Risiko

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05/2011 • 7,90 (D) Risiko bleibt riskant

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Eine Leseprobe der agora42 - das Magazin für Ökonomie und Philosophie. Auf den folgenden Seiten sehen Sie einen Auszug aus der elften Ausgabe „Risiko, die am 26 August 2011 deutschlandweit an den Kiosken und in Bahnhofsbuchhandlungen erschienen ist. Gerne senden wir Ihnen auch ein Exemplar zum Preis von 9,50 Euro (inkl. MwSt. und Versand) per Post zu. Falls Sie zukünftig ein Abonnement wünschen, so können Sie dieses einfach und schnell telefonisch unter 07031 – 43 57 885 oder unter [email protected] bestellen. Möchten Sie mehr erfahren, dann besuchen Sie uns auf unserer Website. More info: http://www.agora42.de

Transcript of Risiko

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05/2011 • 7,90€ (D)

Risiko bleibt riskant

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agora42

04 Editorial

06 Prolog

08 Parallaxe !"# $%&'" ()*+%,

14 Ökonomische - eorien !%( ()*.,/"#")*,"0" #1(123

20 Philosophische Perspektive #1(123 ,3#4%'1050

24 Grundannahmen der Ökonomie ,1)*0+1((", – "1, &,&4/5,/'1)*"( #1(123

30 Heiner Flassbeck/Friederike Spiecker #1(123 !"&0()*'%,!

36 Frank Böckelmann 0#&/61'! (1)*"#*"10

42 Eckhard Cordes ()*"1,#1"(" !"&0()*'%,!

50 Ariadne von Schirach #1(123 73461" 3!"# +%#&4 "( (1)* '3*,0, !%( '"6", 7& +%/",

58 Auf dem Marktplatz

60 Pro/Contra

Personen

64 Interview • Torsten Hinrichs »Das Risiko ist größer geworden«

78 Speakers’ Corner

84 Portrait 4&(0%$% 2"4%' %0%08#2

92 Gedankenspiele

94 Zahlenspiele

96 Plutos Schatten

98 Impressum

INHALT

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8 agora42 • Parallaxe • DER FAULE SCHWAN

DER FAULE SCHWAN

Paral laxe

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9agora42 • Parallaxe • DER FAULE SCHWAN

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20 agora42 • Philosophische Perspektive • RISIKO NORMALITÄT

mit der Lebensgefahrüberwindung. Eine Rückkehr, die auch manch wagemutiger Unternehmer bereits im Hin-terkopf hatte, bevor er sein waghalsiges Unternehmen begann. Oder der Spekulant, der ja heutzutage kaum befürchten muss, von einer aufgebrachten Menschen-menge gelyncht zu werden.

Spinner und Lemminge

Die einen wie die anderen Spießer geraten gerne mitei-nander in Kon! ikt. Für die klassischen Spießer sind die Risikospießer Spinner, die die Normalität nicht wert-schätzen. Für die Risikospießer sind die klassischen Spießer Lemminge, die sich von billigen Konsumver-sprechen an der Nase herumführen lassen. Erscheint den einen die Lebensweise der anderen als zu riskant, wird ihnen von den anderen vorgeworfen, zu wenig Risiko einzugehen. Dieser Kon! ikt bildet jedoch nur die Ober! äche, unter der sich die eigentliche Motivation verbirgt. Denn tatsächlich dient die Abgrenzung gegen-über dem jeweils anderen Lebensentwurf als Rechtferti-gung für den eigenen Standpunkt.Nun könnte man sagen: „Alles kein Problem, sollen sie doch machen, was sie wollen, die Spießer“. Falsch, denn Spießigkeit ist ein unverantwortliches Risiko für das Gemeinwesen. Warum? Die klassischen Spießer ver-schließen sich der persönlichen Fortentwicklung, indem die Erhaltung des (normalen) Status quo für sie höchste Priorität hat. Denn eine solche Fortentwicklung kann ohne Brüche, das heißt ohne die zeitweise Aussetzung des Status quo, nicht erfolgen. So berauben sie sich nach und nach ihrer Freiheit. „Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren“, soll Benjamin Franklin gesagt haben. Mit anderen Wor-ten: "#$ #%&'($) *+% %+$,-./&0& &$01& *+% *+$%-2#$#/% 3#/% #/1#%#3 342#/&#$% /% 3/42. Das tri5 t natürlich auch auf die Spießer zu, die keine sein wollen, sich aber dennoch an der Normalität des klassischen Spießers orientieren. Denn ohne diese Abgrenzung wäre auch ihr eigener Lebensentwurf hinfällig.

Es gibt zwei Sorten von Spießern. Die einen wollen aus der Normalität ausbrechen. Sie suchen das Risiko, indem sie zum Beispiel Sportarten ausüben, bei denen sie ihr Leben oder ihre Gesundheit aufs Spiel setzen. Oder sie wollen sich durch alternative Lebensentwürfe von der gesellschaftlichen Normalität abgrenzen und geben dadurch ihrem Dasein einen riskanten Anstrich. Die andere Sorte sind die klassischen Spießer, jene also, die sich in der Normalität einrichten, die ihr Dasein biedermeierlich geordnet über die Runden bringen und dabei vor allem auf Bequemlichkeit und Schmerzvermei-dung bedacht sind.Warum sind beide Sorten Spießer? Weil beide dem Glau-ben anhängen, dass so etwas wie eine Normalität exis-tieren würde. Weil sie ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass es einen geordneten Hintergrund gibt, einen gesellschaftlichen Normalzustand, den auch der Risikospießer voraussetzt, der seine sichere Basis bildet, von der aus er beispielsweise zu einer lebensgefährli-chen Klettertour aufbricht und zu dem er wie in Mutters Schoß zurückkehrt, wenn’s denn geklappt haben sollte

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Phi losophische Perspektive

RISIKO NORMALI TÄT

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21agora42 • Philosophische Perspektive • RISIKO NORMALITÄT

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agora42 • Heiner Flassbeck/Friederike Spiecker • RISIKO DEUTSCHL AND30

„W E R SE INE E RWIRT S C HA F T E T E PRODUKT IVI TÄT NIC HT ‚V E RF RÜHST ÜCKT ‘ , B E DROHT A LLE ÜBR IG E N M A R KT T E ILNEHME R

UND S C HLIE S SLIC H AUC H SIC H SE LBST.“(Heiner Flassbeck/Friederike Spiecker.

In: „Blätter für deutsche und internationale Politik“, September 2005)

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31agora42 • Heiner Flassbeck/Friederike Spiecker • RISIKO DEUTSCHL AND

Heiner Flassbeck/Fr ieder ike Spiecker

R I SIKO DEU T SCH !L AND

Dieser Tage ist viel von Risiko die Rede, vor allem von dem Risiko, dem sich Deutschland aussetzt, wenn es hoch verschuldete Euro-Länder aus ihren – so die feste Überzeugung deutscher Medien – selbst eingebrockten Schwierigkeiten herauskauft. Das steht in seltsamem Kontrast zu den Ho" nungen, die man sich vor zwölf

und mehr Jahren im Hinblick auf die Europäische Wäh-rungsunion (EWU) gemacht hat: So waren es in erster Linie die deutschen Exportunternehmen, die erwarte-ten, nun endlich mit einer Währung rechnen zu kön-nen, die ihnen nicht alle paar Jahre buchstäblich einen Strich durch die Rechnung macht, indem sie gegenüber

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4242 agora42 • Eckhard Cordes • SCHEINRIESE DEUTSCHL AND

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4343agora42 • Eckhard Cordes • SCHEINRIESE DEUTSCHL AND

SCHEINRIE SE DEU T SCHL AND

Eckhard Cordes

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60 agora42 • PRO/CONTRA

Eine Idee setzt sich durch

Die Idee ist nicht neu. Schon John Maynard Keynes hatte sie in den 30er Jahren des letz-ten Jahrhunderts ins Spiel gebracht, und in den 70ern gri! sie der Nobelpreisträger James Tobin wieder auf: die Besteuerung des Handels mit Finanzvermögen – also mit Aktien, Anleihen, Derivaten und Devisen – durch eine Finanztransaktionssteuer (FTS). Seit der Asienkrise 1998 haben sich Nicht-regierungsorganisationen und heterodoxe Ökonomen (das heißt Ökonomen, die nicht den ökonomischen Mainstream vertreten) der Idee angenommen. Inzwischen spricht vieles dafür, dass die FTS kurz vor der Ein-führung steht, zumindest in der EU. Die Bun-desregierung ist dafür, ebenso Frankreich, Österreich, Belgien, das Europäische Parla-ment und die Europäische Kommission.Der Grundgedanke der FTS ist eigentlich nahe liegend: Beim Kauf eines jeden Laib Brots und jeder Dienstleistung wird Mehr-wertsteuer fällig, während der Kauf eines Aktienpakets oder eines Futures nicht besteuert wird. Das ist eine nicht zu recht-fertigende Privilegierung des Finanzsektors. Zumal in diesem Sektor besonders viel Geld gemacht wird. Allein in den zehn Jahren vor der Finanzkrise hat sich das Vermögen derer, die über mehr als eine Million liquides Finanzvermögen verfügen (also Immobilien,

Mehr Schaden als Nutzen

Sollen Finanztransaktionen künftig in Deutsch-land oder ganz Europa besteuert werden?Wirft man einen Blick in das Tableau der aktu-ellen Finanzplanung des Bundes, so scheint diese Frage von Seiten der Politik bereits beantwortet zu sein. Denn hier werden bereits ab 2012 jährliche Einnahmen in Höhe von zwei Milliarden Euro aus dieser neuen Steuer verbucht. Jedoch nicht nur Bundes-fi nanzminister Wolfgang Schäuble, sondern auch EU-Steuerkommissar Algirdas Semeta hat ein Auge auf diese mögliche Einnahme-quelle geworfen und öffentlich erklärt, die europaweite Finanztransaktionssteuer solle in Zukunft eine eigenständige Einnahmequelle für den europäischen Haushalt werden. Wohl wissend, dass ein derartiger Plan in den arg von der Finanzkrise gebeutelten Mitgliedslän-dern auf wenig Gegenliebe stoßen wird, hat man in Brüssel bereits eine geschickt austa-rierte Kompromisslösung gebastelt und plant nun, dass beide Seiten ein Stück von diesem Steuerkuchen abbekommen sollen. Hierzu gibt es auch schon konkrete Vorstellungen, wonach die EU einen Mindeststeuersatz von 0,1 Prozent auf den Handel mit Aktien und von 0,01 Prozent auf den Handel mit Deriva-ten erhebt und die Mitgliedsstaaten einen in eigener Regie festgelegten Zuschlag zusätz-lich erheben dürfen.

ContraPro

FINANZT R AN SAK T ION SST EUER

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61agora42 • PRO/CONTRA

Luxusgüter etc. nicht gerechnet) von 15 Billi-onen auf mehr als 40 Billionen US-Dollar fast verdreifacht. Welcher Lohn- oder Gehaltsemp-fänger kann das von sich behaupten?Würde man jeden Verkauf eines Finanzvermö-genswertes mit einem geringen Steuersatz von nur 0,05 % besteuern, kämen nach Berechnun-gen des Wiener WIFO-Instituts weltweit Ein-nahmen in der Größenordnung von jährlich 650 Mrd. US-Dollar zustande. Das ist etwa drei Mal so viel wie die gesamte Entwicklungshilfe der Industrieländer zusammen. Eine FTS nur in der EU brächte immerhin noch 310 Mrd. US-Dollar ein. Die EU-Kommission kommt unter Zugrundelegung einer schmaleren Steu-erbasis, bei der nur Aktien und Anleihen, nicht aber Devisen und Derivate besteuert würden, immerhin noch auf circa 30 Mrd. Euro. Das entspräche einem Viertel des EU-Haushaltes von 2011.Die Zivilgesellschaft fordert, dass zumindest ein beträchtlicher Teil der Einnahmen aus einer FTS zur Finanzierung globaler ö! entli-cher Güter wie Klimaschutz und Armutsbe-kämpfung eingesetzt wird. Wie weit sie sich damit durchsetzen wird, ist o! en. Denn vor dem Hintergrund der Finanz- und Eurokrise wollen die Finanzminister der EU-Länder das Geld für andere Zwecke, vorneweg die Haus-haltskonsolidierung, verwenden. Brüssel will die Steuereinnahmen gar für den EU-Haushalt verwenden.Die FTS hat nicht nur enormes Einnahmepo-tenzial, sondern auch eine interessante Len-kungswirkung: Sie kann die Finanzspekula-tion eindämmen. Tobin sprach davon, „Sand ins Getriebe“ zu werfen. Die modernen Tech-niken der Spekulation setzen darauf, selbst kleinste Kursschwankungen im Bereich eines Hundertstel Prozents an jedem Finanzplatz des Planeten für spekulative Operationen zu nutzen. Insbesondere der sogenannte High Frequency Trade – das ist vollständig automa-

Bereits dieser Vorschlag macht nur allzu deut-lich, dass sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene die negative Stimmung gegenüber den Banken in der Rolle der geld-gierigen Spekulanten und damit zugleich als Verursacher der Finanz- und Schuldenkrise genutzt werden soll, um sie unter dem morali-schen Deckmantel zur Kasse zu bitten. Wurde bereits 1802 vom französischen Ökonomen und Philosophen Francois Canard der Grundsatz geprägt, „Alte Steuern sind gute Steuern“, so gilt im 21. Jahrhundert eher der politische Slogan: „Neue Steuern sind willkommene Steu-ern.“ Dienen sie doch zur Finanzierung der riesigen Haushaltslöcher. Jedoch ist in jedem fi nanzwissenschaftlichen Lehrbuch vermerkt, dass die Güte und Legitimation einer Steuer keinesfalls nur aus ihrer fi skalischen Funktion resultieren, sondern dass auch immer die mit der Besteuerung verbundenen wohlfahrtsmin-dernden Effekte für die Volkswirtschaft selbst zu berücksichtigen sind.Nimmt man die Finanztransaktionssteuer unter diesem Aspekt kritisch unter die Lupe, dann zeigt sich, dass sie keinesfalls das Prädikat „gute Steuer“ verdient. Hierfür ist ihre Män-gelliste einfach zu lang. So ist die Finanz-transaktionssteuer schon deshalb ein ungeeig-netes Instrument zur Verhinderung zukünftiger Finanzkrisen, weil sie nicht diejenigen Prob-leme löst, die zum Ausbruch der Finanz- und Schuldenkrise geführt haben, wie zum Beispiel die realwirtschaftlich hervorgerufene Immobi-lienblase in den USA und in Spanien.Vor allem ist diese Steuer nicht geeignet, uner-wünschte Transaktionen zu verhindern, weil allein schon eine exakte Trennung zwischen dem Spekulations- und dem Absicherungsmo-tiv eines Finanzgeschäfts bei modernen Finan-zinnovationen kaum möglich ist. So zeigt sich beispielsweise bei näherem Hinsehen, dass der immer wieder als Modellfall einer ungezügelten Spekulation kritisierte Devisenmarkt, dessen

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6464 agora42 • Interview mit Torsten Hinrichs

»Das Risiko ist größer geworden«Inter view mit Torsten Hinr ichs

Fotos: Janusch Tschech

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65agora42 • Interview mit Torsten Hinrichs

Herr Hinrichs, wie defi nieren Sie Risiko?

Risiko ist das Eintreten unerwarteter Ereignisse. Das würde ich gar nicht unbedingt auf das Eintreten negativer unerwarteter Ereignisse beschränken wollen, denn auch beim Eintreten positiver unerwarteter Ereignisse entsteht Unsicherheit. Risiko und Unsi-cherheit sind Begri! e, die stark miteinander korrelieren.

Was ist eigentlich ein Rating und was kann es leisten?

Die Standardde" nition lautet: Ein Rating ist eine Meinungsäußerung über die Bonität eines Schuldners, das heißt über die zukünftige Fähigkeit und Bereitschaft eines Kredit-nehmers, seine Verbindlichkeiten vollständig und pünktlich zu bedienen. Was leistet ein Rating? An den globalen Kapitalmärkten beobachten wir in zunehmendem Maße – und je mehr Kapital wir in der Globalisierung sehen, desto mehr tri! t dies zu – eine Infor-mationsasymmetrie. Das heißt, diejenigen, die Geld an den Kapitalmärkten aufnehmen (die Emittenten), wissen sehr genau über ihre eigene Bonität Bescheid, wohingegen die Anleger, die Investoren, die die Anleihen kaufen sollen, über ein relativ geringes Wis-sen verfügen. Ratings haben – im großen Kontext betrachtet – auch die Aufgabe, diese Informationsasymmetrie auszugleichen und dazu beizutragen, dass die Anleger eine quali" ziertere Anlageentscheidung tre! en können.

Torsten Hinrichs ist Niederlassungsleiter von Standard & Poor’s Credit Market Services Europe Ltd. (Niederlas-sung Deutschland) und Geschäftsführer der McGraw-Hill (Germany) GmbH in Frankfurt mit Verantwortung für den deutschsprachigen Raum, Nord- und Osteuropa sowie in den Emerging Markets. Er ist zuständig für die Koordinierung der kommerziellen Aktivitäten in den sechs Niederlassungen in Europa und die Entwicklung der Büros in Moskau, Tel Aviv, Dubai und Johannesburg. Zu seinen Aufgaben gehört der weitere Ausbau der Kredi-tratingaktivitäten und die Expansion von Standard & Poor’s in den Bereichen Fondsrating, Aktienrecherche und Informationsdienstleistungen mit ihren vielfältigen Produkten für den Finanzmarkt.Hinrichs trat im Februar 1999 in das Unternehmen ein. Zuvor war er 15 Jahre bei der Westdeutschen Landes-bank tätig und hat dort in den Bereichen Neuemissionen/Kapitalmarkt, Global Derivatives/Fixed Income sowie Global Treasury Erfahrungen gesammelt. Nach Einsätzen in Düsseldorf, New York und London war Hinrichs zuletzt als Head of Treasury bei der Westdeutschen Landesbank (Niederlassung Hongkong) tätig.Hinrichs hält einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften als Dipl. Kaufmann der Universität Hamburg.

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72 agora42 • Interview mit Torsten Hinrichs

macht einen Ratingvorschlag. In diesem Komitee sind Personen versammelt, die Toy-ota, Honda, General Motors, Ford, Peugeot oder Daimler analysieren. Das heißt jene, die das Komitee bilden, sind ausgewiesene Fachleute in der gleichen Materie. Ich habe bewusst auch amerikanische und asiatische Firmen genannt, weil Ratings weltweit konsistent sein müssen. Diese einheitliche Grundlage scha! en wir dadurch, dass wir Ratingkomitees in einer bestimmten Form, nämlich analog zur Wettbewerbssituation unseres Kunden zusammenstellen, damit die Expertise im Komitee die Geschäftsbe-reiche und das Marktumfeld des Kunden widerspiegelt. Folglich ist der Ratinganalyst nicht mehr der alleinige Wissensträger in diesem Komitee. Im Gegenteil: Er tri! t im Komitee auf ein kollektives Wissen, das deutlich größer ist als sein eigenes. Daraus ent-stehen sehr konstruktive und kritische Diskussionen.

In einer Ratingagentur vermutet man in erster Linie Statistiker und Mathematiker. Unternehmen sind jedoch auch von gesellschaftlichen Entwicklungen, Stimmungs-lagen und politischen Entscheidungen – beispielsweise der Vergabe von Subventi-onen – abhängig. Spielen auch Soziologen, Psychologen, Politologen oder vielleicht sogar Philosophen bei Standard & Poor’s eine Rolle?

Die Wahrheit liegt genau in der Mitte. Ja, wir haben einige wenige Finanzmathematiker, im Wesentlichen im Bereich des Versicherungsratings. Wir haben aber eigentlich keine reinen Mathematiker, es sei denn solche, die Modelle konstruieren, die bei strukturier-ten Finanzierungen angewendet werden. Es sind auch einige Ingenieure für uns tätig. Denn wenn Sie Infrastrukturmaßnahmen – beispielsweise Brücken, die auf Mautbasis " nanziert werden – raten wollen, sollten Sie schon ein bisschen Ahnung von Technik haben. Aber die Ratingarbeit selbst machen in erster Linie Wirtschaftswissenschaftler – da gibt es kaum Philosophen.

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73agora42 • Interview mit Torsten Hinrichs

Es wird immer unwahrscheinlicher, dass die Staatsverschuldung in Westeuropa, in den USA und in Japan noch beherrscht werden kann. In einer gesamtwirtschaft-lich derart prekären Situation können Ratings von Staaten nicht besonders posi-tiv ausfallen. Dennoch stehen die Ratingagenturen ob ihrer Bewertungen immer wieder in der Kritik, vor allem auch seitens der Politik. Wird hier ein Sündenbock gesucht?

Ein Grund für diese Kritik ist darin zu sehen, dass von vielen Politikern immer noch nicht gänzlich verstanden wird, worin die Aussagekraft von Ratings besteht, was also ein Rating leisten kann und was nicht. Unsere Aufgabe besteht darin, zukünftige Zah-lungsfähigkeit zu beurteilen. Nicht mehr und nicht weniger.Ein weiterer Grund liegt in der unabhängigen Natur von Ratingagenturen. Wir bei Standard & Poor’s äußern unsere Meinung, wenn wir der Überzeugung sind, dass sich Veränderungen ergeben haben, die ein anderes Rating erforderlich machen. Ich habe durchaus Verständnis dafür, dass der Zeitpunkt dieser Meinungsäußerung der Politik nicht immer gelegen kommt oder dass man nicht erfreut ist, wenn sie der politisch gewollten Lösung – Stichpunkt Beteiligung des privaten Sektors – im Wege steht. Die Kritik ist in solchen Zeiten mit Sicherheit häu! ger und auch etwas irrationaler als in normalen Zeiten. Aber deshalb werden wir nicht anders handeln oder unsere Maxime der Unabhängigkeit und der Objektivität antasten.

Im Zuge der Abwertung von Staaten durch Ratingagenturen wurde vorgeschlagen, dass sich Staaten in Zukunft nicht mehr über den Kapitalmarkt fi nanzieren sollen, sondern über die Zentralbanken. Das würde letztlich nichts anderes bedeuten, als dass eine Zentralbank Geld druckt, wenn der Staat das gerade will. Hat nicht die Geschichte gezeigt, dass dies ein äußerst riskantes Vorgehen darstellt?

»Unsere Aufgabe besteht darin,

zukünftige Zahlungsfähigkeit

zu beurteilen. Nicht mehr und

nicht weniger.«

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7878 agora42 • Speakers’ Corner • DIE ZEIT DER HELDEN IST VORBEI

Jón GnarrVater von fünf Kindern; verließ die Schule mit 14 Jahren und besuchte für zwei Jahre ein Internat für schwer erziehbare Jugendliche; arbeitete als Pfl eger in einem Heim für geistig und körperlich Behinderte; schrieb eine fi ktive Autobiografi e mit dem Titel „Der Indianer“; war Bassist der Punkrockband „Nefrenns-li“ („Triefende Nasen“); begann seine Karriere als Komiker mit der Radio-Comedy-Show „Hotel Volkswa-gen“; ist Star und Co-Autor der TV-Comedy-Serien „Naeturvaktin“, „Dagvaktin“ und „Fangavaktin“, die in den letzten Jahren alle Zuschauerrekorde in Island brachen. Für die TV-Serien und einen Kinofi lm entwickelte und spielte er die Figur des kommunistischen Querulanten Georg Bjarnfredarson. Heute ist Jón Gnarr Oberbürgermeister der Stadt Reykjavik.

Foto: © City of Reykjavik

Speakers ’ Cor ner

Speakers’ Corner („Ecke der Redner“) ist ein Versammlungsplatz im Hyde Park in London. Durch einen Parlamentsbeschluss vom 27. Juni 1872 kann dort jeder ohne Anmeldung einen Vortrag zu einem beliebigen ! ema halten, seine Meinung über die gesellschaftlichen Verhältnisse kundtun und auf diesem Weg die Vorübergehen-den um sich versammeln.

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79agora42 • Speakers’ Corner • DIE ZEIT DER HELDEN IST VORBEI

großen Finanzblase, war Chef der Zentralbank, als das Bankensystem zusammenbrach und die Kosten auf die Schwächeren abgewälzt wurden. Nach dem Crash wurde genau dieser Mann Chef-Herausgeber von Morgunbladid – der Zeitung der Konservativen und älteste Tageszei-tung Islands. Solche Typen probieren immer noch, sich mit allen Mitteln ihren Weg zu bahnen, gestehen keine Fehler ein, bereuen nichts und machen einfach so weiter wie bisher. Und mich nennen sie in Morgunbladid einen Idioten und einen Clown (lacht).

Sie haben sich als Gründer und Frontmann der „Bes-ten Partei“ für einen konstruktiven, friedlichen Weg entschieden – warum?

Ich habe mich aus einem politischen und sozialen Inte-resse heraus schon immer dafür interessiert, was pas-siert, wenn ein gesellschaftlicher Kon! ikt in Gewalt umschlägt. Nach dem Crash in Island hatte ich das Gefühl, dass etwas Ähnliches auch hier passieren könnte; dass zum Beispiel eine Gruppe von Leuten – so wie im Fall der RAF oder auch der IRA – einfach etwas Schreckliches tun könnte, weil die Menschen den Glau-ben an sich selbst verloren hatten, den Glauben an die Gemeinschaft, an ihre eigene Nachbarschaft. Ich spürte, wie sich eine Art von unsichtbarer Paranoia mehr und mehr ausbreitete. Du konntest auf Facebook beobach-ten, wie die Leute Grenzen zogen zwischen sich und den anderen. Plötzlich wurde ein hoher Zaun errichtet zwischen den einfachen Leuten und den Reichen, der so genannten Elite. So etwas habe ich in Island noch nicht erlebt.

Was war die Initialzündung dafür, selbst eine Partei zu gründen?

Das war im Oktober 2008, als Geir Haarde, der damalige Ministerpräsident, eine Fernsehansprache hielt. Alle haben zugesehen, weil wir endlich wissen wollten, was all diese geheimen Tre" en zu bedeuten hatten, die da

Herr Gnarr, in Deutschland gab es nach dem Zwei-ten Weltkrieg eine Situation, die viele Menschen sehr wütend gemacht hat: Ehemalige Nazis hatten immer noch Spitzenpositionen in Politik und Wirtschaft inne, sie hatten lediglich ihre Anzüge gewechselt. Nun haben die Ereignisse in Island eine andere Qua-lität, aber auch hier machen die Politiker und Banker, welche die herbe Finanzkrise mitverschuldet haben, einfach weiter – sogar in bedeutenden ö! entlichen Ämtern. Sehen Sie eine Parallele?

Ja, nach der Krise habe ich genau diese Parallele gezogen. Als Jugendlicher habe ich die Situation im Nachkriegs-deutschland und die Aktivitäten der Baader-Meinhof-Gruppe neugierig verfolgt. Natürlich war die Situation in Deutschland viel gravierender. Hier in Island waren es keine ehemaligen Nazis. Es waren einfach nur für die Krise verantwortliche Politiker und Banker, die in andere Positionen gerutscht sind, in denen sie weiterhin Kont-rolle ausüben können. Diese Leute glauben weiterhin an Gewalt und Übermacht; daran, dass sie machen können, was sie wollen, weil sie es nicht zulassen, dass sich ihnen jemand in den Weg stellt. David Oddsson ist dafür ein gutes Beispiel. Er war Ministerpräsident in der Zeit, als die drei isländischen Banken privatisiert wurden. Ich sage nicht, dass die Privatisierung an sich ein Verbrechen war; wohl aber die Tatsache, dass die Gewinne nur unter-einander, unter Freunden und Verwandten, aufgeteilt wurden – in dieser isländischen Vetternwirtschaft! Und derselbe Mann, David Oddsson, der Ministerpräsident war zur Zeit der Privatisierung und der Entstehung der

DIE ZEIT DER HELDEN IST VORBEIEIN INTERVIEW MIT JÓN GNARR