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24 GKP-Informationen August/September 2018 REISEN WIE IN AMELIES WELT E in kleines Café im Pariser Stadtteil Montmartre. Amélie, eine junge schüchterne Kellnerin, träumt sich durch ihren tristen Alltag. Bis sie eines Tages aus Versehen den Verschluss einer Parfümflasche fallen lässt und dieser eine Kachel an der Sockelleiste des Bades abschlägt, worauf dahinter eine über vierzig Jahre alte Schachtel mit Spiel- sachen zum Vorschein kommt. Nun will Amélie unbedingt he- rausfinden, wem die Schachtel gehört hat. Und das Unglaubliche gelingt: Sie macht den mittlerwei- le fünfzigjährigen Besitzer ausfin- dig und kann ihm die Schachtel zurückgeben. Amélie ist tief be- troffen von den Freudentränen des Mannes. Durch diese Er- fahrung verändert sich ihr Blick auf die Welt. Sie will nicht mehr bloß träumen, sondern in der Wirklichkeit Beziehungen gestalten und Gutes tun. Sie hilſt ihren Nachbarn und findet dabei unverho in Nino die Lie- be ihres Lebens. Und sie kümmert sich vermehrt um ihren Vater, der seit dem Tod seiner Frau völlig zurückgezogen lebt. Amélie versucht ihn zu überreden, doch wieder mal zu verreisen, wie er es früher so gern getan habe – umsonst. Da gibt Amélie heimlich Vaters Lieb- lingsgartenzwerg einer befreundeten Stewardess mit. Und diese schickt nun Amélies Vater immer wieder Postkarten mit Fotos des Gartenzwergs von allen Orten der Welt. Anfänglich ist der Vater irritiert, doch schließlich packt ihn das Fernweh und er begibt sich tatsächlich auf Reisen. Überglücklich braust Amélie mit ihrem Freund auf dem Moped die Straße vom Montmartre hinunter. Der Film „Die fabelhaſte Welt der Amélie“ von Jean-Pierre Jeunet ist ein modernes, fantasievoll inszeniertes Märchen. Nicht nur Paris wirkt verzaubert, überhaupt al- les Triste kann voller Poesie und Zauber sein, wenn sich die Menschen auf den Weg machen. Sich auf Neues, Fremdes einlassen, Erfahrungen sammeln und sich im besten Fall selbst verändern lassen: Reisen ist ein Urmotiv der Mensch- heit. Davon handelt schon die antike Literatur, sei es das Gilgameschepos oder die homerische Odyssee. Und auch unsere Glaubensgeschichte be- ginnt mit einer Reise, indem JHWH zu Abraham spricht: „Geh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandt- schaſt und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde!“ (Gen 12,1) Gründe für seine Auffor- derung nennt JHWH nicht. Doch Ab- raham gehorcht und bricht auf. Und zwar nicht allein, sondern mit seiner Frau, seinem Neffen samt Anhang und all ihrem Gesinde. Reisen im Alten Testament werden selten allein unternommen. Fast immer ist eine Gruppe unterwegs. Eine ganz beson- dere Dimension bekommt das Reisen, als das ganze Volk Israel von JHWH aus der Sklaverei in Ägypten heraus- geführt wird. Der Auszug aus Ägypten ist sozusagen der Gründungsmythos des Judentums und wird alljährlich an Pessach gefeiert. Auch wird bis heute im Jahresverlauf die gesamte Tora, die Heils- geschichte von Israels Reisen mit JHWH, wochenabschnittweise jeweils am Sabbat in den Synagogen gelesen. Im Neuen Testament ist Jesu öf- fentliches Wirken von rastlosem Unterwegssein und Heimatlosig- keit geprägt. „Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester, der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hin- legen kann“ (Mt 8,20). Etwa drei Jahre zieht Jesus umher. In gewisser Weise wird er durch seine Reisen Kommunikator zwischen verschie- denen Bevölkerungsgruppen in Samaria, der Dekapolis oder dem syrophönizischen Gebiet. „Lieber gar nicht erst verrei- sen“, war im Feuilleton der NZZ vom 11. Juli eine Glosse betitelt. Die Autorin Angelika Brauer un- terscheidet darin zwei Typen: die Sou- veränen, die New York oder Australien besuchen, und die Statischen, die Rei- sefaulen, die dann doch lieber zu Hau- se bleiben. Interessant sind die Motive des letzteren Typs: Reisen kostet so viel Energie, dass sich der Aufwand nicht lohnt. Und dann hat eben auch jede Rei- se ein Ende: „Wir sind zeitlich. Und end- lich. Alles geht vorbei und wird schon bald gewesen sein.“ Zugegeben, Reisen kann sehr anstrengend sein. Und wer ist nicht genervt, wenn Flüge und Züge Ver- spätung haben oder man lange Zeit im Stau stecken bleibt? Wer sich trotz allem von Amélies Entdeckerfreude anstecken lässt, merkt aber auch, welche Intensiv- form von Erfahrungen das Unterwegs- sein bieten kann. Wer nur in den eigenen vier Wänden vor der 2D oder 3D Flim- merwelt hocken bleibt, wird diese Inten- sität nie erleben. Vielleicht merkt er vor lauter flirrendem Abglanz nicht einmal, wie sehr ihm der Duſt des Wirklichen fehlt. Christof Wolf SJ

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24 GKP-Informationen August/September 2018

reisen wie in amelies weltEin kleines Café im Pariser Stadtteil

Montmartre. Amélie, eine junge schüchterne Kellnerin, träumt

sich durch ihren tristen Alltag. Bis sie eines Tages aus Versehen den Verschluss einer Parfümflasche fallen lässt und dieser eine Kachel an der Sockelleiste des Bades abschlägt, worauf dahinter eine über vierzig Jahre alte Schachtel mit Spiel-sachen zum Vorschein kommt. Nun will Amélie unbedingt he-rausfinden, wem die Schachtel gehört hat. Und das Unglaubliche gelingt: Sie macht den mittlerwei-le fünfzigjährigen Besitzer ausfin-dig und kann ihm die Schachtel zurückgeben. Amélie ist tief be-troffen von den Freudentränen des Mannes. Durch diese Er-fahrung verändert sich ihr Blick auf die Welt. Sie will nicht mehr bloß träumen, sondern in der Wirklichkeit Beziehungen gestalten und Gutes tun. Sie hilft ihren Nachbarn und findet dabei unverhofft in Nino die Lie-be ihres Lebens. Und sie kümmert sich vermehrt um ihren Vater, der seit dem Tod seiner Frau völlig zurückgezogen lebt. Amélie versucht ihn zu überreden, doch wieder mal zu verreisen, wie er es früher so gern getan habe – umsonst. Da gibt Amélie heimlich Vaters Lieb-lingsgartenzwerg einer befreundeten Stewardess mit. Und diese schickt nun Amélies Vater immer wieder Postkarten mit Fotos des Gartenzwergs von allen Orten der Welt. Anfänglich ist der Vater irritiert, doch schließlich packt ihn das Fernweh und er begibt sich tatsächlich auf Reisen. Überglücklich braust Amélie mit ihrem Freund auf dem Moped die Straße vom Montmartre hinunter. Der Film „Die fabelhafte Welt der Amélie“ von Jean-Pierre Jeunet ist ein modernes, fantasievoll inszeniertes Märchen. Nicht nur Paris wirkt verzaubert, überhaupt al-les Triste kann voller Poesie und Zauber

sein, wenn sich die Menschen auf den Weg machen.

Sich auf Neues, Fremdes einlassen, Erfahrungen sammeln und sich im besten Fall selbst verändern lassen:

Reisen ist ein Urmotiv der Mensch-heit. Davon handelt schon die antike Literatur, sei es das Gilgameschepos oder die homerische Odyssee. Und auch unsere Glaubensgeschichte be-ginnt mit einer Reise, indem JHWH zu Abraham spricht: „Geh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandt-schaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde!“ (Gen 12,1) Gründe für seine Auffor-derung nennt JHWH nicht. Doch Ab-raham gehorcht und bricht auf. Und zwar nicht allein, sondern mit seiner Frau, seinem Neffen samt Anhang und all ihrem Gesinde. Reisen im Alten Testament werden selten allein unternommen. Fast immer ist eine Gruppe unterwegs. Eine ganz beson-dere Dimension bekommt das Reisen, als das ganze Volk Israel von JHWH aus der Sklaverei in Ägypten heraus-geführt wird. Der Auszug aus Ägypten ist sozusagen der Gründungsmythos des Judentums und wird alljährlich an

Pessach gefeiert. Auch wird bis heute im Jahresverlauf die gesamte Tora, die Heils-geschichte von Israels Reisen mit JHWH, wochenabschnittweise jeweils am Sabbat in den Synagogen gelesen.

Im Neuen Testament ist Jesu öf-fentliches Wirken von rastlosem Unterwegssein und Heimatlosig-keit geprägt. „Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester, der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hin-legen kann“ (Mt 8,20). Etwa drei Jahre zieht Jesus umher. In gewisser Weise wird er durch seine Reisen Kommunikator zwischen verschie-denen Bevölkerungsgruppen in Samaria, der Dekapolis oder dem syrophönizischen Gebiet.

„Lieber gar nicht erst verrei-sen“, war im Feuilleton der NZZ vom 11. Juli eine Glosse betitelt. Die Autorin Angelika Brauer un-

terscheidet darin zwei Typen: die Sou-veränen, die New York oder Australien besuchen, und die Statischen, die Rei-sefaulen, die dann doch lieber zu Hau-se bleiben. Interessant sind die Motive des letzteren Typs: Reisen kostet so viel Energie, dass sich der Aufwand nicht lohnt. Und dann hat eben auch jede Rei-se ein Ende: „Wir sind zeitlich. Und end-lich. Alles geht vorbei und wird schon bald gewesen sein.“ Zugegeben, Reisen kann sehr anstrengend sein. Und wer ist nicht genervt, wenn Flüge und Züge Ver-spätung haben oder man lange Zeit im Stau stecken bleibt? Wer sich trotz allem von Amélies Entdeckerfreude anstecken lässt, merkt aber auch, welche Intensiv-form von Erfahrungen das Unterwegs-sein bieten kann. Wer nur in den eigenen vier Wänden vor der 2D oder 3D Flim-merwelt hocken bleibt, wird diese Inten-sität nie erleben. Vielleicht merkt er vor lauter flirrendem Abglanz nicht einmal, wie sehr ihm der Duft des Wirklichen fehlt. Christof Wolf SJ