Roman Simic - In was wir uns verlieben

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Voland & Quist SONAR MIT AUDIO-CD Roman Simic ´ In was wir uns verlieben

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Voland

& Quist

SONARMIT AUDIO-CD

Roman Simics Liebesgeschichten handeln von Hoffnung und Enttäuschung, Treue und Verrat sowie der Unmöglichkeit, den anderen Menschen vollständig zu verstehen.

»Simics Erzählungen sind Städte, so wohlkom-poniert, dass man durch ihre Straßensätze nur langsam spazieren möchte. Ich bin Simics Tourist!« Saša Stanišic

AUF CD:

In was wir uns verlieben(gelesen von Saša Stanišic)

Spielzeit: 68 min

R o m a n S i m i c In was wir uns verlieben

EUR 18,90 ( D) ISBN 978-3-938424-21-6

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der geruch der erde

Der Vater eilte den feuchten Kiespfad zwischen Garage und Hoftorentlang. Er reichte ihm die Werkzeugtasche über das Auto, öffnetedas Tor und hetzte, die dunkelblaue Baseballmütze der New YorkYankees tief in die Stirn gezogen, wieder um das Auto herum undrutschte auf den Fahrersitz.

So außer Atem, frisch rasiert und in abgewetzter Lederjacke erin-nerte er Roko an den selbstzufriedenen ehemaligen Astronauten auseiner amerikanischen Fernsehserie, eine Gestalt, die ihm, vielleichtgerade wegen dieser Ähnlichkeit, nie gefallen hatte. Ihm schien, alskönne er sogar den immergrünen Kiefernduft des Rasierwassers sei-nes Vaters, den Geruch nach eingefetteter Haut und die Duftbäum-chen aus dem Wageninneren riechen.

»Fertig«, sagte der Vater. »Lass uns fahren.«Als wollte er etwas von seiner morgendlichen Lebendigkeit auf

ihn übertragen, trommelte er auch noch kurz an das Fenster aufRokos Seite, drückte mit den Fingerspitzen die Beifahrertür auf undhupte kurz.

Roko sagte nichts.Der immer ungeduldiger werdende Blick seines Vaters schlug ihm

auf den Magen, er drückte vorsichtig seine zur Hälfte gerauchte Zi-garette auf dem Dach der alten Hundehütte aus, warf seine Tascheauf die Rückbank und zwängte sich auf den Beifahrersitz.

Obwohl er schon seit langer Zeit größer war als sein Vater, be-rührte er nie etwas in dessen Auto, noch nicht einmal um das Radio

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einzuschalten oder sich Platz für die Beine zu verschaffen. Als ersich noch bemüht hatte, einen Grund dafür zu finden, fiel ihm nichtsÜberzeugendes ein, kein uraltes Verbot, keine Strafe von früher.

Als er die Suche aufgegeben hatte, blieb in seinem Körper nur einlächerliches Gefühl zurück, ähnlich einer im Handballen steckendenBleistiftspitze, ein Gefühl von Steifheit, als säße er im Auto seines Va-ters in einem einige Nummern zu kleinen Anzug. Natürlich hatte diePsychologiestudentin Nela dazu ihre eigene Meinung, doch er wolltesie – wie auch vieles andere, worüber Nela nachgedacht hatte – nichthören. Wenn sie den Mund öffnete, schloss er die Ohren. Schon seiteiniger Zeit hatten sie weder diskutiert noch gestritten – sie warenweder Freunde noch Feinde – sie waren Bruder und Schwester. Erkonnte sich nicht erinnern, wann und warum das so gekommen war:So war es eben einfach, und er war zu satt oder zu müde, um nachGründen dafür zu suchen.

Er streckte sich kurz und betrachtete seinen Vater aus den Au-genwinkeln. Es schien, als hätte er sich in all den Jahren, die er weitentfernt von ihm verbracht hatte, überhaupt nicht verändert. Nochimmer das gleiche angegraute Haar, das gründlich rasierte Gesicht,die niedrige Stirn voller Falten und die kaum sichtbaren Lippen – sowie er ihn schon immer in Erinnerung hatte. Sein Gang und seinGeruch waren gleich geblieben, und auf seinem Gesicht lag nochimmer derselbe Ausdruck von Sicherheit und Festigkeit, der Rokosogar jetzt noch nötigte, sich wie ein kleiner Junge zu fühlen.

Wie immer, wenn er über seinen Vater nachdachte, wünschte ersich, irgendwo anders zu sein.

Für einen Augenblick schien es ihm, als begleitete ihn dieses »ir-gendwo anders« schon sein ganzes Leben: das Weggehen von zuHause, der Militärdienst, Zagreb, das Studium, die Arbeit. Anschlie-ßend aber war ihm, als übertreibe er und als würde er nun eine Ziga-rette brauchen. Er tastete nach der Schachtel in seiner Jackentasche,ließ es dann aber und blieb reglos sitzen. In seinem Kopf brummtees, er hielt den Atem an, versuchte sich zu beruhigen.

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»Auch das ist jetzt vorbei«, dachte er.So fühlte es sich auch an. Schon seit einiger Zeit war zwischen

ihnen wirklich etwas vorbei, es war so, als hörte etwas auf zu existie-ren, was vielleicht nie wirklich begonnen hatte.

Doch er hatte das nie laut ausgesprochen, vor allem nicht vor sei-nem Vater.

Vor ein oder zwei Jahren, im letzten seiner kurzen, aber hefti-gen Anfälle von Selbstreflexion, hatte er auch die Ursachen für die-ses Schweigen auf die Tagesordnung setzen wollen, nur um es danndoch wieder zu vergessen. Genauso wie die nie ausgesprochenenErklärungen, die er Nela, seiner Nicht-Aufnahme an der Akademieder Bildenden Künste, gewissen jungen Frauen und gewissen Freun-den, die im Krieg gewesen waren, schuldig war – es hatte sich ebennicht ergeben.

Sein Vater war nur das Ende oder nur der Anfang dieses andau-ernden Aufgebens, Roko wollte oder konnte das nicht entscheiden.

Vielleicht war es ihm auch egal.Er zuckte mit den Schultern und versuchte, eine bequemere Sitz-

position zu finden. Sie saßen kaum zwanzig Zentimeter auseinander,aber ihm kam es vor, als wären sie sehr weit voneinander entfernt undals würde diese Entfernung immer größer (wie zwei Geraden, die aus-einander streben, wie Kreise auf dem Wasser) unweigerlich und selbst-verständlich wie chemische Reaktionen, wie die Gesetze der Physikoder der Zeit – wie all die Dinge, die in seinem Leben schon immerunausweichlich, schrecklich und unbegreiflich gewesen waren.

Ihm kam der Gedanke, dass selbst ihre seltenen Treffen vollstän-dig von den kreisenden Rhythmen der Natur oder des Kalenders be-stimmt waren: nach dem Tod seiner Mutter hatte er seinen Vater nurzu Weihnachten, Ostern, Allerheiligen … getroffen, höchstens vier-mal im Jahr oder noch seltener, wenn er im Sommer nicht kam. Undselbst bei diesen Gelegenheiten, die bei beiden nur zusätzlich dieNervosität steigerten, wechselten sie nur ein paar kurze Sätze, ohneden wirklichen Wunsch, das Gespräch fortzusetzen. Allen Theorien

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der aufstieg

Der Lift funktionierte nicht, und er dachte, dass es am besten sei,dort zu bleiben, wo er war, oder einen trinken zu gehen, auf jedenFall nicht die Treppe hoch laufen, besser alles vergessen und aufmorgen verschieben.

Seit zehn Minuten wartete das Paket dort, wo er es hatte stehenlassen, auf dem Boden, an die zerkratzte Stahltür des Aufzugs ge-lehnt. Über dem Paket hing in Augenhöhe ein Zettel in der Farbeitalienischer Plastikzitronen, auf dem stand: Außer Betrieb wegen un-

bezahlter Rechnungen, unterschrieben vom Hausmeisterservice derWohnungsbaugesellschaft, und Dobric, ich hau dir die Fresse ein, wenn

du den Lift nicht bezahlst, unterschrieben von Janjanin. Obwohl es einkalter Morgen war, wischte er sich mit seinem Ärmel den Schweißvon der Stirn. Er bückte sich unentschlossen. Er hob das Paket anund stellte es wieder hin. Er seufzte. Das Paket war nicht leicht, aberauch nicht schwer. Innen raschelte etwas und er dachte, dass er esvorsichtiger tragen müsse, behutsam, er erinnerte sich dann an dieletzte Nacht und erschrak. Er musste seinen ganzen Mut zusammen-nehmen.

»Bitte etwas Mut …«Er starrte auf das verschmierte hellgrüne Geschenkpapier und die

lockere rote Schleife, die so verrutscht war, dass sie beinahe am Randdes Pakets lag. Aber es passierte nichts: Der Hauseingang war auchweiterhin stickig und dunkel, und das Morgenlicht drang nur durchtrübe Fenster aus Sicherheitsglas ein. Er atmete tief ein, seine Füße

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tänzelten unruhig. Der Gedanke an eine Umkehr – zurück auf dieStraße, in den Park, egal wohin – erfüllte ihn mit Sehnsucht undEkel, aber er schüttelte alles von sich ab wie lästigen Hundekot vonden Schuhen.

»Nach oben! Man sollte …« Er torkelte, aber als er sich anschickte,das Paket erneut anzuheben, streifte eine schwarze, struppige Katzeim Vorbeilaufen seine Hosenbeine.

»Der Teufel soll dich …« Er stürzte nach unten und überließ dasPaket der Gnade früh aufstehender Bewohner, aber während er im-mer drei Stufen auf einmal nahm, hörte er, wie sich unten die Ein-gangstür öffnete und jemand ihm entgegenkam. Er drehte sich um,ging zurück und schnappte sich das Paket. Er verschwand nach obenwie ein Dieb, gebeugt und auf Zehenspitzen. Auf der ersten Etageduckte er sich und hielt den Atem an. Sein Mund war trocken undsein Puls pochte in den Schläfen. Er lauschte. Er spitzte die Ohren.Die Schritte von unten folgten ihm, aber dann blieben sie im Hoch-parterre stehen. Ein ihm bekanntes raues Husten, ein Miauen, dasKlimpern von Schlüsseln drangen nach oben, und er hörte wie je-mand die Tür aufschloss.

»Diese verfluchte Jevsovarica, diese verfluchte …«, schimpfte erund biss sich auf die Lippen.

Er wünschte sich, dass er schreien, die wenigen Treppen nachunten laufen, ihr ins Gesicht spucken, irgendeinen Unsinn machenund ihr alles Mögliche an den Kopf werfen könnte. Jetzt würde esnoch gehen, solange sie die Tür noch nicht hinter sich zugezogenhatte, aber so mit dem Paket … Nein, lieber nicht! Er gab sich damitzufrieden, dass er einige Stängel Hausglück mit den Wurzeln ausdem Blumentopf in der Zwischenetage rupfte und sie als Zeichenseiner Rache auf der Treppe verstreute.

»Man sollte ihr Zunder geben …«, dachte er, während er wei-terging. So war es eben. Er hasste Gottesanbeterinnen, und von allenGottesanbeterinnen hasste er die Jevsovarica am meisten. Wenn ergekonnt hätte, hätte er sie zusammen mit ihren Blumen und Katzen

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lebendig begraben, die alte Jungfer, die Slowenin, die verwelkte Hei-lige, die Vorsitzende des Hausbeirates, verfluchtes Weib, die müsstenur mal richtig durchgevögelt werden!

Seine Hände zitterten. Kein Zweifel, sie waren schmutzig undunter den Fingernägeln war jetzt – nach der Operation »Haus-glück« – etwas Erde. Aber besoffen war er nicht! Nicht mehr; erhatte drei Stunden auf der Bank gesessen, die Kälte war ihm in dieKnochen gefahren und hatte ihn nüchtern gemacht. Aber auch wäh-rend er trank, hatte er es festgehalten, dieses Paket, den ganzen Tagund die ganze Nacht, er durfte es nicht vergessen, man wollte es ihmwegnehmen, aber das hatte er nicht zugelassen, nicht einmal berüh-ren durften sie es, hörst du, ich schlag dir die Zähne ein, ich tret dirin die Eier, du Arsch, dann wirst du schon sehen!

Zweite Etage. Hier machte er eine Verschnaufpause, hier fühlteer sich sicher.

Er hatte diese zweite Etage schon immer gemocht. Obwohl ermeist mit dem Aufzug fuhr, ging er doch oft zu Fuß in die zweiteEtage. Er erinnerte sich, dass jemand hier vor langer Zeit nachts ei-nen großen Spiegel hatte stehen lassen, ein anderer hatte ihn aber inderselben Nacht kaputtgemacht. Man hatte nie herausbekommen,wer es gewesen war und warum er es getan hatte. Wegen dieses Van-dalismus begann man die Haustür abzuschließen, tagelang liefen dieBewohner über Glassplitter, es war Sommer, und einige hatten sichsogar geschnitten, auch er! Und dennoch! Die zweite Etage mochteer, und hätte hier jemand statt des Spiegels ein Bett stehen lassenoder einfach einen Sessel, dann, so sagte er manchmal, wäre er auchschon mal nachts dageblieben.

»Für den Aufstieg, für den Aufstieg braucht man nicht seineHände, sondern seine Beine«, stellte er zufrieden fest.

Seine Beine waren noch gut beisammen, sie waren kräftig – erhatte kräftige Beine.

»Auf diese Beine fuhren die Frauen ab … kurze Hose, hochge-krempelte Hosenbeine, auf dem Deich an der Sava, auf dem Bundek

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… die Mädchen gingen zu den Arbeitsbrigaden, und dann – hier,fühl mal …«

Fröhlichkeit überkam ihn. Fröhlichkeit, die er für die dritte Etagebrauchte. Fröhlichkeit wegen der strammen Oberschenkel, des mor-gendlichen Stöhnens hinter verschlossenen Türen, des Kaffeedufts,des aufgedrehten Moderators im Radio, der aus der rechten Wohnungertönte, des Geräuschs der Wasserspülungen, der lebhaften Verdau-ungstätigkeit im Gebäude und vor allem wegen jener unübertreffli-chen, hochverehrten Bewohner der dritten Etage!

Er kannte hier einen Mann, einen Familienvater, einen stämmi-gen, sympathischen Typen mit einem Hund, einem Cocker, er hattebeide lange nicht gesehen, wirklich lange nicht, wer weiß …

Er blieb kurz stehen und schaute durch das halbgeöffnete Lüf-tungsfenster auf die Straße. Der Tag war schön, klar, die Autos über-zogen von Reif, und das Sonnenlicht blitzte auf den Dächern derStraßenbahnen. Er seufzte laut, und zwei Tauben flatterten erschro-cken vor ihm auf.

»Schisshasen.« Er hob sein Paket grüßend in ihre Richtung, unddann schaute er es sich bei Tageslicht zum ersten Mal genauer an.

Ein feierliches Gefühl ergriff ihn.»Alles fängt von vorne an, man muss nur … ach …«Vor langer Zeit, das fiel ihm jetzt ein, hatte er seinen Großvater

geschlagen. Der Großvater war gestorben. Nein, natürlich nicht da-von, aber … darüber dachte er nicht gerne nach.

Er beeilte sich, wieder über die Tauben nachzudenken, über dieWasserrohre, über die dritte Etage, aber er wusste nicht mehr, wo erstehen geblieben war. Und auch nicht mehr, warum er sich an seinenGroßvater erinnert hatte. Sein Großvater hatte getrunken, er hatteseine Oma geschlagen, blablabla.

Er setzte sich hin. So saß er eine Weile und hatte schlechte Laune.Er stank nach Schweiß, Alkohol und Zigaretten. Was zum Teufel …

Das Paket lag neben ihm, und er dachte, wie leicht es doch wäre,es einfach für einen glücklichen Finder hier liegen zu lassen, zwi-

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kupa

Ich reibe Sonnencreme auf Hanas Rücken. Hana liegt bäuchlings aufeiner silbernen Luftmatratze und singt leise vor sich hin. Sie hat Kopf-hörer auf, neben ihr liegt ein kleiner, silberner Walkman auf demHandtuch. Hanas Rücken ist muskulös, glatt und braun gebrannt,ohne Muttermale oder verräterische Spuren eines Bikinis. Hanas Halsist lang und weiß.

Ich höre ihr zu. Sie singt nicht mehr, sie summt, schnalzt mit derZunge und schlägt den Rhythmus der Musik, die aus ihren Kopf-hörern tönt. Einen Rhythmus, den ich nicht mag, der aber mit Hilfeihrer langen Zehen Kieselsteine anhäuft und mit ihren Zähnen Gras-halme zupft, die ihr bis zum Mund reichen. Das rechtfertigt wohlalles. Oder auch nicht.

Ich lege meine Daumen in die Grübchen, die Hanas Hals mit ih-rem Haar verbinden. Ich drücke und warte darauf, dass sie etwassagt oder aufhört zu atmen. Sie bewegt sich nicht. Sie hat ihre Händeins Gras getaucht, und auf ihrer Techno-Luftmatratze sieht sie aus,als treibe sie auf dem Meer herum und nicht auf dem Rasen einesFerienhauses, das hundert Meter vom Flussufer entfernt steht. Überihren Arm läuft eine Ameise, aber Hana spürt sie nicht, oder es ge-fällt ihr, weil sie sich wie ein Tropfen Meerwasser anfühlt, der eineSalzspur auf ihren sonnenverwöhnten Körper schreibt. Ich legemeine Hände um ihren Hals und drücke stärker zu, als sie eserwartet.

»Hey!«

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Sie dreht sich um und sieht mich an. Sie hat ihre Brille auf, diesesMal eine rote. Eine Stirn, auf der ich Schmerz und Überraschungerkennen kann, eine lange, schmale Nase, ihre Lippen. Volle Lippen,die sich verziehen und dann zu einem Lächeln werden und sich wie-der dem Rasen zuwenden. Rot, grün, silbern. Hana ist nicht ängst-lich. Nicht wie damals, vor fünf oder sechs Jahren. Ihre Schulternsind rund, ihre Haut weich. Sie schiebt die Haare an ihrem Hinter-kopf hoch und entblößt ihren Hals, als ob sie ihn mir zum Anbeißendarreichen wolle.

»Hier.«Ich berühre ihn absichtlich nicht. Statt zu antworten, kehre ich zu

ihren Schultern und dann zu ihrem Rücken zurück. Finger, Hände,kreisende Bewegungen auf ihrer Haut, tiefer, kräftiger, ein Versuch,unter ihrer Haut den vertrauten, sicheren Ort des Wohlbefindens zuertasten. Hier. Die Fäden, die Hanas Glieder zusammenhalten, ent-spannen sich, und sie wird zu einer abgelegten leblosen Marionette.Sie gibt keinen Laut von sich, und ihr Atem ist kaum hörbar. Sie istvielleicht tot, denke ich. Ich stelle mir vor, dass sie eingeschlafen istund nicht mehr aufwachen wird. Ich stelle mir vor, wie ihre golde-nen Härchen und rot lackierten Fingernägel auch weiterhin geheim-nisvoll wachsen und zum einzig Lebenden an Hana werden. Ichstelle mir vor, dass ich eine schöne, braun gebrannte Leiche massiere,das glückliche Opfer eines angenehmen Lebens und scheußlicherMusik. Ich stelle mir all das vor – und dann höre ich auf. Die Ameiseerahnt die Überflutung, zögert einen Moment, verlässt dann denArm und verschwindet im Gras. Die Stille um uns herum wird nurvon dem synthetischen Biest gestört, das aus den Kopfhörern er-klingt, von den fernen Rufen der Badenden und vom Geräusch desBlätterns in einem Buch.

Denn auf der Liege neben uns liegt Petar und liest. Petar, der Be-sitzer des Wochenendhauses, des neuen grünen Golfs – und von Hana.Petar, der eine Party vorbereitet und in seiner roten Badehose, braungebrannt und gebaut wie ein Model, nicht unbedingt so aussieht, als

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müsste er lesen. Und doch – Petar liest. Die wahre Geschichte übereinen Amerikaner, der in die Wildnis ging, sich ein Bein brach, sichmit wilden Beeren vergiftete und in einem verlassenen Bus starb. Eswird nicht ganz klar, ob er schon vorher erfroren war, denn allespassiert im Winter, irgendwo ganz weit oben im Norden. Petar liestdas Tagebuch des Amerikaners, das dieser auf die Innenwände desBusses geschrieben hat. Amerika. Ich halte inne und stelle mir denMann vor, der mit gebrochenem Bein durch das Wrack des Busseskriecht und aufschreibt, was ihm in den Sinn kommt. Weiter – einenMann, der auf einer Liege liegt (neben einem Mädchen mit nacktemRücken und einem Typen, der sie massiert) und der die Geschichteeines Amerikaners liest, der ein gebrochenes Bein hat, sich an Beerenvergiftet, Botschaften an die Buswände kritzelt und zum Schluss er-friert. Echt stark – wie die zusammen wirken. Sie, die sich sonnt, er,der gelegentlich an seinem Joint zieht und manchmal das Gesichtverzieht, weil die Sonne zu stark blendet und er Englisch liest. Er,der vertieft ist in das Buch und uns nicht anschaut, nicht meineFinger, nicht ihre Schultern – ganz anders als sein Hund und seinedämlichen Freunde.

Ich brauche nicht aufzuschauen um zu wissen, dass sie da sind.Der Geruch von Gel.Der Schweiß gesonnter Fitnesskörper.Während sie um uns herumlaufen, um die Musikanlage aufzu-

bauen, wird mir klar, dass ich sie nicht mag und sie mich nur wegenHana hier dulden. Dazu braucht man kein Genie zu sein. Die ehe-malige Freundin meines Freundes ist mein Freund, aber diese Glei-chung gilt nicht für ihren neuen Freund und seine Freunde. Ganzgewiss auch nicht andersherum. Der Amerikaner im Bus, der Toddurch die Beeren, die Techno-Musik, die Chemie, der Kunststoff –nichts. Wir sind zu verschieden. Das reicht für Angst und Hass.Angst und Hass unterschieden sich von jenen Gefühlen, die ich voreinigen Jahren hier am Fluss Kupa gespürt habe, als ich ihre solarge-bräunten Ärsche verteidigte. Hass. Die braun gebrannten Typen, die

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ihre verdächtigen Tattoos und gebügelte Muskulatur zur Schau stel-len. Der nervöse Terrier, der vor der Schaukel im Schatten liegt.Seine Nase zittert, während er zu mir herüberblinzelt, als würde eretwas wittern, was erst noch kommen wird.

»Willst du mal ziehen?«, fragt Petar. Dabei hebt er den Blicknicht vom Buch – er wittert nichts und niemanden.

Ich antworte nicht. Nach lang erprobtem Rezept schiebe ich mei-ne Finger unter Hanas Achseln und suche nach einem vergessenenHärchen. Das Spiel Jesus-Hana. Sie ist auferstanden und schreit. Siewindet sich unter meinen Fingern, und eine dunkle, spitze Brust-warze zeigt sich schamlos in der Sonne.

»DJ Pierre!«, ruft sie. »Hilfe!«Der Hund erhebt sich und starrt mich an, aber Petar reagiert

nicht. Ich schaue ihn verstohlen an. Das einzige Zeichen von Ner-vosität könnte das Rascheln des Papiers sein und die Art, wie er dieBeine übereinander schlägt. Zu wenig, um mir wie ein Sieger vor-zukommen. Seine Beine sind muskulös und kräftig, seine Füße er-staunlich klein. Trotz Hanas Geschichten von wildem, athletischemSex erkläre ich das zu einem unwiderlegbaren Beweis für die Be-deutungslosigkeit seines Schwanzes. Ich beuge mich vor und flüstereihr meine Erkenntnis ins Ohr.

Sie lacht. Sie schlägt mit dem Fuß nach hinten aus, und ihre Fersetrifft mich an der Schulter. Ich fasse ihren Fuß und ziehe einen gra-vierten Silberring von ihrem Zeh. Jetzt reicht’s. Abweisend und ernstverlangt sie ihn zurück. Das ist ein Geschenk. Ihr Haar liegt imGras, ihr Gesicht im Silber der Luftmatratze. Ihre Füße sind schmal,glatt und schmutzig von der Erde.

»Später«, sage ich. »Warum hast du es so eilig?«Die Eile. Während ich ihren Ring in meiner Tasche verstecke,

denke ich an Vito. Daran, wie eilig sie es hatte. Einige Monate, nach-dem er verwundet wurde. Einige Besuche im Krankenhaus. EinigeFahrten mit dem grünen Golf, einige Partys wie diese. Genug für sie,um vergessen zu können. Genug, um Farbe zu bekommen, sich zu

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