Roth, Gerhard. (1996). Das Gehirn Und Seine Wirklichkeit - Kognitive Neurobiologie Und Ihre...

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  • Gerhard RothDas Gehirn

    und seine WirklichkeitKognitive Neurobiologie

    und ihre philosophischen Konsequenzen

    Suhrkamp

  • Die Deutsche Bibliothek - CIP-EinheitsaufnahmeRoth, Gerhard:

    Das Gehirn und seine Wirklichkeit:kognitive Neurobiologie und ihrephilosophischen Konsequenzen /

    Gerhard Roth. -5. Aufl. -

    Frankfurt am Main :Suhrkamp, 1996

    Fnfte, berarbeitete Auflage 1996 Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1994

    Alle Rechte vorbehaltenSatz: Fotosatz Otto Gutfreund GmbH, Darmstadt

    Druck: Nomos VerlagsgesellschaftPrinted in Germany

    Inhalt

    Vorwort zur 5. Auflage 9Vorwort zur 1. Auflage 11

    1 ber die Schwierigkeiten, das Gehirn zu verstehen . 15

    2 Was ist Kognition? 26

    3 Von Salamandern und Menschen - unser Gehirnim Vergleich 33Ist das menschliche Gehirn einzigartig? 66

    4 Was ist Wahrnehmung? 78

    5 Wozu sind Sinnesorgane da? 88Die Funktion der Sinnesorgane 92

    6 Informationserzeugung und Informationsverarbeitungbei der Wahrnehmung 98Information und Bedeutung 105Die Konstitution der Wahrnehmungsinhalte 108Parallele, konvergente und divergenteErregungsverarbeitung 121

    7 Von Wrmern und Antiwrmern: Das Schicksaldes Detektorkonzepts im visuellen Systemniederer Wirbeltiere 126Das Detektor-Konzept 129Kann es berhaupt Detektorneurone geben? 140Figur-Hintergrund-Erkennung 146Ensemblecodierung statt Objektdetektoren 148

    8 Von Blobs und Gesichterneuronen: Das visuelleSystem der Sugetiere 152

  • Parallelverarbeitung im visuellen System der Suger . . . 156Gibt es doch Gromutterneurone? 171Automatisierte prkognitive Leistungen 175

    9 Kognition und Emotion: Die unauflsliche Einheitzwischen Grohirnrinde und limbischem System . . 1 7 8Aufbau und Funktion des assoziativen Cortex . . . . 179Das Ungerleider-Mishkin-Modell und seineBerechtigung 184Kategoriale Wahrnehmung und kognitiveDissoziationen 188Kognitive Modularitt des assoziativen Cortex 182Das limbische System als zentrales Bewertungssystemdes Gehirns 194Kognition ist nicht ohne Emotion mglich 211

    10 Gehirn und Bewutsein 213Was ist Bewutsein? 213Merkwrdige Bewutseinsstrungen 215Was ist notwendig von Bewutsein begleitetund was nicht? 219Die Gerichtetheit und Enge von Bewutsein 220Bewutsein und Hirnstoffwechsel 221Wo und wann entsteht Bewutsein? 228Die Funktion des Bewutseins 231Traum und Bewutsein 243Zusammenfassung 246

    11 Einheit der Wahrnehmung 248Das Problem der Einheit der Wahrnehmung und dieRolle der Erfahrung 253Gestaltgesetze der Wahrnehmung 258Das Gedchtnis ist unser wichtigstes Sinnesorgan . . . . 261Mgliche zellulre Mechanismen desZusammenbindens von Wahrnehmungsinhalten . . . . 263Was wir bewut sehen, sind Gedchtnisbilder 266

    12 Geist und Gehirn 271Was ist Geist? 272Wie hngen Geist und Gehirn zusammen? 274Der Dualismus und seine Schwierigkeiten 278Probleme des reduktionistischen Identismus 284Der emergenztheoretische Materialismus 291Der Epiphnomenalismus und das Qualia-Problem . . 293Geist als physikalischer Zustand:Eine mcht-reduktiomstische Deutung 299Ist der Wille frei? 303Haben auch Tiere Geist und Bewutsein? 311

    13 Realitt und Wirklichkeit 314Wirklichkeit als Konstrukt des Gehirns 314Wirkhchkeitskritenen 321Die Unterscheidung von Realitt und Wirklichkeitund was wir damit gewonnen haben 324Warum gibt es berhaupt eine phnomenale W e l t ? . . . . 326Wo existiert mein Gehirn? Wer bin/ist ich/Ich? 328Noch einmal: Geist und Gehirn 331Lebt jeder von uns in seiner einsamen Wirklichkeit?. . . 333

    14 Wirklichkeit und Wahrheit 339Ist objektive Erkenntnis mglich? 339Der Realismus der Evolutionren Erkenntnistheorie . . 344Ist der Konstruktivismus selbstwidersprchlich? 349Was sind empirische Evidenzen? 351Was ist Wahrheit? 354Kann man sinnvoll ber eine bewutseinsunabhngigeWelt sprechen? 358Die Auflsung der Paradoxien aus dem ersten Kapitel . 362

    Literatur 364Register 379

  • Vorwort zur 5. Auflage

    Die Tatsache, da dieses Buch zwei Jahre nach seinem Erschei-nen in die fnfte Auflage geht, ist nur eines von vielen Anzei-chen fr das wachsende Interesse einer breiteren ffentlichkeitfr Hirnforschung und kognitive Neurobiologie. In den letztenzwei Jahren sind eine ganze Reihe von Bchern zum Geist-Ge-hirn- bzw. Bewutseins-Problem erschienen, allerdings nahezuausschlielich als bersetzungen englischsprachiger Autorenvon wissenschaftlichem Rang wie Francis Crick (1994), AntonioDamasio (1994), Daniel Dennett (1994) und Roger Penrose(1995), um nur einige zu nennen. Diese Bcher bieten eine sehrunterschiedliche Mischung von neurobiologischem Fachwissenund philosophischen Errterungen. Wenig davon mit Aus-nahme des Buches von Damasio - ist aus neurobiologischerSicht fundiert. Auch wird von philosophischer Seite, z.B. vonDennett, das Bewutseinsproblem geradezu totgeredet.So erfreulich dieses Interesse an der Geist-Gehirn- bzw. Be-wutseins-Debatte ist, sie darf nicht bei der Erkenntnis stehen-bleiben, da Geist/Bewutsein und Gehirn miteinander ver-knpft sind, sondern mu auch die Frage beantworten, wie diesim Gehirn geschieht, und welche Funktion Geist bzw. Bewut-sem haben, wobei die gegenwrtige neurobiologische Erkennt-nislage zu respektieren ist. Vor allem aber drfen wir nicht ausdem Auge verlieren, da geistige bzw. bewute Akte nur einenkleinen und oft nicht einmal besonders wichtigen Teil dessenausmachen, was wir sind und tun. Das allermeiste und komple-xeste tun wir, ohne da wir uns dessen bewut sind. Die wirk-lich groe Herausforderung an die kognitive Neurobiologie istes, diese Vorgnge des Vor- und Unbewuten genauer zu ver-stehen, denn dann verstehen wir die eigentlichen Antriebe unse-res Handelns. Dies betrifft vor allem das limbische Systems alsdas zentrale Bewertungssystem in unserem Gehirn. KognitiveLeistungen sind aufs Engste verbunden mit Emotionen, dieihrerseits eine Brcke zum vllig Unbewuten in uns bilden.Dieses vllig U-nbewute ist keineswegs nur das Angeborene,

  • Reflex- und Triebhafte, sondern der gewaltige Vorrat an Vorer-fahrung, der aus dem aktuellen Bewutsein abgesunken ist, aberdennoch - oder gerade deshalb - mageblich in die Steuerungunseres Denken und Handelns eingreift. Freilich sind diese Pro-zesse noch weitgehend unverstanden, und ihre Aufklrung wirdeine der grten Herausforderungen an die Wissenschaft sein.Ich habe versucht, bei der berarbeitung dieses Buches seinenDarstellungs- und Argumentationsrahmen weitgehend zu be-wahren. Dabei habe ich neben sprachlichen Verbesserungen ei-ne Reihe sachlicher Fehler korrigiert und einige der oben ge-nannten neuesten Verffentlichungen zum Geist-Gehirn- bzw.Bewutseinsproblem bercksichtigt. In strkerem Mae umge-arbeitet habe ich das 3. Kapitel, was die Darstellung des Aufbausdes menschlichen Gehirns angeht, das 9. Kapitel, bei dem ichausfhrlicher auf das limbische System eingegangen bin, sowiedas 10. und das 12. Kapitel, wo es um Bewutsein und die Be-ziehung zwischen Geist und Gehirn geht. In diesem Zusam-menhang bin ich auch ausfhrlicher auf das Problem der Wil-lensfreiheit aus neurobiologischer Sicht eingegangen. Es sindeinige neue bzw. verbesserte Abbildungen hinzugekommen,welche hoffentlich die Verstndlichkeit dieses Buches erhhen.

    Bremen, Juni 1996.

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    Vorwort zur i. Auflage

    Dieses Buch hat eine Vorgeschichte, die in meine frhe Studien-zeit an der Universitt Mnster zurckreicht. Dort hatte ich imJahre 1963 mit dem Studium in Philosophie, Germanistik undGeschichte angefangen (letzteres ersetzte ich bald durch Musik-wissenschaft). Ich hatte mich entschlossen, Philosophie zu stu-dieren, um zu erfahren, wie Wahrnehmung funktioniert und wieErkenntnis und Wissen zustande kommen, was Geist ist und wieman wahre Aussagen von falschen unterscheidet. In vielen Vor-lesungen erfuhr ich, was Platon, Aristoteles, Descartes, Leibniz,Kant und Hegel zu diesen Fragen gesagt hatten. Die Frage aller-dings, die mich brennend interessierte, nmlich wer hat womitrecht?, wurde nicht behandelt. Wenn ich sie m den Seminarenstellte, wurde ich belchelt; diese Frage galt als unpassend. Wich-tig war es zu untersuchen, warum wer welche Frage in welchemhistorischen Kontext gestellt und wie beantwortet hatte. Hierinsteckte - wie ich erst viel spter erkannte - ein gutes Stck Ehr-lichkeit; wie htte man die Frage Wer hat recht? auch beant-worten knnen!Zur gleichen Zeit, kaum fnfhundert Meter in etwas verschie-denen Richtungen vom philosophischen Seminar der Univer-sitt entfernt, lehrten und forschten zwei hervorragende Wis-senschaftler, die sich intensiv um eine Beantwortung der obengenannten Fragen bemhten, nmlich der Zoologe BernhardRensch und der Psychologe Wolfgang Metzger. BernhardRensch hatte sich als Evolutionsbiologe einen groen Namengemacht; sein Werk Neuere Probleme der Abstammungslehrevon 1947 war ein Meilenstein in der Ausformulierung des Neo-darwinismus. Daneben betrieb er die verschiedensten anatomi-schen, physiologischen und verhaltensbiologischen Untersu-chungen, unter anderem solche zu Intelligenzleistungen vonTieren, von denen die mit der Schimpansin Julia die bekannte-sten sind. Sein populr gehaltenes Buch Homo sapiens - vomTier zum Halbgott (Rensch, 1965) hat mich als jungen Philo-sophiestudenten zutiefst beeindruckt. Er schrieb eine Reihe von

    n

  • philosophisch-erkenntnistheoretischen Abhandlungen, von de-nen vor allem das Buch Biophilosophie auf erkenntnistheore-tischer Grundlage von 1968 zu nennen ist. Dieses Buch war einheroischer Versuch, Philosophie, speziell Erkenntnistheorie,und naturwissenschaftliches, biologisches Wissen der damaligenZeit miteinander zu vereinen, um die Frage nach der Herkunftund dem Wesen des Geistes zu beantworten. Diese Ausflgedes Herrn Rensch in die Philosophie wurden, wenn sie ber-haupt im philosophischen Seminar wahrgenommen wurden,belchelt. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals dort eineausfhrlichere Stellungnahme zu dem Buch Biophilosophiegehrt zu haben.Der Psychologe Wolfgang Metzger gehrt zu den bedeutend-sten Vertretern der Gestaltpsychologie. Sein Werk Gesetze desSehens von 1936 (3. Auflage 1975) gehrt genauso zum Rst-zeug des Wahrnehmungspsychologen wie sein Lehrbuch Psy-chologie (i. Auflage 1940, 5. Auflage 1975). Ebenso wie seinKollege Wolfgang Khler versuchte er, eine in sich konsistenteErklrung des ontologischen Status der phnomenalen Wirk-lichkeit zu liefern. Weder Metzger noch Khler noch irgendeinanderer Wahrnehmungspsychologe kamen in den philosophi-schen Seminaren ber Erkenntnistheorie zur Sprache.Dies liegt alles dreiig Jahre zurck, und man knnte meinen, eshabe sich vieles gendert. Die Biologie und insbesondere dieNeurobiologie und Hirnforschung haben einen ungeahntenAufschwung erlebt. Es sieht nunmehr danach aus, als sei dieLsung der Frage, wie Wahrnehmen und Denken zustandekommen und in welchem Verhltnis Geist und Gehirn zueinan-der stehen, eine wirklich interdisziplinre Angelegenheit ge-worden, bei der gleichberechtigt Philosophen, Psychologen,Computerwissenschaftler (Informatiker), Netzwerktheoreti-ker und Neurowissenschaftler zusammenarbeiten. Entspre-chend wurden interdisziplinre Forschungsprogramme und -in-stitute ins Leben gerufen. Dabei hat sich jedoch gezeigt, da dieSchwierigkeiten interdisziplinrer Zusammenarbeit im kogniti-onswissenschaftlichen Bereich viel grer sind als angenom-men. Eine fruchtbare Zusammenarbeit kommt in vielen Fllenerst nach Jahren zustande. Das grte Hindernis bei der ge-

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    meinsamen Arbeit sind Statusprobleme der beteiligten Wissen-schaften, gefolgt von der weitgehenden Unkenntnis des Pro-blembewutseins, der Begriffssysteme, des Wissensstandes unddes methodisch-praktischen Vorgehens in den jeweils anderenDisziplinen.Ich verstehe mein Buch als einen (sicherlich unzulnglichen)Versuch des Brckenschlags zwischen Neurobiologie, Psycho-logie und Philosophie. Trotz aller Schwierigkeiten bei der inter-disziplinren Zusammenarbeit hat sich gezeigt, da es sichlohnt, diese Anstrengungen weiterzufhren.Ich habe versucht, meine Argumentation im Rahmen der heutein den Neurowissenschaften akzeptierten oder zumindest ernst-haft diskutierten Daten und Konzepte zu fhren und solche Da-ten und Konzepte zu kennzeichnen, die umstritten sind. Freilichsind bei der Darstellung der Fakten Fehler unvermeidlich; selbstdem Fachmann ist nur der allerkleinste Teil seines weiterenFachgebietes durch eigene Erfahrung vertraut, und er mu sichnotgedrungen auf Wissen aus zweiter oder gar dritter Hand ver-lassen. In einer strmisch sich entwickelnden Wissenschaft wieder Hirnforschung stellt sich schnell etwas als Irrtum heraus,und vieles von dem, das heute als gesichert gilt, kann morgenschon falsch sein (und gelegentlich bermorgen doch wieder zu-treffen).Ganz herzlich mchte ich denjenigen Personen danken, die bereine Reihe von Jahren die hier vorgetragenen Ideen mit mir dis-kutiert und das Manuskript oder Teile davon kritisch gelesen ha-ben. Diese sind in alphabetischer Reihenfolge Ursula Dicke,Reinhard Eckhorn, Hans Flohr, Ernst Florey, Rolf Henkel, Ger-hard Schloer, Helmut Schwegler, Wolfgang Walkowiak undHanna-Maria Zippelius. Selbstverstndlich sind alle in diesemBuch enthaltenen Fehler allein mir zuzurechnen. Den HerrenWolfgang Grunwald und Wolfgang Wiggers danke ich herzlichfr die Hilfe bei der Anfertigung der Zeichnungen und Frau Ul-rike Nagler fr die Untersttzung bei der Anfertigung des Ma-nuskripts.

    Bremen, April 1994.

  • i ber die Schwierigkeiten,das Gehirn zu verstehen

    In seinem Buch The Principles of Psychology beginnt Wil-liam James das Kapitel The Functions of the Brain mit einerFeststellung, die in freier bersetzung lautet: Unser Wissenber die genauere Anatomie und Physiologie des Gehirns isteine Errungenschaft der heutigen Generation, oder besser ge-sagt: der letzten zwanzig Jahre. Viele Punkte sind noch unge-klrt und werden kontrovers diskutiert, aber ein Verstndnisdieses Organs wurde hinsichtlich seiner allgemeinen Eigen-schaften erreicht; dies betrifft insbesondere auch plausibleVorstellungen ber die Art, wie Gehirnprozesse und mentaleProzesse miteinander interagieren.Bemerkenswert an dieser Feststellung ist vor allem, da sie nichtheute, sondern im Jahr 1890, also vor mehr als hundert Jahren,geschrieben wurde. Unterlag James (1842-1910) - von Hauseaus Physiologe und mit dem genannten Buch einer der Vter dermodernen Psychologie - einem groen Irrtum, wenn er meinte,um 1890 habe man bereits brauchbare Vorstellungen darberenfwickelt, wie das Gehirn arbeitet und wie Geist und Gehirnmiteinander zusammenhngen? Oder hat sich in den ber hun-dert Jahren trotz allen Fortschritts in den Methoden und derdurch sie ermglichten Analyse anatomischer und funktionalerDetails so wenig getan? Vielleicht hat mein verehrter KollegeErnst Florey recht, wenn er vermutet, da die wesentlichenKonzepte der Neurobiologie und Hirnforschung alle in derzweiten Hlfte des vorigen und in den ersten Jahrzehnten diesesJahrhunderts durch Forscher wie Mller, von Helmholtz, DuBois-Reymond, Hering, Fechner, Mach und Ramon y Cajal ent-wickelt wurden und da wir demgegenber konzeptionell kaumFortschritte gemacht haben. Vielmehr gehe man - so Florey -heute in der Gewiheit, man stehe kurz vor der Lsung desRtsels Gehirn, auerordentlich leichtsinnig, ja gewissenlosmit Begriffen und Konzepten um. Im Vorwort zu dem sehrlesenswerten Buch Das Gehirn - Organ der Seele? Zur Ideen-geschichte der Neurobiologie schreiben die Herausgeber Ernst

  • Florey und Olaf Breidbach: Mit raffinierten neuen Methoden,welche die Bewegung und Umwandlung selbst einzelner Atomeund Molekle der Beobachtung zugnglich machen, hat die For-schung heute eine Beschreibungsebene erreicht, welche unent-wegt neue und berraschende Daten erbringt, deren Zuordnungzu den primren Fragestellungen keineswegs immer mglich ist.Die Antworten kommen bereits vor den Fragen. Die chemi-schen und physikalischen Vorgnge, die sich an und m einzelnenNeuronen abspielen, sind heute bis in unglaubliche Details be-kannt und werden immer weiter untersucht und beschrieben -die spezifische Bedeutung fr das Funktionieren des Nerven-systems bleibt meist knftiger Interpretation der Forschungser-gebnisse vorbehalten. Und die Autoren fahren in ihrer Kritikfort: Das Dogma des Neuronenkonzepts wird als ausreichendbetrachtet, menschliches und tierisches Verhalten zu erklren.Dabei wird mit erstaunlicher Selbstsicherheit der Bezug auf be-wutes Wahrnehmen, Denken, Fhlen, Erinnern oder bewutesVerhalten weitgehend vermieden, und wenn schon von Be-wutsein die Rede ist, dann in der berzeugung, da das Be-wutsein lediglich eine Begleiterscheinung (ein Epiphnomen)neuronaler Prozesse darstellt. Die Dimension des Mentalen, desPsychischen, wird aus der Debatte verdrngt, da es in keinerKausalkette notwendig unterzubringen ist (Florey und Breid-bach, 1993). Diese Kritik aus der Feder philosophisch gebildeterWissenschaftler ist sehr ernst zu nehmen.Die Beantwortung der Frage, inwieweit wir das Gehirn vomneurobiologischen Standpunkt aus bereits erklren knnen,hngt wesentlich davon ab, was wir unter erklren verstehen.In dem bereits genannten Kapitel The Functions of the Brainseines Buches schildert William James (ohne Rcksicht aufheute selbstverstndliche Bedenken gegen Versuche an nicht-betubten Tieren), was passiert, wenn man in einem Frosch vomNervensystem nur das Rckenmark briglt, bei einem ande-ren Frosch Medulla oblongata und Kleinhirn zustzlich intaktlt, bei einem weiteren zustzlich das Mittelhirn mit demTectum opticum, dann das Zwischenhirn (so da nur die End-hirnhemisphren zerstrt sind), und wenn man schlielich dasVerhalten dieser Teilhirnfrsche mit einem Frosch vergleicht,

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    der ein vllig intaktes Zentralnervensystem besitzt. Es vollziehtsich nach James der bergang vom reinen Reflexwesen (spina-ler Frosch) ber eine Maschine (ein Frosch, bei dem das End-hirn fehlt), die auf alle Umweltreize vllig angemessen undnormal reagiert, bis hin zu einem sich spontan verhaltendenTier (ein Frosch mit intaktem Endhirn). James schreibt, er be-schrnke sich der Einfachheit halber auf die Verhltnisse beimFrosch, aber er lt keinen Zweifel daran, da diese Hierar-chie der Gehirnteile bei der Erzeugung und Steuerung des Ver-haltens fr alle anderen Wirbeltiere einschlielich des Menschengilt.James hatte den Eindruck, mit dieser Beschreibung das Wesent-liche des Gehirns als eines verhaltenssteuernden Organs erfatzu haben, denn sonst htte er sie nicht als Beleg fr die eingangszitierte Behauptung angefhrt, man verstehe bereits das Gehirnin seinen Grundzgen. Interessanterweise kommt in dem ge-nannten Kapitel, in dem erstaunlich viele Kenntnisse ber dieLokalisation verhaltenssteuernder und kognitiver Zentren dar-gelegt werden, das Wort Nervenzelle bzw. Neuron nichtvor. Die uns heute selbstverstndlich erscheinende Idee, da dasGehirn aus Nervenzellen aufgebaut ist - die Neuronenlehre -,entwickelte sich damals erst (der Begriff Neuron wurde 1891von Waldeyer eingefhrt) und wurde erst in diesem Jahrhundertdurch den spanischen Neurobiologen Ramon y Cajal endgltigetabliert (hierzu ausfhrlich Breidbach, 1993).Auf der Grundlage dieser Neuronenlehre wird kein Neurobio-loge dasjenige als Erklren oder Verstehen des Gehirns ak-zeptieren, was James vorbringt; vielmehr geht es heute in denAugen der meisten Fachleute darum, die funktionale Organisa-tion und die spezifischen verhaltenssteuernden und kognitivenLeistungen auf der Grundlage der Aktivitt von Nervenzellenund Nervenzellverbnden zu erklren. Erst wenn dies gelungenist - so die weitverbreitete Meinung -, haben wir das Gehirn er-klrt. Freilich wird dabei nicht der Anspruch erhoben zu er-klren, was Geist, Bewutsein und freier Wille ihrem Wesennach sind. Diese Wesensfrage wird von Neurobiologen und Na-turwissenschaftlern allgemein als unbeantwortbar angesehen.Hingegen lauten typische Fragen der Hirnforschung: Was pas-

  • siert auf der Ebene einzelner Neurone und von kleineren undgreren Neuronenverbnden, wenn ein Affe nach einem Ge-genstand greift oder ein Salamander eine Fliege als Beute identi-fiziert und fngt? Oder: Welche neuronalen Prozesse laufen imGehirn eines Menschen ab, wenn er Sprache wahrnimmt unddas Gehrte zu verstehen versucht?Da die Beantwortung derartiger Fragen bis heute nicht voll-kommen gelungen ist, wird von keinem Hirnforscher und Neu-robiologen bestritten; vielmehr unterscheidet man sich hinsicht-lich der Einschtzung, wie weit die aktuelle Forschung vomErreichen dieses Ziels entfernt ist. Viele meinen, man habe zu-mindest die Prinzipien erkannt und auch die Details wrden inden nchsten zehn oder zwanzig Jahren nachgeliefert. In derTat sind - wie auch Florey und Breidbach feststellen - mancheFortschritte in der Neurobiologie faszinierend und manche so-gar atemberaubend, besonders in methodischer Hinsicht. Ande-re Forscher sind viel skeptischer und fhren aus, es sei nochnicht einmal klar, welches berhaupt der neuronale Code ist,die Sprache also, in der sich die Nervenzellen Informationenmitteilen. Sind es wirklich die Aktionspotentiale (Spikes)?Wenn ja, ist der Code ihre mittlere Entladungsrate, das zeitlicheMuster einer Salve von Aktionspotentialen oder das Auftretendes ersten Spikes? Oder kommt es allein auf die chemischen Bo-tenstoffe an, die Neurotransmitter oder Neuropeptide? WelcheRolle spielen berhaupt die Ghazellen, die etwa im menschli-chen Gehirn viel zahlreicher vorhanden sind als Nervenzellen?Sind sie vielleicht die eigentlichen Trger der Information, etwabeim Gedchtnis?All dies wird diskutiert, auch wenn die Mehrzahl der Fachleuteder Meinung anhngt, es seien die Neurone und die von ihnenproduzierten Aktionspotentiale, auf die es letztendlich ankom-me. Bei keinem tierischen Gehirn, geschweige denn bei dem desMenschen, ist der Weg von der Sinnesempfindung bis hin zurHandlung bzw. Reaktion vollstndig aufgezeigt. Man hat langegehofft, da dies am ehesten bei einfachen Tieren wie Insek-ten oder Amphibien zu erreichen sei, die scheinbar mit stereo-typen Verhaltensweisen und einfach gebauten Nervensystemenausgestattet sind. Zweifellos hat die Beschftigung mit solchen

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    Tieren die Neurobiologie weit vorangetragen, aber gleichzeitiggewann man die Einsicht, da ihr Verhalten keineswegs so ste-reotyp ist wie angenommen und ihre Nervensysteme um min-destens eine Grenordnung komplexer als je gedacht. Ich be-schftige mich seit ber zwanzig Jahren (unter anderem) damit,wie das Gehirn von Frschen und Salamandern funktioniert.Hierzu gehrt die Frage, welches die anatomischen und physio-logischen Grundlagen von Tiefenwahrnehmung und Objekter-kennung dieser Tiere sind und wie sich diese visuellen Prozessein Verhalten umsetzen. Ich bin keineswegs der einzige oder garder erste, der dies untersucht. Meine Kollegen und ich sind zwaroptimistisch, da wir aufgrund neuer und zum Teil neuartigerMethoden und auch durch die ttige Mithilfe von Netzwerk-Theoretikern in einigen Teilbereichen (z. B. Tiefenwahrneh-mung oder Lauterkennung) bald ein weitgehendes Verstndnisdieser Funktionen auf zellulrer Ebene erreichen werden. Esmag aber auch sein, da sich bei allem Fortschritt alles als nochviel komplizierter herausstellt, als man gedacht hatte.Dasselbe knnte ich ber die Bemhungen erzhlen, das Fliegen-gehirn zu verstehen, wie sie im Tbinger Max-Planck-Institut frbiologische Kybernetik unter Beteiligung hervorragender For-scher unternommen wurden. Nach Jahrzehnten intensiver For-schung hat man dieses Ziel noch nicht erreicht, auch wenn sehrviele neue und zum Teil grundlegende Erkenntnisse ber dasFliegengehirn dabei gewonnen wurden. Die Insektengehirne,die uns frher nachdrcklich als die geeignetsten Studienobjek-te empfohlen wurden, wenn wir die neuronalen Grundlagen desVerhaltens verstehen wollten, haben sich als auerordentlichkompliziert erwiesen. In vieler Hinsicht wissen wir ber die Ge-hirne von Amphibien, von Katzen und Affen mehr als ber die-jenigen von Fliegen, Grillen und Bienen. Die Grnde hierfrsind vielfltiger Natur. So sind bei Insekten die meisten Ner-venzellen sehr klein und deshalb neurophysiologisch schweroder gar nicht zugnglich, und die groen, zugnglichen Ner-venzellen und ihre Verschaltungen mit anderen Nervenzellensind von einer verwirrenden Komplexitt. Vielfach erscheint unsdas Verhalten dieser Tiere Verstandes- und gefhlsmig unzu-gnglich.

  • Ich will mich im Verlauf dieses Buches ausschlielich mit demGehirn von Wirbeltieren und hier - mit Ausnahme meinerLieblingstiere, der Amphibien - vor allem mit dem der Pri-maten einschlielich des Menschen beschftigen. Die Erfor-schung der neuronalen Grundlagen von Wahrnehmungsleistun-gen, etwa von visueller Objekterkennung, hat in den letztenJahren substantielle Fortschritte gemacht. Ein erstes, akzepta-bles Verstndnis solcher Leistungen ist dann erreicht, wenn manein Modell entwickelt hat, das im Einklang mit den wesentlichenanatomischen und physiologischen Daten steht, die beobachte-ten Leistungen befriedigend simulieren kann und zumindest ei-nige Leistungen des natrlichen Systems zeigt, die nicht hin-eingesteckt wurden. Dies - so glaube ich - ist punktuelldurchaus schon erreicht und wird bald in grerem Mae mg-lich sein.Damit ist aber nur ein erster Schritt getan. Es bleibt vor allem dieErklrung komplexer kognitiver Leistungen und Zustnde desMenschen wie Bewutsein, Aufmerksamkeit, Gedchtnis undHandlungsplanung, von Phnomenen also, die fr viele Philo-sophen, Psychologen und auch Neurobiologen jenseits einer na-turwissenschaftlich-empirischen Analyse liegen. In den letztenJahren haben sich die Bedingungen fr die Erforschung dieserPhnomene jedoch dramatisch verndert. So hat man nicht nursehr viele Details ber die strukturelle und funktionale Organi-sation des Gehirns in Hinblick auf Wahrnehmung, Gedchtnisund kognitive Leistungen gesammelt, sondern es ist heute mit-hilfe sogenannter bildgebender Verfahren mglich, festzustel-len, welche Prozesse im Gehirn ablaufen, wenn eine Persongeistig ttig ist, etwa wenn sie einen Gegenstand wahrnimmt,sich an etwas erinnert, sich etwas vorstellt oder ber etwas nach-denkt. Dies ermglicht Fragestellungen und Einsichten, die vorJahren noch fr unmglich gehalten wurden.Ich will in meinem Buch Anstze zu einer Erklrung darstellen,welche Prozesse im Gehirn ablaufen mssen, damit Wahrneh-mung zustande kommt, und wie diese Vorgnge sich zu einemeinheitlichen Wahrnehmungserlebnis zusammenschlieen. Da-bei werde ich mich ausfhrlich mit dem Konzept einer rum-lich-verteilten Informationsverarbeitung befassen. Komplexe

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    Wahrnehmung - so werde ich zeigen - ist notwendig mit dergleichzeitigen Aktivitt vieler rumlich getrennter Hirnzentrenverbunden; es gibt kein oberstes kognitives Zentrum. Dies giltnicht nur fr kognitive Leistungen des Menschen, sondern auchfr die Gehirne scheinbar einfacher Tiere wie Frsche und Sala-mander. Ebenso will ich ausfhrlich auf die Frage eingehen, wel-che neuronalen Prozesse den geistigen oder mentalen Prozessenwie Bewutsein und Denken in unserem Gehirn zugrunde lie-gen und wie sich dies alles zu einer Einheit zusammenfgt.Diese Prozesse zusammen bilden zumindest bei uns Menschenunsere Erlebniswelt, die Wirklichkeit. Was ich in meinem Buchzeigen will, ist das Entstehen dieser Wirklichkeit und die neuro-nalen Bedingungen dieses Vorgangs. Das Gehirn kann zwarber seine Sinnesorgane durch die Umwelt erregt werden, dieseErregungen enthalten jedoch keine bedeutungshaften und ver-llichen Informationen ber die Umwelt. Vielmehr mu dasGehirn ber den Vergleich und die Kombination von sensori-schen Elementarereignissen Bedeutungen erzeugen und dieseBedeutungen anhand interner Kriterien und des Vorwissensberprfen. Dies sind die Bausteine der Wirklichkeit. Die Wirk-lichkeit, in der ich lebe, ist ein Konstrukt des Gehirns.Da ich nun offenbar selbst ein Teil dieser Wirklichkeit bin, gera-te ich bei einem solchen Konzept unweigerlich in tiefe Parado-xien. Ich will einige dieser Paradoxien nennen.Die erste ist die der verschwundenen Welt und des nichtvorhan-denen Gehirns. Wenn die Neurobiologen behaupten, da alleWahrnehmung im Gehirn entsteht, dann mu es zwei Weltengeben, nmlich eine Welt der Gegenstnde auerhalb des Ge-hirns und eine Welt der Wahrnehmungen der Gegenstnde inunserem Gehirn. Dies entspricht aber berhaupt nicht unseremErleben, denn wir erleben nur eine Welt und nicht zwei Welten.Auerdem nehmen wir die Gegenstnde unserer Wahrnehmungkeineswegs im Gehirn wahr. Die Gegenstnde sind drauen undnicht in meinem Gehirn, und sie sind mir unmittelbar gegeben,ohne irgendeine Vermittlung des Gehirns und der Sinnesorgane.Andererseits gibt es in den Gehirnen, die ich als Neurobiologestudiere, gar keine Gegenstnde, sondern nur Nervenzellen(und Gliazellen) und ihre Aktivitten. Entweder stimmt es also

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  • gar nicht, da alle Wahrnehmungen im Gehirn entstehen, oderdie Gegenstnde sind gar nicht da drauen, wie wir es erleben.Die zweite Paradoxie hat mit der ersten zu tun. Nehmen wir ein-mal an, es sei so, da unsere Erlebniswelt im Gehirn entsteht. Indieser Welt, der Wirklichkeit, kommen viele Dinge vor, unteranderem auch mein Krper. Ich kann meinen Krper betrachtenund ebenso den Raum mit den Dingen, die meinen Krper um-geben. Gleichzeitig mu ich als Neurobiologe annehmen, dasich diese ganze Szene in meinem Gehirn abspielt, das sich inmeinem Kopf befindet. Also befindet sich mein Gehirn in mei-nem Kopf, der sich zusammen mit meinem Krper m einemRaum befindet, und dies alles wiederum befindet sich in meinemGehirn. Wie kann aber das Gehirn ein Teil der Welt sein und siegleichzeitig hervorbringen?Die dritte Paradoxie lautet folgendermaen: Hirnforscher be-haupten, es gebe zwischen den neuronalen Hirnzustnden undden bewut erlebten oder mentalen Zustnden eine eindeutigeBeziehung. Das wrde bedeuten, da man aus der Kenntnis vonHirnprozessen mehr oder weniger eindeutig auf mentale Pro-zesse schlieen kann und eventuell auch umgekehrt. Erforscheich aber das Gehirn, dann entdecke ich nur feuernde Neuroneund ausgeschttete Neurotransmitter, aber keinerlei Wahrneh-mungsinhalte, d. h. keine Farben, Formen, Tne, Gerche; auchkeine Denkvorgnge, Erinnerungen, Gefhle. Auerdem - unddas ist noch gravierender - scheint es berhaupt keine Unter-schiede in den neuronalen Prozessen zu geben, die in den ver-schiedenen Hirnarealen ablaufen und etwa mit Farbwahrneh-mung oder mit Tonwahrnehmung zu tun haben, mitKrperbewegung oder mit Gesichtererkennung. Wie kann dassein? Kann die Vielfalt meiner Sinneswahrnehmungen ber-haupt etwas mit der eintnigen Sprache der Neurone zu tunhaben?Die vierte Paradoxie betrifft den Status meiner Aussagen berdie Funktionsweise und die Leistungen des Gehirns. Wenn allemeine geistigen Leistungen, zum Beispiel wissenschaftliche Er-kenntnis, Leistungen meines Gehirns sind, dann unterliegen die-se zweifellos den biologischen Konstruktions- und Funktions-bedingungen meines Gehirns und knnen per se keinen

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    Anspruch auf Allgemeingltigkeit erheben. Ich glaube ja auchnicht, da die Konstruktionen eines Ameisengehirns die ob-jektive Wahrheit widerspiegeln, warum dann diejenigen desMenschen? Auf der anderen Seite erheben gerade wissenschaft-liche Aussagen Anspruch auf allgemeine Gltigkeit, auf Wahr-heit. Welchen Wahrheitsanspruch haben aber wissenschaftlicheAussagen von Hirnforschern ber die Funktionsweise und dieLeistungen des Gehirns, wenn diese von den Konstruktions-und Funktionsbedingungen des Gehirns selbst abhngen? Istmeine Theorie genauso ein subjektives Konstrukt wie alles an-dere?Diese scheinbaren oder wirklichen Paradoxien entstehen da-durch, da wir als Gehirnzustnde (Ich, Wahrnehmung, Be-wutsein, Denken) mithilfe von Gehirnzustnden (Wahrneh-mung, Bewutsein, Denken, Handlungsplanung, wie sie bei derwissenschaftlichen Arbeit ntig sind) etwas ber Gehirnzustn-de (Ich, Wahrnehmung, Bewutsein, Denken, Handlungspla-nung usw.) herausbekommen wollen. Letztlich will ich wissen,wie ich selbst zustande komme. Dies ist ein fundamental selbst-referentielles Unterfangen, und manche meinen, da man alsHirnforscher oder als Neurophilosoph aus diesem Teufels-kreis niemals herauskommen wird.Ich will im Laufe meines Buches einen Ausweg aus dieser ver-teufelten Situation vorschlagen, und zwar im Rahmen derKombination zweier Anstze, die scheinbar nichts miteinanderzu tun haben oder sich auf den ersten Blick gar widersprechen,nmlich den Ansatz des erkenntnistheoretischen Konstruktivis-mus und den eines nicht-reduktionistischen Physikalismus. Wasden erkenntnistheoretischen Konstruktivismus angeht, so be-haupte ich, da er sich zwangslufig aus der Konstruktivitt un-seres Gehirns ergibt. Gehirne - so lautet meine These - knnendie Welt grundstzlich nicht abbilden; sie mssen konstruktivsein, und zwar sowohl von ihrer funktionalen Organisation alsauch von ihrer Aufgabe her, nmlich ein Verhalten zu erzeugen,mit dem der Organismus in seiner Umwelt berleben kann. Diesletztere garantiert, da die vom Gehirn erzeugten Konstruktenicht willkrlich sind, auch wenn sie die Welt nicht abbilden(knnen).

  • Ein solcher konstruktivistischer Ansatz hat weitreichende er-kenntnistheoretische Folgerungen, indem er auf sich selbst an-gewandt werden mu. Dies betrifft unter anderem auch dasVerhltnis zwischen empirischer Kognitionsforschung und phi-losophischer Erkenntnistheorie. Ich vertrete dabei die Meinung,da eine philosophische Erkenntnistheorie nicht ohne empiri-sche Basis auskommen kann, genausowenig wie empirischesForschen ohne erkenntnistheoretische Grundlage mglich ist.Beide Bereiche bedingen sich gegenseitig, und keiner ist dem an-deren vorgeordnet. Da dies gegen das traditionelle Verstndnisder philosophischen Erkenntnistheorie als der Knigin derWissenschaften verstt, ist mir dabei sehr wohl klar.Ich will bei der Darlegung dieses konstruktivistischen Ansatzesnicht darauf eingehen, was andere Autoren, die sich als Kon-struktivisten bezeichnen, gesagt haben, und wie dies mit meinerMeinung bereinstimmt (vgl. Schmidt, 1993). Da es unter Kon-struktivisten aus gutem Grund keinerlei Bestrebungen zu einerSchulbildung und Vereinheitlichung der Theorie gegeben hat,kann und will ich hier nur fr mich sprechen. Entsprechend muauch jede Kritik sich auf meine Aussagen beziehen und nicht aufdie anderer Konstruktivisten.Innerhalb des von mir (zusammen mit H. Schwegler) vertrete-nen Pbysikalismus behaupte ich, da nicht nur der Bau und dieFunktion des Gehirns, sondern auch die geistigen oder kogniti-ven Zustnde physikalische Zustnde sind. Dies scheint einemkonstruktivistischen Ansatz eklatant zu widersprechen, der jadie Mglichkeit objektiver, d. h. unbedingt gltiger Aussagenbestreitet. Physikalisch ist jedoch hier nicht mit materiellgleichzusetzen (die moderne Physik hat den alten Materiebegriffschon lngst aufgegeben!), sondern ist im methodologischenSinne gemeint. Ich gehe dabei von einem einheitlichen Wir-kungszusammenhang der Phnomene unserer Welt aus, in demeine Unterteilung in verschiedene Wesenheiten oder Sub-stanzen (z. B. Materie und Geist) keine Legitimation hat (vgl.Schlosser, 1993). Gleichzeitig vertrete ich die Anschauung, daein solcher einheitlicher Wirkungszusammenhang keine Reduk-tion von bestimmten Phnomenbereichen auf andere (z. B. desGeistes auf das materielle Gehirn) erfordert, denn eine solche

    Reduktion wird auch innerhalb der Physik nicht berall ver-langt oder gar erbracht. Die Aussagen der Physik wiederum sindwie alle Aussagen und Ttigkeiten der Wissenschaften Teil un-serer Wirklichkeit und haben nur dort Gltigkeit, unabhngigdavon, welchen Grad von Glaubwrdigkeit und Konsistenz siebesitzen. Dies gilt natrlich auch fr alles, was in diesem Buchgesagt wird.

  • 2 Was ist Kognition?

    Das vorliegende Buch beschftigt sich mit den Forschungser-gebnissen der kognitiven Neurobiologie. Was dabei unter demBegriff Neurobiologie zu verstehen ist, lt sich relativ einfacherklren, nmlich die Untersuchung des Baus, der Funktion undder Entwicklung von Nervenzellen (Neuronen) und ihrer Bau-steine, von Nervenzellverbnden und von Nervensystemen(Shepherd, 1993). Die Frage, was Kognition ist, ist schon schwie-riger zu beantworten, obwohl dieser Begriff inzwischen in Mo-de gekommen ist. Weder in der Psychologie, der Informatik, denComputerwissenschaften und der Linguistik - Bereiche, die alstraditionelle Kognitionswissenschaften (Cognitive sciences,vgl. Gardner, 1987) betrachtet werden - noch in den Neurowis-senschaften gibt es eine verbindliche oder auch nur allgemeinakzeptierte Definition von Kognition bzw. kognitiv. Einenoch heute weitgehend gltige Darstellung der Bedeutungsviel-falt im Bereich der Psychologie liefert der Artikel Kognition,kognitiv von W. Prinz im Historischen Wrterbuch der Phi-losophie (Prinz, 1976). Danach umfat die ursprngliche, ausder Vermgenspsychologie des 18. und 19. Jahrhunderts stam-mende Festlegung des Begriffs Kognition Phnomene desErkenntnisvermgens, worunter Vorgnge wie Wahrnehmen,Denken, Verstehen und Urteilen fallen. Gemeinsam ist diesenVorgngen die Orientierung des Organismus in semer Umge-bung als der hauptschlichen Grundlage fr angepates Verhal-ten (Prinz, 1976). Allerdings sind hiermit keineswegs nur Pro-zesse gemeint, die der Introspektion, d. h. der bewutenSelbsterfahrung zugnglich sind.Ein solches Verstndnis von Kognition, so alt es auch sein mag,erscheint mir sehr brauchbar, denn es hebt die Funktion von Ko-gnition im Rahmen der Lebens- und berlebenssicherung her-vor. Gegenwrtig wird der Begriff jedoch hufig im Sinne vonkategonaler Wahrnehmung, Denken, bewuter Wahrneh-mung, Reprsentation und Intentionalitt gebraucht. In-nerhalb der Computational Theory of Mind Jerry Fodors und

    seiner Anhnger (Fodor, 1975; Andersen, 1990) wird er mit al-gorithmischer Symbolverarbeitung gleichgesetzt und damitbewut auf Leistungen des Menschen (bzw. auf vom Menschenhergestellte informationsverarbeitende Systeme wie Compu-ter) eingeschrnkt.Alle kognitivistischen Konzepte, wie unterschiedlich sie auchsein mgen, grenzen sich von dem lange Zeit dominierenden be-havioristischen Ansatz ab, wie er von J. B. Watson und B. F.Skinner entwickelt wurde. Der Behaviorismus wollte und willVerhaltensweisen grundstzlich auf Reiz-Reaktionsbeziehun-gen zurckfhren, die durch Prozesse der operanten Konditio-nierung (Versuch-und-Irrtum-Lernen, Verstrkungslernen)hergestellt werden (Skinner, 1973). Bei der Analyse und Er-klrung von Verhalten ist fr den Behavioristen jeder Bezug aufnur subjektiv erlebbare Zustnde, die nach Meinung der tradi-tionellen Psychologie zwischen Wahrnehmung und Verhaltenvermitteln, unzulssig. Derartige Geschehnisse seien - so die Be-havioristen - nicht zu beobachten oder zumindest nicht exakt zumessen und deshalb notgedrungen unwissenschaftlichen Speku-lationen ausgeliefert. Zudem seien sie auch berflssig, denn inder Tat lieen sich selbst komplexe Verhaltensleistungen wieSprachverstehen und Problemlsen rein auf der Basis operanterKonditionierung erfassen.Man mu rckblickend sagen, da dieser Ansatz auerordent-lich fruchtbar war und zu -weitreichenden Begriffsklrungenzum Beispiel innerhalb der Verhaltensbiologie und Lernfor-schung gefhrt hat. Seit den sechziger Jahren reifte aber in vie-len Psychologen und Verhaltensforschern die Einsicht, da einrein behavioristischer Ansatz unzureichend ist, um komplexestierisches und menschliches Verhalten zu erklren. Vielmehr sahman, da hierfr Annahmen ber als kognitiv bezeichnete in-terne Zustnde notwendig sind. Man entdeckte, da die Bezie-hung zwischen Reiz und Reaktion bei Mensch und Tier durch -wie man vorsichtig sagte - intervenierende Variable vernder-bar sind. Diese beziehen sich auf innere Zustnde wie Vorwis-sen, Aufmerksamkeit, Erwartungshaltungen, Weltmodelle undHandlungsstrategien. Diejenige Psychologie, welche sich mitderartigen internen Zustnden beschftigte, konnte nunmehr als

  • Kognitionspsychologie bezeichnet werden (Neisser, 1967;Broadbent, 1971).Einen groen Aufschwung erlebte der kognitivistische Ansatzdurch die Computerwissenschaft, in Deutschland Informatikgenannt. Die Kognitionspsychologie bernahm das Modell derInformationsverarbeitung im computertechnischen Sinne,und man sah die Aufgabe des Kognitionsforschers nunmehrdarin, herauszufinden, wie das informationsverarbeitende Sy-stem des Menschen in verschiedenen Situationen programmiertist (Prinz, 1976).Es stellt sich die Frage, wie man angesichts dieser kompliziertenBegriffsgeschichte den Begriff Kognition nutzbar machenkann. Ihn als zu schillernd abzulehnen, wie einige Kritiker mei-nen, ist voreilig; vielmehr sollten wir versuchen, ihn genauer zufassen. Zwei Positionen erscheinen dabei von vorneherein un-brauchbar.Die erste Position besteht in der Auffassung, Kognition kommenur dem Menschen zu, etwa im Sinne von bewuter geistigerTtigkeit, Erkenntnis, Wissen oder Einsicht. Eine Vari-ante dieses anthropozentrischen Standpunktes ist die in derComputational Theory of Mind bliche Definition von Ko-gnition als regelgeleiteter Symbolverarbeitung im Rahmen lo-gischer Satzstrukturen (Fodor, 1975; Anderson, 1990). Darauswrde folgen, da neben Menschen auch Computer als kogniti-ve Systeme anzusehen sind, da sie Information propositional,d. h. logisch-satzhaft, verarbeiten. Fr Tiere wrde dies jedochnicht gelten. Fr den neurobiologisch ausgerichteten Kogniti-onswissenschaftler ist daher das am Computerparadigma orien-tierte Modell der Informationsverarbeitung von begrenztemNutzen und kann keineswegs als Vorbild fr kognitive Leistun-gen gelten. Zudem wird bei diesem Ansatz die Tatsache unter-schlagen, da Computer Systeme sind, die - bisher zumindest -ausschlielich syntaktische Operationen durchfhren, deren Be-deutungen aber erst durch den menschlichen Benutzer konsti-tuiert werden.Desweiteren ist die Beschrnkung von Kognition auf den Men-schen auch angesichts der im nchsten Kapitel errterten Tatsa-che nicht mglich, die besagt, da sich das Gehirn des Menschen

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    von dem anderer Primaten weder anatomisch noch physiolo-gisch qualitativ unterscheidet. Sehr vieles von dem, was wir berden Zusammenhang von Gehirnprozessen und kognitiven Lei-stungen beim Menschen wissen, wurde erst durch Befunde annichtmenschlichen Primaten oder anderen Sugetieren erhrtetoder erstmals aufgezeigt.Die zweite, entgegengesetzte und ebenso nicht akzeptable Posi-tion besteht in der Gleichsetzung von Kognition und Erregungs-verarbeitung in Nervensystemen. Bei einer solchen Gleich-setzung mu jeder Erregungszustand im Nervensystem alskognitiv bezeichnet werden, sei es die Absorption einesLichtquants durch einen Photorezeptor oder die Aktivierungeiner orientierungsspezifischen Zelle im primren visuellenCortex eines Sugers. Es gbe dann im gesamten Nervensystemkeine Aktivitt, die nicht kognitiv ist, einschlielich der mole-kularen Prozesse an Synapsen. Damit aber wrde der Begriffkognitiv wertlos werden.Um der Verwendung des Begriffs Kognition einen Sinn zu ge-ben, mu er von Begriffen abgegrenzt werden, die nicht-kogni-tive Hirnleistungen beschreiben. Dies ist nicht leicht, denn auf-grund unseres heutigen Verstndnisses von der Arbeitsweise desGehirns mssen wir, wie ich noch darlegen werde, von einemKontinuum zwischen einfachen und komplexen Leistungen desGehirns ausgehen, und eine Abgrenzung kognitiver von nicht-kognitiven Leistungen ist damit stets mit einer gewissen Willkrbehaftet.Fr viele Autoren sind kognitive Leistungen an das Vorhanden-sein von internen Reprsentationen gebunden (z. B. Scheerer,1992). Eine solche Definition von Kognition ist nur dann sinn-voll, wenn Begriffe wie Reprsentation bzw. interne Repr-sentation wiederum klar definiert sind. Dies ist aber nicht derFall. Nach Scheerer hat der Begriff Reprsentation im erkennt-nistheoretischen und kognitionswissenschaftlichen Kontextvier verschiedene Bedeutungen: (i) Inhaltsvoller geistiger (men-taler) Zustand oder Akt. Diese Bedeutung, die auf Descarteszurckgeht, ist identisch mit dem deutschen philosophischenBegriff der Vorstellung und dem englischen Begriff repre-sentation. (2) Vermittelte Erkenntnis im Gegensatz zu (blo)

  • sinnlicher Wahrnehmung, d. h. Erkenntnis, die als Wissen aufGedchtnisleistungen und Denken beruht. (3) Strukturerhalten-de Darstellung, die nicht unbedingt bildhaft sein mu; sie kannzum Beispiel abbildend im mathematischen Sinne sein. Siemu aber eine geregelte Korrespondenz beinhalten. (4) Stell-vertretung, ohne Notwendigkeit einer hnlichkeit mit demStellvertretenen.Fr eine Definition von Kognition ist die erste Bedeutung vonReprsentation nicht unmittelbar brauchbar, denn sie zieltvornehmlich auf menschliche psychische Zustnde ab. Auch diezweite Bedeutung (Erkenntnis, Wissen, Denken) beziehtsich teilweise auf Zustnde, die nicht ohne weiteres auf Tierebertragbar sind. Die dritte und vierte Definition besagen, dabestimmte Prozesse, die in einem Nervensystem ablaufen, einensystematischen Bezug zu Prozessen in der Auenwelt des Ner-vensystems besitzen mssen. Dabei verlangt die dritte Bedeu-tung, da Reprsentant und Reprsentat bestimmte formalehnlichkeiten, z. B. hinsichtlich der rumlichen oder zeitlichenRelationen, haben, wie dies bei sogenannten primren Kartenin den sensorischen Systemen des Gehirns der Fall ist, die etwamit dem Sehraum oder der Krperoberflche unter Wahrungrumlich-nachbarschaftlicher Beziehungen korrelieren. DieExistenz solcher Karten ist eine wichtige Voraussetzung fr ko-gnitive Operationen, sie sollte jedoch selbst nicht als kognitiv,sondern als prkognitiv im weiter unten angegebenen Sinneangesehen werden, und zwar unabhngig davon, ob dieseprimren Karten durch Erfahrung entstehen oder nicht. Im vier-ten Fall wird eine solche hnlichkeit nicht verlangt. Hier sinddurchaus abstrakte Stellvertretungen zugelassen, wie z. B. dieReprsentation von Auenweltprozessen in Symbolen,Stzen oder Gedanken. Dies entspricht am ehesten dem, was an-dere Autoren unter kognitiven Karten oder kognitiven Mo-dellen verstehen. Diese mgen unter Benutzung von Repr-sentationen der Umwelt im Sinne von (3) erzeugt werden undin Reprsentationen im Sinne von (i) und (2) einmnden; not-wendig ist dies jedoch nicht. Zum Beispiel mu die Operationmit kognitiven Modellen oder kognitiven Karten keines-wegs bewut bzw. mit subjektivem Erleben verbunden sein.

    3

    Festzuhalten bleibt also: (i) Kognition kommt keineswegs nurdem Menschen zu; umgekehrt ist es nicht sinnvoll, alles, was imGehirn geschieht, als kognitiv zu bezeichnen; (2) Kognition er-wchst aus rein physiologischen Prozessen auf zellulrer undsubzellulrer Ebene sowie aus prkognitiven Leistungen und istdeshalb von letzteren nicht scharf abgrenzbar; (3) Kognition be-zieht sich auf komplexe, fr den Organismus bedeutungsvolle,d. h. fr Leben und berleben (besonders auch das psychoso-ziale berleben) relevante und deshalb meist erfahrungsabhn-gige Wahrnehmungs- und Erkenntnisleistungen. Diese arbeitenin der Regel mit Reprsentationen im Sinne einer Stellvertre-tung sowie mit rein internen Modellen der Welt und derHandlungsplanung, gleichgltig ob diese bewut oder unbe-wut sind. Wir mssen in diesem Zusammenhang davon ausge-hen, da auch bei uns Menschen das allermeiste, was unsere In-teraktion mit der Umwelt steuert, unserem bewuten Erlebennicht zugnglich ist. Kognitive Neurobiologie ist demnachderjenige Teil der Neurobiologie, der sich in Zusammenarbeitmit anderen Disziplinen, vor allem der experimentellen und ko-gnitiven Psychologie, mit den neurobiologischen Grundlagenkognitiver, bedeutungshafter Leistungen beschftigt.Ich werde in den folgenden Kapiteln zeigen, in welcher WeiseKognition einerseits auf nicht-kognitiven neuronalen Prozessenaufbaut bzw. aus ihnen entsteht und andererseits auch komple-xe Leistungen umfat, die als typisch menschliche Kognitionangesehen werden. Es ist dabei zweckmig, zwischen folgen-den Zustnden zu unterscheiden: (i) Rein physiologische Ereig-nisse, z. B. Prozesse an Zellmembranen und Synapsen, die alsGrundelemente kognitiver Prozesse verstanden werden kn-nen. (2) Neuronale Prozesse auf der Ebene einzelner Zellen in-nerhalb kleiner Zellverbnde: Wellenlngen-, orientierungs-oder tonhhenspezifische Antworten von Nervenzellen, eben-so einfache Reiz-Reaktionsbeziehungen wie monosynaptischeReflexe, Habituation und Sensitivierung auf Einzelzellebene.(3) Prkognitive Prozesse wie Konstanzleistungen (Farbkon-stanz, Formkonstanz u. .), einfache Wahrnehmungsprozessewie Figur-Hintergrund-Unterscheidung oder das automati-sierte Segmentieren komplexer Szenen nach einfachen bzw.

  • guten Gestalten, das Erkennen von einfachen Ordnungen,Mustern und Objekten. Derartige prkognitive Prozesse laufenprinzipiell vorbewut ab. (4) Kognitive, d. h. bedeutungshafteProzesse: Diese umfassen, wie sich im folgenden zeigen wird,(a) integrative, hufig multisensorische und auf Erfahrung beru-hende Erkennungsprozesse; (b) Prozesse, die das Erkennen in-dividueller Ereignisse und das Kategorisieren bzw. Klassifizie-ren von Objekten, Personen und Geschehnissen beinhalten;(c) Prozesse, die bewut oder unbewut auf der Grundlageinterner Reprsentationen (Modelle, Vorstellungen, Karten,Hypothesen) ablaufen; (d) Prozesse, die eine zentrale, erfah-rungsgesteuerte Modulation von Wahrnehmungsprozessenbeinhalten und deshalb zu variablen Verarbeitungsstrategienfhren; (e) Prozesse, die Aufmerksamkeit, Erwartungshaltun-gen und aktives Explorieren der Reizsituation voraussetzenoder beinhalten; und (f) mentale Aktivitten im traditionellenSinne wie Denken, Vorstellen, Erinnern.Es wird sich in den folgenden Kapiteln zeigen, ob und inwieweitdiese vorlufigen Begriffsdefitionen brauchbar sind; eine logischwie empirisch vllig befriedigende Definition ist hingegen nichtzu erreichen.

    3 Von Salamandern und Menschen -unser Gehirn im Vergleich

    In dem viele Jahrhunderte vorherrschenden Bild der Ordnungder Natur stand der Mensch an der Spitze der Leiter der Na-tur (der Scala naturae), abgesondert von den Tieren. DieseVorstellung wird auch heute noch weitgehend akzeptiert. VielePhilosophen, Psychologen, Anthropologen und selbst Biologensehen den Menschen innerhalb der Natur als unvergleichlich an,von religisen Vorstellungen ber die Einzigartigkeit des Men-schen ganz zu schweigen.Betrachtet man hingegen den Bau und die Physiologie desmenschlichen Krpers, so fllt es schwer, eine solche Einzigar-tigkeit zu akzeptieren. Unser Krper weist uns als ein Sugetier,genauer als Angehrigen der Ordnung der Primaten aus. Nachden neuesten Erkenntnissen sind Schimpansen und Menschengenetisch viel enger miteinander verwandt als beide mit den Go-rillas oder anderen Menschenaffen. Die bereinstimmungen imKrperbau und im Verhalten zwischen Mensch und Schimpan-sen, insbesondere dem Zwergschimpansen (Bonobo, Panpanis-cus) sind auerordentlich gro, obwohl sich Schimpansen undMenschen seit ca. 5 Millionen Jahren getrennt entwickelt haben.In den letzten Jahren wurde ber das Sozialverhalten von Go-rillas und Schimpansen in freier Wildbahn vieles bekannt, dasauch auf diesem Gebiet den scheinbaren Abstand zwischenMenschen und Menschenaffen stark verringert hat, insbesonde-re was die Fhigkeit, Bses zu tun, betrifft (Goodall, 1986; Som-mer, 1992). Es gibt wohl keine Gemeinheit und Schlechtigkeitdes Menschen bis hin zu Kindermord und dem Ausrottenganzer Gruppen von Artgenossen, die sich nicht auch beiSchimpansen finden. Dann scheinen Menschen und Schimpan-sen sich deutlich von den wesentlich friedfertigeren Gorillas undOrang-Utans zu unterscheiden.All das mag zwar das Vertrauen in unsere Einzigartigkeit erheb-lich erschttern, doch gibt es das Organ, welches uns gegenberdem Rest der Natur wirklich einzigartig zu machen scheint: un-ser Gehirn. Es wird als die Quelle und der Sitz des menschlichen

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  • Geistes, des Verstandes, des Erfindungsreichtums und nicht zu-letzt der menschlichen Sprache angesehen. Seine Gre, seineGestalt und sein innerer Aufbau werden mit diesen Eigenschaf-ten und Leistungen in Verbindung gebracht, und die Evolutiondes Menschen wird vor allem als Evolution des menschlichenGehirns angesehen. In diesem Zusammenhang wird hufig aufdie eindrucksvolle Vergrerung des Hirnvolumens von ca. 400Gramm bei unseren ffischen Vorfahren auf 1300-1500 Grammbeim heutigen Menschen und insbesondere auf die starke Ver-grerung der Hirnrinde (Cortex) hingewiesen.Doch wie stellt sich unser Gehirn im Vergleich zu den Gehirnenanderer Wirbeltiere tatschlich dar? Ist das menschliche Gehirnin irgendeiner Weise (anatomisch, physiologisch, leistungs-mig) grundstzlich vom Gehirn der Tiere unterschieden? Dienicht gern gehrte Antwort darauf lautet: Das menschliche Ge-hirn entspricht in seinem Grundaufbau dem Gehirn der ande-ren Wirbeltiere; es ist dem Gehirn anderer Landwirbeltiere(Amphibien, Reptilien, Vgel und Suger) sehr hnlich undstimmt in den meisten Details mit den Gehirnen anderer Suge-tiere berein. Vom Gehirn unserer nchsten biologischen Ver-wandten, der Menschenaffen, ist unser Gehirn mit Ausnahmeseiner Gre nahezu ununterscheidbar.Ich will im folgenden versuchen, diese Behauptung zu unter-mauern und dabei gleichzeitig neuroanatomisches Basiswissenfr die weiteren Kapitel dieses Buches zu vermitteln. Dazu sollzunchst das menschliche Gehirn in seinem Aufbau beschriebenund mit dem einfachsten Gehirn verglichen werden, das sich beiLandwirbeltieren und bei Wirbeltieren berhaupt findet, demder Salamander. Es ist aber keineswegs so, da das Gehirn derSalamander-wie man in vielen neurobiologischen Lehrbchernnoch lesen kann - das primitivste Wirbeltiergehirn ist; denn daswrde bedeuten, da es den Urzustand des Wirbeltiergehirnsbewahrt hat oder ihm am nchsten steht. Dies ist aber offenbarnicht der Fall (s. unten).Wie das Gehirn der ursprnglichen Wirbeltiere ausgesehen hat,wissen wir nicht genau, denn Gehirne bilden als Krperweich-teile keine Fossilien. Wir knnen aber aufgrund einer sogenann-ten phylogenetischen Analyse als gesichert annehmen, da das

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    Wirbeltiergehirn von Anfang an aus fnf Teilen aufgebaut warund sich von vorn (rostral) nach hinten (caudal) in ein Endhirn(Telencephalon), Zwischenhirn (Diencephalon), Mittelhirn(Mesencephalon), Hinterhirn (Metencephalon) und Nachhirn(Myelencephalon, Medulla oblongata) gliedert und dann in dasRckenmark (Medulla spinalis) bergeht (Roth und Wullimann,1996). Dieser Aufbau findet sich bei allen Wirbeltieren ein-schlielich des Menschen und der Salamander (Abb. i und 2).Bei Reptilien, Vgeln und Sugetieren hat sich ein unscheinba-rer Teil des vorderen unteren Nachhirns zur Brcke (Pons) ver-grert, der oft als sechster Hirnteil gerechnet wird. Gehirn undRckenmark bilden zusammen das Zentralnervensystem. DieMedulla oblongata und der ventrale Teil des Mittelhirns, dasTegmentum und die Brcke werden zusammen auch als Hirn-stamm bezeichnet, gelegentlich wird das gesamte Mittelhirn inden Begriff Hirnstamm mit eingeschlossen.Vieles spricht dafr, da das ursprngliche Wirbeltiergehirn er-heblich komplizierter aufgebaut war als das Salamandergehirn.Dieses hat ganz offensichtlich eine dramatische Vereinfachungerfahren, was auch bei den Nervensystemen vieler anderer Tie-re passiert ist. Die Grnde fr diese Vereinfachung sind darin zusuchen, da die Vorfahren der Salamander einen genetischenUnfall erlebten, indem ihr Genom sich riesenhaft vergrerte.Dies fhrte auf eine komplizierte Weise zu einer Verlangsamungder normalen Entwicklung des Krpers einschlielich des Ner-vensystems und der Sinnesorgane (Roth et al., 1993). Salaman-dergehirne (und in geringerem Mae die Gehirne anderer Am-phibien, nmlich der Frsche und der Blindwhlen) bleiben ingewisser Weise in ihrer ontogenetischen Entwicklung auf einemembryonalen oder larvalen Niveau stecken und tuschen ei-nen Primitivzustand vor, den es aber in der Hirnevolution so niegegeben hat. Wir knnen daraus die wichtige Einsicht gewinnen,da im Verlauf der Evolution einfach keineswegs immergleichbedeutend mit ursprnglich bzw. primitiv ist: Verein-fachungen von Strukturen sind in der Evolution ebenso hufigzu finden wie Komplizierungen (Wake und Roth, 1989; Rothund Wullimann, 1996).Salamandergehirn und menschliches Gehirn sind, wie alle Ge-

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  • Commissura anterior

    Hypothalamus

    Sehnervkreuzung

    Brcke

    Verlngertes Mark

    Epiphyse

    - Rckenmark

    Stirnlappen (Lobus frontalis)motorischesSprachzentrum(Brocasches Areal)

    motorisches Rindenfeld

    Bulbus olfactohus(Teil des Riechhirns)

    primres Hrzentrum

    Schlfenlappen (Lobus temporalis) /

    somato-sensorisches Rindenfeld

    Scheitellappen(Lobus parietalis)

    Gyrus angulans

    Hinterhauptlappen(Lobus occipitalis)

    sensorisches Sprachzentrum(Wernickesches Areal)

    primres Sehfeld

    Abb. i: Aufbau des menschlichen Gehirns. Links oben: Lngsschnitt.Die Abbildung zeigt die Innenseite der rechten Grohirnrinde; der Bal-ken (Corpus callosum) und die brigen Teile des Gehirns sind in derMitte durchtrennt. Links unten: Seitenansicht der linken Grohirnrin-de mit den vier Hirnlappen und den wichtigsten funktionellen Arealen.Oben: Querschnitt etwa in der Mitte des Lngsschnitts (links oben);die rechte Hlfte zeigt einen Querschnitt auf der Hhe der Amygdala,die linke einen weiter hinten liegenden Querschnitt auf der Hhe desHippocampus. Nach Nieuwenhuys et al. 1991, verndert, und Ge-schwind, 1985.

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    Riechkolben

  • TEL

    MES

    Abb. 2: Salamandergehirn: (a) Aufsicht, (b) Querschnitt in Hhe desVorderhirns, (c) Querschnitt in Hhe des Mittelhirns. Abkrzungen:Amg pm: Amygdala pars medialis, CB: Cerebellum, DI: Diencephalon,dP: dorsales Pallium, 1P: laterales Pallium, MES: Mesencephalon, MO:Medulla oblongata, mP: mediales Pallium, MS: Medulla spmahs, ST:Striatum, TEL: Telencephalon, Tg: Tegmentum, To: Tectum opticum;rmische Zahlen: Hirnnerven und vordere Spinalnerven (siehe Text).

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  • hirne, aus denselben Grundbausteinen aufgebaut, nmlich ausNervenzellen (Neuronen) und aus Gliazellen. Gliazellen habenvielfltige Funktionen: Sie spielen als Mikrogha bei der Regene-ration von entzndetem oder verletztem Nervengewebe einewichtige Rolle, dienen als Sttz- und Leitgerst fr das Nerven-gewebe (Radialglia, Astrocyten), insbesondere whrend derOntogenese. Sie bilden die Myelinscheiden von Nervenfasern(Schwannzellen, Oligodendroglia) und sind an der Aufrechter-haltung des sogenannten extrazellulren Milieus beteiligt, dasfr die Erregungsverarbeitung der Nervenzellen ntig ist.In Abbildung 3 sind einige Neurone aus dem Gehirn des Men-schen dargestellt, um einen Eindruck von ihrer morphologi-schen Vielfalt zu geben. Ein idealisierter Aufbau ist m Abbil-dung 4 wiedergegeben. Nervenzellen besitzen in aller Regeleinen Dendntenbaum, welcher der Aufnahme neuronaler Erre-gung und ihrer Fortleitung zum Zellkrper (Soma oder Peri-karyon genannt) dient. Dieser Dendritenbaum kann sehr schmalund lang oder kurz und kugelfrmig um den Zellkrper herumangeordnet oder weit ausladend sein. Bei vielen Nervenzellen istein Primr- oder Hauptdendrit vorhanden, der sich in Dendri-ten zweiter und dritter Ordnung (Sekundr- und Tertirdendri-ten) aufspaltet. Diese nennt man apikale Dendriten. Manchmal,z. B. bei Motorneuronen, sind auch mehrere Hauptdendritenvorhanden. Bei vielen Nervenzellen entspringen basale Dendri-ten dem Zellkrper; sie sind bei den Pyramidenzellen derGrohirnrinde besonders ausgeprgt (Abb. }E). Ein Fortsatz,Nervenfaser oder Axon genannt, leitet die neuronale Erregungvon der Nervenzelle fort. Das Axon kann am Zellkrper oder aneinem Hauptdendriten entspringen. Sein Ursprungsort wirdAxonhgel genannt. Ein Axon kann wenige Tausendstel Milli-meter oder mehr als einen Meter lang sein und sich berall in sei-nem Verlauf in Seitenste, Kollaterale, aufspalten und Kontaktemit den Dendriten, Zellkrpern oder Axonen anderer Nerven-zellen bilden. Allerdings haben eine Reihe von Nervenzelltypen,besonders diejenigen, die nur mit lokaler Erregungsverarbei-tung befat sind, kein Axon. Hier erfolgt die Erregungsfortlei-tung direkt ber die Dendriten.Nervenzellen haben ber Synapsen miteinander Kontakt. Wie in

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    Abb. 3: Charakteristische Nervenzellen aus dem Gehirn von Salaman-dern und des Menschen. A-C: Neurone aus dem Tectum des Salaman-ders Hydromantes Italiens; A und B sind Projektionsneurone, C ist einlokales Interneuron. D: Purkinjezelle aus dem Kleinhirn des Menschen;E: Pyramidenzelle aus der Grohirnrinde des Menschen. Pfeile: Axoneund Axonkollaterale.

  • erregende SynapseDendrit

    Abb. 4: Rechts Aufbau einer idealisierten Nervenzelle und von Synap-sen. Die Dendriten (oben) dienen der Erregungsaufnahme, das Axon(unten) ist mit der Erregungsweitergabe an andere Zellen (Nervenzel-len, Muskelzellen usw.) befat. Links drei verschiedene Synapsentypen(vergrert): oben eine erregende Synapse, die an einem Dorn einesDendriten ansetzt (Dornsynapse); in der Mitte eine erregende Syn-apse, die direkt an einem Dendriten ansetzt; unten eine hemmendeSynapse, die am Zellkrper ansetzt.

    Abbildung 4 dargestellt, knnen Synapsen zwischen Axonenund Dendriten, Axonen und Zellkrpern, Axonen und anderenAxonen, aber auch zwischen Dendriten bestehen. Es gibt zweiArten von Synapsen, elektrische und chemische Synapsen. Beiden elektrischen Synapsen sind zwei Nervenzellen ber sehrenge Zellkontakte (gap junctions) miteinander verbunden,durch -welche die elektrische Erregung direkt und ohne weitereVerzgerung von einer Zelle zur anderen hinberluft. Bei denchemischen Synapsen wird die elektrische Erregung nicht direktbertragen, sondern durch chemische Botenstoffe, Neurotrans-mitter (oder einfach Transmitter), vermittelt. Chemische Synap-sen bestehen aus einem prsynaptischen Teil (der Prsynapse), inder Regel dem Endknpfchen eines Axons, und einem post-synaptischen Teil (der Postsynapse), der je nach Lage ein StckMembran des Zellkrpers, eines Dendriten oder des Axonseiner anderen Nervenzelle sein kann. Oft tragen - wie in Ab-bildung 4 dargestellt - Dendriten einer Nervenzelle kleineVorsprnge, Dornfortstze (spmes), die besondere Orte frSynapsen zwischen axonalen Endknpfchen und Dendritendarstellen. Pr- und Postsynapse stehen nicht in unmittelbaremKontakt, sondern sind durch den synaptischen Spalt getrennt.Dieser Spalt wird durch die Ausschttung von Transmitternberbrckt.Von diesen sind die bekanntesten Acetylcholin, Noradrenalin,Serotonm, Dopamin und Glutamat (alles erregende Transmit-ter) sowie Gamma-Aminobuttersure (abgekrzt GABA) undGlycm (hemmende Transmitter). Dabei unterscheidet manTransmitter, welche die schnelle Erregungsbertragung vermit-teln wie Glutamat, GABA und Glycin, und solche, die diesebertragung beeinflussen wie Acetylcholin, Noradrenalin,Serotonin und Dopamin und deshalb Neuromodulatoren ge-nannt werden. Daneben gibt es mittel- und lngerfristig wir-kende neurochemische Botenstoffe, Neuropeptide, welche dieWirkung der Transmitter verndern knnen. Es sind zur Zeitbereits mehr als hundert solcher Neuropeptide bekannt(Shepherd, 1993). Durch das Eintreffen elektrischer Erregung mForm eines Aktionspotentials werden in der Prsynapse Trans-mittermolekle m den synaptischen Spalt ausgeschttet, die an

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  • bestimmten Rezeptormoleklen auf der postsynaptischenMembran andocken (vgl. Abb. 38). Diese so aktivierten Re-zeptoren beeinflussen entweder direkt oder indirekt ber einesogenannte second messenger-Kaskade die lonenkanle derpostsynaptischen Membran. Diese ffnen sich und lassen ent-weder Natrium- oder Calcium-Ionen in die Zelle herein, was zueiner Depolarisatwn der Membran und gegebenenfalls zumAuftreten eines Aktionspotentials fhrt, oder Kalium-Ionenheraus (bzw. Chlorid-Ionen hinein), was zu einer Hyperpolari-sation der Membran fhrt.Im Nervensystem kommen die meisten Leistungen durch dieArbeit eines Zellverbandes zustande, der wenige zehn, aber aucheine Million Nervenzellen umfassen kann. Dennoch ist bereitsein einzelnes Neuron ein sehr komplexes Verarbeitungssystem.Es ist in aller Regel der Ort gewaltiger Konvergenz und Diver-genz von Erregung. Es kann mit tausend oder gar mehr als zehn-tausend anderen Nervenzellen ber Synapsen verbunden seinund selbst wieder an dieselbe Zahl von Nervenzellen seineErregung abgeben. Zwischen Aufnahme und Weiterleitungkommt es zu einer unterschiedlich komplizierten Integrationder Erregung. Die Erregung wird von anderen Zellen in der Re-gel ber die Dendriten aufgenommen und zum Axonhgel wei-tergeleitet. Dort entsteht ein Aktionspotential, welches dann aufdem Axon zur nchsten Nervenzelle eilt (mit Geschwindigkei-ten von 100 Metern pro Sekunde und mehr).Betrachten wir eine normale Nervenzelle, wie sie in Abbil-dung 4 dargestellt ist. Sie hat einen ausgedehnten Dendriten-baum und ein Axon. Sie ist besetzt mit rund zehntausend erre-genden und hemmenden Synapsen, die von rund tausendanderen Nervenzellen stammen (d. h. jede Nervenzelle sitzt imSchnitt mit zehn Synapsen auf einer anderen Nervenzelle auf).Eine einzelne Synapse erregt (depolansiert) die subsynaptischeMembran in Form eines sogenannten exzitatorischen postsyn-aptischen Potentials (EPSP) nur sehr wenig, so da dieses EPSPes normalerweise nicht schafft, bis zum Axonhgel durchzu-kommen und dort ein Aktionspotential auszulsen. Dies pas-siert meist nur dann, wenn viele am Neuron aufsitzende Syn-apsen gleichzeitig oder kurz hintereinander aktiv sind (bei

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    letzterem kann sich die Erregung aufschaukeln). Allerdingssind nicht alle Synapsen dabei gleichberechtigt, denn es gilt: Jeweiter eine einzelne Synapse vom Axonhgel entfernt ansitzt(z.B. an distalen Dendriten), desto schneller versickert ihrEPSP, und desto mehr Synapsen mssen gleichzeitig aktiv sein,damit die Zelle feuert. Dies bedeutet auch, da eine einzelneZelle eine andere nur dann erregen kann, wenn sie mit vielenSynapsen an ihr aufsitzt. Normalerweise feuert also eine Zelledann, wenn mehrere bis viele vorgeschaltete Neurone gleichzei-tig und gleichartig auf sie einwirken.Damit haben wir bereits zwei wichtige Faktoren kennengelernt,welche die Integrationsleistung einer Nervenzelle bestimmen,nmlich erstens den Sitz einer Synapse (d. h. ob weit entferntvom Axonhgel oder nahe), und zweitens die rumlich-zeitlicheSummation synaptischer Aktivitt (d. h. wie viele Synapsen zurselben Zeit ein EPSP produzieren). Allerdings gibt es auch dieMglichkeit, da EPSPs auf ihrem Weg zum Axonhgel von denDendriten nicht nur passiv weitergeleitet, sondern aktiv ver-strkt werden, und dies erhht natrlich ihre Chance, ein Akti-onspotential auszulsen.Der wichtigste Faktor fr die Integrationsleistung einer Ner-venzelle ist jedoch das zahlenmige Verhltnis von erregendenund hemmenden Synapsen - und natrlich die Tatsache, wo die-se ansetzen. Eine gleichstarke Erregung und Hemmung, her-vorgerufen durch dieselbe Zahl erregender und hemmenderSynapsen an denselben Stellen, heben sich natrlich gegenseitigauf, whrend unterschiedliche Zahlenverhltnisse der beidenSynapsentypen, kombiniert mit unterschiedlichen Ansatzorten,sehr unterschiedliche Erregungszustnde hervorrufen. Hem-mende Synapsen tendieren dazu, in der Nhe des Axonhgelsanzusetzen, whrend erregende Synapsen vermehrt in distalenDendritenbereichen zu finden sind. Dadurch knnen die hem-menden Synapsen, selbst wenn sie viel geringer an Zahl sind, denErregungsflu sehr effektiv, sozusagen in der Hinterhand, be-einflussen. Ebenso knnen hemmende Synapsen, die an wichti-gen Gabelpunkten des Dendritenbaums sitzen, ganze dendriti-sche Bereiche abschalten.Die Kombination all dieser Faktoren, d. h. der zahlenmigen

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  • Verhltnisse erregender und hemmender Synapsen, ihres Sitzesan der Oberflche der Zelle, unterschiedlicher Lngs- und Zeit-konstanten der beteiligten Membranen, und damit unterschied-licher Ausmae zeitlicher und rumlicher Integration, lassennahezu beliebig komplexe Verarbeitungsprozesse m einer ein-zelnen Nervenzelle zu. Dies kann dazu fhren, da eine Ner-venzelle nach einlaufender Erregung mit niedriger oder hoherFrequenz feuert oder die einlaufende Erregung vllig unter-drckt. Es kann auch dazu fhren, da sie selbst bei zufllig oderkontinuierlich einlaufender Erregung rhythmisch feuert oderAktionspotential-Salven mit komplizierten Zeitstrukturen pro-duziert. Ob und in welchem Mae die Zeitstruktur der Ent-ladungen wichtige neuronale Informationen enthlt, wird ge-genwrtig intensiv untersucht. Viele Nervenzellen haben dieFhigkeit, sich selbst zu depolarisieren und deshalb auch ohneuere Reizung Aktionspotentiale zu produzieren. Man sprichthierbei von Spontanaktivitt. Diese ist allerdings meist nieder-frequent (z. B. 1-4 Hz). Bei gengender afferenter Hemmungschweigt diese Zelle, bei Reizung steigt die Feuerrate ber dieSpontanaktivitt hinaus an.Das Dogma der heutigen Neurobiologie lautet, da alle Lei-stungen des Gehirns aus den geschilderten Integrationsleistun-gen einzelner Nervenzellen resultieren. Diese Leistungen kn-nen durchaus sehr kompliziert sein, und deshalb kommtgelegentlich der Aktivitt einzelner Neurone eine groe Bedeu-tung zu. In der Regel gilt dabei: In kleinen Gehirnen mit wenigNeuronen zeigen einzelne Nervenzellen eine komplexe Inte-grationsarbeit, und deshalb knnen auch solche Gehirne durch-aus sehr komplexe Leistungen vollbringen. In groen Gehirnenmit sehr vielen Neuronen, z. B. den Gehirnen von Primateneinschlielich des Menschen, finden wir Bereiche wie die Gro-hirnrinde oder das Kleinhirn, die aus Millionen oder gar Milli-arden von gleichartigen Neuronen mit denselben Integrations-leistungen bestehen. In einem solchen Funktionszusammenhangkommt natrlich einem einzelnen Neuron eine geringe Bedeu-tung zu. Wenn Millionen solcher gleichartiger Neurone mitein-ander interagieren, dann entstehen groflchige Erregungsfel-der, die - so mssen wir vermuten - Verarbeitungsleistungen

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    ganz anderer Art darstellen als die Aktivitten vereinzelter Neu-rone. Allerdings gibt es auch im menschlichen Gehirn sehrkleine Gruppen von Nervenzellen mit riesigen axonalen Auf-zweigungen, die in der Lage sind, die Aktivitt groer Areale inder Grohirnrinde und anderswo zu beeinflussen. Dies gilt zumBeispiel fr Kerne der retikulren Formation, von denen nochausfhrlicher zu sprechen sein wird.Bevor wir zur Erluterung des Aufbaus des menschlichen Ge-hirns kommen, will ich noch einige neuroanatomische Begriffeund Bezeichnungen erlutern, die wir im weiteren Verlauf desBuches dringend bentigen. Der geneigte Leser mge sich diesegut einprgen.Von den Sinnesorganen zum Zentralnervensystem ziehen senso-rische Nerven und vom Zentralnervensystem zu den Muskelnmotorische Nerven. Es gibt rein sensorische und rein motorischeNerven; die meisten Nerven bestehen aber aus sensorischen undmotorischen Fasern und werden deshalb als gemischte Nervenbezeichnet. Eine grere Anzahl von Nervenzellen kann imGehirn zu rumlichen und funktionalen Einheiten zusammen-geschlossen sein, die man Kerne (Nuclei, Singular Nucleus, ab-gekrzt Ncl.) nennt. Diese Kerne sind durch Faserzge mitein-ander verbunden, die aus den Axonen von Nervenzellen einesoder mehrerer Kerne bestehen; Faserzge in Lngsrichtungwerden als Trakte, solche in Querrichtung als Kommissurenbezeichnet. Allerdings senden immer nur einige Nervenzelleneines Kerns, sogenannte Projektionsneurone oder efferenteNeurone, ihre Axone zu anderen Hirngebieten; viele Zelleninnerhalb von Kernen sind lokale Verarbeitungsneurone oderInterneurone. Neben den Kernen unterscheidet man im Gehirnals anatomische und funktionale Einheiten noch Schichten (La-minae, Singular Lamina), z. B. im Tectum des Mittelhirns und inder Rinde (Cortex) des Grohirns, sowie Areale (Areae, Singu-lar Area), vor allem in der Grohirnrinde. Faserzge, die vonKernen, Schichten oder Arealen zu bestimmten Zielorten aus-gesandt werden (projizieren), nennt man efferente Fasern oderEfferenzen, solche, die von einem anderen Gehirnort zu einemZielort einlaufen, afferente Fasern oder Afferenzen dieses Ziel-ortes. Dabei kann derselbe Trakt in Hinblick auf den einen Kern

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  • (den Ausgangsort) efferent und auf den anderen Kern (den Ziel-ort) afferent sein. Man sagt hierbei, Kern Xprojiziert nach (oderzu) Kern Y. Derartige Verbindungen im Gehirn sind hufigrcklufig oder reziprok, d. h., Kern X projiziert nach/zu KernY und umgekehrt.Fr die Lagebeziehung von Hirnstrukturen gibt es spezielle Be-zeichnungen. Alles was im Zentralnervensystem oder Gehirnoben bzw. rckenwrts liegt, wird als dorsal bezeichnet, wasunten oder bauchwrts liegt, ventral. Seitliche Positionenwerden als lateral, in der Mitte oder zur Mitte hin liegende alsmedial bezeichnet. Genau auf der Mitte liegende Strukturensind median. Mit rostral wird alles bezeichnet, was im Gehirnoder in Teilen des Gehirns vorn (eigentlich schnabelwrts)liegt, und mit caudal alles, was hinten (eigentlich schwanz-wrts) liegt. Die drei Hauptachsen des Gehirns bezeichnet manentsprechend als rostro-caudale, dorso-ventrale und medio-laterale Achse (mit oder ohne Bindestrich). Zwischenrichtungenwerden entsprechend als dorso-lateral, medio-caudal usw. be-zeichnet. Bei Kerngebieten (z. B. des Thalamus) verwendet manauch die Bezeichnung anterior fr vordere,posterior fr hintere,superior fr obere und inferior fr untere Positionen. Dazwi-schenliegende Positionen deutet man durch Kombination dieserAdjektive an, etwa Ncl. ventro-caudalis oder Ncl. dorso-media-lis.Wenden wir uns nun dem Vergleich des Gehirns der Salamanderund des Menschen zu. Die Grenunterschiede sind gewaltig:das Salamandergehirn (Abb. 2) wiegt ungefhr ein Milligramm,das menschliche Gehirn (Abb. i) mit rund 1,4 kg etwa eineMillion mal mehr. Entsprechend gro sind die Unterschiede inder Zahl der Nervenzellen im Gehirn. Whrend Salamanderge-hirne aus einer halben bis einer Million Neurone bestehen, be-inhaltet unser Gehirn nach Meinung vieler Autoren eine halbebis eine Billion davon, also ebenfalls eine Million mal mehr. (DieSchtzungen, wie viele Nervenzellen das menschliche Gehirntatschlich umfat, gehen zum Teil weit auseinander, und dieseFrage ist aus methodischen Grnden nur schwer zu beantwor-ten). Dennoch besitzen die beiden Gehirne den gleichen Bau-plan.

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    Dieser Bauplan beginnt mit der Medulla oblongata. Sie ist beiSalamandern wie beim Menschen der Ort des Ein- und Austrittsdes neunten bis zwlften Hirnnervenpaars und enthlt die mo-torischen und sensorischen Kerngebiete dieser Nerven. Dortbefinden sich einerseits diejenigen Kerngebiete, in denen dieMotorneurone sitzen, deren efferente Axone ber den Nervenzu den Muskeln ziehen, und andererseits diejenigen Zellgrup-pen, an denen die sensorischen Afferenzen von den peripherenSinneszellen bzw. -Organen enden. Der neunte Hirnnerv, derN. glossopbaryngeus, ist ein gemischter Nerv; er versorgt moto-risch Muskeln des Schlundes und zusammen mit dem N. facialisund dem N. vagus die Geschmacksknospen der Zunge und desSchlundes. Beim Salamander ist er beim Beutefang am Heraus-schleudern des Zungenapparats beteiligt, dessen Strukturen ausdem Bereich des embryonalen Mund- und Rachenraums stam-men (dem sogenannten Kiemenbogenapparat). Der zehnteHirnnerv, der N. vagus, innerviert ebenfalls Muskeln des Gau-mens und Schlundes. Bei Salamandern ist der Vagus ber denZungenvorschnellmuskel ebenfalls am Beutefang beteiligt. Be-sonders wichtig fr den Menschen ist die motorische und sen-sorische Innervation des Kehlkopfes durch diesen Nerven. Eineweitere wichtige Funktion des Vagusnerven besteht in der Bil-dung des parasympathischen Nervensystems, das zusammen mitseinem Gegenspieler, dem sympathischen Nervensystem, dieEingeweide versorgt. Der elfte Hirnnerv, 7V. accessorius, ist reinmotorisch und eigentlich ein Nerv des Rckenmarks (ein spi-naler Nerv also); er versorgt bei Salamander wie Mensch dieNackenmuskulatur. Der zwlfte Hirnnerv, der 7V. hypoglossus,ist ebenfalls rein motorisch und innerviert die Zungenmuskula-tur. Beim Salamander ist er zusammen mit dem zweiten Spinal-nerven am Rckholen der Zunge beteiligt und deshalb ein wich-tiger Nerv beim Beutefang.Die Kerne der genannten und weiter vorn liegenden Hirnnervenwerden umgeben von einer Ansammlung von Kernen undKerngebieten, der Formatio reticularis, die sich von hier bis zumvorderen Mittelhirn zieht und eine Rolle bei der Kontrolle le-benswichtiger Krperfunktionen wie Schlafen und Wachen,Blutkreislauf und Atmung sowie von Aufmerksamkeits- und

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  • Bewutsemszustnden spielt. Als seitliche Auswlbung derMedulla oblongata ist beim Menschen auf beiden Seiten dieuntere Olive sichtbar; beim Salamander ist sie uerlich unauf-fllig. Sie spielt eine Rolle im Gleichgewichtssystem und stehtber sog. Kletterfasern mit dem Kleinhirn in enger Verbindung(s. dort).Unter dem Kleinhirn, getrennt durch den vierten Ventrikel, liegtdie Brcke (Pons), die beim Salamander unauffllig ist. Sie bein-haltet die Kerne folgender Hirnnerven: N. trigeminus (fnfterHirnnerv), ein dreistiger Nerv, der sensorisch (oder sensibel)die Haut und Schleimhute der Kopf- bzw. Gesichtsregioneinschlielich der Zunge und die Zhne und motorisch die Kau-muskulatur versorgt. Dann folgt der N. abducem (sechsterHirnnerv), der einen der sechs Augenmuskeln innerviert. Daranschliet sich nach hinten der 7V. fadalis (siebter Hirnnerv) an,der motorisch Kopf- bzw. Gesichtsmuskeln und sensorisch u. a.Geschmacksknospen der Zunge versorgt. Mit ihm zusammentritt der 7V. vestibulo-cochleans, auch 7V. stato-acusticus genannt(achter Hirnnerv) ins Gehirn ein. Dieser Nerv ist rein sensorischund leitet mit einem Teil, dem 7V. cochlearis, Erregungen aus demHrorgan im Innenohr, und mit einem anderen Teil, dem 7V. ve-stibularis, Erregungen aus dem Gleichgewichtsorgan, das sichebenfalls im Innenohr befindet, zum Gehirn.In der Brcke der Sugetiere einschlielich des Menschen findensich nachgeschaltete sensorische Kerne, auf- und absteigendeFasertrakte (insbesondere die Pyra.midenba.hn, Tractus cortico-spinalis, die Salamandern wie allen Wirbeltieren auer den Su-gern fehlt) und die sog. Brckenkerne (Nuclei pontis), in denenvon der Grohirnrinde einlaufende Fasern auf ihrem Weg zumKleinhirn umgeschaltet werden. Ebenfalls in der Brcke, zumTeil am bergang zum Mittelhirn, sind wichtige Kerne der For-matio reticM.la.ris angesiedelt, nmlich der durch den TransmitterNoradrenalin gekennzeichnete LOCHS coeruleus (blauer Kern)als Teil der lateralen Formatio reticularis, die durch den Trans-mitter Serotomn charakterisierten Rapbe-Kerne (Ncl. raphesdorsalis, pontis und magnus) als Teil der medianen Formatio re-ticularis, die durch den Transmitter Dopamm gekennzeichnetenparabra.chia.len Kerne und die Kerne der medialen Formatio

    reticularis. Die Funktion dieser Kerne wird im 9. Kapitel ge-nauer besprochen werden.Das Mittelhirn (Mesencephalon) des menschlichen Gehirns istverhltnismig klein und liegt unscheinbar zwischen dem Pi-nealorgan und dem Kleinhirn (Abb. lA). Bei den meisten ande-ren Wirbeltieren ist es dagegen auffllig und kann einen be-trchtlichen Teil des Gesamtgehirns einnehmen. Es gliedert sichin einen oberen Teil, das Mittelhirndach (Tectum oder Vierh-gelplatte), und einen unteren Teil, das Tegmentum. Das Tectumenthlt wichtige visuelle und auditorische Zentren sowie Zen-tren der Krperempfindung (Somatosensorik). Beim Salaman-der wie allgemein bei den Fischen, Amphibien, Reptilien, V-geln und auch vielen Sugern ist das Tectum das wichtigstesensorische, insbesondere visuelle und auditorische Integrati-onszentrum. Bei nahezu allen Wirbeltieren zeigt es eine deut-liche Schichtenbildung, bei der sich Schichten der ein- undauslaufenden Fasern mit den Schichten der Zellkerne der Tec-tumneurone abwechseln. Das Salamandertectum (Abb. 2c) zeigtkaum eine solche Schichtung, denn diese entwickelt sich erstspt in der Gehirnontogenese. Es ist aber wahrscheinlich, dadie Vorfahren der Salamander ein normales, d. h. mehrfachgeschichtetes Tectum besaen. Interessanterweise zeigt das Tec-tum derjenigen Salamander, die unter den Amphibien ein be-sonders leistungsfhiges visuelles System besitzen, nmlich derSchleuderzungensalamander, einen besonders einfachen (d. h.sekundr vereinfachten) grobmorphologischen Aufbau. Bei Fi-schen und Vgeln findet sich ein besonders stark laminiertesTectum, whrend es bei den Sugetieren eine anatomisch nurschwer erkennbare Gliederung zeigt, die mglicherweise auchauf eine sekundre Vereinfachung zurckgeht. Bei den Suge-tieren und insbesondere bei den Primaten sind viele visuelle undauditorische Funktionen auf Vorderhirnzentren bergegangen,doch spielt das Tectum, hier Colliculus supenor genannt, den-noch eine wichtige Rolle bei visuell und auditorisch ausgelstenBlick- und Kopfbewegungen und bei gezielten Hand- und Arm-bewegungen und entsprechenden Aufmerksamkeitsleistungen.Das Tegmentum des Mittelhirns (Abb. i A) enthlt die Kerne desdritten (7V. oculomotorius) und vierten Hirnnerven (7V. trochlearis),

  • 10-

    1838 10

    11

    38 19 18

    Abb. 5: Areale des menschlichen Cortex nach K. Brodmann (1909). DieAreale tragen Nummern von i bis 47, auf die sich der Text bezieht, (a):Innenansicht einer Cortexhlfte, (b): Seitenansicht des Cortex.

    beides Augenmuskelnerven; auerdem enthlt es durchziehen-de Fasertrakte (vor allem die Pyramidenbahn) und Anteile derFormatio reticulans sowie Zentren, die fr Bewegung undHandlung wichtig sind. Der Nucleus ruber (roter Kern,Abb. ic) ist ber direkte und indirekte Verbindungen mit demCortex, Cerebellum und Rckenmark eine wichtige Schaltstati-on des extrapyramidalen motorischen Systems. Die Substantianigra (schwarze Substanz, Abb. ic) besteht aus zwei Teilen,der Pars compacta und der Pars reticulata. Die Pars compactastellt eine Ansammlung dopaminerger Neurone dar, die Fasernzum Stnatum senden.Um den das Mittelhirn durchziehenden Aqudukt (den Ver-bindungskanal zwischen drittem und viertem Ventrikel) herumliegt das zentrale Hhlengrau, eine kompakte Zellansammlung.Es hat mit Schmerzempfindung und der Verarbeitung schd-licher Reize und sonstiger stark emotionsbegleiteter Zustndezu tun und ist ein Teil des limbischen Systems, das weiter untenausfhrlich besprochen werden wird.Das Kleinhirn (Cerebellum) ist bei Salamandern sehr klein(Abb. 2a), und zwar auch bei denen, die sich sehr geschickt drei-dimensional bewegen knnen, denn seine normale ontogeneti-sche Grenzunahme fllt der genannten Verlangsamung derOntogenese aufgrund der Genomvergrerung zum Opfer, daes im Laufe der Ontogenese erst spt entsteht. Beim Menschen(Abb. ra) wie bei den meisten Sugetieren erreicht es eine be-trchtliche Gre und kann bei manchen Knochenfischen rie-sengro werden. Funktional ist das Kleinhirn der Suger unddes Menschen aus drei Teilen zusammengesetzt. Der erste Teilwird Vestibulo-Cerebellum genannt und ist mit der Steuerungdes Gleichgewichts und der Augenfolgebewegungen befat.Der zweite Teil erhlt ber das Rckenmark Eingnge von denMuskelspmdeln und heit deshalb auch Spino-Cerebellum. Derdritte Teil umfat die Kleinhirnhemisphren und bildet dengrten Teil des Kleinhirns. Er ist ber die tiefen Kleinhirnker-ne (s. u.) und die Brckenkerne (Nuclei pontis) eng mit derGrohirnrinde verbunden und heit deshalb auch Ponto-Cere-bellum; er ist an der Steuerung der feinen Willkrmotorik betei-ligt und spielt - zusammen mit den Basalkernen - eine wichtigeRolle beim Starten solcher Bewegungen.

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  • Das Kleinhirn besitzt eine stark gewundene Rinde (den Cortexcerebelli). Ihr Aufbau ist sehr regelmig: sie besteht aus dreiSchichten, einer tiefliegenden, kleinzelligen Krnerzellschicht,einer grozelligen Purkinjezellschicht und einer oberflchlichenMolekularschicht. Purkinjezellen (Abb. 3) sind die Ausgangs-neurone des Kleinhirns und wirken inhibitorisch auf die soge-nannten tiefen Kleinhirnkerne (Ncl. dentatus, Ncl. fastigii undNcl. globosus et emboliformis); die Krnerzellen dagegen sindreine Interneurone.Das Kleinhirn ist unter dem Einflu der motorischen Gro-hirnrinde (ber die Brcke) an der Feinregulierung der Muskelnbeteiligt und stellt einen wichtigen - vielleicht den wichtigsten -Ort motorischen Lernens dar. Es empfngt Erregungen vomGleichgewichtssystem, den Muskelspindeln, den Hautsinnes-rezeptoren, dem Auge und dem Ohr. Krzlich wurde entdeckt,da beim Menschen das Kleinhirn keineswegs nur ein Bewe-gungssteuerungszentrum ist, sondern auch an kognitiven Lei-stungen und Sprache erheblichen Anteil hat, allerdings ohne dadies uns bewutseinsmig zugnglich ist (Leiner et al., 1991;Gao et al., 1996).Das Kleinhirn steht beim Menschen wie bei den anderen Su-gern und Vgeln ber Umschaltstationen in der Brcke, Pons(Abb. la, c, d), im engen Kontakt mit der Grohirnrinde. EineBrcke ist bei Salamandern und anderen Amphibien, bei Fischenund Reptilien, die alle keinen sehr groen Neocortex haben, nichtvorhanden. Je grer der Cortex und die Zahl der vom Cortexabsteigenden Fasern, desto deutlicher bildet sich eine Brcke aus.Die Brcke und die durch sie ermglichten massiven Verbin-dungen zwischen Cortex und Kleinhirn sind eine der wenigendeutlichen Unterschiede, die das Gehirn der Vgel und Sugetieregegenber dem der Reptilien, Amphibien und Fische aufweist.Das Zwischenhirn (Diencephalon) ist beim Menschen vollstn-dig vom Telencephalon umgeben (Abb. ic, d). Es besteht wiebei allen Wirbeltieren aus Epithalamus, dorsalem Thalamus,ventralem Thalamus (auch Subthalamus genannt) und Hypo-thalamus.Der Epithalamus setzt sich zusammen aus der Habenula mitden Nuclei habenulae und ihrer Kommissur und der Epiphyse

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    (Abb. la). Die Habenula ist ein Schaltsystem fr olfaktorischeInformationen und Teil des limbischen Systems (s. u.). Die Epi-physe, ein kleiner zapfenfrmiger Krper, ist bei vielen Wirbel-tieren ein lichtempfindliches Organ, das an der Registrierungvon Hell-Dunkel-Wechsel und der Steuerung des Tag-Nacht-Rhythmus beteiligt ist. Beim Menschen hat sie offenbar nur frdie Entwicklung der Sexualorgane eine Bedeutung.Der dorsale Thalamus befindet sich tief im Innern des Vorder-hirns an den Seiten des dritten Ventrikels und unterhalb des Bal-kens und der beiden Grohirnventrikel (Abb. id). Er ist einKonglomerat aus funktional sehr unterschiedlichen Kernen undKerngebieten. Traditionell werden die Kerne und Kernbereichedes dorsalen Thalamus eingeteilt in spezifische oder pallio-thalamische Kerne und unspezifische oder trunco-thalami-scbe Kerne.Die pallio-thalamischen Kerne sind Umschaltstationen, die spe-zifische Eingnge von subcorticalen Zentren erhalten und ihrer-seits mit eng umgrenzten Cortexgebieten in wechselseitiger(reziproker) Verbindung stehen. Diese Verbindung ist topologi-scber, d. h. rumlich geordneter Natur; dies bedeutet, darostrale Teile des Thalamus zu vorderen Teilen der Grohirn-rinde projizieren, caudale Teile in den hinteren Cortex usw.Innerhalb der palliothalamischen Kerne trifft man weitere Un-terscheidungen in (a) die anteriore Kerngruppe, (b) die medialeKerngruppe, (c) die laterale Kerngruppe, (d) das Pulvinar,(e) den medialen Kniehcker (Corpus geniculatum mediale) und(f) den seitlichen Kniehcker (Corpus geniculatum laterale).Der Hauptkern der anterioren Kerngruppe ist der Ncl. anteriorthalami. Dieser Kern hat rcklufige Verbindungen zum Gyruscinguli der Grohirnrinde und zu den Mammillarkrpern undist eine wichtige Schaltstelle des limbischen Systems (s. dort).Alle Kerne der medialen Kerngruppe haben wechselseitige Ver-bindungen zum Frontallappen der Grohirnrinde. Sie sind rezi-prok mit dem frontalen Augenfeld (FEF = Area 8 des Cortex)und dem prfrontalen Cortex verbunden und erhalten Eingngeaus der Amygdala und dem ento- und perirhinalen Cortex.Die mediale Kerngruppe hat wie die anteriore Kerngruppe mitemotionaler Verhaltenssteuerung (z. B. aufmerksamkeitsgesteu-

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  • erten Augenbewegungen) und Verhaltensbewertung zu tun undsteht ebenfalls mit dem limbischen und dem olfaktorischen Sy-stem in enger Verbindung. Bei Patienten mit schweren Erre-gungszustnden wurde frher eine Durchtrennung der Bahnenzwischen medialer Kerngruppe und dem prfrontalen Cortex,die berchtigte Leukotomie, vorgenommen, die zu Gleichgl-tigkeit und Verflachung der Persnlichkeit fhrten.Die laterale Kerngruppe umfat Ventral-, Dorsal- und Zentral-kerne und wird im Gegensatz zu den limbischen anterioren undmedialen Kernen als somalische Kerngruppe des Thalamus an-gesehen. Hier enden nmlich in den ventralen Kernen Sinnes-empfindungsbahnen aus dem Krper.Das Puhinar (Kissen) ist die grte thalamische Kerngruppe.Das Pulvinar spielt bei der visuellen und auditorischen Auf-merksamkeitssteuerung eine wichtige Rolle, hat aber auch mitSprache und symbolischem Denken zu tun - ist also ein hoch-kogmtives thalamisches Zentrum.Der mediale Kniehcker (Corpus geniculatum mediale), der sichcaudal an das Pulvinar anschliet, ist die thalamische Umschalt-station in der Hrbahn. Er erhlt Eingnge aus dem Colliculus su-perior und inferior sowie aus den Cochleariskernen und projiziertzu den Heschlschen Querwindungen des auditorischen Cortex.Der laterale Kniehcker (Corpus geniculatum laterale, CGL) istdie visuelle Umschaltstation fr Fasern des optischen Nerven.Sein dorsaler Teil (abgekrzt dCGL) zeigt einen geschichtetenAufbau: er besteht aus zwei ventralen grozelligen (magnozel-lulren) und vier dorsalen kleinzelligen (parvozellulren)Schichten. Das dCGL ist reziprok mit der primren visuellenRinde (A 17) verbunden.Whrend von den soeben behandelten spezifischen oder pallio-thalamischen Kernen seit lngerem eine przise Verbindung mitbestimmten Teilen der Grohirnrinde bekannt ist, nahm manbisher an, da die trunco-thalamischen Kerne eher diffus zumCortex bzw. zu subcorticalen Zentren projizieren. Neuere Un-tersuchungen haben aber auch hier - wie auch in den meisten an-deren Teilen des Gehirns - eine przise Anordnung von Projek-tionsbahnen ergeben. Man sollte deshalb die Bezeichnungunspezifische Kerne vermeiden.

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    Zu den trunco-thalamischen Kernen gehren die intralami-nren Kerne sowie die Mittellinien-Kerne (von manchen Au-toren zur medialen Kerngruppe gerechnet). Intralaminre undMittellinien-Kerne sind eng mit dem Stnatum und dem Cortexv