verlassen. Außerdem sei die technologischeLücke ("Capability Gap") zwischen Europa und den USA für eine erfolgreiche Partnerschaftauf Dauer zu groß. Stoiber befürchtete, dass die europäischen Soldaten gar nicht mehr zumgemeinsamen Handeln mit den US-Truppen in der Lage seien. 16

Über die Existenz dieses Abstandes und den hiermit verbundenen Problemen waren sich dieTeilnehmer der Münchner Konferenz einig. Die Technologielücke gefährde mittlerweile die"Interoperabilität" zwischen amerikanischen und europäischen Einheiten. Schon heute gäbe esbei der praktischen Durchführung gemeinsamer militärischer Operationen erhebliche Proble-me.

Der US-Senator Liebermann erklärte, ein Fortbestehen dieser Lücke "gefährdet ihre Sicher-heit, belastet uns überproportional und schafft eine unangenehme Unausgewogenheit in unse-rer Allianz".

Die Europäer monierten in diesem Zusammenhang die Weigerung der Amerikaner, technolo-gische Entwicklungen mit den Europäern zu teilen. Eine Forderung, die auch Robertson un-terstützte. Die USA müssten den Prozess der Modernisierung der europäischen Verteidigungunterstützen. Durch Aufhebung unnötiger Beschränkungen auf dem Gebiet des Technologie-transfers und der industriellen Zusammenarbeit könne Washington die Qualität der vorhande-nen europäischen Fähigkeiten verbessern und die Probleme in der Zusammenarbeit der Streit-kräfte verringern. Dies sei auch im Interesse der USA. Denn ohne einen solchen Transfer, sowarnte Robertson, werde angesichts der hohen amerikanischen Investitionen "praktische Inte- 14 Lord Robertson mahnt die Europäer zu "smarten Investitionen" in ihre Verteidigung, in: Die Presse,

2.2.2002.

15 www.n-tv.de/2901592.html; Die Welt, 4.2.2002.16 Kampf gegen den Terror: Zwist USA.

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roperabilität mit Verbündeten, sei es innerhalb der NATO, oder in Koalitionen unmöglich"werden. Washington hätte dann "die Wahl alleine oder gar nicht zu handeln, und das ist keineechte Wahl". 17

6. Erklärungen

Nach der Darstellung dieses Katalogs an Differenzen, Dissonanzen und ungelösten Proble-men fällt mir ein, dass Werner Weidenfeld 2001 geschrieben hat, dass "Demokratie, Markt-wirtschaft und westliche Allianz auch konkurrenzlos scheitern könnten. Schleichende Aus-zehrungen, nicht eruptive Oberflächenverschiebungen – dies ist der Charakter von Gefähr-dungen, die auf leisen Sohlen daherkommen. Für die politische Wahrnehmung solcher Ent-wicklungen ist ein seismografisches Gespür notwendig. " Und er bezweifelte, ob eine "solcheSensibilität auf beiden Seiten des Atlantiks gegeben ist".

Er liefert auch nachvollziehbare Erklärungen für die aktuelle Situation – bedeutsam für dieFragen der zukünftigen Entwicklung –, in dem er ein Zukunftspanorama der westlichen Weltzeichnet, das durch vier neue Konstellationen gekennzeichnet ist.18

An die Stelle warmer Emotionen tritt ein kühles Kalkül

Wesentlichen Anteil an diesem atmosphärischen Wechsel hat der Generationenwechsel derpolitischen Eliten auf beiden Seiten des Atlantiks. Die alte Atlantiker-Generation ist aus denFührungsetagen verschwunden. Die heute regierende Generation hat eine andere Art von So-zialisation erfahren. In ihrer Jugendzeit dominierte eher die Auflehnung gegen die Versteine-rungen jener transatlantischen Gründerzeit. Daraus erwächst ein anderes mentales Filtersys-tem – nicht antiatlantisch, sehr wohl aber kühl abwägend, welchem Faktor der internationalenPolitik in welcher Situation welches Gewicht zukommt. Der Handlungsspielraum ist größergeworden.

Das Partnerbild aus dem Kalten Krieg wird abgelöst von traditionellen Ambivalenzen

Nachlassendes Interesse am Partner nach der existenziellen Bedrohung durch die Sowjetunionwird spürbar. Im Zuge der Entdramatisierung der Lage wuchs die Gleichgültigkeit. In logi-scher Konsequenz erhalten/erhielten Meinungsverschiedenheiten ein größeres Gewicht (sieheoben).

Amerika entlässt Europa aus der weltpolitischen Umklammerung und folgt dem Imperativ der

Innenpolitik

In den Vereinigten Staaten regiert die Innenpolitik – von der Balkan-Politik, über die Rake-tenabwehr, den Klimaschutz bis zur Terrorbekämpfung. Die Europäer haben die Tragweitedieser fundamentalen Veränderung bis heute nicht wahrgenommen, sonst könnten sie nicht

17 Hiersemenzel, Philip: Die wachsende Technologie-Lücke zwischen den USA und Europa droht die NATO

zu spalten. www.e-politik.de/beitrag.cfm?Beitrag_ID=1550

18 Auszugsweise Wiedergabe von Weidenfeld, Werner: Die neue Ära der transatlantischen Beziehungen, in:Internationale Politik, Nr.6, Juni 2001.

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immer wieder von amerikanischen Entscheidungen überrascht sein. Die von der Innenpolitikvorgegebenen Handlungsspielräume sind das Maß aller außenpolitischen Dinge. In der Kon-sequenz bringt dies nicht einen neuen amerikanischen Isolationismus oder eine antieuropäi-sche Disposition. Europa wird lediglich aus seiner früheren privilegierten Rolle in die interes-sensgeleitete Normalität entlassen. Wenn es die jeweilige Lage gebietet, wird die Zusammen-arbeit gesucht. Unübersehbar ist dann oftmals das amerikanische Unverständnis für das politi-sche Produkt, das Europa liefert.

Die strikte Outputorientierung begreift nicht die langwierigen, komplexen Entscheidungspro-zesse, etwa der europäischen Integration oder im Kosovo. Zu schwerfällig, zu ineffizient, zulangsam vollzieht sich das alles für den amerikanischen Partner.

Umgekehrt ist auf der europäischen Seite das Verständnis für die Bedingungen und Möglich-keiten des amerikanischen Partners begrenzt: Als beispielsweise seinerzeit die Balkan-Krisein einen Krieg umzuschlagen drohte, bemühten sich die Europäer zunächst erfolglos, die USAzu militärischer Präsenz zu überreden. Die amerikanische Öffentlichkeit ließ jedes Interesseam Balkan vermissen – dieses Desinteresse schockierte die Europäer. Die innenpolitischeAtmosphäre in den USA änderte sich erst mit Bildern über die Gräueltaten auf dem Balkan.Als die USA dann eingriffen, beschränkten sie sich nicht auf eine Nebenrolle, sondern über-nahmen gleich das Ruder. Sie drängten die Europäer an den Rand. Zweiter Schock für dieEuropäer: Sie waren nur mehr Beiwerk. Die Konsequenz der Europäer, die wiederum dieAmerikaner nicht verstanden: Aufbau einer eigenen militärischen Kapazität.

Das Beispiel Balkan zeigt einen elementaren Sachverhalt: Europa sitzt in der Emanzipations-falle: Es befreit sich aus der amerikanischen Bevormundung, ohne weltpolitisch laufen gelerntzu haben. Europa muss ein eigenständiges Handlungsformat entwickeln, ohne ein strategi-sches Konzept und eine Ordnung der Prioritäten zu besitzen. Europa kann nicht mehr im ame-rikanischen Windschatten treiben, aber es kann auch noch nicht ohne amerikanische Vorga-ben seinen Kurs halten.

Diese Doppelbödigkeit der europäischen Aufführung verwirrt sichtlich den amerikanischenPartner. Washington versucht sich zu helfen, indem es auf alte Muster zurückgreift: entwederden Alleingang oder die punktuelle Abstimmung mit einzelnen europäischen Führungsmäch-ten.

Nur dort, wo der europäische Output stimmt, werden die USA Europa wirklich ernsthaft zurKenntnis nehmen.

Am Ende zählen nur noch die handfesten Interessen

Die USA sind sich bewusst, dass sie die einzig verbliebene Weltmacht sind. Das reduziert denDruck dauerhaft Allianzen einzugehen. Aber auch eine singuläre Supermacht braucht begle i-tende Abstützungen. Dazu erscheint es nützlich, wenigstens zeitweise Partner zu haben, inEuropa, Asien, Arabien oder sonst wo.

Dann können Lasten geteilt und Stabilitätspartnerschaften eingegangen werden, Aber aufgleichem Niveau sind diese Netzwerke nicht angesiedelt. Sie sind funktional gemeint undpunktuell von Nutzen.

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Zum Abschluss geht Weidenfeld noch den europäischen Defiziten nach. Hauptdefizit: es fehltihnen nicht an internationalem Potenzial – nein, es fehlt die strategische Orientierung. Es fehltihnen das weltpolitische Kalkül. Und es fehlt ihnen eine nüchterne, klare Definition ihrer Inte-ressen.

Nach diesem umfangreichen Problemaufriss und den plausiblen Erklärungen von Weidenfeld

einige Überlegungen, wie es mit der NATO weitergehen könnte.

7. "Historische" Notwendigkeiten

Ziel sollte es sein, eine transatlantische Strategiegemeinschaft19 aufzubauen, die sich folgen-den Aufgaben stellt:

– gemeinsame Strategie zur sicherheitspolitischen Bekämpfung des Terrors;– ein umfassender Plan zur Bekämpfung der Armut und– ein Projekt für die Transformation der fundamentalistisch gefährdeten Regionen.

Dann wäre die NATO auf dem Weg zu einer neuen Allianz von globaler Reichweite.

Paradigmenwechsel in der Sicherheitspolitik

Notwendig ist ein ganzheitlicher Ansatz bei der inneren und äußeren Sicherheit. "Wenn Ter-roristen die Grenze zwischen Verbrechen und Krieg übertreten, muss auch die Zusammenar-beit zwischen zivilen und militärischen Behörden enger werden."20

Das heißt zum einen, dass Sicherheitsvorsorge im nationalen Rahmen künftig einfach nichtmehr durchführbar ist. Sie erfordert nicht nur einen internationalen, sondern auch einen res-sortübergreifenden nationalen Ansatz – also die enge Zusammenarbeit der verschiedenen Si-cherheitsapparate eines Staates.

Professor Reiner Huber, Bundeswehrhochschule München, sagte dazu bei einer Expertenta-gung der Hanns-Seidel-Stiftung in Wildbad Kreuth: "Sicherheitspolitik wird die große Ges-taltungsaufgabe für die Politik. Der wachsenden Verwundbarkeit postmoderner Industrie-staaten durch asymmetrische Gewaltformen kann nur durch eine effiziente Zusammenarbeitsämtlicher Sicherheitsapparate und ziviler Institutionen begegnet werden." Notwendig seiaber auch die Schaffung eines neuen Typus von Streitkräften, die sich rasch auf neue Kon-fliktformen einstellen können. 21

Zur Verbesserung nachrichtendienstlicher Aufklärung, zum Aufbau effizienter Interventions-kräfte und von Spezialeinheiten – gerade auch in Europa – gibt es nach Ansicht von Expertenkeine Alternative.

19 Weidenfeld, Werner: Wohin Washington will, bleibt unklar, in: Die Welt, 12.11.2001.

20 Robertson, George: Acht Antworten auf den Terror, in: Die Welt, 7.10.2001.21 Bischof, Burghard: Der Sicherheitsschock: Zeit des Durchwurstelns is t vorbei, in: Die Presse, 25.10.2001.

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Vorbeugung

Notwendig ist die Intensivierung von Frühwarnung und Aufklärung. Das bedeutet, dass alleNATO-Mitgliedstaaten ihre Erkenntnisse an die NATO weitergeben und in Brüssel gemein-sam auswerten – das gilt auch für die technische Aufklärung. Es haben die Ereignisse vom 11.September auch "schmerzlich" gezeigt, dass auf die herkömmliche Aufklärung durch Spiona-ge nicht verzichtet werden kann bzw. diese sogar intensiviert werden muss.

Neuer Typus von Streitkräften

Klaus Naumann bringt einen interessanten Diskussionsbeitrag für eine neue Streitkräfte-struktur: einerseits ein aktiver, weit außerhalb der NATO-Staaten operierende Teil – ich den-ke vornehmlich kleine Gruppen für schnelle, geheime Einsätze (Spezialkräfte) –, der Risikenfern hält, andererseits der schützende Teil, der überwiegend im Bündnisgebiet operiert, oftgemeinsam mit Polizeieinheiten und anderen Sicherheitskräften, um Angriffe zu verhindernoder deren Wirkung zu begrenzen. 22

Die Frage der Finanzen stellt sich auf Grund der neuen Herausforderungen und Aufgabenvöllig neu. Die Europäer müssen ernsthaft bereit und in der Lage sein, moderne militärischeKräfte bereitzustellen. Das heißt einerseits, den politischen Willen aufzubringen, und anderer-seits mehr Geld, das klug ausgegeben werden muss. Die Amerikaner wiederum sollten denEuropäern durch die Aufhebung der Beschränkungen im Technologietransfer entgegenkom-men. Sie sollten auch das zunehmende Verantwortungsgefühl Europas, das sich in der Exis-tenz der schnellen Eingreiftruppe widerspiegelt, positiv beurteilen.

USA – NATO – Europäische Union

Amerikanische Politiker verknüpfen mit der EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik durch-aus Hoffnungen. In erster Linie geht es dabei um eine mögliche Entlastung.

Der Kern der amerikanischen Hoffnungen besteht darin, dass die NATO durch europäischeVerteidigungsinitiativen stärker gemacht wird. Dies gilt sowohl militärisch als auch politisch.Militärisch sollen neue europäische Anstrengungen zu verbesserten militärischen Optionenführen, politisch soll die bessere Balance zwischen Europa und Amerika das Bündnis stärken.

Die USA sind also durchaus für eine stärkere verteidigungspolitische Rolle Europas. Diesschließt auch Aktionen nicht aus, die nur von den Europäern durchgeführt werden, wenn dieNATO als Ganzes – sprich USA – keine Notwendigkeit zur Beteiligung sieht. Zu diesemZweck wurde auf dem NATO-Gipfel von Berlin 1996 ein Konzept der "Combined Joint TaskForces" (CJTF) verabschiedet, das es nach dem Motto "trennbar, aber nicht getrennt" europäi-schen NATO-Streitkräften ohne amerikanische Beteiligung erlauben soll, unter Nutzung vonNATO-Infrastruktur militärische Einsätze durchzuführen. Allerdings müsste dem die Zu-stimmung des NATO-Rates vorangehen – die USA hätten somit ein Vetorecht. Während be-sonders Frankreich, aber auch andere europäische NATO-Partner CJTF als Instrument größe-rer europäischer Unabhängigkeit ansahen, fasste Washington dieses Konzept als Mittel auf,der NATO flexiblere Einsatzoptionen zu verschaffen.

22 Naumann, Klaus: Die NATO muss Strukturen und Strategien gravierend ändern, in: Die Welt, 16.9.2001.

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Mit den Beschlüssen von Köln und Helsinki ging die EU nun insofern über dieses Konzepthinaus, als sie in ihrem eigenen Rahmen – also außerhalb der NATO – einen Entscheidungs-mechanismus entwickelte und auch die Verfügbarkeit entsprechender Mittel zur Durchfüh-rung solcher Entscheidungen anstrebte – die schnelle Eingreiftruppe, die nunmehr in der Lageist, kleinere, begrenzte Kriseneinsätze mit niedrigem Gewaltpotenzial durchzuführen Bis2006 soll die volle Einsatzbereitschaft gewährleistet sein.

Wie weit die Unabhängigkeit von der NATO bzw. den USA letztlich gehen soll, darüber sindsich die Europäer selbst keineswegs einig. Während die Franzosen traditionell maximale Ei-genständigkeit anstreben, legen andere – darunter Großbritannien und Deutschland – mehrWert darauf, die NATO durch mögliche EU-Beschlüsse nicht in Frage zu stellen.

Es sind die französischen Bestrebungen – eigenständige europäische Entscheidungsstrukturenund eigenständige militärische Fähigkeiten, somit auch ohne Zustimmung der USA hand-lungsfähig zu sein –, die viele Amerikaner misstrauisch machen. Sie befürchten, dass die EUauf Grund des französischen Einflusses doch noch eine völlige Autonomie im Verhältnis zurNATO anstreben könnten.

Solange Europa jedoch dafür nicht die konkreten Voraussetzungen u.a. in Form von ernst zunehmenden militärischen Fähigkeiten geschaffen hat, bleibt die Debatte um eine europäischesicherheitspolitische Selbstständigkeit ohnehin akademisch.

Das europäische Modell

Mit einem auf den ersten Blick utopisch anmutenden Vorschlag, die europäischen Interessenzu bündeln und mit "einer Zunge zu sprechen, lassen Bertram, Andreani und Grant aufhor-chen: Da kein einzelner EU-Staat die Rolle ausfüllen kann, die Amerika innerhalb der NATOwährend des Kalten Krieges zukam, müssen Großbritannien, Frankreich und Deutschlanddiese Rolle innerhalb der EU gemeinsam ausfüllen. Wenn sich auch nur einer dieser Staatengegen gemeinsame Unternehmungen stellt, würde das die Glaubwürdigkeit aller EU-Unternehmungen in frage stellen. Doch wenn die drei genannten Staaten gemeinsam alleVorhaben energisch vorantreiben, werden sie den Willen der meisten, wenn nicht sogar allerEU-Mitgliedstaaten repräsentieren.

Die Zugehörigkeit zu dieser Dreiergruppe hat keine Befehlsgewalt, sehr wohl jedoch eineFührungsverantwortung zur Folge. Sollten sich diese drei Staaten im Falle einer Krise nichteinigen, wäre das der Ausstieg aus dem europäischen Modell; wenn die drei sich allerdingseinigen, wäre Europa in die Pflicht genommen. Folglich müssten Großbritannien, Frankreichund Deutschland die EU als ein Ganzes betrachten und die größten Lasten und auch diegrößten Risiken auf sich nehmen. Dabei muss ihre "Führerschaft" eine informelle, und zudemeine transparente und inklusive bleiben. Leider ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt keiner derdrei auf diese Aufgabe vorbereitet. Doch ihre Verbindlichkeiten in Hinblick auf die militäri-sche Revolution Europas verpflichten die drei Staaten dazu, sich zusammenzuschließen unddiese Aufgabe zu erfüllen. 23

23 Bertram, Christoph/Andreani, Gilles/Grant, Charles: Europas Militär-Revolution. Auch in Sachen Verteidi-

gungspolitik muss sich die EU zu einem erwachsenen internationalen Akteur entwickeln – Gastkommentar,in: Die Welt, 2.3.2001.

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8. Nicht entweder – oder, sondern sowohl – als auch

Viele Menschen in Europa glauben, dass sich mit der Beseitigung ungerechter Verteilungs-mechanismen und wirtschaftlicher Not, entsprechenden Sozialprogrammen und Entwick-lungszusammenarbeit allein alle Konflikte der Welt lösen lassen. Dass bestimmte Machtam-bitionen oder gefährliche Ideen unabhängig davon bestehen und jenseits aller Kompromiss-möglichkeiten liegen könnten, bzw. dass mit gewissen politischen Führern Verhandlungenzwecklos sein könnten, darf nicht denkunmöglich sein.

Die Gestalt der zukünftigen Risiken macht einen präventiven, ja pro-aktiven Politikansatzmöglich, fordert ihn sogar. Die Risiken der Zukunft müssen zunächst politisch angegangenwerden. Der Einsatz von militärischen Mitteln muss "ultima ratio" bleiben. Aber es gilt auchheute noch das Wort von Friedrich dem Großen, dass Diplomatie ohne Streitkräfte wie einOrchester ohne Instrumente ist. Der Einsatz von diplomatischen Mitteln ist umso glaubwürdi-ger und nachhaltiger, je mehr dieser Einsatz mit Handlungsoptionen untermauert werdenkann. Eine Option ist daher der Einsatz militärischer Gewalt. Wenn man die Aufgabe des Kri-senmanagements wirklich ernst nehmen will, dann muss die Drohung mit militärischer Ge-walt glaubhaft sein.

Die Amerikaner wiederum sind aufgefordert, den sozial sensibilisierten Europäern ihr Ein-treten für Investitionen in Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Bewahrung der Lebensgrundlagenunter Einschluss ökonomischer und ökologischer Fragen bis hin zum Dialog zwischen Kultu-ren und Religionen nicht als Schwäche oder Stehlen aus der Verantwortung auszulegen.

Wenn die Europäer die USA tatsächlich in ihrer Politik beeinflussen wollen, dann müssen siesich Gehör verschaffen. Gehör verschaffen, indem sie ihren Beitrag leisten, indem sie mehrGeld für die Verteidigung ausgeben. Die Meinung dessen, der nichts beisteuern kann oderwill, wird denjenigen, der handeln will oder muss, zunehmend weniger interessieren.

Eine Allianz von globaler Reichweite muss sowohl über die entsprechenden militärischenKapazitäten zur Herstellung/Erhaltung des Friedens verfügen als auch über politische Kon-zepte zur Prävention, etwa über einen umfassenden Plan zur Bekämpfung der Armut und einProjekt für die Transformation fundamentalistisch gefährdeter Regionen.

Dies erfordert von beiden Seiten den politischen Willen und eine gerechte Lastenverteilung.Dann wird sich die NATO als eine Allianz von globaler Reichweite positionieren können.

Diese Änderung der Strategie und der Strukturen muss Vorrang vor einer engeren Zusam-menarbeit mit Russland oder vor einer Erweiterung haben, weil sonst könnte es passieren,dass die NATO genau dann unfähig ist, zu agieren, wenn sie am dringendsten gebraucht wird.

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Die Zukunft der NATO

Horst Harnischfeger

1. Vom Verteidigungsbündnis zum Weltpolizisten

Die NATO wurde 1949 als Verteidigungsbündnis gegründet. Als solches hatte sie einen klardefinierten Gegner oder potenziellen Angreifer: Die Sowjetunion. Nach deren Auflösung ent-fiel die raison d'être, die für die Gründung ausschlaggebend war. Dies hätte in den Neunzi-gerjahren ein Nachdenken darüber auslösen müssen, ob das Bündnis fortzusetzen sich lohnt.Das geschah aber nicht. Im Gegenteil: Durch die Neuaufnahme von weiteren Mitgliedslän-dern aus dem ehemaligen Ostblock, nämlich Polen, Tschechien und Ungarn hat das Verteidi-gungsbündnis noch eine Ausdehnung auf jetzt 19 Mitglieder erfahren, und es soll in diesemJahr noch über weitere Neuaufnahmen verhandelt werden. Die NATO scheint also einequicklebendige Organisation, die über ihren Entstehungsgrund hinaus einen neuen Sinn ge-funden zu haben scheint.

Dieser Sinn ist allerdings – betrachtet man die Motive der neu beigetretenen Länder – so neunicht. Die Sowjetunion war aus deren Sicht nicht ein auf der kommunistischen Ideologie auf-gebauter Staatenbund, sondern ein russisches Imperium, eine Sichtweise, die durch zahlreicheFakten begründet ist. Aus der historischen Erfahrung, die freilich auch weiter zurückreicht alsnur bis zum Beginn der Sowjetunion und des Warschauer Paktes, bleibt die Russische Föde-ration im Bewusstsein zumindest der Mitteleuropäer ein potenzieller Aggressor mit imperia-len Ambitionen. Dieses Bewusstsein wird auch durch die gegenwärtige wirtschaftliche undmilitärische Schwäche Russlands nicht ausgelöscht oder auch nur in seiner Intensität vermin-dert.

Daran ändern auch die Bemühungen aller westlicher Staaten nichts, Russland mit zahlreichenMaßnahmen auf dem Weg in eine demokratische und kapitalistische Gesellschaft zu unter-stützen. Selbst die NATO versucht, durch Dialog und Kooperation Vertrauen zu schaffen unddadurch den Frieden zu sichern. Ein erster Schritt in diese Richtung war 1991 die Gründungdes Nordatlantischen Kooperationsrats. Er wurde unter der neuen Bezeichnung Euro-Atlantischer Partnerschaftsrat zum wichtigsten Forum für Konsultation und Zusammenarbeitzwischen der NATO und Nicht-Mitgliedstaaten im Euro-Atlantischen Raum.

Wie kann aber ein Militärbündnis lebendig bleiben, dem das Feindbild abhanden gekommenist? Die Russische Föderation ist nur ein potenzielles Feindbild. Andere Szenarien für einevon außen kommende militärische Bedrohung von NATO-Mitgliedern sind derzeit nicht ab-sehbar. Es gibt auch keine Hinweise darauf, dass die ideologischen Blöcke, die den KaltenKrieg untereinander austrugen, durch eine gleichartige Konfrontation der Zivilisationen er-setzt werden (wie Samuel Huntington behauptet). Insbesondere ist der Islam als eine derWeltzivilisationen nicht geeignet, die Rolle des früheren Ostblocks einzunehmen. Dazu fehltihm die einheitliche politische und militärische Organisation. Die islamischen Fundamenta-listen mögen zwar Hass und Gewalt gegen den teuflischen Westen und besonders gegen dieVereinigten Staaten predigen, doch ist damit nicht eine dem kalten Krieg vergleichbareKonstellation gegeben.

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1.1 Bekämpfung des Terrorismus

Die Angriffe auf das World Trade Center und das Pentagon im September 2001 haben zwarinnerhalb der NATO die Erklärung des Bündnisfalls ausgelöst, doch ist dies kein Krieg nachder Art wie ihn die Welt seit Jahrtausenden kennt, in dem sich bewaffnete Heere gegenüber-stehen und versuchen, sich wechselseitig zu besiegen, wenn nicht zu vernichten. Nur für dieseArt Krieg ist die Organisation der NATO eingerichtet. Terroristen können überall sein, undihr Wesen besteht in der Unsichtbarkeit bis zu dem Zeitpunkt, in dem sie zuschlagen. Es gibtvon Seiten der Terroristen keine Kriegserklärung, weil sie nicht in einem Staat oder einer ver-gleichbaren Struktur organisiert sind, und Kriegsziele sind schwer auszumachen, es sei dennman will Zerstörung und Mord an Unbeteiligten als ein solches Ziel ansehen. Das wider-spricht aber zutiefst unseren moralischen Vorstellungen, d.h. wir würden uns selbst verleug-nen, wollten wir auf die gleiche Art und Weise zurückschlagen. Von der Seite der NATOfehlt sozusagen der Adressat für eine Kriegserklärung, da das Wesen des Terrorismus seineUnsichtbarkeit ist.

Terroristen sind herkömmlichen Gegnern eines Verteidigungsbündnisses nicht vergleichbar.Wenn wir in dem Terrorismus ein Feindbild sehen wollen, das für die NATO relevant ist –und es ist zu befürchten, dass wir dies tun müssen –, dann ergeben sich völlig neue undzugleich schwierige Problemlagen für die Allianz. Der kalte Krieg war kein Krieg, weil dieGewaltanwendung ausblieb. Es war ein Frieden mit wechselseitiger Bedrohung. Bei derHypothese der Terrorismusbekämpfung als eine der entscheidenden Aufgaben der NATOwird es keinen Frieden geben, sondern wir werden uns auf permanente Ausübung von Gewalteinstellen müssen, sei es von Seiten der Terroristen, sei es von Seiten der NATO. Wie einesolche Entwicklung sich gestalten kann, ist in Palästina zu studieren, wo terroristische Gewaltund ihre Beantwortung mit militärischen Mitteln eine nicht enden wollende Spirale in Ganggesetzt haben. Die Beteiligten scheinen keinen Ausweg aus dem täglich vermehrten Grauenzu sehen.

Die Kriegserklärung an den Terrorismus durch Präsident Busch und die daraufhin folgendenAktionen in Afghanistan scheinen dieser Beobachtung zu widersprechen. Dort wurde eineBasis des Terrorismus zerstört und seitdem erfolgten keine Attentate mehr. Doch der Scheintrügt, denn der Terrorismus ist eine Hydra, der ständig neue Köpfe wachsen, die früher oderspäter von einer anderen und unvermuteten Seite her mit ihren giftigen Rachen zuschlagen. Jehärter und gewalttätiger der Krieg gegen Terroristen in fernen Ländern geführt wird, destomehr scheinen die terroristischen Zirkel Zulauf zu erhalten. Selbst wenn es gelingen sollte,Afghanistan zu befrieden bzw. die letzten Positionen der Taliban und Al-Quaida zu zerstören,so wird von Vielen in der islamischen Welt darin eine weitere Demütigung gesehen werden,die zu vermehrtem Hass und zu größerer Bereitschaft führt, den Terror in die westliche Weltzu tragen.

Es ist Skepsis angebracht, ob die NATO mit ihrer gewaltigen Militärmaschine der geeigneteRahmen für die Terrorismusbekämpfung ist. Allzu leicht wird dabei vergessen, darüber nach-zudenken, welche Ursachen der Terrorismus – zumal der islamische oder arabische – hat. ImZuge der Diskussion der letzten Monate ist von vielen darauf hingewiesen worden, dass eswichtiger sei, das Palästinenser-Problem zu lösen als Krieg in Afghanistan zu führen. Vielesspricht für die Richtigkeit dieser These. Die nicht endenden Leiden des palästinensischenVolkes und die Erinnerung an die Vertreibung vor mehr als einem halben Jahrhundert einer-seits und die ebenso beharrliche Unterstützung Israels durch die Vereinigten Staaten begrün-den das Gefühl von Ohnmacht und in der Folge Hass, und dieser richtet sich gegen die Verei-nigten Staaten und den Westen im allgemeinen. Als Verteidigungsbündnis traditioneller Art

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gegen militärische Angriffe ist freilich die NATO als solche nicht geeignet, die Probleme anihrer Wurzel anzugehen. Dazu bedarf es anderer Mittel: Diplomatische, ökonomische. Es wä-re wichtig, dass eine umfassende Koalition von Ländern sich dieser Sache möglichst einhelligannimmt, wozu es bisher leider keine Anzeichen gibt. Europa ist bestenfalls zu wohlmeinen-den Appellen im Stande und versucht, eine von der der Amerikaner leicht abweichende Posi-tion durchzuhalten. Die USA hingegen sind der entscheidende Akteur, auf den alle Beteiligtenwie gebannt schauen, der aber aus innenpolitischen Rücksichten und wegen seiner machtpoli-tischen Interessen im Nahen Osten nicht in der Lage ist, eine entscheidende Wende herbeizu-führen.

Der viel beschworene Dialog mit dem Islam, für den in Deutschland jüngst ein paar wenigeMittel zur Verfügung gestellt wurden, stellt freilich keine Lösung des Problems dar. Wir ha-ben es nicht mit einem Konflikt der Religionen oder Zivilisationen zu tun, sondern mit einemvöllig unausgewogenen Verhältnis von ökonomischer und militärischer Macht. Dies ist es,was die Probleme schafft, und der Islam wird nur als Mittel zum Zweck der Steigerung desWillens zur Selbstverteidigung oder terroristischen Aggression genutzt.

Terrorismusbekämpfung ist nicht eine Frage von Krieg im traditionellen Sinne, weshalb auchdie Anwendung kriegerischer Methoden fragwürdig ist. Vielmehr geht es um ein Problem,das der Polizei anzuvertrauen ist, wenn es auch wegen der internationalen Dimension beson-dere Komplikationen mit sich bringt. Staaten, die Terroristen unterstützen, ihnen Unterschlupfoder gar Ausbildung gewähren, sollten mit anderen Mitteln gezwungen werden, davon Ab-stand zu nehmen. Hierfür internationale Koalitionen zu schmieden wäre ein lohnendes Unter-fangen. Der NATO bedarf es dafür nicht.

1.2 Krieg gegen Verletzung von westlichen Werten in fremden Staaten

Nach der großen Wende im Jahre 1989 hat die NATO ein zweites Aktionsfeld entdeckt, dasin die Vorstellungen der Zeit davor überhaupt nicht passte, nämlich die kriegerische Interven-tion in die inneren Angelegenheiten eines Landes: in den Bürgerkriegen in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo. Artikel 5 des NATO-Vertrages, der die wechselseitigen Be i-standspflichten der Mitglieder im Falle eines Angriffs auf eines stipuliert, wurde für dieseMaßnahmen mit Recht gar nicht in Anspruch genommen. Der in beiden Fällen tobende Bür-gerkrieg mit allen schlimmen Erscheinungsformen war ohne Zweifel für die europäischenNachbarn und die Vereinigten Staaten beunruhigend. Eine unmittelbare Bedrohung der Nach-barn war allerdings nicht erkennbar.

In der UNO-Resolution Nr. 1244 vom 10. Juni 1999 heißt es in den einleitenden Bemerkun-gen; "Determining that the situation in the region continues to constitute a threat to internatio-nal peace and security, …". Nur über diese Feststellung konnte die Zuständigkeit der UNObegründet werden, im Kosovo eine Art Verwaltung einzurichten. Aber sie wirkt etwas herge-holt, wenn man das Hauptargument für eine Intervention betrachtet, das denn auch ausführ-lich in der Resolution kommentiert und ausgeführt wird: die "humanitäre Katastrophe". Fest-zuhalten ist, dass die NATO im Balkan tätig geworden ist, ohne dass ein Angriff auf ein Mit-glied stattgefunden und ohne dass ein entsprechender Beschluss des Sicherheitsrates der UNOvorgelegen hätte.

Mit den Aktionen auf dem Balkan hat die NATO ihren Auftrag ohne Vertragsänderung aberoffenbar mit Zustimmung aller Mitglieder erweitert: Sie nimmt für sich in Anspruch, militä-risch einzugreifen, wenn im Innern eines Staates Situationen entstehen, die mit den Wertvor-

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stellungen der westlichen Gemeinschaft nicht übereinstimmen: Verstöße gegen die demokra-tischen, rechtsstaatlichen oder humanitären Prinzipien, die für die Mitglieder der NATO alsBasis gelten. Eine gewisse Logik liegt in diesem Verhalten, wenn man diese Werte als univer-selle versteht. Dann ist nämlich jeder massive Angriff auf diese Werte in einem Land immerzugleich ein Angriff auf die Gemeinschaft von Staaten, die darauf verpflichtet sind. Nimmtman einmal diese Hypothese beim Wort, so wird einem in Anbetracht der Zustände in derheutigen Welt schlicht schwindlig. Denn jedem halbwegs aufmerksamen Beobachter desWeltgeschehens fallen sofort zahllose Länder ein, in denen jene Werte mit Füßen getretenwerden: von Nordkorea über Simbabwe bis Cuba, und wie ist China in diesem Kontext zusehen?

Viele Kritiker des NATO-Einsatzes gegen Jugoslawien wegen des Kosovo haben darauf hin-gewiesen, dass die Begründung desselben auch für Einsätze in vielen anderen Ländern spre-chen würde, wo aber nichts geschehe. Dieses Argument ist nicht stichhaltig. Man kann nichteine "gute" Tat deshalb kritisieren, weil eine entsprechende Tat in anderen Situationen nichtgeleistet wird. Aber das Argument ist insofern hilfreich, als es zeigt, dass für diese neue Auf-gabenstellung für die NATO zugleich auch eine klare Begrenzung definiert werden müsste.Geschieht dies nicht, erscheint sie als eine willkürlich in der ganzen Welt Macht und Gewalteinsetzende Organisation und fordert damit alle anderen Mitspieler im internationalen Kon-zert heraus. Dem Frieden wäre damit ein Bärendienst erwiesen.

Der Einsatz von Gewalt bedarf der Begrenzung, zumal wenn sie in zunehmend raffinierteremund komplexerem technischen Gewand auftritt. Denkt man über die Grenzen des militäri-schen Einsatzes zu Gunsten der Erhaltung von Werten nach, so ist dies nicht aus sich selbstheraus zu leisten, denn Werte sind in ihrem Anspruch ebenso universell und totalitär wie dieGewalt, die keine Gegengewalt kennt.

Die Ordnung der Welt ist in einem Übergang begriffen. Einerseits spielen die Staaten (mit allden Insignien, die ihnen in der europäischen Tradition zugelegt wurden - insbesondere dieSouveränität) nach wie vor eine Rolle. Diese wird allerdings überwölbt durch eine sich müh-sam konstituierende globale Ordnung, in der Organisationen wie die UNO oder die WTO undandere einen wachsenden Einfluss ausüben.

Ein geheiligtes Prinzip der alten Ordnung war das der Nichteinmischung in innere Angele-genheiten. Gewalt konnte legalerweise nur der Staat anwenden, dessen territoriale Sicherheitdurch einen anderen gefährdet war. Dieses Prinzip stellte immerhin eine Form der Mäßigungdes Verhaltens im internationalen Geflecht sicher. Es ist im Interesse der Durchsetzung vonWerten gewissermaßen von der NATO und auch der UNO gekündigt worden, was grundsätz-lich die internationale Sicherheitslage ungewisser und prekärer werden lässt. Die undurch-dringlichen Grenzen als Prinzip der alten internationalen Ordnung werden durch eine globalgelten sollende Werteordnung überwunden. Wer die Mittel hat, diese mit Gewalt durchzuset-zen, fühlt sich legitimiert, dies auch zu tun – und das sind derzeit in erster Linie die Verei-nigten Staaten und in ihrem Schlepptau die Europäer. Ein Polizist aber, der die Regeln, diedurchzusetzen er bereit und willens ist, selbst festlegt, ist kein Polizist, sondern ein Diktator,Gewaltherrscher oder wie man es immer nennen mag.

Gewaltanwendung außerhalb der Staatsgrenzen ist nach der derzeitigen Völkerrechtslage nurim Rahmen der UNO möglich. Viele Völkerrechtler haben vor und während des NATO-Einsatzes gegen Jugoslawien auf dessen Völkerrechtswidrigkeit ohne entsprechende Be-schlüsse des UNO-Sicherheitsrates hingewiesen. Der damalige Außenminister Kinkel hatdazu am 12. Oktober 1998 erklärt: "Im Lichte des Unvermögens des Sicherheitsrates, seinem

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Gewaltmonopol bei dieser besonderen notstandsähnlichen Situation gerecht zu werden, fußtdie Rechtsgrundlage angesichts der humanitären Krise im Kosovo auf Sinn und Logik derSicherheitsratsresolutionen 1160 und 1199 in Verbindung mit dem Gesichtspunkt der huma-nitären Intervention und einem Mindeststandard in Europa für die Einhaltung der Menschen-rechte, dem wir die Qualität eines sich entwickelnden regionalen Völkerrechts beimessen.Dies ist ein Fall, in dem das Völkerrecht ein militärisches Tätigwerden zur Abwendung einerunmittelbar bevorstehenden humanitären Katastrophe, nachdem alle zivilen Mittel erschöpftsind, ausnahmsweise erlaubt."1 So haben auch die Amerikaner argumentiert, und sie warendie treibende Kraft hinter der Aktion.

2. Europa als Satellit oder als zweite Säule einer Allianz

Für die Zukunft der NATO stellt sich ein doppeltes Problem: der Macht und der Kultur. DieTon angebende Macht in der NATO sind heute eindeutig die Vereinigten Staaten. Wirtschaft-lich und militärisch sind sie allen anderen Staaten der Welt überlegen und verhalten sich ent-sprechend. Sie können nahezu unbehindert ihre eigenen Interessen durchsetzen, wo und inwelcher Weise auch immer sie es für opportun halten. Diese Macht hat eine Sogwirkung, dieman im militärischen Bereich unschwer an den Reaktionen einzelner europäischer Staaten aufdie jeweils erklärten Ziele der USA zeigen: Ohne lange nach dem Sinn oder Unsinn, nachdem Recht oder Unrecht zu fragen, erklären sie ihre bedingungslose Gefolgschaft. Besondersdeutlich ist dies bei der britischen Regierung in den letzten Jahren gewesen, aber auch diedeutsche wollte dem in nichts nachstehen.

Dieses unwürdige Spiel ist nur durch die Tatsache zu erklären, dass alle europäischen Staaten– und zwar jeder für sich – im Zuge des Wegfalls der unmittelbaren Bedrohung des kaltenKrieges ihr Interesse an der eigenen Verteidigungskapazität zurückgeschraubt haben. Es istauch nicht absehbar, dass irgendein Land der EU sich in absehbarer Zeit aufmacht, das in die-sem Bereich verlorene Terrain wieder zu bestellen. So bleibt es bei der Erkenntnis, dass "dieUSA den Krieg führen (werden) und die EU wird für den Frieden zuständig sein, indem siezivile und humanitäre Aufgaben ausführt"2.

Ihre Macht- und Einflusslosigkeit als Einzelne erkennend haben die Regierungschefs der EUim Prinzip in Nizza beschlossen und später mehrfach bekräftigt, eine europäische Eingreif-truppe von bis zu 100.000 Mann für friedenserhaltende oder humanitäre Einätze aufzustellen.In Anbetracht unklarer und äußerst komplizierter Entscheidungsstrukturen ist dieser Prozesslangwierig, und es soll nach derzeitigen Schätzungen noch 10 Jahre dauern, bis diese Truppevoll einsatzfähig ist. Sie wird von den USA argwöhnisch betrachtet, aber die Sorgen sind zur-zeit – aus europäischer Sicht leider – unberechtigt.

Die einzige Lösung unter machtpolitischen Gesichtspunkten ist die Einrichtung einer effi-zienten Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), die den ewigen europäischenKonferenzzirkus zu Gunsten einer demokratisch legitimierten Entscheidungsstruktur aufgibt.Dazu konnte sich die EU bisher nicht durchringen, aber die Notwendigkeit bleibt auf der Ta-gesordnung. Eine im militärischen Bereich handlungsfähige EU könnte als Mitglied derNATO auch ohne Schwierigkeiten an deren Einrichtungen für eventuelle Einsätze profitieren.Was aber viel wichtiger ist, ist die Perspektive, dass in einem solchen Falle eine gewichtigeeuropäische Stimme der amerikanischen gegenüberstünde. Wie bedeutsam dies im europäi- 1 FAZ, 13.10.1998, S.2.2 So General Hägglund, der Vorsitzende des Militärausschusses (MC) der EU.

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schen Interesse ist, kann man unschwer im Bereich der Handelspolitik sehen. Als die USAjüngst gegen die liberalen Grundsätze des Welthandels verstoßend erhebliche Zölle zumSchutz ihrer Stahlindustrie einführten, hat Europa umgehend empfindliche Gegenmaßnahmenergriffen, die nicht ohne Eindruck auf die USA bleiben werden.

Die nationalen Verteidigungskräfte haben sich aus der Innensicht der EU überlebt, denn eingewaltsamer Angriff eines Mitglieds gegen ein anderes ist heute und in Zukunft unvorstellbarund ausgeschlossen. Die Armee als Schule der Nation ist ebenso eine obsolete Vorstellung.Wenn in Deutschland jetzt über die Abschaffung der Wehrpflicht diskutiert wird, so erscheintdies mehr ein Nachhutgefecht, denn als ernsthafte Diskussion. Früher oder später werdenauch wir erkennen, dass die Wehrpflicht ihren Sinn verloren hat.

Die nationalen Militärapparate sind im Übrigen hoffnungslos überaltert, und kein einzelnesLand ist mehr in der Lage, alleine neue Waffensysteme zu entwickeln. Der komplizierte Me-chanismus von gemeinsamen Entwicklungen zwischen einzelnen Mitgliedern ist nur mühsamin Gang zu setzen, im Ergebnis ineffizient und schließlich auch zu teuer. Als Spielwiese fürnationale Eitelkeiten ist das Militär letztlich ungeeignet. Es sollte der größeren Gemeinschaftübertragen werden. Ein sträfliches Versäumnis wäre es, wollte Europa wegen der Nichter-kennbarkeit einer akuten Bedrohung einen modernen Militärapparat und damit seine Vertei-digungsfähigkeit vernachlässigen. Sollte nämlich zu einem späteren Zeitpunkt eine Gefahrerkannt werden, bleibt keine Zeit mehr, darauf angemessen zu reagieren.

Aber es geht nicht nur um ein machtpolitisches und militärisches Problem, sondern zugleichum ein kulturelles. Als einzige Weltmacht können die Vereinigten Staaten ihre jeweiligenWertvorstellungen und Interessen weitgehend ungehindert im globalen Maßstab durchsetzen.Die vergangenen Entwicklungen zeigen, dass sie dabei die internationale Rechtsordnung jenach Opportunität berücksichtigen oder eben auch nicht. Dasselbe gilt für die Werte, für dieeinzutreten sie sich stets vollmundig rühmen. So führt die vielfach verfolgte Strategie, dassder Feind Deines Feindes Dein Freund sei, immer wieder dazu, dass die Vereinigten Staatendiktatorische und unmenschliche Regime stützen und finanzieren. Sie kommen dann früheroder später mit diesen wieder in Probleme (letztes Beispiel: die Taliban). Das würde Ihnennicht passieren, wenn Sie den weisen Ratschlag des Freiherrn von Knigge aus dem Jahre 1788befolgten: "Mache nie gemeinschaftliche Sache mit Bösewichten gegen Bösewichte." Dieamerikanische Politik als kontinuierliche Mischung von Mission für universelle Werte wieDemokratie und Menschenrechte einerseits und der ungezügelten Wahrnehmung machtpoliti-scher und wirtschaftspolitischer nationaler Interessen braucht ein relevantes Gegengewicht.Das könnte durch ein Vereinigtes Europa aufgebaut werden.

Die Mission als leitender Gedanke für die äußere Politik entspricht nicht der europäischenTradition. Dennoch muss man feststellen, dass auch westeuropäische Politiker sich gelegent-lich dieses amerikanische Kleid anziehen. Aber unabhängig davon gilt es, sich darauf zu be-sinnen, dass eine gute europäische Erfindung das Völkerrecht ist, welches die natürliche Nei-gung zu ungehemmtem Gebrauch von Macht einhegt. Immanuel Kants Gedanke, einen Völ-kerbund zu bilden, um den "ewigen Frieden" zu garantieren, fand in der Vision des amerika-nischen Präsidenten Woodrow Wilson und der Gründung des Völkerbundes eine erste Reali-sierung. Das Projekt, das in der UNO seine Fortsetzung fand, ist freilich noch nicht vollendetund bedarf weiterer Anstrengungen.

Es ist nicht zu verkennen, dass die heutige Welt nicht mehr in den Kategorien der souveränenStaaten zu erfassen ist. Die einst festen Grenzen sind durchlässig, Wirtschaft und Kommuni-kation global. Vieles in dieser Welt ist von Vielem abhängig, sodass die inneren Entwicklun-

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gen in einem Lande für die übrige Welt nicht gleichgültig sein können. Insofern ist es auchrichtig, darüber nachzudenken, unter welchen Bedingungen und mit welchen Zielen Interven-tionen gerechtfertigt erscheinen. Wenn diese Fragen aber nicht in der Form des Rechts, undzwar des im Rahmen der UNO entwickelten Rechts, beantwortet werden, ist der Willkür Türund Tor geöffnet. Der NATO als mächtigstes Militärbündnis, das sich Sicherheit und Friedenauf die Fahnen geschrieben hat, kommt in diesem Prozess eine natürliche und wichtige Rollezu. Hier wäre der Ort, darüber zu entscheiden, wann und unter welchen Bedingungen etwatransnationale Polizeiaktionen gegen Terroristen oder Interventionen in Fällen so genannterhumanitärer Katastrophen zulässig sind.

Als mächtiger Partner in diesem Bündnis wäre es Europas Aufgabe, die Entwicklung solcherRegeln zu initiieren und im gegebenen Fall auf ihre Einhaltung zu dringen. Das bisher vonden USA und in vielen Fällen in vasallenartiger Gefolgschaft von der NATO verfolgte Prin-zip, selbst zu entscheiden, warum, wann und wie interveniert wird, ist die Anwendung desungezügelten Rechts des Stärkeren. Auf dieser Basis kann keine friedliche Weltordnung ent-stehen.

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Die Zukunft der NATO liegt in Europas Händen

Martin Agüera

Eine der fundamentalen Fragen, die seit einiger Zeit in der internationalen Politik aufgewor-fen werden, richtet sich nach der Zukunft der NATO. Wo führt ihr Weg hin? Ist sie ein Aus-laufmodell transatlantischer Partnerschaft oder etwa nicht? Warum überhaupt müssen wir unsdiese Frage nach der Zukunft des erfolgreichsten transatlantischen Sicherheitsbündnis stellen?Über 50 Jahre hinweg hat dieses Bündnis im transatlantischen Raum für Sicherheit und Sta-bilität gesorgt. Nun soll das alles nicht mehr zutreffen und das in einer Zeit, wo bei der Kon-flikt- und Krisenbewältigung Koalitionen notwendiger denn je geworden sind?

Die Beantwortung dieser Frage liegt seit dem 11. September deutlicher denn je auf der Hand:Europa, ein vitaler Bestandteil des Bündnisses, ist nicht in der Lage, den USA bei der inter-nationalen Terrorismusbekämpfung mit militärischen Mitteln das Wasser zu reichen. Für dieUSA – seit jeher ein Land mit ausgeprägtem Patriotismus und einem gewissen Sinn, die Din-ge in der Weltpolitik stets auf Gut und Böse beziehungsweise Schwarz und Weiß zu be-schränken – lässt die Unterstützung Europas in diesem wichtigen Feld der Außenpolitik vielzu wünschen übrig. Dem Drang der Europäer, bei allen politischen Fragen ein Wort mitzure-den und mitzuentscheiden haben, ohne ausreichend glaubwürdige Instrumente in der Hinter-hand zu haben, entsprechen die USA einfach nicht mehr. Besonders nicht dann, wenn Tau-sende ihrer Landsleute beim größten Angriff auf amerikanisches Territorium getötet sowievitale Zentren der amerikanischen Macht wie das Pentagon schwer beschädigt werden. Inso-fern hat der 11. September einen schwer wiegenden negativen Effekt für das transatlantischeBündnis, je deutlicher sich die so genannte Bush-Doktrin ausformt. Die schreckliche Erfah-rung des 11. September war zu einschneidend, als dass es nicht die langfristige globale Stra-tegie der USA beeinflussen würde. So heißt es in einem lesenswerten Kommentar:

"Thus, embedded in the emerging Bush Doctrine is a fundamental redefinition of the U.S.alliance. During the Cold War, U.S. allies were judged on their willingness to stand with theUnited States against the Soviets. Now they are judged by their willingness to stand with Wa-shington not only against al Qaeda, but the range of threats that now physically threaten theUnited States."

1

Dies wird anscheinend noch immer auf dieser Seite des Atlantiks falsch eingeschätzt. Dennnoch immer ist kein Umschwenken in der Außen- und vor allem Sicherheitspolitik der Euro-päer erkennbar. Vielmehr gibt es zwei Argumentationsstränge – einen der NATO-Anhänger,einen der NATO-Kritiker. Die einen behaupten, die NATO werde auch trotz ihres Substanz-verlusts vom Militärischen her ein wichtiges politisches Forum bleiben, dass für Stabilität imtransatlantischen Raum und darüber hinaus sorgt – gerade im Hinblick auf die Ost- und Süd-osterweiterung und Russland. Dies bedeutet, die Befürworter nehmen zwar sehr wohl wahr,dass die NATO signifikant an Bedeutung verliert. Doch ein Umdenken löst dies nicht aus,sondern es bleibt bei der Gleichgültigkeit Europas. Die anderen argumentieren, auf Grund derbescheidenen militärischen Anstrengungen der Europäer wird die NATO immer unattraktiverfür die USA, die als Führungsnation innerhalb des Bündnisses starke Partner brauchen – ge-rade nach dem 11. September in ihrem weltweiten Feldzug gegen den internationalen Terro-rismus. In Gesprächen mit amerikanischen Diplomaten in Berlin wird dies ebenfalls deutlich.

1 Emerging Bush Doctrine Reshaping U.S. Strategy, in: Stratfor.com, 25.2.2002; www.stratfor.com

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Mehrfach haben sie versucht, ihren deutschen Gesprächspartnern zu verdeutlichen, dass sichdie USA von niemanden beeinflussen oder gar abhalten lassen, gegen einen Diktator im Irakoder gegen terroristische Gruppierungen militärisch vorzugehen, falls dies ihren vitalen natio-nalen Interessen dienlich erscheint. "Entweder ihr seit mit uns oder eben nicht," so der harteKommentar eines amerikanischen Diplomaten. Angesichts dieser harten Worte kommen ei-nem fast Tränen in die Augen. So lange haben Deutsche, Europäer mit den Amerikanern fürdie gleiche Sache gestanden und nur ein einziges Bündnis stand hierfür: die NATO. Nun sollall dies langsam erodieren? Wieso?

Ja, die NATO wird erodieren. Vor allem, wenn Europa nicht endgültig umschwenkt und Ab-schied von seiner bedauernswerten Außen- und Sicherheitspolitik nimmt. Die Politik der USAsollte den Europäern im Sinne eines starken "transatlantic link" eine Warnung sein. FriedbertPflüger hat zudem Recht, wenn er sagt, wir Europäer sollten uns hüten, den AmerikanernVorschriften zu machen. 2 Solange wir unsere Hausaufgaben in der Außen- und Sicherheits-politik nicht machen, dürfen wir andere nicht belehren. Die USA sind eine Supermacht, dieeinzig verbliebene Ordnungsmacht im internationalen System und können solch einen de-saströsen Angriff auf ihre Freiheit, Kultur nicht hinnehmen. Es stünde uns gut an, diese Wertemit zu verteidigen. Was geschieht, wenn wir dies nicht tun, ist bereits erkennbar: der Ausver-kauf des erfolgreichsten Sicherheitsbündnisses der Welt. Mitte Dezember löste die Bush-Administration als Reaktion auf den 11. September den Anti-Ballistic Missile Treaty auf. Der1972 zwischen den USA und der ehemaligen Sowjetunion geschlossene Vertrag behindert dieUSA daran, ein umfassendes Raketenabwehrsystem aufzubauen und zu testen. Nach dem11. September aber erklärte Präsident Bush jedoch deutlicher zuvor, dass nun alle möglichenSchutzmaßnahmen getroffen werden müssen, um die amerikanische Bevölkerung vor eventu-ellen terroristischen Angriffen mit Massenvernichtungswaffen zu schützen. Es schien gerade-zu, als hätten die USA den Russen als Kompensation die NATO angeboten. Denn eine heftigeReaktion Russlands blieb vollkommen aus. Ein "Fehler" habe Bush mit der Auflösung desABM-Vertrag gemacht, so der lapidare Kommentar Wladimir Putins. Im Gegenzug gedeihendie Beziehungen zwischen den USA und Russland sowie der NATO und Russland. So sehrsogar, dass die USA eine künftige Konstellation befürworten, die Russland mit am NATO-Verhandlungstisch zulässt. Solch ein Szenario, sollte es denn so kommen, hielten Expertennoch vor Jahren dies- und jenseits des Atlantiks noch für das Ende der NATO.

Obwohl gute Beziehungen zu Russland für die NATO als den gesamten Westen ganz hochauf der Prioritätenliste stehen sollten, ist eine Inklusion Russlands innerhalb des transatlant i-schen Bündnisses nicht angebracht. Selbst dass die USA eine möglichst große Erweiterungder NATO fordern, sieht ihnen ebenso nicht ähnlich. All dies sind, nach Meinung des Verfas-sers, alarmierende Anzeichen für den Bedeutungsverlust der NATO in den USA. Doch derGrund hierfür liegt einzig und allein bei der beklagenswerten Außen- und SicherheitspolitikEuropas. Amerika hat nunmehr andere Prioritäten als Europa. Die Schwerpunkte ihrerAußen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik liegen in der Bekämpfung des weltweiten Ter-rorismus und, wie bereits vielfach beobachtet, findet insgesamt eine Verschiebung der Priori-täten nach Asien statt. Dennoch, Europa kann ein einflussreicher Partner der USA sein, wennes das will. Daran verknüpft ist das Schicksal der NATO. Die Frage ist daher vielmehr, wel-che NATO Europa haben will. Einen Debattierklub mit möglichst vielen, aber insgesamt ein-flusslosen Mitgliedern oder eine Allianz, die weiterhin glaubwürdig für unsere Sicherheit undStabilität sorgen kann? Wer gehört werden und durch Diplomatie Entscheidungen treffen will,muss über entsprechende militärische Mittel verfügen, um seine Interessen glaubhaft durch-zusetzen. Daran mangelt es Europa gewaltig. Weder ein Land noch ein Staatenbund wie die

2 Pflüger, Friedbert: European Sniping At America Is Overdone, in: International Herald Tribune, 21.2.2002.

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Europäische Union werden außenpolitisch ernst genommen, da sie über diese Mittel einfachnicht in ausreichendem Maße verfügen. Mit den Erfahrungen von Kosovo im Hinterkopf unddieser seit 11. September für sie radikal veränderten Bedrohungslage halten sich die USAnicht mehr mit "Losern" auf. Put up or shut up, so deren Motto.

Dies sollte wichtige Lektionen für die europäischen NATO-Partner sein. Deshalb sollten nachAuffassung des Verfassers die folgenden politischen Maßnahmen schnellst möglich ange-dacht und umgesetzt werden:

– Zum einen sollte sich Europa gegen eine übergroße zweite Osterweiterung der NATOaussprechen. Gerade in diesen Zeiten, in denen die bilateralen Beziehungen zwischen derNATO und Russland auf fruchtbarerem Boden zu gedeihen scheinen, ist eine Aussetzungder Erweiterung für die Stabilität der osteuropäischen Staaten nicht hinderlich. Vielmehrsollte die informelle Partnerschaft mit der NATO weiter vorangetrieben werden und immilitärischen Bereich eine Standardisierung an NATO-Maßstäbe forciert werden. Erstwenn die Beitrittsstaaten ihre Streitkräfte ausreichend modernisiert und NATO-Standardsangepasst haben, macht eine Aufnahme Sinn. Denn der Drang dieser Staaten ist keineAufnahme in einem militärisch schwaches Bündnis, sondern das genaue Gegenteil. Insge-samt also sollte die NATO ihre Osterweiterung auf das Minimum beschränken, zumal dieNull-Option laut Generalsekretär George Robertson vom Tisch ist. Die NATO, derenMitgliedschaft die Beitrittskandidaten anstreben, ist die starke NATO von früher, nicht diejetzige.

– Zum Zweiten sollten die Europäer mehr Geld für die Modernisierung ihrer Streitkräfteausgeben. Das Ziel kann aber nicht mehr sein, die transatlantische Fähigkeitslücke zuschließen. Mit Ausgaben von $140 Milliarden Dollar insgesamt geben die Europäer imVergleich zu Amerika mit rund $379 Milliarden Dollar im nächsten Jahr zu wenig aus.Eine Schließung der Fähigkeitslücke ist nicht mehr möglich. Vielmehr geht es nun darum,den Anschluss nicht ganz zu verpassen und zumindest die Standardisierung dies- und jen-seits des Atlantiks voranzutreiben, dass eine Zusammenarbeit bei Militäroperationen aufGrund der großen Divergenzen nicht gänzlich unmöglich wird. Deshalb sollte sich Europafür eine Sicherheits- und Verteidigungspolitik entscheiden, die deutlich die NATO alsZentrum ihres Handelns ansieht. Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik(ESVP) ist eine unangenehme und hinderliche Duplizierung von Anstrengungen. Diesekönnten und sollten in der NATO gebündelt werden, aus dem einfachen Grund, weil indiesem Bündnis auch unsere wichtigsten Partner – die USA – mitenthalten sind. Derzeitbetreiben die Europäer nichts, aber auch gar nichts sinnvolles. Sie haben 1999 eine De-fense Capabilities Initiative innerhalb der NATO auf den Weg gebracht, die sie nicht rigo-ros umsetzen. Ihre ESVP ist ebenfalls mehr Schein als Sein. Obwohl im nächsten Jahr ei-ne Einsatzbereitschaft existieren soll, sind die meisten und dafür essenziellsten militäri-schen Fähigkeiten nicht vor Anfang der nächsten Dekade vorhanden. Wie Europa seinemwichtigsten Partner, den USA, nur so vor den Kopf stoßen kann, ist schier unbegreiflich.Beobachter wie der ehemalige amerikanische Botschafter in Berlin fragen zurecht danach,wieso Europa die NATO ignoriert.3 Was auch immer die europäischen Anstrengungen imMilitärbereich sind, sie sollten dementsprechend im Verbund der NATO unternommenwerden. Wer immer von autonomen militärischen Fähigkeiten der Europäer redet, ver-kennt die Wirklichkeit. Ohne Zuhilfenahme von NATO-Kapazitäten, sprich amerikani-scher Militärkapazitäten, ist keine wirkungsvolle militärische Operation der Europäerauch nur annähernd denkbar!

3 Kornblum, John: Warum ignoriert Europa die NATO?, in: Die Welt, 23.2.2002.

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Die Ausgangslage ist damit überdeutlich. Europa bestimmt den weiteren Weg der NATO: hinzu einer Wertegemeinschaft mit wenig politischem Einfluss oder einer transatlantischen Alli-anz, die weiterhin als "cornerstone" für Stabilität und Sicherheit im transatlantischen Raumangesehen wird.

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Die NATO – ein Auslaufmodell?

Hans Graf Huyn

"Ewige Dauer ist keinem Vertrage zwischen Großmächten gesichert," – sagt Bismarck – "undes wäre unweise, ihn als sichere Grundlage für alle Möglichkeiten betrachten zu wollen, durchdie in Zukunft die Verhältnisse, Bedürfnisse und Stimmungen verändert werden können, un-ter denen er zu Stande gebracht wurde." In der Tat gibt es in der Geschichte viele Beispielefür Verträge, die durch den Wandel der politischen Gegebenheiten hinfällig geworden sind.

Die Atlantische Allianz ist vielleicht das erfolgreichste Bündnis der Weltgeschichte, denn siehat trotz der Konfrontation der Sowjetunion gegenüber dem Westen über fünfzig Jahre fürEuropa und Nordamerika den Frieden gesichert. Aber die Sowjetunion existiert nicht mehrund ihr Kernland Russland scheint heute schwach zu sein und weder in der Lage noch wil-lens, einen Angriffskrieg gegen Europa und die Vereinigten Staaten zu führen. Wozu – sowird argumentiert – bedarf es da noch eines Militärbündnisses gegen eine Gefahr, die offen-sichtlich nicht mehr besteht?

Wäre die Atlantische Allianz ein bloßes Militärbündnis, so wäre diese Frage vielleicht einfa-cher zu beantworten. Aber sie ist viel mehr: Sie ist erstens ein politisches Bündnis, sie beruhtzweitens auf einer Wertegemeinschaft und sie ist drittens die wichtigste Verzahnung Europasmit den Vereinigten Staaten. Deswegen ist die Allianz auch künftig langfristig für Deutsch-land und Europa von herausragender Bedeutung.

Am 11. September 2001 wurde die Welt von den mörderischen Terroranschlägen in NewYork und Washington aufgeschreckt. Der internationale islamistische Terrorismus hat damiteine neue Dimension erhalten. Für die Vereinigten Staaten war dies ein zweifacher Schock:zu den Angriffen auf New York und Washington aus heiterem Himmel kam noch die Hiobs-botschaft und die Erkenntnis, dass Amerika erstmals auf seinem eigenen Territorium ver-wundbar war. Das hat in den Vereinigten Staaten zu gesteigerter Selbstbehauptung und Soli-darität wie auch zu einer Welle des Patriotismus geführt. Der Präsident verkündete, Amerikabefinde sich im Krieg. Der Al-Khaida-Terror richtet sich gegen die gesamte zivilisierte Welt.Noch vor wenigen Wochen warnte der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, dass dieBedrohung nicht abgenommen habe, auch Deutschland sei "gut beraten", sich weiter aufmögliche Anschläge einzustellen.

Erstmals in ihrer Geschichte hat nach dem 11. September 2001 die NATO gegenüber dieserneuartigen Bedrohung den Bündnisfall nach Art. 5 des Vertrages festgestellt. Die europäi-schen Allianzpartner haben die Vereinigten Staaten ihrer Solidarität versichert und mehrerevon ihnen – auch Deutschland – haben Truppen nach Afghanistan und in den Mittleren Ostenentsandt.

Die Vereinigten Staaten haben jedoch bei ihrer Reaktion auf die Terroranschläge wenigGebrauch von der NATO gemacht, sondern einen Alleingang kombiniert mit einem "Multi-lateralismus á la carte" vorgezogen, und dies wohl im Wesentlichen aus drei Gründen: Erstenswar die Verwundung im Herzen des eigenen Landes so einschneidend, dass der Präsident vorseinem Volk und der ganzen Welt deutlich machen wollte, dass er allein – und nicht einge-bunden in das Netzwerk eines Bündnisses – die Führung für die erforderlichen Gegenschlägeübernehmen wollte. Zweitens war für die Gegenmaßnahmen schon aus geografischen Grün-den ein viel umfassenderes weltweites Zusammenwirken von Staaten erforderlich als das der

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dem nordatlantischen Raum verbundenen NATO; es dürfte auch für die USA als Weltmachtleichter gewesen sein, sich Unterstützung etwa von Pakistan, Indien, Russland, Usbekistanoder China zu sichern, als wenn man diesen Staaten das Gefühl gegeben hätte, in dieser Aus-einandersetzung zu einer Art Anhängsel der NATO zu werden. Drittens – und das ist ganzentscheidend, und für uns Deutsche und Europäer alarmierend – ist auf militärischem Gebietdie technologische Kluft zwischen Amerikanern und Europäern wegen der jahrelangen Unter-finanzierung unseres Verteidigungshaushaltes so groß geworden, dass wir mit den USA nichtmehr mithalten können, ja teilweise sogar zu einer Belastung werden.

Das hat sich bereits beim NATO-Einsatz im Kosovo gezeigt. So hatten etwa viele der euro-päischen Kampfflugzeuge keine befriedigenden technischen Einrichtungen zum Verschlüs-seln der Datenübertragung und im Funksprechverkehr, sodass in amerikanischer Sicht da-durch deren Kampfflugzeuge und ihre Besatzungen in Gefahr gebracht wurden. Der stellver-tretende US-Außenminister Richard Armitage hat einen künftigen denkbaren NATO-Einsatzgeradezu als Alptraum bezeichnet: "Dieser Alptraum besteht darin, dass die VereinigtenStaaten über dem Schlachtfeld fliegen können und davon ein sehr gutes Bild mit guter Auf-klärung und guter Kommunikation haben, während die europäischen Freunde unten amBoden die Stiefel anhaben, gewissermaßen am Ende der niedrigen Technik der Dinge."NATO-Generalsekretär Lord George Robertson erklärte unverblümt: "Es besteht die Gefahr,dass einzelne Länder nicht mehr in der Lage sind, mit den Amerikanern gemeinsam auf derEbene zu handeln, auf der das möglich sein sollte ... Den europäischen Verbündeten sollteklar sein: Wenn sie politisches Gewicht haben wollen, müssen sie auch militärisch etwas aufdie Beine stellen." Robertson spricht von "klar identifizierten Defiziten", kritisiert aber: "Esgeht mit der Geschwindigkeit eines Gletschers voran." Klaus Naumann, langjähriger Gene-ralinspekteur der Bundeswehr und bis 1999 Vorsitzender des NATO-Militärausschusseswarnt vor der andauernden Unterfinanzierung des deutschen Verteidigungshaushalts:"Washington wird 2003 als investiven Anteil 140 Milliarden Dollar ansetzen. Das entsprichtder Summe der Verteidigungshaushalte aller übrigen NATO-Staaten. Der investive Anteil desStaates, der heute einen technischen Vorsprung von etlichen Jahren hat, beträgt damit 37 Pro-zent. In Europa, das Jahre hinterherhinkt, zeigen die geschönten Zahlen etwa 20 Prozent alsDurchschnittswert an. Europa wird sich damit selbst noch weiter abhängen. Gerade dort, woreale Macht als entscheidendes Mittel der Politik angesehen wird, kann man als zahnloserPapiertiger nicht viel bewirken."

Ist diese Besorgnis erregende Entwicklung in Europa das Ergebnis der Moskauer Wende un-ter Gorbatschow, die dessen Berater Georgij Arbatow mit den Worten kennzeichnete: "DieUdSSR wird euch das Schlimmste antun: sie wird euch den Feind wegnehmen." Die alteMoskauer Strategie, Amerika von Europa zu trennen und selbst ganz Europa zu umarmen hatzwar noch keinen vollen Erfolg gebracht, aber immerhin hat Europa seine Sicherheitspolitikstark vernachlässigt.

Auch wenn die Sowjetunion nicht mehr existiert und wenn eine kriegerische Auseinanderset-zung nicht droht, braucht Europa allein aus geopolitischen Gründen die bündnispolitischeatlantische Absicherung als Friedensversicherung für die Zukunft. Henry Kissinger hat wie-derholt darauf hingewiesen, dass auch ohne Sowjetunion und ohne kommunistische Ideologieder alte russische Imperialismus nicht gestorben ist. Warum sind denn die baltischen Staaten,Polen, die Tschechische Republik und Ungarn so schnell der Atlantischen Allianz beigetre-ten? Und erst vor kurzem hat Georgien diesen Wunsch geäußert. In einer neuen Analyse derDeutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik heißt es, dass Russland nach dem Zerfall derUdSSR "keinesfalls von seinen geopolitischen Ambitionen Abstand nehmen wollte. Um sichin der Weltpolitik zu behaupten, ging es in bestimmten Fragen sogar wieder auf Konfrontati-

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onskurs zum Westen." Zum selben Ergebnis kommt ein kürzlicher Bericht der Neuen ZürcherZeitung, die auch vor den Vorschlägen des britischen Premierministers Blair warnt, Russlandstärker in die NATO einzubinden: "Die problematische Seite liegt darin, dass die russischenInteressen weit weniger klar sind als der Charme des Präsidenten." Auch Zbigniew Brzezinskikritisiert den britischen Vorschlag eines russisch-nordatlantischen Rates: Dieser böte Moskaudie Gelegenheit, die Europäer gegeneinander auszuspielen; im Übrigen sei die derzeitigeWestorientierung Putins nicht unumkehrbar.

Die Signale aus Moskau sind in der Tat beunruhigend. In einer Rede am 19. Januar 2000 inMinsk hat Putin angekündigt, die militärischen Ausgaben in den nächsten fünf Jahren zu ver-doppeln. Der russische Bürgerrechtler Sergej Kowaljow erklärt, dass in Russland eine "Regie-rungsdiktatur" entstehe und es vollziehe sich "unter der neuen Fassade eine Kehrtwende zurUsurpierung der Macht, ein Prozess, der für Europa und die ganze Welt gefährlich ist." Derpolnische Premier Jerzy Buzek warnt, dass "Russland sich Schritt für Schritt auf eine Polizei-diktatur und einen Großmachtnationalismus zubewegt." Die 1943 zu Ehren Stalins geschaffe-ne Sowjethymne wurde von Putin, mit verändertem Text, wieder eingeführt, und die russischeArmee marschiert wieder unter der roten Fahne. Der alte KGB – dem ja Putin selbst ent-stammt – gewinnt unter dem neuen Kürzel FSB wieder Macht und Kontrolle zurück; etwa5.600 Geheimdienstoffiziere sind seit Putins Machtübernahme auf Schlüsselposten im ganzenLand gelangt. Bei der Vorlage des neuesten Berichts des Bundesverfassungsschutzes erklärteBundesinnenminister Schily, die russische Spionage in Deutschland gebe "Anlass zur Sorge".Die Pressefreiheit in Russland wird immer stärker geknebelt. Entgegen vertraglichen Ver-pflichtungen treibt Moskau die Vernichtung von C-Waffen nicht voran. Putin strebt die Re-Integration der ehemals sowjetischen Nachbarstaaten an und betreibt Schritt für Schritt dieEinbindung der Ukraine und Weißrusslands. Im Kaukasusgebiet führt es nicht nur einen Ver-nichtungskrieg gegen Tschetschenien, sondern weigert sich, seine Truppen aus Georgien ab-zuziehen und schürt den Konflikt um Abchasien. Die baltischen Staaten fühlen sich bedroht.Das alles ist jedenfalls Grund genug, dass die NATO wachsam und Europa verteidigungsfä-hig bleibt.

Die NATO ist also alles andere als ein Auslaufmodell. Sie muss auch heute und morgen denFrieden sowie unsere Sicherheit und die der kommenden Generationen garantieren:

– Europa braucht die NATO als politisches Bündnis mit Nordamerika und als Forum füratlantische Konsultationen.

– Europa braucht die NATO auch sicherheitspolitisch insbesondere angesichts der unvor-hersehbaren Entwicklung in Russland als Friedensversicherung für die Zukunft.

– Europa muss besser auf friedenssichernde Einsätze wie auf dem Balkan und in Afghanis-tan und auf eine langfristige Bekämpfung des Terrorismus vorbereitet sein.

– Europa muss auf militärischem Gebiet die wachsende technologische Lücke zu den Ver-einigten Staaten schließen, um innerhalb der Allianz Gewicht zu haben und Gehör zu fin-den.

Voraussetzung ist, dass für unsere Sicherheit nicht die Haushaltspolitik maßgebend ist, son-dern langfristige außenpolitische Notwendigkeiten. Nicht tagespolitische taktische Überle-gungen dürfen unsere Sicherheitspolitik bestimmen, sondern strategisches politisches Denken.

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Über die Zukunft Europas und der NATO

Hans-G. Danielmeyer

Die NATO ist über 50 Jahre alt. Vor 12 Jahren verlor sie mit dem Zerfall der Sowjetunionihren Gründungszweck, was im Vereinsrecht automatisch die Auflösung zur Folge gehabthätte. NATOs erster und einziger erklärter Bündnisfall lag völlig außerhalb aller Planvorstel-lungen. Erledigt wird er mit einer Nebenrolle für die NATO, wie schon die davor liegendenklareren Fälle Cuba, Kuwait und Jugoslawien. Die extreme Überlegenheit der USA ist so be-quem wie beschämend. Dass ehemalige Ostblockländer noch beitreten wollen ist weder ein-deutig noch längerfristig ein Signal für Fortbestand.

Es dürfte in der Geschichte kein Beispiel eines Bündnisses geben, das bei vergleichbaremVerlauf und innerem Ungleichgewicht noch weiter bestanden hätte. Nun ist die NATO abernicht nur ein Bündnis, sondern eine Organisation mit enormen Logistik- und Verwaltungsein-richtungen, die wie alle großen Bürokratien zusammen mit ihren Standorten um ihre Erha l-tung kämpfen und dazu auch noch viel Zeit haben.

Die Alternativen zum Fortbestand sind ersatzlose Auflösung oder zukunftsorientierte Neu-gründung. Um aus der konzeptionellen Enge der Machtpolitik herauszukommen, werden zweimathematisch-naturwissenschaftliche Prinzipien zur Entscheidung (3.) benutzt: Das Prinzipder Irreversibilität der Zeit (1.) und das Prinzip der Handlungsanpassung an die Entsche i-dungskategorien (2.). Die Gültigkeit dieser Prinzipien ist im Gegensatz zur Politik zeitlichund räumlich unbegrenzt.

Leider lenkt die derzeitige Fixierung der Machtpolitik auf den in Afghanistan gedrillten Te r-ror davon ab, dass es um viel mehr geht. Sicher, seit mit dem Ölboom auch lockeres Geldsprudelt und das Experiment des säkularen Islam vom 6-Tage-Krieg beendet wurde1, gibt eswieder eine subkutane Ausdehnungsphase des Islam. Er gedeiht in der Armut des Islamgür-tels, missbraucht die wohlstandsbequemen Industrieländer und unterwandert die WeltenBuddhas, Christus' und Konfuzius'. Solange er die fundamentalphilosophisch-liberale WeltSokrates' ablehnt, bleibt er auch relativ anfällig gegen Missbrauch. 2

Der Terrorismus hat jedoch in der Globalisierung des Erfolgs der Industrienationen eine vielbreitere und langfristigere Ausgangsbasis.3 Es bleibt daher Aufgabe jedes einzelnen Landes zuverhindern, dass es selbst oder über seine Einwanderer zum Ziel von Terroristen wird.4 EinMilitärbündnis kann nur gegen eine lokalisierte und bündnisfremde Basis wirksam werden.

1 Glagow, R.: Die Dschihad-Tradition im Islam, in: R. C. Meier-Walser/R. Glagow (Hrsg.), Die islamische

Herausforderung – eine kritische Bestandsaufnahme von Konfliktpotenzialen, aktuelle analysen 26, Mün-chen 2001, S.37ff.

2 Jaspers, K: Die maßgebenden Menschen, München 1999.3 Lange, K.: Anmerkungen zu Islam und Terrorismus, in: Reinhard C. Meier-Walser/Rainer Glagow (Hrsg.),

Die islamische Herausforderung – eine kritische Bestandsaufnahme von Konfliktpotenzialen, S.113-118.

4 Raddatz, H-P.: Islam oder Islamismus? Interkultureller Dialog zwischen Toleranz und Gewalt, in: ebd.,S.67-79.

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1. Das Prinzip der Irreversibilität der Zeit

Die Irreversibilität der Zeit bestimmt unser Leben. Angewandt auf Entscheidungssituationenbedeutet sie: Es zählt nur der zukünftige Wert. Abgesehen davon, dass man Erfahrungen, dieman gemacht hat, natürlich nicht vergisst: Was vergangen ist, darf für die Entscheidung keineRolle spielen, denn die Zeit läuft niemals rückwärts. Der Wert ist immer ein Kosten-Nutzen-Verhältnis, auch im Fall ideeller Werte. Wie viel die NATO materiell jährlich kostet, wissenwir. Ihre ideellen Kosten sind schlimmer (Teil 3). Wie viel sie in Zukunft nützen kann, hängtentscheidend vom relevanten Zeithorizont und von den darin zu erwartenden Zuständen derWelt (Teil 2) ab.

Nachdem selbst Physiker große Probleme hatten, Albert Einstein zu verstehen, wurden ihm inder Öffentlichkeit fast nur ganz allgemeine Fragen gestellt. Seine anfängliche Scheu (er war jaein Seiteneinsteiger in die Top-Physik) überwand er durch sein Talent, wissenschaftliche Tie-fe mit populärem Witz in zitierfähige Kürze zu fassen. Eins dieser Zitate ist "eine neue Ideesetzt sich nicht wegen ihrer inneren Kraft durch, sondern weil ihre Gegner aussterben".

Damit hatte er den für unsere Zeit fundamentalen Maßstab erwischt. Wir kennen keine beson-dere Entdeckung durch Gremien. Große Ideen entstehen überwiegend in jungen Köpfen. IhreGegner sind Entscheidungsträger in Wissenschaft, Politik und Publizistik, die oft übers Pens i-onsalter hinaus wirken. Dazwischen liegen dann zwei Generationsfolgen, rund 50 Jahre. Dasist dann auch die für den technischen Fortschritt maßgebliche Zeitspanne, entsprechend derseit Beginn der Industrialisierung um 1750 langfristig realisierten realen Wachstumsrate destechnischen Fortschritts von 2% pro Jahr.

Schaut man genauer in die Entwicklung der Völker5, dann ist die fundamentale sozioökono-mische Zeiteinheit die Generationsfolge selbst. Denn wie unterschiedlich Kulturen auch seinmögen, die effektive, mittlere Lebensdauer ihres Kapitalstocks, des Werts ihrer gesamten Inf-rastruktur, liegt immer bei 25 Jahren. Nicht gepflegt, zerfällt er mit den bekannten 4% proJahr. Man kann auch sagen: Es gibt einen impliziten Generationenvertrag derart, dass imMittel jede Generation ihren eigenen Kapitalstock besorgt und pflegt. Die Ähnlichkeit derEntwicklungsdynamik erfolgreicher Industrieländer beruht also darauf, dass die sozioökono-misch maßgebliche Zeiteinheit eine biologische Naturkonstante des Menschen und daher füralle gleich ist (die Volkswirtschaft wird die Bedeutung dieses Satzes im Rahmen des Einstein-Zitats noch erkennen).

Da die Innovation aber keine Einbahnstraße ist, sondern ein gesellschaftlicher Diffusionspro-zess, ein Wettbewerb des Neuen gegen das Bewährte mit Vorwärts- und Rückschritten,kommt prozesstechnisch der Faktor 2 hinein, der Einstein in seiner gewagten Kürze nachträg-lich sogar quantitativ Recht gibt. Wenn also über die Zukunft der NATO entschieden wird,dann mit einem Konzept für die nächsten 25 Jahre.

Nach der zusammengeschlagenen Infrastruktur des 2. Weltkriegs holten Deutschland undJapan anfangs mit realen Wachstumsraten von 6 bzw. 8% pro Jahr gegenüber dem techni-schen Fortschritt auf. Unversehens, aber voll gesetzmäßig stießen die beiden neben den USAwirtschaftlich führenden Länder um 1980 an die technische Fortschrittsgrenze mit ihrerWachstumsrate von maximal 2% pro Jahr. Das erschwert beiden den Strukturwandel in dieDienstgesellschaft, hat aber überhaupt nichts mit Konjunkturzyklen zu tun. So erklärt sich,warum beide Länder mit ihrem wirtschaftlichen Umfeld nicht trotz, sondern wegen ihres

5 Danielmeyer, H.G. in: H.G. Danielmeyer/Y. Takeda (Hrsg.), The Company of the Future, Berlin 1999.

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Wirtschaftsbooms kein Geld für eine ernst zu nehmende militärische Kompetenz aufbringenwollten und jetzt erst recht nicht wollen. Die USA hatten seit dem Bürgerkrieg, also seit achtGenerationsfolgen, kein nationales Trauma mit zusammengeschlagener Infrastruktur undentwickelten sich deshalb viel langsamer und stetiger. Der 11. September war ein Schock,sein Schaden ist aber wirtschaftlich völlig vernachlässigbar gegenüber dem, den Deutschlandund Japan erlitten. Die USA hatten immer Geld fürs Militär und haben es jetzt erst recht.Heute ist ihr Militäretat größer als die Summe der Etats der nächsten 15 Nationen. Es ist auchdas Land mit dem höchsten Anteil von Männern unter Eid und Waffen fürs Vaterland.

Deshalb wird die imperiale Macht der USA auch für die nächste Generationsfolge mit an Si-cherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weiter bestehen. Hinzu kommt, dass die besten Wis-senschaftler aller Länder in ihrer Jugend weiterhin in die USA auswandern, um an relevanteSpitzenforschung heranzukommen. Wenn sie überhaupt zurückkommen, dann kümmern siesich erst nach ihren besten Arbeiten um den heimatlichen Nachwuchs. Dieser "brain drain"mit Nachwirkung verstärkt die Überlegenheit der USA am Kopfende und ganz kostenlos. Zuführen lohnt sich mehrfach.

Zur Kompensation des brain drains schlug die vor der Aufstellung des 6. Rahmenprogrammsvon der Europäischen Kommission eingesetzte Expertengruppe vor, ein europäisches Äqui-valent zu dem genius loci der USA aufzubauen. Finanziell wäre das angesichts der immensenAgrarsubventionen, die ja unsere Wettbewerbsfähigkeit unterminieren, nicht nur kein Prob-lem, sondern die beste Infrastrukturinvestition Europas. Aber selbst diese Chance wurde vonder neuen Kommission verpasst, just nachdem die Regierungschefs in Lissabon Europa zurwettbewerbsstärksten Region der Welt ausriefen.

Es wird deutlich, dass die Frage nach dem Fortbestand der NATO nicht zu beantworten istohne die Frage nach dem Willen und der Fähigkeit Europas, sich nach dem Ende des KaltenKriegs zukunftsorientiert aufzustellen. Der Euro bringt das nicht. Wir brauchen europäischeKöpfe und Politikermut, der über die Legislaturperiode hinaus Verantwortung zu tragen bereitist. Die Antwort hängt aber nicht nur davon ab, was sicher ist, sondern auch davon, was in dernächsten Generationsfolge wahrscheinlich geschehen wird.

2. Das Prinzip der Handlungsanpassung an die Entscheidungskategorien

Die Spieltheorie fasziniert nicht nur Casinokunden, sondern auch das Militär und sogar dasNobelpreiskomitee. Für unsere Frage sind drei Entscheidungskategorien mit ihren zugehöri-gen Handlungsmaximen relevant: die Sicherheit, die Wahrscheinlichkeit und die Unsicher-heit.

Sicherheit hat, wer die relevanten, zukünftigen Zustände der Welt kennt und mit an Sicherheitgrenzender Wahrscheinlichkeit weiß, wann sie eintreten werden. Dann ist die Handlungsma-xime tue sofort, was notwendig ist. Hierher gehören die Dominanz der USA, die Kosten derWeiterführung der NATO und der Wegfall ihres Gründungszwecks.

Wahrscheinlichkeit besteht, wenn man zwar die relevanten zukünftigen Zustände kennt, abernur Wahrscheinlichkeiten für ihr Eintreten zu bestimmten Zeiten angeben kann. Dann ist dieHandlungsmaxime: Nehme den Erwartungswert für die Entscheidung, also die Wahrschein-lichkeit jeweils in den Wert hineinmultipliziert. In diese Kategorie gehören mindestens dreiEntwicklungen:

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– China wird sich bis 2027 zum vollen Konkurrenten der USA um die Ressourcen der Weltentwickeln.5 Die Chinesen haben bei sprichwörtlicher Geschäftstüchtigkeit die längsteTradition gut organisierter Zentralmacht, beides ist längst im Erbgut kodiert.

– Die USA geben sich mit einer Teilung der Herrschaft ab, brauchen aber zum kontrollier-ten Gleichgewicht ein starkes, verbündetes Europa bis mindestens zum Ural.

– Brasilien steigt auf zum weltpolitisch relevanten Land und lehnt sich an die USA oder anEuropa (die deutsche Industrie beschäftigt in Sao Paolo mehr Menschen als in jeder ande-ren Stadt einschließlich Deutschlands; es bleibt ein Geheimnis, warum die deutsche Au-ßenpolitik das so wenig würdigt).

Über die Wahrscheinlichkeit dieser Entwicklungen kann man lange debattieren. Sie liegt we-der bei 0 noch bei 1, sondern eher bei 50%. Das Entscheidende ist jedoch, dass es angesichtsvon 1,6 Milliarden Chinesen ganz egal ist, ob die Wahrscheinlichkeit bei 20 oder 80% liegt:Das China-Szenario ist wegen des Bevölkerungsgewichts so entscheidungsrelevant wie wennes in die Kategorie der Sicherheit gehörte.

Bei der Unsicherheit kann man die Wahrscheinlichkeit relevanter zukünftiger Zustände nichteinmal abschätzen. Dann heißt die Handlungsmaxime keineswegs nichts tun, sondern wür-feln. Denn selbst eine falsche ist immer besser als keine Entscheidung. Erstere ist immer kor-rigierbar, letztere verschlampt immer die Einsatzfaktoren. In diese Kategorie gehört leidernoch die Entwicklung Indiens, des Islam-Gürtels und Afrikas.

3. Die Entscheidung

Die drei Kategorien bringen eine Ordnung in die Zustände, die uns zwar die Entscheidungnicht abnimmt, sie aber objektiviert und erleichtert. Lassen wir alle Wenn's und Abers beisei-te, dann folgt aus der dritten Kategorie, dass für die NATO eine Entscheidung her muss, undzwar sofort. Die ersten beiden Kategorien laufen aber auf dasselbe hinaus: Für die USA heißtdie generationsgerechte Herausforderung China, und dafür brauchen sie ein Vertrauensve r-hältnis zu einem gleichwertigen Europa bis zum Ural. Für Europa ist es die Existenzfrage, obes vom guten Willen der USA und Chinas abhängen oder bei der Verteilung der materiellenRessourcen und der ideellen Werte unserer Welt wieder ein respektierter Partner werden soll.Mit weltweit verstreuten nationalmilitärischen Abordnungen kann das nicht funktionieren.

Dabei geht es auch nicht nur um die materiellen Kosten. Solange die NATO unter dem gege-benen Vasallenverhältnis weiterläuft, akkumulieren sich zwei ideelle Kostenpole: Einerseitswerden die USA nicht mehr ausreichend gefordert, eine politische Weisheit mit Werten zuentwickeln und vorzuleben, die ihre materielle Überlegenheit für den Rest der Welt erträglichmacht. Die frühere Regel, dass imperiale Macht keiner Rechtfertigung bedarf, gilt in der offe-nen Informationswelt nicht mehr. Andererseits überwinden die Europäer nicht ihre Angst vorder Anstrengung, einen politischen Raum Europa zu schaffen. 6 Der Aufbau einer verlässli-chen europäischen Militärorganisation liegt so eindeutig im langfristigen Interesse auf beidenSeiten des Atlantiks wie die Auflösung der NATO. Unter ihrem Schutz entwickelte sich mitder Konsumgesellschaft der geistige Hohlraum des Westens. Nach dem Ende des KaltenKriegs wurde er enttarnt, am 11. September 2001 plötzlich wieder zugedeckt, aber er er-scheint langsam wieder und zwingt uns zur Besinnung über tragfähige westliche Werte.

6 Koch, C. in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 210, 2000.

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Für sich allein gestellt würde die Frage nach der Selbstbestimmung Europas sicher ergeben,dass wir eine maßgebliche Kraft im Dreieck mit den USA und China sein wollen. Das Indus-trie- und Kulturpotenzial haben wir dazu. Den politischen Raum müssen wir endlich schaffen.Noch ist Zeit, aber mit jeder EU-Erweiterung wird es schwieriger. Denn der politische Raumist nur lebensfähig, wenn er seine europäische Quelle hat, und die gibt es nicht ohne den Bil-dungs- und Forschungsraum Europa. Nach Forschungskommissar Busquin gibt es den For-schungsraum schon, aber derzeit ist er nicht viel mehr als ein Schlagwort. Denn er kann eineEuropa tragende Kraft erst entwickeln, wenn an der Spitze eine relevante europäische For-schungsstrategie steht. Die derzeitige Situation ist fast das Gegenteil davon, bestenfalls dieSumme nationaler Forschungsstrategien. Das Satellitensystem Galileo ist der wegweisendeLichtblick. Die wichtigste Quelle ist jedoch der europäische Bildungsraum und darin die För-derung einer europäischen Elite. Hier haben wir das Kernproblem Europas: Exzellenz undGleichheit schließen einander aus. Wir können und müssen mutig und exzellent sein, wennwir unsere Zukunft mitbestimmen wollen. Der Nationalstolz bleibt der Academie Française,den Pubs und der Bildzeitung voll erhalten. Europa gedeiht in der neuen Welt mit und trotzseinen Wurzeln, oder es wird untergehen.

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Wie wird sich die NATO der Zukunft darstellen?

Siegfried B. Baselt

Viel wurde und wird in letzter Zeit diskutiert über die Zukunft der NATO, meist unter demEindruck aktueller Ereignisse. Es geht um Ereignisse auf dem Balkan, in Afghanistan oder amHorn von Afrika, unter militärischer Beteiligung. Die sich dabei andeutenden Spannungenzwischen Amerikanern und Europäern sind gern reflektierte Komponenten. Hier lässt es sichtrefflich debattieren, aber sind das wesentliche Punkte zur Zukunft der NATO?

Die NATO ist keine supranationale Organisation, sondern eine Allianz unabhängiger, souve-räner Nationen, die sich entschieden haben, miteinander freiwillig zusammen zu arbeiten imInteresse aller. Die NATO auferlegt keinem ihrer Mitgliedsländer oder Partner Beschlüssegegen deren Willen. Es gibt keine "NATO-Regierung" und jede Teilnahme ist freiwillig.

Hieraus ergibt sich unvermeidlich die Frage, was ein so strukturiertes Gremium denn über-haupt leisten kann. Zur Zeit des kalten Krieges war das Zusammenwirken von außen aufge-prägt. Nach dem Fall der Mauer und der Auflösung des Warschauer Paktes entfiel dieserDruck. Was tat die NATO dann? Sie tat einen sehr geschickten Zug: Sie öffnete sich, bot ihrbewährtes Konsultationsforum neuen Partnern, ehemaligen "Gegnern", zur Mitnutzung an.Für Öffentlichkeit und Medien war das nicht spektakulär, für Insider wurde es jedoch ein Er-folgsprogramm von beachtlichem Ausmaß.

Bereits beim Gipfeltreffen in London 1990 berieten die NATO-Länder darüber, wie es mög-lich wäre, kooperative Beziehungen mit anderen Ländern in Zentral- und Osteuropa zu entwi-ckeln. Dies führte 1991 zur Gründung des Nordatlantischen Kooperationsrates (NACC). Eingroßer Schritt folgte 1994 mit der Einrichtung des Programms "Partnerschaft für den Frieden"(PFP). In diesem Rahmen entwickelte sich praktische bilaterale Zusammenarbeit zwischender NATO und einzelnen Ländern (jeweils NATO + 1). Inzwischen sind an diesem Programm27 Nicht-NATO-Länder beteiligt, darunter Finnland, Georgien, Usbekistan, aber auch Öster-reich und die Schweiz.

Ebenfalls 1994 leitete die NATO ihren "Mittelmeer-Dialog" ein. An diesem Programm, daszur regionalen Sicherheit und Stabilität beitragen soll, sind Ägypten, Algerien, Israel, Jorda-nien, Marokko, Mauretanien und Tunesien beteiligt.

Die NATO-Politik der offenen Tür setzte sich 1997 fort in der Gründung des Euro-Atlantischen Partnerschaftsrates (EAPC), Nachfolger des NACC, dem heute außer den 19NATO-Nationen 27 weitere Partnerstaaten angehören. Wenn man die nun 46 Staaten auf ei-ner Erdkarte markiert, bedecken sie einen großen Teil der nördlichen Erdhälfte, von Norwe-gen bis zur Türkei und von Canada bis Russland und Kasachstan. Hierzu gehören auch Län-der, die nicht direkt der NATO beitreten können.

Im gleichen Jahr 1997 wurden weitere Kooperationsprogramme initiiert, der ständige gemein-same "NATO-Russland Rat" und die "NATO-Ukraine Kommission". In all diesen Gremiengelten die regelmäßigen Konsultationen sicherheitspolitischen Fragen in allen Regionen deseuro-atlantischen Raumes. In den Programmen behandelt werden aber auch die Stärkung de-mokratischer Strukturen, Rüstungskontrolle, Konfliktverhinderung, zivile Notstandsplanung,Umweltprobleme, wissenschaftliche Zusammenarbeit und gemeinsame Ausbildung von Füh-rungskräften.

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Schließlich traten 1999 mit Polen, der Tschechischen Republik und Ungarn wieder drei Nati-onen der NATO bei. Das kommende Gipfeltreffen in Prag soll die Öffnung für den NATO-Beitritt weiterer Länder ermöglichen. Offensichtlich ist die NATO als zuverlässiges Sicher-heitsbündnis auch in Zukunft attraktiv; dies zeigt der "Andrang" beitrittsinteressierter Länder.

Die vorgenannten Kooperationsprogramme, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten offensicht-lich funktionieren, und die den ganzen euroatlantischen Raum umfassen, werden weiter dieStabilität in und zwischen den beteiligten 46 Staaten verbessern. Hier liegen wesentliche Auf-gaben für die Zukunft der NATO.

Im ehemaligen Jugoslawien demonstriert die NATO, unterstützt von Streitkräften aus Nicht-NATO-Staaten, dass sie auch militärisch aktiv zu friedenssichernden Maßnahmen außerhalbihre eigentlichen Vertragsgebietes fähig ist. Hier treten Probleme aber offener zu Tage. Wärensie anders als durch den Einsatz multinationaler Kräfte besser zu lösen? In einem Beitrag zum50-jährigen Bestehen der NATO stellt Altkanzler Helmut Schmidt fest: "Das 21. Jahrhundertwird uns wahrscheinlich vor Probleme stellen, die nach ihrer Natur und ihrem Gewicht vonkeinem Staat allein gelöst werden können und daher gemeinsame Lösungen erfordern." Esgibt wohl kein Bündnis, das zur Bewältigung eben solcher Aufgaben besser geeignet wäre, alsdie NATO. Dies gilt sicher für vielschichtige Konsultationen, sollte aber auch für aktive mi-litärische Aktionen gelten.

Sicher ist eine "neue NATO" mit "neuen Missionen" für die Zukunft noch nicht gemeinsamdefiniert. Trotz zahlreicher Erfolge, die auf die transatlantischen Bindungen zurückgehen,begegnen Amerikaner und Europäer einander immer wieder mit Skepsis. So wird noch eini-ges zu tun sein, um für künftige NATO-Aufgaben amerikanische und europäische Beiträge inein sinnvolles Verhältnis zu bringen. Letztlich wird es an uns Europäern liegen, welchen Be i-trag wir in Zukunft bereit sind, zu zahlen und letztlich real zu leisten. Dieser muss deutlichüber die Teilnahme im beratenden Bereich hinausgehen. Dazu gehört die Modernisierungunserer Streitkräfte. Lord Robertson brachte es in einer Rede im März dieses Jahres in Berlinauf den Punkt: "The choice of the Europeans is modernisation or marginalisation." Nur aufzwei gleichwertige "Pfeiler" gestützt, wie es sich John F.Kennedy vorstellte, den amerikani-schen und den europäischen, wird die NATO für eine sichere Zukunft für Frieden und Stabi-lität im euro-atlantischen Raum wirken können. Die Frage, ob wir Europäer wirklich willenssind, unseren "Pfeiler" hier stark genug einzubringen, ist noch nicht beantwortet.

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NATO auf dem Weg in die Irrelevanz?

Wolfgang J. Stützer

Erstmalig in ihrer über 50-jährigen Geschichte beschloss die NATO in adäquater Beurteilungder Angriffe des 11. September 2001 die Ausrufung des Bündnisfalls, bei Erwägung der Ent-scheidungsprozeduren sehr schnell und überzeugend. Das Bündnis erweckte einen höchstvitalen Eindruck angesichts einer ungewohnten Bedrohungslage: nicht die europäischen Ver-tragspartner, sondern die Meta-Schutzmacht des Bündnisses, die USA, war angegriffen wor-den durch einen unkonventionellen Gegner, der bislang nur seinen Niederschlag gefundenhatte in den Versuchen, neue Sicherheitsrisiken der Zukunft zu beschreiben. "InternationalerTerrorismus" als Teil "asymmetrischer Kriegsführung": Diskussionen in der internationalen,vor allem aber amerikanischen "defense community" traten real in die entsetzte Öffentlich-keit, das Neue Strategische Konzept der NATO von 1999 erwies sich als höchst weitsichtig.Keine Rede also von der politischen Sprachregelung, nach dem 11. September 2001 sei nichtsmehr wie zuvor. Neu nur, dass eine Bedrohungen entwöhnte westliche Öffentlichkeit sich denRealitäten der Zeit nach Ende des Kalten Krieges stellen muss, die ihre Visionen vom EwigenFrieden zum Tagtraum werden ließen.

Diesen neuen Realitäten hatte sich die NATO unerwartet rasch und erfolgreich gestellt. Mitihren weit reichenden Schritten gegenüber dem früheren Gegner, vom Program for Partner-ship bis zur NATO-Russland-Akte, von den mutig angegangenen Erweiterungsplanungen biszum Neuen Strategischen Konzept, von ersten Operationen "out of area" bis zur selbstkrit i-schen Besinnung und Neuausrichtung der europäischen Partner in der Defense CapabilityInitiative und der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität – das Bündnis gestal-tete sich überzeugend neu. Die schnelle Entscheidungsfindung vom September 2001 stellte ingewisser Weise einen Höhepunkt dieser Entwicklung dar – und läutete doch zugleich einenWeg ein, der das Bündnis seitdem ohne Bedeutung und Einfluss auf den Fortgang des Kamp-fes gegen den internationalen Terrorismus erscheinen lässt. Schuld ist jene fatale Tendenzwesentlicher Bündnispartner zu einer Renationalisierung ihrer militärischen und politischenAnstrengungen, namentlich Frankreichs und Deutschlands, vorrangig aber Großbritanniens."Our natural ruthlessness" (John Keegan) als Angebot im Rahmen jener Großbritannien im-mer noch höchst wichtigen "special relationship" zu den USA; Frankreichs beleidigte Betrof-fenheit, von den USA nicht gleichwertig beachtet zu werden und nicht zuletzt Deutschlandshistorische, aber jenseits aller verbaler Verpflichtungen auch höchst aktuelle politischeSchwierigkeiten, etwa bei der Einhaltung gegebener Zusagen, die offensichtlichen Unzuläng-lichkeiten der europäischen Partner bei der Umsetzung ihrer Planungen von 1999 – all dieseshat nicht die Neigungen der ohnehin in Bezug auf Europa skeptischen republikanischen Ad-ministration korrigieren können, nach den Erfahrungen des Kosovo-Krieges im Zweifelsfallalleine oder nur mit ausgesuchter Hilfe zu handeln.

"Don't call me, I'll call you", jene zwiespältige Formulierung einer im Prinzip nur freundlichgarnierten Zurückweisung, prägt jenseits politischer Statements die aktuellen Beziehungen imBündnis. Diese "to bowl alone"-Philosophie der Administration, gepaart mit Zustimmunggewinnenden Diskussionen über das neue amerikanische "Empire" (Robert Kagan), dieseEntwicklungen haben auch in den USA ein besorgtes Nachdenken über den zukünftigen Um-gang unter den Bündnispartnern für die Zeit "danach" eingeleitet. Am beeindruckensten warntJoseph Nye davor, wegen durchaus begründeter Enttäuschung und Ungeduld mit den europäi-schen Partnern das Bündnis in die Irrelevanz abgleiten zu lassen: In seinem neuen Buch "The

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Paradox of American Power" warnt er seine Landsleute, vor allem aber die intellektuelle unddie politische Klasse, und erklärt ihnen sehr eindrücklich "why the world's only superpowercan't go it alone". Wir Europäer sollten uns hüten, daraus zu schließen, es werde alles schonnicht so schlimm kommen. "There is too much Europe" – dieser alt/neue Slogan aus demPentagon sollte uns warnen, endlich unsere Hausaufgaben zu machen, vor allem unsere Zusa-gen einzuhalten. Sonst ist die aktuelle Entwicklung wohl möglich wirklich der Beginn desWeges in die Irrelevanz.

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Autorenverzeichnis

Agüera, Martin M.A."Defense News", Berlin

Baring, Arnulf, Prof. Dr.Historiker und Publizist, Berlin

Baselt, Siegfried D.Dipl. Physiker, lt. Regierungsdirektor a.D., ehem. Referatsleiter "System Analysen" imNATO-Generalsekretariat, Ottobrunn

Boehme, Robert W.Generalkonsul der Vereinigten Staaten von Amerika, München

Campbell, Edwina S., Prof. Dr.National Defense University, Washington D.C.

Danielmeyer, Hans-G., Prof. Dr.Vizepräsident Japanisch-Deutsches Zentrum Berlin

Davis, James W., Ph.D.Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft, Lehrstuhl Internationale Politik,Ludwig-Maximilians-Universität München

Fröhlich, Stefan, PD Dr.Zentrum für Europäische Integrationsforschung, Rheinische Friedrich-Wilhelms-UniversitätBonn

Gasteyger, Curt, Prof. Dr.APSIS – Association for the promotion and the study of International Security, Geneva

Hacke, Christian, Prof. Dr.Lehrstuhl für Wissenschaft von der Politik und Zeitgeschichte, Seminar für PolitischeWissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Harnischfeger, Horst, Dr.Generalsekretär des Goethe-Instituts i.R., München

Huyn Graf, Hans, MdB a.D.Riedering, Ob.Bayern

Kamp, Karl-Heinz, Dr.Leiter der Abteilung Planung und Grundsatzfragen, Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin

Kirchner, Emil J., Prof. Dr.Professor of Government and Jean Monnet Chair, Department of Government, University ofEssex

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Kuehnhardt, Ludger, Prof. Dr.Direktor am Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI), Bonn

Masala, Carlo, Dr.Universität zu Köln

Meier-Walser, Reinhard C., Dr.Leiter der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung, München

Moniac, RüdigerChefredaktion "loyal", Bonn

Moser, Bernhard, Dr.Stv. Bereichsleiter der Politischen Akademie der Österreichischen Volkspartei mit Themen-schwerpunkt "Sicherheit", Wien

Reiter, Erich, Hon.-Prof. DDr.Ministerialdirektor, Sektionschef im österreichischen Bundesministerium für Landesverteid i-gung, Wien

Riedmiller, JosefGeschäftsführendes Vorstandsmitglied, Gesellschaft für Auslandskunde, München

Stützer, Wolf J.Büro für Transatlantische Beratung + Kommunikation, Kirchentellinsfurt

Schwarz, Klaus-Dieter, Dr.Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit, Stiftung Wissenschaft und Politik,Berlin

Staack, Michael, Prof. Dr.Institut für internationale Politik, Sicherheitspolitik und Völkerrecht, Universität der Bundes-wehr München

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Verantwortlich und Herausgeber:Dr. Reinhard C. Meier-WalserLeiter der Akademie für Politik und Zeitgeschehender Hanns-Seidel-Stiftung

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"Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen"

bisher erschienen:

Nr. 1 Berufsvorbereitende Programme für Studierende an deutschenUniversitäten (vergriffen)

Nr. 2 Zukunft sichern: Teilhabegesellschaft durch Vermögensbildung

Nr. 3 Start in die Zukunft – Das Future-Board (vergriffen)

Nr. 4 Die Bundeswehr – Grundlagen, Rollen, Aufgaben (vergriffen)

Nr. 5 "Stille Allianz"? Die deutsch-britischen Beziehungen im neuen Europa(vergriffen)

Nr. 6 Neue Herausforderungen für die Sicherheit Europas (vergriffen)

Nr. 7 Aspekte der Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union(vergriffen)

Nr. 8 Möglichkeiten und Wege der Zusammenarbeit der Museen in Mittel-und Osteuropa

Nr. 9 Sicherheit in Zentral- und Südasien – Determinanten einesKrisenherdes

Nr. 10 Die gestaltende Rolle der Frau im 21. Jahrhundert (vergriffen)

Nr. 11 Griechenland: Politik und Perspektiven

Nr. 12 Russland und der Westen (vergriffen)

Nr. 13 Die neue Familie: Familienleitbilder – Familienrealitäten (vergriffen)

Nr. 14 Kommunistische und postkommunistische Parteien in OsteuropaAusgewählte Fallstudien (vergriffen)

Nr. 15 Doppelqualifikation: Berufsausbildung und StudienberechtigungLeistungsfähige in der beruflichen Erstausbildung

Nr. 16 Qualitätssteigerung im Bildungswesen: Innere Schulreform – Auftrag fürSchulleitungen und Kollegien (vergriffen)

Nr. 17 Die Beziehungen der Volksrepublik China zu Westeuropa – Bilanz undAusblick am Beginn des 21. Jahrhunderts (vergriffen)

Nr. 18 Auf der ewigen Suche nach dem Frieden – Neue und alte Bedingungenfür die Friedenssicherung (vergriffen)

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Nr. 19 Die islamischen Staaten und ihr Verhältnis zur westlichen Welt –Ausgewählte Aspekte (vergriffen)

Nr. 20 Die PDS: Zustand und Entwicklungsperspektiven (vergriffen)

Nr. 21 Deutschland und Frankreich: Gemeinsame Zukunftsfragen

Nr. 22 Bessere Justiz durch dreigliedrigen Justizaufbau?

Nr. 23 Konservative Parteien in der Opposition – Ausgewählte Fallbeispiele

Nr. 24 Gesellschaftliche Herausforderungen aus westlicher und östlicherPerspektive – Ein deutsch-koreanischer Dialog

Nr. 25 Chinas Rolle in der Weltpolitik

Nr. 26 Lernmodelle der Zukunft am Beispiel der Medizin

Nr. 27 Grundrechte – Grundpflichten: eine untrennbare Verbindung

Nr. 28 Gegen Völkermord und Vertreibung – Die Überwindung deszwanzigsten Jahrhunderts

Nr. 29 Spanien und Europa

Nr. 30 Elternverantwortung und Generationenethik in einer freiheitlichenGesellschaft

Nr. 31 Die Clinton-Präsidentschaft – ein Rückblick

Nr. 32 Alte und neue Deutsche? Staatsangehörigkeits- und Integrationspolitikauf dem Prüfstand

Nr. 33 Perspektiven zur Regelung des Internetversandhandels vonArzneimitteln

Nr. 34 Die Zukunft der NATO

in Vorbereitung:

Frankophonie – nationale und internationale Dimensionen