Rundbrief 1-2008

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Best Practice Nicht für die Schule, sondern für das Leben Jahrestagung Stadtteilarbeit 2007 Rundbrief 1 / 2008 ISSN 0940 - 8665 44. Jhg. 5,00 €

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Dokumentation der Jahrestagung 2007 "Nicht für die Schule, sondern für das Leben" Bildung im Stadtteil

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Best Practice

Nicht für die Schule, sondern für das Leben

Jahrestagung Stadtteilarbeit 2007

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ISSN 0940 - 8665

44. Jhg.5,00 €

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Nicht für die Schule, sondern für das Leben

Jahrestagung Stadtteilarbeit 2007veranstaltet vom Verband für sozial-kulturelle Arbeit e.V.

vom 23. - 24. November 2007

im Bürgerhaus Am SchlaatzSchilfhof 28

14478 Potsdam

Bildung im Stadtteil

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Einführungsvortrag: Otto HerzVom Kopf auf die Füße - Plädoyer für einen Paradigmenwechsel zur Befreiung des Lernens oder vom Pisa-Schock zur Nachbarschaftsschule

Workshop: Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne „Barrierefreie Bildung“ in der Kindertagesstätte als Türöffner für lebenslanges Lernen

Workshop: Mit dem Zweiten sieht man anders Chancen des Perspektivenwechsels und der Entdeckung des Stadtteils als Lernfeld Schule im Stadtteilverbund

Workshop: Das Dilemma der parallelen Welten Wenn Lernen und Leben nicht zusammengehen. „Die Deutschstunde“, Erkenntnisse aus einer Langzeitbeobachtung

Workshop: ... Eltern sein dagegen sehr Methoden der Eltern- und Familienbildung, auch für/mit Menschen aus sog. „bildungsfernen Schichten“

Workshop: Wehe, wenn sie losgelassen ... Die Befreiung zum Lernen durch Kreativprojekte in der Kinder- und Jugendarbeit Zirkus- und andere Künste

Workshop: Schutzimpfung gegen dumpfe Parolen? Die Bedeutung von historischem Wissen und Empathie als Mittel gegen den Rechtsextremismus und die Chancen von spielerischen Zugängen

Workshop: “Learning by Doing” im Generationenverbund Die Wiederentdeckung und/oder Rekonstruktion natürlicher Lernumgebungen Von Kinderbauernhöfen und Generationengärten

Workshop: Der Widerspenstigen Annäherung Jugendhilfe und Schule - Kooperationen und Kollisionen, Erfahrungen und Perspektiven Schülerclubs, Schulsozialarbeit, „Offene Tür“, Offener und gebundener Ganztagsbetrieb

Workshop: Und bist Du nicht willig, dann mach‘ ich es selbst ... Das Stadtteilzentrum als Schulträger oder die Schule als Stadtteilzentrum Freie Schulen in Berlin / das Projekt Zukunftsschule

Abschlussbeitrag: Dr. Warnfried DettlingNachbarschaft, Stadtteilzentren, Schulen - von der Kooperation zur Integration. Wie kann eine bürgerfreundliche und vielfältige Bildungslandschaft gestaltet werden?

Teilnehmerliste

Inhaltsverzeichnis2

4 - 10

11 - 19

20 - 31

32 - 43

44 - 53

54 - 63

64 - 72

73 - 83

84 - 96

97 - 110

111-117

Einführungsvortrag

Anfang

Zweiten

Dilemma

Eltern

Zirkus

Schutzimpfung

Learning by Doing

Widerspenstigen

willig

Abschlussbeitrag

118 - 119

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Nicht für die Schule, sondern für das Leben ...│ Bildung im Stadtteil 3

Herbert SchererVorwort

Nachbarschaftshäuser und Projekte der Gemeinwesenar-beit mit ihrer besonderen Nähe zu dem, was die Menschen im Stadtteil bewegt, sind nicht selten Seismographen kommender Problemlagen. So arbeiten sie oftmals schon an praktischen Lösungen, bevor ein Thema von Publi-zistik, Wissenschaft oder Politik als wichtig erkannt und auf die Tagesordnung gesetzt wurde. So ist es auch mit dem Themenkomplex Bildung / Jugendhilfe und Schule / Lebenslanges Lernen / Bildung und Integration gewesen.

Unsere Tagung „„Nicht für die Schule, sondern für das Leben ... – Bildung im Stadtteil“ hat das in erfrischender Weise bestätigt und darüber hinaus die Akteure ermun-tert, weiter als ‚Mainstream-Pioniere’ zu wirken sowie im gegenseitigen Austausch von einander zu lernen, um die tagtägliche Arbeit vor Ort weiter zu verbessern.

Die Art und Weise der Dokumentation folgt dem glei-chen Grundgedanken, der auch das Format der Tagung bestimmt hat, nämlich vor allem einen lebendigen kol-legialen Austausch refl ektierter Praxiserfahrungen zu ermöglichen. Wir drucken deswegen keine schriftlich eingereichten Referate oder Power-Point-Präsentationen ab, sondern geben durchgängig das gesprochene Wort wieder – sowohl von den Referent/innen und Impuls-geber/innen als auch von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die sich mit Fragen, Gegenthesen und Ergänzungen gleichberechtigt in die Debatte einge-mischt haben. Unsere Leserinnen und Leser können auf diese Weise nachträglich so etwas wie ‚Live-Tagungsluft’ schnuppern.

In einer Zeit, in der wir von allen Seiten mit zunehmender Hektik von Preisausschreiben, Wettbewerben und Leuchtturmrhetorik umgeben sind, mag es befremdlich wirken, sich solchermaßen den ‚Mühen der Ebene’ zuzu-wenden, um dort die Schätze zu heben, die in der guten

Alltagsarbeit der Nachbarschaftshäuser und Stadtteil-zentren zu fi nden sind. Wir scheuen uns jedoch nicht, die entsprechenden Anregungen in der ‚best practice’-Reihe zu veröffentlichen, weil sie vielleicht mehr zur Qualitäts-entwicklung (= Praxisverbesserung) in den Einrichtungen beitragen können als das eine oder andere abgehobene spezialgeförderte Vorzeigeprojekt!

Wir schließen uns damit einer Weisheit an, die Gott-fried August Bürger schon im 18. Jahrhundert in einem Gedicht so formuliert hat:

Die Schatzgräber Ein Winzer, der am Tode lag, rief seine Kinder an und sprach: „In unserm Weinberg liegt ein Schatz, grabt nur danach!“- „An welchem Platz?“ schrie alles laut den Vater an. „Grabt nur!“ O weh! da starb der Mann.

Kaum war der Alte beigeschafft, so grub man nach aus Leibeskraft. Mit Hacke, Karst und Sparten ward der Weinberg um und um geschart. Da war kein Kloß, der ruhig blieb; man warf die Erde gar durchs Sieb und zog die Harken kreuz und quer nach jedem Steinchen hin und her Allein, da ward kein Schatz verspürt, und jeder hielt sich angeführt.

Doch kaum erschien das nächste Jahr, so nahm man mit Erstaunen war, daß jede Rebe dreifach trug. Da wurden erst die Söhne klug und gruben nun jahrein, jahraus des Schatzes immer mehr heraus.

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Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir. Es gibt historische Beschreibungen, dass dieser Satz zwar häufi g an Schulen steht, dass das aber falsch ist. Am Anfang steht nämlich eher ein Vorwurf: Hier wird nicht für das Leben, sondern für die Schule gelernt.

Im Titel dieser Tagung kommt der Begriff ‚Paradigmen-wechsel’ vor. Damit ihr ein Gefühl dafür bekommt, was ein Paradigmenwechsel ist, frage ich einmal: Kann man im Gefängnis die Freiheit lernen? Kann ich in kahlen Räu-men die Fülle des Lebens ertasten? Kann ich in einer Moschee das Christentum kennen lernen? Ihr könnt ein Gesellschaftsspiel daraus machen oder was euch sonst noch so einfällt. So ähnlich mutet mich das immer an, wenn die Frage heißt: Schule – das Leben lernen.

Was ist ein Paradigmenwechsel? Denn darum soll es ja gehen. Die längste Zeit haben die Menschen geglaubt, die Erde ist eine Scheibe. Irgendwann kam jemand und sagte: Ich glaube, wenn ich da richtig gucke, beugt sich da hinten irgend etwas. Das ist aber bei einer Scheibe nicht der Fall. Also hat sich irgendwann die Auffassung durch-gesetzt, dass die Erde eher eine Kugel als eine Scheibe ist. Dies war ein Paradigmenwechsel, eine grundsätzlich neue Sicht auf die Wirklichkeit. 1500 Jahre lang haben die Menschen geglaubt, abgeleitet von der Schöpfungsge-schichte, jedenfalls in unserem Kulturkreis, dass die Erde der Mittelpunkt der Welt sei. Das war das sogenannte geozentrische Weltbild. Dann kam Herr Kopernikus und sagte: Das könnte anders sein. Es könnte sein, dass die Sonne im Mittelpunkt der Welt steht. Und so hat sich das geozentrische Weltbild verändert in das heliozentrische Weltbild. Es trat die berühmte kopernikanische Wende

ein. Dies ist ein Paradigmenwechsel. Dass das fast das Leben von Kopernikus gekostet hätte, ist wichtig zu wis-sen, wenn man sich mit Paradigmenwechsel beschäftigt. Das ist ein lebensgefährliches Unternehmen.

In der deutschen Tradition seit der Aufklärung, seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, hat sich eine Auffassung ver-breitet, dass der Mensch ein vernunftgesteuertes Wesen ist. Bis im Jahre 1900 in Wien ein Buch erschien, das hieß ‚Die Traumdeutung’, der Verfasser hieß Sigmund Freud. Und der hat gesagt: Ich glaube, ihr habt euch getäuscht. Und so ist dann das Bild entstanden, das dann Herr Mas-low in seiner berühmten ‚Bedürfnispyramide’ weiter ent-wickelt hat, das Bild nämlich, dass der Mensch eher wie ein Eisberg ist, von dem sechs Siebtel nicht zu sehen sind, aber diese sechs Siebtel überwiegend den Menschen steuern. Und das sind Ängste, Libido, die Macht, Gier. Und nur ein Siebtel, wie beim berühmten Eisberg, ist vielleicht die Vernunft. Dies ist ein Paradigmenwechsel gewesen, eine grundsätzlich neue Sicht auf den Menschen.

Und im Blick auf Lernen und Schule habt ihr mich einge-laden, über Paradigmenwechsel zu reden. Bevor ich auf die 20 Punkte komme, die ich mir in dem Zusammenhang notiert habe, will ich noch von drei anderen Paradigmen-wechseln sprechen. Nach der größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts, nach dem zweiten Weltkrieg, in dem mehr Menschen durch Menschen umgebracht worden sind als wir wissen, dass Menschen umgekommen sind durch Naturkatastrophen, seit wir darüber Aufzeichnungen haben (weshalb der Mensch die gefährlichste Waffe ist, die es auf der Erde gibt), nach 1945 also haben sich die Menschen zusammen gefunden und haben gesagt: Wir brauchen einen Ort in der Welt, wo die Menschen mitei-nander leben, denn solange sie das tun, schlagen sie sich nicht tot. Und so ist in der Folge 1945 die UN entstan-den, also die Vereinten Nationen. Das ist der Ort, wo alle Nationen dieser Erde einen Sitz und eine Stimme haben. Und, weil eben im zweiten Weltkrieg wesentlich durch die Deutschen Menschen systematisch ausgerottet wurden, weil sie einer bestimmten Ethnie angehörten, hat man die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschie-det, mit der Aussage: Alle Menschen sind ungleichartig.6,2 Milliarden gibt es jetzt auf der Welt, aber es gibt nicht einen einzigen Menschen, der so ist wie ein anderer –also, alle Menschen sind ungleichartig, aber alle Men-schen sind gleichwertig. Dies ist die Kernaussage der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.

Vom Kopf auf die Füße - Plädoyer für einen Paradigmenwechsel zur Befreiung des Lernens

oder vom Pisa-Schock zur Nachbarschaftsschule

Einführungsvortrag Otto Herz

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Nicht für die Schule, sondern für das Leben ...│ Bildung im Stadtteil 5

Das sage ich, weil Vielen nicht bewusst ist, dass die Kinder in diesem Zusammenhang nicht mitgedacht worden sind. Denn die längste Zeit des Denkens in der Geschichte des Menschen galten Kinder nicht als Menschen, sondern sie sollten erst Menschen werden. Und es ist das Verdienst von Janusz Korczak, also dem polnischen Pädagogen, der mit seinen jüdischen Kindern in das Konzentrationslager von Treblinka gegangen ist, obwohl er hätte frei werden können, wenn er sie alleine gelassen hätte, ihm ist der Satz zu verdanken: ‚Kinder werden nicht erst Menschen, sie sind schon Menschen’. Weil aber die längste Zeit in der Geschichte des Menschen Kinder als unfertig angese-hen worden sind, hat sich eine Auffassung verbreitet, hat sich ein Berufsstand entwickelt, der meint, die unfertigen Kinder berufsmäßig fertig machen zu sollen. Dazu eine andere Auffassung zu entwickeln, ist ein Paradigmen-wechsel. Es hat 40 Jahre gedauert nach der Verabschie-dung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, bis die Weltstaatengemeinschaft sich 1989 darauf geeinigt hat, dass Kinder schon Menschen sind, sie werden nicht erst welche. Und dies ist in einem Dokument niedergelegt, nämlich in der Deklaration über die Rechte der Kinder: 40 Jahre nach der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wird ein völlig neuer Blick auf die Kin-der geworfen, im Weltmaßstab. Und das passt gut in diese Tage, weil am 20. November 1989 diese Deklaration über die Rechte der Kinder verabschiedet worden ist, also vor drei Tagen ist diese Deklaration volljährig geworden.

Und ich will noch einen Paradigmenwechsel ansprechen. Die Vorstellung war nach 1945, also nach der größten Zerstörung, die der Mensch je angerichtet hat, dass Wachstum der Schlüssel ist, um aus dieser Katastro-phen-Situation herauszukommen und mehr Menschen mehr Wohlstand zukommen zu lassen. Das Denken in der Kategorie von Wachstum war das mentale Muster, mit dem man die gesellschaftlichen Probleme zu bewältigen glaubte. Bis eines Tages Frau und Herr Meadows kamen und im Auftrag des Club of Rome einen Weltbestseller platziert haben unter dem Titel ‚Grenzen des Wachs-tums’. Sie haben Daten zusammen getragen in einem Ausmaß und in einer Genauigkeit, die man bis dahin nicht hatte. Und sie konnten zeigen: Wenn die Weltbevölkerung zunimmt – gegenwärtig 6,2 Milliarden, in 20 Jahren 9 Mil-liarden – und die Menschen immer mehr nicht regene-rative Energien verbrauchen, was sie tun, und in großem Maße Umweltverschmutzung vor Beziehungen kommt, dann ist Wachstum keine Lösung, sondern der Beginn der

nächsten Katastrophe. Und deswegen ist dies ein Para-digmenwechsel: weg vom Wachstumsdenken, hin zur Suche nach Alternativen zum Wachstum, das in die Kata-strophe führt. Fünf Jahre später hat sich der Club of Rome mit der Frage beschäftigt: Was hat sich dadurch geändert, dass wir der Welt in einem Bestseller diese Informationen gebracht haben? Die Bilanz war sehr ernüchternd. Psy-chologen sagen: Wissen und Handeln korrelieren nicht höher als der Zufall.

Die Vermehrung von Wissen bedeutet nicht automatisch eine Verhaltensänderung. Das können Sie leicht überprü-fen. Es gibt Schachteln, da steht drauf: Rauchen ist töd-lich. Das hat nicht zur Reduktion des Zigarettenkonsums geführt. Aber die Firmen, die so kleine Silberschachteln herstellen, in die man die Schachteln mit der Aufschrift ‚Rauchen ist tödlich’ reinstecken kann, die hat große Geschäfte gemacht. So geht der Mensch weithin mit Erkenntnissen um. Er sucht sich eine neue Regel, damit er beim alten Verhalten bleiben kann.

Deswegen hat der Club of Rome, der diesen Weltbest-seller platziert hat, einen neuen Auftrag vergeben, näm-lich sich mit der Zukunft des Lernens zu beschäftigen. Daraus ist auch ein Buch entstanden, das kennt aber fast niemand. Das Buch heißt: ‚Das menschliche Dilemma – Die Zukunft des Lernens’. Und dort wird analysiert, dass die längste Zeit in der Geschichte der Mensch-heit die Menschen nach dem Prin-zip des Schock-Lernens gelernt haben. Schock-Lernen meint: Das Kind muss im Brunnen liegen, dann fangen die Leute an nachzu-denken, ob da vielleicht was falsch gelaufen ist. Kevin muss im Kühl-schrank gefunden werden oder Jessica muss verhungern, dann fängt diese Gesellschaft an darü-ber nachzudenken, dass vielleicht etwas faul im Staate ist, zumin-dest im Blick auf viele Kinder und Jugendliche. In diesem Buch ‚Das menschliche Dilemma’ wird auch ein Paradig-menwechsel empfohlen, und zwar dass wir es schaffen, vom Schock-Lernen wegzukommen und – so heißt dort die Alternative – zu einem antizipatorischen Lernen oder zu einem innovativen Lernen zu kommen. Damit ist in

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Abgrenzung zum Schock-Lernen gemeint: Wir sollten uns eine Vorstellung von einer wünschenswerten Zukunft machen und den Blick auf diese Kompetenzen erwerben, damit wir diese wünschenswerte Zukunft herstellen kön-nen. Dies wäre das Gegenteil vom Schock-Lernen und insoweit ein Paradigmenwechsel. Ich hoffe, Sie haben ein Gefühl davon, was mit Paradig-menwechsel gemeint ist. Also nicht eine kosmetische Beschwichtigung. Nicht eine kleine Veränderung. Son-dern ein Paradigmenwechsel ist ein grundsätzlich ande-rer Blick auf die Welt. Die Punkte, die ich mir dazu notiert habe, haben nicht unbedingt eine stringente innere Ord-nung. Ich will von jeweils einem Punkt aus einen Blick auf das Lernen werfen, mit paradigmatischer Veränderung.

(1) Die radikalste Aussage – das habe ich vor etwa 10 Jah-ren zum ersten Mal vorgetragen – heißt: Im Jahr 2020 wird es in Deutschland kein allgemein verbindliches Schulwe-sen mehr geben. Die meisten von Ihnen werden das noch erleben, bei mir ist das nicht ganz sicher. Das ist ein ziem-licher Paradigmenwechsel. In einer Zeit, wo die Verschu-lungstendenzen außerordentlich zunehmen, wo die Halb-tagsschule durch die Ganztagsschule abgelöst werden soll, wo zu Recht UNICEF, also die Welt-Kinderhilfs-Organi-sation, aus Anlass der Volljährigkeit der Deklaration über die Rechte der Kinder, mitgeteilt hat, wie viele Millionen von Kindern noch immer keine Schule besuchen, obwohl in der Deklaration verfügt ist, dass alle Kinder ein Recht auf Schulbesuch haben – in einer solchen Zeit die Aus-sage zu machen, dass es 2020 in Deutschland kein all-gemeines öffentliches Schulsystem mehr geben wird, das ist ein ziemlicher Paradigmenwechsel. Und wie komme ich auf den Gedanken? Die Zahl der Familien, die Kin-der haben, ist kleiner geworden, als wir gerne vermuten möchten. In der Regel fallen politische Entscheidungen nach Mehrheiten. Wenn dieser Trend anhält, könnte es sein, dass diejenigen die Mehrheit haben und dann ent-sprechende Entscheidungen treffen werden, die sagen: Wir sind nicht mehr bereit in Einrichtungen zu investieren, über die im Prinzip alle unzufrieden sind. Die Kinder, die Eltern, die Lehrer am meisten und auch die ‚Abnehmer’.

Einen zweiten Punkt will ich nennen. In 10 Jahren wird in Nordrhein-Westfahlen die Mehrheit der Kinder einen Migrationshintergrund haben. Man kann sich heute schon fragen, wer dann wen integrieren soll. Wenn Migranten

weiterhin die Erfahrung machen, dass sie im deutschen Schulsystem systematisch die Verlierer sind, nicht, weil sie blöder sind, sondern weil wir es nicht schaffen, Bedin-gungen herzustellen, die ihnen die Möglichkeit geben, ihre Qualifi kationen erfolgreich zu zeigen, dann wage ich die Voraussage, in Kenntnis von multikulturellen Gesell-schaften, die älter sind als die bundesrepublikanische, dass diese Gruppen nicht mehr bereit sein werden, in eine allgemeine öffentliche Schule zu gehen.

Es gibt dafür eine Vorgeschichte, an der man das studie-ren kann. In den 70er Jahren hat der Supreme Court in den USA das ‚Bussing’ verfügt. Die Menschen haben in bestimmten Bevölkerungsanteilen in bestimmten Stadt-teilen gewohnt. Während andere dort nicht wohnten. Und deswegen waren die Schwarzen ungleich verteilt in den Schulen. Dann hat der Supreme Court gesagt: Jetzt wollen wir das ändern. Und nach einem bestimmten Schlüssel wurden die Schwarzen auf alle Schulen verteilt. Da haben die Schwarzen gesagt: Diese Integration wollen wir nicht. Da werden wir wieder, und noch mehr, die Verlierer sein. Wir werden aufgeteilt, und damit wird die Macht unserer Gemeinsamschaft gebrochen. Und deswegen hieß deren Antwort: Wir wollen Black Power und keine kosmetische Integration zu unseren Lasten. Ich empfehle, solche Ent-wicklungen zu studieren, rechtzeitig, auf dem ethnischen Hintergrund der bundesrepublikanischen Geschichte. Und ich wiederhole meine Voraussage: Wenn die Zahl derer, die sich systematisch als Verlierer erleben, weiter ansteigt, dann werden wir andere Lösungen fi nden müs-sen als das, was wir als Integrationsgeschrei manchmal von uns geben.

(2) Mein nächstes Beispiel nimmt Bezug auf den Deut-schen Schulpreis, der vor einem Jahr zum ersten Mal ver-geben worden ist, ein Preis, den die Bosch-Stiftung und das ZDF gemeinsam ausgeschrieben haben. Im letzten Jahr hat diesen Preis die Grundschule Kleine-Kielstraße im Dortmunder Norden bekommen. Der Dortmunder Norden gilt als das interkulturellste Gebiet in Deutschland, wäh-rend Kreuzberg und Neukölln die drittgrößte islamische Gemeinde nach Ankara und Istanbul sind. Aber in Berlin ist das ist eine Monokultur, der Dortmunder Norden ist die heterogenste Kultur in Deutschland. Wofür hat die dort gelegene Grundschule den Deutschen Schulpreis bekom-men? In dieser Schule gab es nur Probleme. Und verhee-

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rende Leistungen. Dann haben sich ein paar Personen überlegt, ob sie was machen können. Und sie sind auf fol-genden Sachverhalt gestoßen: Die Kinder dieser Schule, über 80% mit Migrationshintergrund, hatten Mütter, die das Haus eigenständig nicht verlassen durften. Und die deswegen sozial isoliert in einer nicht besonders attrak-tiven Wohnung gelebt haben. Damit sie sich aber nicht völlig isolieren, haben sie alle eine Satellitenschüssel vor dem Haus, um darüber mit ihrer Herkunftskultur kommu-nizieren zu können. Wenn die Kinder aus der Schule nach Hause kamen, trafen sie auf eine Atmosphäre der Ableh-nung und der Aggressivität, weil das ja eine feindliche Ansage war, die die Kinder aus der Schule in die Isolati-onshaft der Mütter mitbrachten. Und dann darf man sich nicht wundern, dass das nicht förderlich für das Lernen ist, sondern auch in hohem Maße soziale Probleme aus-löst. Ich glaube, es war ein Zufall, dass der Schule eine Entdeckung gelungen ist, nämlich dass die Schule der ein-zige Ort ist, wo die Mütter eigenständig hingehen dürfen. Und dann ist dort der Plan und die Realität entstanden, dass diese Schule ein Jahr vor den Kindern die Mütter ein-schult. – Paradigmenwechsel! Die Einschulung der Mütter sieht so aus, dass es in der Schule ein Lern-Bistro gibt, ein Eltern-Café, wo die Frauen sich treffen. Und dieses Lern-Bistro hat die Funktion des Brunnens in Anatolien, wo die Frauen, die Wasser geholt haben, ihren Frauen-Treff hat-ten, wo sie sich untereinander austauschen konnten. Und weil es im Dortmunder Norden so wenig Brunnen gibt, weil das Wasser aus der Wand kommt, hatten jetzt diese Frauen auch einen Ort, wo sie sich aus ihrer häuslichen Isolation befreien konnten. Und sie haben, mit Unter-stützung der Volkshochschule, Alphabetisierungskurse bekommen, um Deutsch zu lernen, in einem erweiterten Sinne, nicht nur Grammatik, sondern Verständnis für die hiesige Kultur. Mit dem Effekt, dass wenn die Kinder ein Jahr später kamen, sie von den Müttern freudig begrüßt wurden. Und die Mütter haben ihnen gezeigt, was sie in einem Jahr schon alles gelernt haben. Und die Begeiste-rung der Mütter hat sich auf die Kinder übertragen. Und sprunghaft sind die Leistungen der Kinder angestiegen, weil sie sozial Rückhalt und Unterstützung hatten. Und nach diesem Jahr haben die Mütter ihr Lern-Bistro nicht aufgegeben, sie sind da weiter hingegangen. Und in der Pause treffen sich die Mütter mit den Kindern im Lern-Bistro und zeigen sich gegenseitig, was sie jeweils gelernt haben. Und so ist ein soziokulturelles Zentrum im Stadtteil entstanden, was für die individuelle Lern- und Leistungs-

entwicklung der Kinder und der Erwachsenen und für die soziokulturelle Entwicklung des ganzen Stadtteils außer-ordentlich erfolgreiche Wirkung hatte. Für diese Art einer sozialen Erfi ndung hat die Grundschule Kleine-Kiel-Straße den Deutschen Schulpreis bekommen, weil sie einen Paradigmenwechsel vorgenommen hat. Erst werden die Mütter eingeschult, dann kommen die Kinder; und dann arbeiten sie zusammen. Und so entsteht Qualität.

(3) Punkt Drei: Insgesamt haben wir im schulischen Kon-text ein Anbieter-System. Ein Paradigmenwechsel wäre es, wenn wir ein Nachfrager-System entwickeln. Anbieter-System heißt: Es gibt einen Lehrplan, mit dem rechtfer-tigen die Lehrer fast alles, was sie an Sinnvollem nicht tun. Es gibt also einen Lehrplan, und der soll in die Köpfe der Menschen, ob sie wollen oder nicht. Der Paradigmen-wechsel vom Anbieter-System zum Nachfrager-System wäre, dass an die Stelle des Lehrplans ein Lernplan tritt. Ich entwickle für mich – dabei können mir andere gerne helfen – aber ich entwickle für mich einen Plan, welche Kompetenzen ich erwerben will. Und dann suche ich mir die Leute, mit deren Hilfe und Unterstützung ich das ler-nen kann, was ich will. Und ich befreie mich von denen, die meinen, mir etwas beibringen zu müssen, relativ unabhängig davon, ob ich das will oder nicht. Dies ist ein Paradigmenwechsel. Vom verordneten Lehrplan zum indi-viduell gestalteten Lernplan.

Weil viele von Ihnen in der Erwachsenenbildung tätig sind, ist Ihnen vielleicht die Konferenz-Methode von Harrison Owen ‚Open Space’ vertraut. Für die, die das nicht wissen: Es gibt einen berühmten Menschen, der hat viele normale Konferenzen besucht. Da gab es immer einen Eröffnungs-redner. In der Pause, beim Kaffee haben dann die Men-schen über vieles geredet, selten über das, was der Eröff-nungsredner gesagt hat. Sie haben ihre freie Zeit dazu genutzt, die Fragen untereinander auszutauschen, die sie wirklich bewegen. Und deswegen hat Owen ‚Open Space’ als neue Konferenz-Methode erfunden. Er sagte: Ich orga-nisiere jetzt Konferenzen, in denen es nur Pausen gibt. Dann können die Menschen die ganze Zeit den Dingen nachgehen, die sie wirklich interessieren, ich halte sie von der Befriedigung ihrer individuellen Interessen nicht mehr ab. Siemens, BMW, Telecom, die großen Firmen machen heute relativ häufi g solche Konferenzen. Und nicht mehr Belehrungsaktionen durch eingefl ogene Experten, über

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deren Aussagen man sich kaum noch unterhält, wenn die Pause beginnt. Ich sage dies, weil es ja sein könnte, - Paradigmenwechsel - , dass der Lernort, den wir Schule nennen, sich in Richtung auf ‚Open Space’ verändert. Da treffen sich die Menschen – da gibt es natürlich Metho-den – und gehen ihren Lernplänen nach.

Ganz anders als heute, wo in 95% der Schulen der Sekun-darstufe I und II das Leben so aussieht: Von 8 bis 9 Uhr beschäftigt man sich mit Nebensätzen, von 9 bis 10 Uhr mit Nebenfl üssen, von 10 bis 11 soll man seine Gliedma-ßen um so ein einfallsloses Gerät wie eine Reckstange herum wickeln, von 11 bis 12 ein Verhältnis zum lieben Gott aufbauen. Und die Stunde von 12 bis 13 Uhr fällt aus wegen hohen Krankheitsstandes im Lehrerkollegium. So ist Schule in 95% der Sekundarstufe I und II, Sie mer-ken, ich nehme hier die Grundschule aus, da ist es etwas anders. Dass dieses organisierte Lernen kein Erfolgsmo-dell ist, davon bin ich schon ziemlich lange überzeugt. Es ist dies eine Organisation zur systematischen Fernsteu-erung von Lernen mit Konzentration und Ausdauer. Und deswegen ist das ein deutlicher Paradigmenwechsel: vom Lehrplan zum Lernplan, aber gar nicht so ganz weit aus der Welt, weil eben in anderen Bereichen dieser Paradig-menwechsel schon realisiert wurde.

Es könnte aber auch sein, dass eine Schule sagt, ein Tag in der Woche sind die Schülerinnen und Schüler, beson-ders in diesen interessanten Jahren, wo die Kinder sagen, dass die Eltern anfangen, so schwierig zu werden, also in der Pubertät – es könnte doch sein, dass eine Schule

sagt: Einen Tag in der Woche hal-ten sich Schülerinnen und Schüler irgendwo im Gemeinwesen auf, wo sie fi nden, dass sie da etwas Sinn-volles machen und lernen können. Und sollte Ihnen das zu kühn sein, dann darf ich Ihnen sagen, dass das in Hamburg schon realisiert ist. Und mehrere Schulen, die vor etwa 5 Jahren damit begonnen haben, sind inzwischen dazu übergegan-gen, dass die Kinder sogar zwei Tage nicht in der Schule sind, sondern irgendwo im Gemeinwesen mitar-beiten und mitlernen. Und wenn Sie einen Säulenheiligen der deutschen

Pädagogik als Begründer für ein solches Handeln haben wollen, dann kaufen Sie sich vom Hansa-Verlag das Buch von Hartmut von Hentig ‚Über die Nützlichkeit, nützliche Erfahrungen zu machen’. Und dass ich davon hier spre-che, ist nicht verwunderlich, weil ich 10 Jahre sein Assi-stent war. Dort können Sie das alles nachlesen. Und als unser Bundespräsident den ersten Schulpreis vergeben hat an die Kleine-Kiel-Straße, war dieses Buch das ein-zige, das er zitiert hat.

(4) Vierter Punkt: Sie wissen, man kann so ein Spiel machen: Denken Sie sich mal ein Werkzeug. Bei relativ vielen von Ihnen dürfte jetzt in der Vorstellung ein Ham-mer aufgetaucht sein. Dieses Spiel kann man auch so spielen: Denken Sie mal an Schule. Bei vielen tauchen relativ schnell Noten auf. Schule und Noten scheinen fast identisch zu sein. Und die meisten Noten werden von denen gegeben, die den anderen sagen, was sie lernen sollen. Und dann hat man manchmal Glück und manch-mal etwas weniger. Und wenn man mehr Glück hat, wird man besser, und wenn man weniger Glück hat, wird man systematisch schlechter. Ein Paradigmenwechsel wäre es, dass nicht mehr die Lehrenden den Lernenden die Noten geben, sondern dass die Lernenden sagen, was sie gelernt haben. Auch da will ich Sie ein bisschen trösten, dass das so verrückt gar nicht ist. Jedenfalls eine meiner Lieblingsschulen, um 1940 gegründet und im Berner Oberland gelegen, hat seit 1940 die Berichte der Schüle-rinnen und Schüler, was sie in den Kursen gelernt haben. Ich habe mich da mal ein paar Tage zurückgezogen und sie gelesen, und es war eine höchst vergnügliche Lektüre. Da schreiben die Schüler z.B.: Das war alles sehr span-nend mit dem Vulkan, aber dieser Sachverhalt wollte und wollte nicht in meinen Kopf hinein. Was ich da sage, wird heute unter dem Stichwort ‚Lerntagebuch’ diskutiert. Die Lernenden führen ein Tagebuch über das, was sie wirk-lich lernen. Und es sind nicht mehr die Lehrenden, die Personen etikettieren, wie gut oder wie schlecht sie das Vorgesagte nachsprechen können. Dies ist ein Paradig-menwechsel.

(5) Fünfter Punkt: Durch Freunde verführt, fuhr ich nach Interlaken in der Schweiz. Von dort den Berg hoch, dann landet man auf dem Beatenberg. Dort habe ich etwas kennen gelernt, was ich irgendwie als Phantasie schon

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in mir hatte, aber seit ich es gesehen habe, kann ich es präziser beschreiben. Da gibt es einen Saal, der deutlich größer ist als ein normales Klassenzimmer, und da sit-zen die Schülerinnen und Schüler, alle in der Sekundar-stufe I. Und jeder Jugendliche hat seinen individuellen Schreibtisch. Und wenn sie was lernen wollen, gehen sie da hin und setzen sich an ihren Schreibtisch. So wie ich das auch mache. Und an jedem Schreibtisch gibt es so einen Kasten, in dem sind sogenannte Kompetenzraster. Da steht drin, was wünschenswert ist, dass das die Men-schen können sollten. Und der oder diejenige, die an ihren Schreibtisch geht, guckt sich das durch und sagt: Ah, das passt heute zu mir, und das ist eine sinnvolle Fortsetzung von dem, was ich bisher gemacht habe. Oder sie sagen: Gestern Abend habe ich im Fernsehen was gesehen, das hat mich auf eine Frage gebracht. Gibt es dazu auch ein Kompetenzangebot? Und also lernen sie auf individuelle, selbst gewählte Weise, ent-lang an Kompetenzrastern. Und die Kompetenzraster sind nicht so formuliert, dass da steht: du solltest lernen ..., sondern alle Kompetenzraster sind so formuliert: ich kann schon ... Und wenn jemand sich mit einer Sache beschäftigt hat und dann merkt, das kann ich jetzt, hakt er das ab. Und ab und zu treffen sich die Einzelnen zu einem Kreis, zu einer Vollversammlung in diesem Raum. Und jeder erzählt den Anderen, was er oder sie an ganz Neuem dazu gelernt hat. Das ist ein Paradigmenwech-sel gegenüber der Methode: Es kommt jemand rein und sagt: schlagt auf, gestern Seite 33, heute Seite 34.

(6) Sechster Punkt: Warum müssen denn alle gleiche Stühle haben? Warum bringt nicht bei der nächsten Ein-schulung jedes Kind seinen eigenen Stuhl mit, auf dem es gerne sitzt? Das würde die Sitzfreundlichkeit in der Schule erhöhen.

(7) Siebter Punkt: Eine Schule nimmt sich vor, dafür zu sor-gen, dass alle Schülerinnen und Schüler innerhalb ihrer Pfl ichtschulzeit ein Jahr in einer anderen Kultur, in einem fremden Land verbringen können. Und die Schule nimmt sich vor, dass sie durch vielfältige Aktivitäten Geld erarbei-tet, damit niemand sagen kann: Aus Geldgründen kann ich mir das nicht leisten. Mit dem Deutschen Sparkassen-Giroverband habe ich verabredet, dass der bereit ist, den Betrag zu verdoppeln, den eine Klasse sich erarbeitet.

(8) Achter Punkt: In der Schule ist die Vielfalt der Welt meistens schon vertreten. Die Kollegien sind meistens noch rein ‚arisch’. (Ich habe meinen zweiten Lebensmit-telpunkt in Leipzig, geschätzter Rechtsradikalismus, offen oder verdeckt, an die 30%). Als ich entdeckt hatte, dass Addis Abeba die jüngste Partnerstadt von Leipzig ist, habe ich dem zuständigen Bürgermeister einen Vorschlag gemacht. Nämlich dass die Stadt 50 Personen aus Addis Abeba einlädt und Einrichtungen für zwei bis fünf Gäste für ein halbes Jahr zur Verfügung stellt. Weil ich glaube, dass man die Welt nur verstehen wird, wenn die Vielfalt der Welt durch Kulturen vertreten wird, nicht nur bei den Kindern.

(9) Neunter Punkt: Nicht mehr die Lehrer werden den Schülern vorgesetzt, sondern die Schüler wählen sich ihre Lehrer, weil wir alle wissen: Von jemandem, den ich haben will, bin ich bereit, etwas zu übernehmen. Und wenn ich jemanden ablehne, dann kann der sich ziemlich anstren-gen und kommt doch nicht an.

(10) Der nächste Punkt ist, dass ich Ihnen zwei Lernmo-delle vorführe. Für das eine haben die Österreicher das richtige Wort, da heißt nämlich der Lehrstuhl in der Uni-versität ‚Lehrkanzel’. Die meisten Lernorganisationen sind vertikal orientiert, von oben nach unten. Und ein Paradig-menwechsel wäre, wenn sich alle in einen Kreis setzen, und jeder sagt jedem, was man von ihm haben kann. Also, Lernen auf gleicher Augenhöhe, hierarchisches Lernen wird durch dialogisches Lernen abgelöst.

(11) Nächster Punkt: Bisher war es so: Der Lehrplan wird vom Ministerium verabschiedet. Und dann wird er, nach dem eben gezeigten Modell, von oben nach unten über die Leute ergossen, und man stellt Leute ein, die das Amt haben, das den Anderen beizubringen. Deswegen sind Leh-rer in Deutschland Beamte, weil sie ein Amt haben. Das sind keine Lernhelfer, sondern sie haben hoheitliche Auf-gaben. Die moderne Schule dagegen ist eine Verantwor-tungsgemeinschaft der Subjekte des Lernens, der Kinder und Jugendlichen, ihrer Eltern, ihrer Pädagogen in multipro-fessionellen Teams und der Partner im Gemeinwesen. Sie übernehmen gemeinsam für alle die Verantwortung dafür, was wichtig ist. Und zu welchen Effekten positiver Art das

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führen kann, habe ich Ihnen vielleicht nahe gebracht durch die Erzählung von der Grundschule Kleine-Kiel-Straße. Die radikalste Veränderung in der Schule in Deutschland wäre: Wir teilen die Kinder nach der Grund-schule nicht mehr in ungleichwertige Schulen auf, son-dern alle Kinder gehen bis zum Ende der Sekundarstufe I, bis zum 16. Lebensjahr, in eine gemeinsame Schule. So ist das auf der Welt selbstverständlich, mit Ausnahme von Deutschland und einigen Kantonen in der Schweiz und in Österreich. Dort wird es gerade umgestellt.

(12) Nächster Punkt: Ziemlich viele Paradigmen würden sich verändern, wenn klar wäre, dass die Schule den Auftrag hat, das Gelingen zu organisieren. Und nicht das Scheitern zu dokumentieren. Und deswegen habe ich einen Vorschlag gemacht, dass schulische Unterstüt-zungsbüros eingerichtet werden. In der Schule gibt es eine Gruppe – ich denke an Schülerinnen und Schüler – an die kann ich etwas geben, was ich geschrieben habe, ob das eine Kleinanzeige für die Zeitung ist, ein Liebesbrief oder der Entwurf für ein Referat, ist egal. Und die schauen sich das an und geben es mir dann zurück, mit der Mitteilung: wenn du das und das machst, wird es wahrscheinlich noch interessanter, noch besser. Und unterstützt durch dieses Angebot mache ich das. Und die Arbeit wird dann bewertet, wenn sie gut ist. Und so lange geht das hin und her, mit dem Effekt, dass es nur noch gute Arbeiten gibt. Ich habe bisher keinen Grund auf der Welt fi nden kön-nen, warum man Fallen baut, damit Leute total schlechte Ergebnisse haben. Das hat mir noch nie eingeleuchtet. Also, alles nimmt seinen Ausgangspunkt, und Sie überle-gen sich, was Ihnen dazu einfällt: Wenn man sagt: Mein Wollen ist, das Gelingen für alle zu organisieren und nicht das Misslingen zu dokumentieren.

(13) Ein anderer Punkt: Normalerweise ist die Schule gebaut, und die Kinder kommen rein. In Gelsenkirchen, das ist im Ruhrpott neben Schalke, gibt es die Evange-lische Gesamtschule Gelsenkirchen. Die hat der Architekt mit den Kindern gebaut. Und jede Klasse hat sich ihr eige-nes Klassenzimmer gebaut. Da können Sie hinfahren und sich das anschauen, es gibt auch einen schönen Bildband darüber, außerordentlich eindrucksvoll.

(14) Statt dass die nächste Veränderungsabsicht aus den Hauptstädten der Länder mit einem fl ächendeckenden Erlass allen verordnet wird, könnte es sich dieses Land vielleicht auch leisten zu sagen: Mindestens eine Einrich-tung in jedem Bundesland kann daran gehen, Lernen mal ganz anders zu organisieren. Und dann gucken wir uns mal an, wie die Effekte sind. So würden wir Innovationserfah-rungen sammeln und mit der Zeit klüger werden. Anders heute: Wenn Erlasse über Einrichtungen geschüttet werden, dann haben die meisten pädagogischen Profi s gelernt, wie man die unberücksichtigt lässt.

(15) Bisher war alles, was Erziehung hieß (das Wort ist richtig gewählt) ein Vorgang, wo die Menschen gezogen werden sollten, bis sie da sind, wo die Erzieher sie gerne haben. Meine Menschenkenntnis hat mich gelehrt, dass die wenigsten Menschen gezogen werden wollen. Die mei-sten wollen eigenständig frei dort hingehen, wo sie hin wollen. Und deswegen brauchen wir einen Paradigmen-wechsel im Hinblick auf Erziehung. Und dies habe ich in ein schönes Format gebracht. Da steht: Wir sind nicht dazu da, Menschen an vorgegebene Systeme anzupas-sen. Unser Beruf, unser Berufsethos, unsere Berufung ist es, mit den Menschen Systeme so zu entwickeln, dass sie sich darin wohl fühlen und Lebenssinn erfahren. Das ist die Alternative, der Paradigmenwechsel, zur Anpassung an vorgegebene Systeme. Richtig gesagt: Die Frage heißt nicht mehr, ob Kinder schulreif sind, sondern die Frage heißt, ob die Schulen kinderreif sind.

Auf diesem Hintergrund, ist es ja trotzdem sinnvoll, das ABC noch zu können, das werfe ich nicht über Bord, aber aus bestimmten Gründen glaube ich, wenn das 21. Jahr-hundert besser werden soll als das 20., wenn meine Enkel sinnvoller leben sollen als ich das bisher getan habe, dann müssen wir ein neues ABC lernen. Und deswegen habe ich ein ‚ABC der guten Schule’ geschrieben und das heißt so:

10 Einführungsvortrag │ Otto HerzEi

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Nicht für die Schule, sondern für das Leben ...│ Bildung im Stadtteil 11

Alexandra Zinati: Das Grundkonzept von Early Excellence gibt es seit 1997 in England. Der Grundsatz ist der, dass die frühkindliche Bildung die Voraussetzung für geistige Chancen ist. Es gab in England verschiedene Einzelpro-jekte, in Schulen, Kitas und Nachbarschaftszentren, die isoliert voneinander gearbeitet haben. Die sind dann verbunden worden. Man ging davon aus, dass die erste Institution, die Familien kennen lernen, in der Regel die Kita ist. Das heißt, dass von dort aus versucht werden sollte, sich den Familien zu öffnen und sie in die Arbeit mit einzubeziehen. Eltern sollten auch außerhalb der Familie in den Entwicklungsprozess des Kindes einbe-zogen werden. Eltern als Experten für Kinder, das war der Leitsatz. Das ist, denke ich, ein Paradigmenwechsel gewesen, unter dem alle an Erziehung Beteiligten zusam-menfi nden wollten. Eltern sind die Bezugspersonen ihrer Kinder, von denen auch Erzieherinnen lernen können. Early Excellence-Zentren zeichnen sich dadurch aus, dass sie ganz viele Angebote vereinen, entweder im Verbund oder unter einem Dach, es gibt unterschiedliche Modelle. Es werden auch viele Dienstleistungen angeboten: Kin-derbetreuung in Kitas, Familienberatung, es gibt Sozi-alberatungen – alles, was die Familie so braucht. Das Wichtige ist, dass es kurze Wege gibt. Eltern müssen also

nicht erst in der ganzen Stadt rumrennen, um die Hilfe zu bekommen, die sie brauchen, weil alles an nur einem Ort vorhanden ist. Des weiteren geht es auch um Familienbil-dung, also darum, die Erziehungskompetenzen von Eltern auszubauen. Kotti e.V. ist ein Gemeinwesenverein und ein Nachbar-schaftsladen. Es gibt verschiedene Angebote, von drei Kitas bis Sozialberatung. Der Familiengarten ist ein soziokulturelles Zentrum. Wir machen dort schulbezo-gene Jugendarbeit, in die ein von Kotti betriebener Hort als Ganztagsbetreuung einbezogen ist. Und es gibt eine Jugendkulturetage. Alle diese Angebote liegen relativ nah beieinander im Kiez, sind aber nicht in einem Haus unter-gebracht. Beispielhaft dargestellt läuft das häufi g so ab: Es kommen viele Eltern, die bringen ihr Kind zu uns in den Hort, in die Kita; es gibt Jugendliche, die gehen in die Kul-turetage. Sie wissen aber meistens nicht, welche Ange-bote es noch gibt, die sie nutzen könnten. Wir haben uns also gesagt: Als Kita sind wir häufi g für Eltern die erste Anlaufstelle, wie können wir das zur Verbindung mit ande-ren Projekten nutzen? Wir haben uns also darum bemüht, diesen anonymen Charakter einer Kinderaufbewahrungs-stelle – ich gebe mein Kind da ab, und die werden dann schon machen – aufzugeben und mit Eltern eine leben-dige Beziehung aufzubauen. Diese Arbeit soll nicht nur im Hinblick auf die Eltern aufgebaut werden, sondern auch im Hinblick auf das Erzieher-Team. Es gibt Erzieher, die Angst vor Kontakt mit den Eltern der Kinder haben, die ihre Erzieher-Kompetenz als bedroht empfi nden, wenn sie die Kompetenz der Eltern anerkennen sollen. Es geht also auch ganz stark um Haltungsänderungen im Team: die Eltern schätzen lernen, die Ressourcen sehen, die sie haben.

Ich fand das sehr schön, was Herr Herz sagte, dass die Schule erst die Mütter und danach die Kinder bilden sollte. Da dachte ich: Ja, weg vom Lehrplan hin zum Lern-plan. Und nichts Anderes haben wir bereits versucht in der Kita zu starten. Warum erst in der Schule anfangen, wenn es schon früher möglich ist? Wir bieten also den Eltern Gesprächsgruppen an zu bestimmten Themen. Der Migrationsanteil ist in meiner Kita etwa 90 Prozent. Davon sind 85 % türkischsprachiger Herkunft. Deswegen haben wir auch türkischsprachige Gesprächskreise angeboten. Wir haben die Mütter gefragt, welche Themen sie interes-sieren. Da kam natürlich als Erstes die Sprachförderung. Dann interessierten Probleme der Grenzensetzung. Dafür

Workshop: Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

„Barrierefreie Bildung“ in der Kindertagesstätte als Türöffner für lebenslanges Lernen

Inputs: Alexandra Zinati, (Kotti e.V.), zu Early ExcellenceTove Ivers, (Kita Sigmaringer Str. NBH Mittelhof), zu ‚Sternstunden’Andreas Kaminski, (Villa Folke Bernadotte), zu ‚Märchentage’

Moderation: Reinhilde Godulla

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haben wir uns jemand von außen geholt, weil wir uns dachten, es wäre gut, wenn das jemand macht, der vom Haus unabhängig ist. Damit Ängste und Hemmungen bei der individuellen Offenlegung des Problems leichter abge-baut werden könnten.

Die Erzieher mussten sich in ihrer Arbeit umstellen, ihre Arbeit mit Kindern erweitern um die Komponente der Arbeit mit den Eltern. Das heißt, in der Eingewöhnungs-phase neuer Kinder mussten sie sich nicht nur um die Kinder kümmern, sondern auch um die Familie. Das war eine neue Aufgabe, für die die Erzieherinnen fortgebildet werden mussten. Es geht da um Gesprächsführung in einer Erwachsenen-Gruppe, das ist ein ganz wichtiges Ele-ment, das Erzieherinnen erst lernen müssen. Eine Erzie-herin einer Gruppe von 6 – 8 Kindern lädt deren Eltern einmal im Monat ein. Am Anfang ging es nur um das gegenseitige Kennenlernen. Beim nächsten Treffen wurde darüber gesprochen, was wir in der Kita mit den Kindern machen. Danach folgt – was wir vom englischen Vorbild übernommen haben - der Blick auf die Entwicklung des Kindes. Zusammen mit den Eltern gucken wir: Was will ein Kind lernen? An welchem Punkt seiner Entwicklung ist es gerade? Wir beobachten die Kinder, während sie selbst-bestimmt spielen. Erzieherinnen lernen so, ihren Blick zu schulen und viel genauer auf die Dinge zu achten, die ein Kind gerade intensiv beschäftigen. Einmal in der Woche werden die spezifi schen Beobachtungen ausgewertet und gemeinsam überlegt, was man dem jeweiligen Kind in dem von ihm gewünschten Bereich anbieten kann, was das Kind also weiterführt. Die zugrunde liegende Sicht-weise ist, auf die Stärken jedes Kindes einzugehen und sie weiter zu entwickeln durch individuelle Angebote. Es ist klar, dass hierfür zusätzlich Zeit aufgewendet wird, im normalen Alltag einer Kita ist das nicht zu leisten. Sie braucht also dafür zusätzliche Mittel. Das Schöne ist, dass die speziellen Aktivitäten in einem ‚Buch’ festgehal-ten und auch mit Fotos versehen werden. Das Kind kann sich dieses Buch ansehen und sich erinnern: was habe ich denn da gemacht? Zum Beispiel hat es einen Ausfl ug in die Werkstatt gemacht. Und dieses Buch wird dann für ein Eltern-Gespräch genutzt. Die Bezugs-Erzieherin sieht sich gemeinsam mit den Eltern das Buch über das Kind an und sagt: Schaut mal, was euer Kind alles kann! Viele Eltern, die zum ersten Mal kommen, stehen wahnsinnig unter Druck, weil ihr Kind bald in die Schule kommt und so vieles noch nicht kann. Da wirkt der veränderte Blick-

winkel über die Stärken des Kindes sehr entspannend und ermutigend auf die Eltern, weil sie ein Gefühl dafür bekommen, wie auf den Stärken des Kindes aufgebaut werden kann. Die Defi zite fallen da raus, und das öffnet Türen. Die Eltern gehen meistens freudestrahlend aus so einem Gespräch raus. Das ist ein wunderbarer Weg für uns gewesen. Durch die Betonung der Ressourcen des Kindes werden natürlich auch die Ressourcen der Familie betont. Weil wir den Eltern sagen: Ohne euer Mitwirken könnte das Kind all die Dinge ja gar nicht, ihr habt einen großen Anteil daran. Das fördert die Beziehung zu den Eltern. Und so hat es sich so entwickelt, dass die Eltern – im Moment sind es noch mehr die Mütter – den Weg zu uns fi nden und auch zu uns kommen, wenn wir mal Spiel-Nachmittage machen, Bildungsangebote oder themenorientierte Gesprächskreise machen. Wir haben mit einem ‚Rucksackprogramm’ (d.h. Eltern. Meistens die Mütter und Kinder lernen gemeinsam) zur Sprachförderung angefangen. Und sie kommen! Und es kommen immer mehr. Daran sehen wir, dass sie mer-ken, wir gucken anders hin. Wir wollen ihre Hilfe, sie sind willkommen, sie dürfen rein und sie werden wertgeschätzt. Kurz und gut, sie werden gebraucht. Wir arbeiten mit diesem Programm seit zwei Jahren. Und da muss das Team mitgehen. Es muss auch eine Hal-tungsänderung durchmachen. Es muss Sicherheit gewin-nen in den eigenen Kompetenzen. Den Blick auf ein Kind zu ändern, ist manchmal gar nicht so einfach, wenn alles drunter und drüber geht. Trotzdem muss man lernen zu sehen: bei dem, was dieses Kind macht, ist was dahinter.

Godulla: Gibt es mit den Eltern vorher über eure Methode ein Gespräch, damit sie wissen, welchen Anteil sie dabei haben?

Zinati: Ja, es gibt vorher ein Gespräch. Vor kurzem wurde ich gefragt, ob die Eltern denn nicht dadurch abgeschreckt würden, wenn wir so viel mit ihnen machen. So unter dem Motto: Wenn ich mein Kind da reingebe, dann muss ich überall mitarbeiten und auftauchen! So eine Verpfl ich-tung gibt es aber nicht. Die Mitarbeit ist immer freiwillig. Wenn Eltern sich für einen Kitaplatz bei uns interessieren, erzählen wir ihnen, was wir machen. Was wir anbieten und welches unsere Grundgedanken sind. Wir betonen aber im Erstgespräch auch, dass wir die Eltern für unsere Form der Arbeit brauchen und dass wir sehr daran interessiert sind zu erfahren, wie sie die Stärken ihres Kindes sehen. Wir sagen auch gleich am Anfang, dass wir uns freuen

Workshop │ Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne12Za

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Nicht für die Schule, sondern für das Leben ...│ Bildung im Stadtteil 13

würden, wenn sie mal Zeit zum Beobachten bei uns ver-bringen wollen oder mal bleiben können und Fragen stellen. Dadurch wird schon der erste Schritt in die Wege geleitet, dass sie sich dafür interessieren, mal zum Eltern-treffen zu kommen. Das ist das Treffen mit Eltern in der kleinen Bezugsgruppe. Inzwischen wird diese Möglichkeit des intensiveren Austauschs über einzelne Kinder, das einmal im Monat angeboten wird, gut angenommen. Am Anfang hat das ein bisschen gedauert. Manchmal sagte eine Erzieherin: Ach, heute waren nur 3 Eltern da. Aber das sind 50%! Also man muss auch da umdenken. Beim klei-nen Elternabend werden die möglichen Gesprächspunkte auf den Tisch gelegt, und dann suchen sich die Eltern aus, worüber sie sprechen wollen. Das wird ihnen auch ins Tür-kische übersetzt. Sie interessierten sich dann für den Beo-bachtungsbogen, mit dem ein einzelnes Kind beobachtet wird. Eltern wollten dann ihr Kind auch anhand so eines Bogens zu Hause beobachten. Auch das PFH hat aus diesem Bogen übernommen, dass Kinder in bestimmten Phasen bestimmte Handlungsschemata haben, womit sie sich beschäftigen. Das haben wir auch ins Türkische übersetzen lassen. Weil das Dinge sind, die die Eltern wirklich interessieren. Auf dem großen Elternabend sind Eltern meistens eher schüchtern. Wenn sie aber im klei-nen Kreis mit der Bezugserzieherin ihres Kindes ‚Family work’ machen, sind sie sehr präsent. Sie bauen mit der Zeit eine relativ enge Beziehung auf, und da trauen sich die Eltern zu sagen: erklär mir das doch mal. Eltern haben somit, genau wie ihre Kinder, eine kleine Bezugsgruppe, die ihnen vertraut ist. Und so kommen sie dann auch eher zu größeren Veranstaltungen.

TN: Ist denn der Personalschlüssel dieser Methode ange-passt worden? Und die andere Frage: mit welchem zeit-lichen Vorlauf sind die Erzieherinnen auf diese Aufgabe vorbereitet worden?

Zinati: Wir haben eine zusätzliche Kraft, die zumindest an einem Tag in die Kita mit reingeht. Und wir haben eine Erzieherin zur Entlastung, damit wir Elternarbeit machen und Gespräche führen können. Das ist möglich. Ich bin von der Gruppenarbeit freigestellt worden, weil es einfach wirklich viel Aufwand ist. Wir haben drei Erzieherinnen türkischer Herkunft, wir versuchen aber, hauptsächlich deutsch zu sprechen in der Kita, auch wenn es eine zweisprachige Kita ist. Wenn man sich vorstellt, dass wir 85% türkischsprachige Kin-

der haben, die untereinander nur türkisch sprechen, weiß man, dass diese Gewohnheit nur ganz schwer zu durch-brechen ist. Deutsch ist aber unser Schwerpunkt. Es gibt Eltern, die ein bisschen Deutsch können, und mit denen versuchen wir, Deutsch zu sprechen. Aber wir haben eben die türkischsprachigen Erzieherinnen da, um die anderen aufzufangen, sowohl die Kinder in der Eingewöhnungs-phase als auch Eltern, die nur Türkisch sprechen. Manch-mal muss ich auch Kinder dazuholen, um zu übersetzen, weil ich selbst auch kein Türkisch spreche. Man muss ein bisschen jonglieren, aber wir versuchen mit unserem Per-sonal der Situation entgegen zu kommen. Zwei Jahre arbeiten wir mit diesem Programm, aktiv im Alltag seit einem Jahr. Das erste Jahr war der Vorlauf, und zwar Fortbildungen, externe und interne, wo wir alle Ängste des Teams auf den Tisch packen mussten. Meine Erfahrung ist: man kann sehr viel durchdenken und besprechen. Aber die wirkliche Haltungsänderung bei den Erzieherinnen entstand in der Praxis. Als sie diese Beobachtungssystematik übernommen hatten, ein Handwerkszeug für das Elterngespräch hatten, das Buch über ein Kind in der Hand und lächelnde Eltern vor sich hatten. Da wurden sie sicherer. Sie hatten in der Vorbereitungsphase etwas über systemische Gesprächs-führung gelernt, das kam irgendwo bei ihnen an, aber nicht im Herzen.

TN: Ich würde auch sagen: einfach mal machen. Aber dabei ist eine kontinuierliche Begleitung dieses Prozesses wichtig. In dem Erzieherinnen ihre Unsicherheiten bespre-chen können. Unsere Erfahrung war, dass alles leben-dig und einsichtig wurde, als sie Resonanz in der Praxis erfuhren und der Dialog zustande kam.

Zinati: Ja, und vorher gab es viele ängstliche Phantasien und Gespenster. Und als wir dann angefangen haben, ging es auch. Genau wie wir jetzt nach den Stärken von Eltern und Kindern suchen, so muss man das auch bei den Mitarbeitern tun: was kannst du und welches ist deine Stärke? Wenn sich einer von ihnen nicht wohlfühlt in einer Elterngruppe, dann müssen wir gucken, ob wir das anders machen können. Vielleicht kann das eine Andere anders aufbauen. Nicht jeder kann eine solche Situation sofort bewältigen. Oder nicht jede möchte das. Wir hatten da auch schon eine personelle Umstrukturierung. Wir haben gesagt: gut, dann lass diese Arbeit andere machen, und du guckst in der Zeit nach der Kindergruppe.

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Godulla: Wie habt ihr denn die Fortbildung organisiert? Zinati: Vom SPI hatten wir zwei Dozentinnen zum Thema systemische Gesprächsführung, die hat uns dann beo-bachtungssystematische Grundsätze nähergebracht. Das war ein besonderer Kick. Die internen Sondersit-zungen haben wir von unserer Leitung her durchgeführt. Wir haben uns dafür ab und zu noch mal mit Fachleuten ausgetauscht. Ich selber mache gerade noch eine Ausbil-dung zur systemischen Therapeutin. Auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendtherapie haben wir eigene Ressourcen eingebracht oder zu bestimmten Fragen nach Kenntnis-sen bei uns geschaut (wer kann was gut?).

TN: Habt ihr auch mal hospitiert?

Zinati: Ja, in der Kita Kurmärkische Straße. Wir sind auch extra noch mal nach England gefahren, wo wir im McMil-lan-Centre eingeladen waren vom Jugendamt.

Wir haben hier das neue Buch vom Pestalozzi-Fröbel-Haus: Early Excellence - Der positive Blick auf Kinder, Eltern und Erzieherinnen; Englische und deutsche Studien zu einem Erfolgsmodell. Und es gibt eine ganz tolle DVD (auch zu beziehen über das Pestalozzi-Fröbel-Haus), wo man die Detail-Beobachtungen sieht und die Auswertung im Team. Man kann sich das dann richtig vorstellen. Ich habe auch ein Papier geschrieben, in dem alles drin steht, wie wir in die Arbeit mit dieser Methode reingewach-sen sind. Das kann man bei mir bestellen.

Ivers: In unserer Kita haben wir vor zwei Jahren die ‚Stern-stunden’ eingeführt. Es gibt ganz, ganz viele Projekte mit Sternstunden, und zwar für Kinder, die besonders leb-haft oder leichtsinnig sind. Bei uns ist die Idee damals dadurch entstanden, dass wir uns sagten: wir wollen alle Kinder erreichen. Nicht nur die ‚Braven’, aber auch nicht nur diejenigen, die ‚auffällig’ sind oder mit denen integra-tiv gearbeitet wird, sondern wir bieten Sternstunden für alle Kinder an. Wir fi ngen mit den Vorschulkindern an und haben es jetzt erweitert auf die Vierjährigen. Wir arbeiten jetzt mit 25 Kindern, das ist keine so sehr große Gruppe. Wir hatten 10 Kinder, die zur Schule gingen und haben dafür 10 neue Kinder bekommen. Und davon waren 6 Kinder nichtdeutscher Herkunft im Vorschulalter und vier deutscher Herkunft. Wir haben gemerkt, dass wir die Vorschularbeit bzw. die Vorbereitung auf die Schule

nicht mehr so machen können wie früher. Wir wollen den Kindern zunächst ermöglichen, in der Kita anzu-kommen. Wir wollten sehen, wo sie stehen, was sie wol-len, was sie können. Und wir wollten natürlich auch die Beziehung unter den Kindern fördern. Und dann haben wir uns im Team zusammen gesetzt und überlegt, wie wir das machen können. Ich hatte Erfahrungen aus einer Einrichtung, wo Sternstunden für Integrationskinder ange-boten wurden. Und unsere damalige Leiterin hatte auch schon von Sternstunden gehört. Wir haben dann kleine Gruppen zusammengestellt, in denen jeweils zwei Kin-der einmal in der Woche eine Stunde mit einem Erzieher alleine arbeiten können. Das bedarf natürlich auch einer genauen Organisation, wenn von drei Erziehern immer einer eine Stunde weg ist. Zuerst haben wir die Kinder im Losverfahren zusammengestellt. Wir kannten sie ja noch nicht. Die jeweiligen Erzieherinnen für die Klein-gruppen wechselten im Rotationsverfahren. Wir haben also zunächst mal Ideen gesammelt, was wir in den Kleingruppen machen könnten. Wir machen einen Lern-plan und fragen die Kinder: was wollt ihr lernen? Was macht euch Spaß, wozu habt ihr Lust? Wir haben z.B. zwei Jungs, die wollen unbedingt alles über Dinosaurier lernen. Oder wir haben auch Jungen und Mädchen, die wollen kochen, schwimmen gehen, Sport machen. Wir haben auch ein Pärchen, das will Theater spielen. Es ist unglaublich, was für eine Vielfalt dabei rauskommt. Diese Ideen werden alle gesammelt. Wir als Erzieherinnen bie-ten uns an, unsere Kenntnisse zur Verfügung zu stellen, aber die Kinder gestalten die Sternstunden selbst. Wir bemühen uns nur darum, den Interessen und Neigungen der Kinder gerecht zu werden. Die Stunde beginnt immer mit der Begrüßung, es wird der Inhalt festgelegt, den die Kinder bestimmen, und sie endet mit einem Spiel, das die Kinder sich aussuchen. Wir haben einen großen Schrank, in dem wir ganz viele Spiele haben. Warum haben wir dieses Verfahren eingeführt? Wir gehen davon aus, dass die Kinder das gerne lernen, was sie interessiert. Wir gehen auch davon aus, dass es keinen typischen Fünfjährigen, keinen typischen Vierjährigen gibt. Wir wollen hier ihre Individualität fördern, was sonst im Kita-Alltag nicht immer möglich ist. Im Nachhinein haben wir auch gemerkt, dass diese Arbeit für uns sehr span-nend ist, weil die Kinder uns sehr viel beibringen können. Sie haben ganz tolle Ideen, z.B. bei den Dinosauriern ent-stehen jetzt Plastiken und Fußabdrücke. Und die Erziehe-rin kann mit zwei Kindern alleine auch ins Museum gehen,

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Nicht für die Schule, sondern für das Leben ...│ Bildung im Stadtteil 15

um sich die Dinosaurier anzusehen. Oder es entstehen auch kleine Theaterstücke. Oft sind das gerade die Kinder nicht-deutscher Herkunft, die sich gerne darstellen, die gerne tanzen, gerne singen. Durch die Inhalte, die sie sich selber geben, fördern sie gleichzeitig ihre Sprachfähigkeit im Deutschen. Und trotzdem haben sie in der Stunde Zeit, auch in ihrer Sprache zu sprechen. Die beiden Kinder in der Theatergruppe z.B. sind immer lustig, und sie haben zu Weihnachten ein Kasperle-Theater aufgeführt. Es ist ganz unglaublich, was sie in der kurzen Zeit schon gelernt haben. Ich denke auch, wir müssen den Kindern mehr zutrauen. Und ihnen auch mehr vertrauen. Und dadurch kriegen auch wir mehr Sicherheit. Wir wissen jetzt inzwi-schen, wo die Kinder stehen, was sie können, und wir kön-nen damit jetzt viel besser arbeiten. Was den Tagesablauf angeht, ist dieses Verfahren hart. Wir hatten einen Erzieherwechsel durch eine Schwan-gerschaft und mussten dann einen neuen Erzieher mit integrieren. Und natürlich kommt es auch mal vor, dass einer krank ist, obwohl das bei uns selten ist. Da Kontinu-ität reinzubringen und beizubehalten, das ist schwierig. Mittlerweile ist es so, dass für die Kinder die Sternstunde ganz fester Bestandteil im Kindergarten ist. Sie wissen: Montags kommt die Sonne, Mittwochs geht der Garten, und das ist immer gleich. Wir sind jetzt nach zwei Jah-ren dazu übergegangen, die Sternstunden auch den Vier-jährigen anzubieten. Man muss dabei selber neue Wege suchen, aber es klappt wunderbar. Für uns bereichern diese Stunden unseren Arbeitsalltag, und trotzdem bleibt die sonstige Projektarbeit, die wir anbieten, auch beste-hen. Die Sternstunden werden auch von den Eltern ganz toll angenommen. Wir schreiben alles auf, was in einer Sternstunde passiert. Das wird abgeheftet, und da kön-nen die Eltern jederzeit ran. Sie können also sehen, was ihrem Kind Spaß macht, woran es Interesse hat. Wenn die Kinder dann mit der Zeit ihre Interessen kennen, kann eine Erzieherin auch mal einen Vorschlag einbringen. Wir haben mit diesen Stunden so große Erfolge, dass wir kei-nen Grund sehen, warum wir damit aufhören sollten. Die Kinder fühlen sich ernst genommen, sie fühlen sich in der Zeit nicht unter Druck gesetzt, sie haben relativ konkur-renzfreies Arbeiten. Und sie gewinnen Vertrauen in sich selbst. Aus unserer Sicht ist das die Grundlage, dass sie Lust haben, auch mal was Neues auszuprobieren. Auf die Weihnachtsfeier bereiten sie sich intensiv vor, weil jede Sternstunden-Gruppe unbedingt zeigen will, was sie gemacht haben. Wir gehen nicht von der Frage aus: was

kann das Kind? Was muss es können? Sondern es geht nur darum: was tut es? Was tut es nicht? Und warum tut es das nicht? Liegt es an uns, an der Motivation, an den Möglichkeiten, die wir ihm geben? Wir gucken also erst mal, was es von sich aus macht. Diese spezielle Art der Förderung bedeutet aber auch, dass zwei Erzieherinnen den Rest bewältigen müssen. Was bis jetzt aber auch immer geschafft wurde. Der Raum, in dem die Stern-stunde stattfi ndet, ist ihr Raum, es ist ihre Zeit. Wir wollen das auf jeden Fall weitermachen.

TN: Und ihr macht das jeden Tag?

Ivers: Ja, jeden Tag. Weil die Nach-frage so groß ist, sind jetzt vier Kinder in einer Gruppe, manchmal auch nur zwei. Wenn Kinder krank sind, fi n-det die Sternstunde trotzdem statt, manchmal nur mit einem Kind. Wenn es mal Streit gegeben hat unter den Kindern, werden sie auch mal für eine Stunde getrennt. Dann hat ein Kind vormittags seine Stunde und das andere am Nachmittag. Damit sie ganz selbständig und freiwillig bestimmen können. Nur am Freitag gibt es keine Sternstunden, weil das unser Ausfl ugstag ist. Da sind wir dann in der Umgebung. Die Sachen, die in den Sternstunden entstehen, kommen in ein Tagebuch. Die dreidimensionalen Werke wie die Dinosaurier werden mit nach Hause genommen. Für die Eltern gibt es einen extra Ordner. Und es gibt einen Vor-schulordner mit Schreibübungen und so etwas. Aber die Sternstunden sind von diesen Aufgaben abgekoppelt. Wichtig an der Weitergabe von Informationen ist uns vor allem, dass die Eltern nachvollziehen können, was da gemacht wird und was ihrem Kind Spaß macht. Das soll für sie ganz transparent sein.

TN: Die Transparenz ist wichtig. Die Eltern leben in ihrem Beruf und in ihrer eigenen Welt. Sie wollen Vertrauen haben in den Ort, an dem sie ihr Kind lassen. Ihr kennt das ja alle, dass sie kommen und fragen: was war denn heute los? Was gab es zu essen? – Weiß ich nicht mehr. Aber aus ihren Sternstunden erzählen sie von selber, davon sind sie aufgeladen, das ist etwas, was speziell sie

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betrifft. Das weiß ich aus Gesprächen mit Erzieherinnen. Schon am Morgen vor ihrer Stunde erzählen sie davon. Das ist eine ganz besondere Form, die Eltern in das Geschehen mit einzubeziehen. Ich fand das auch sehr gut, dass ihr dieses Projekt nicht einfach als Bildungspro-gramm angefangen habt, sondern dass ihr das zunächst mit den Eltern verabredet habt. Also erst mal ein Probe-monat abgewartet wurde und dann darüber gesprochen wurde, wie es den Kindern dabei ergangen ist. Und wie geht es den Eltern dabei. Man muss ja auch die Unter-schiedlichkeit der Kinder sehen und akzeptieren; und nicht daraus ein Problem machen, sondern die Chancen darin sehen. Das erleichtert die Arbeit ja auch, wenn man davon ausgeht: die Kinder können eben was, das ist klar. Aber dafür muss man ihnen den Raum und die Möglichkeit geben, das zu tun, was sie können. Die Kinder lernen auch Geduld zu haben: erst muss der Montag kommen, dann kommt noch der Dienstag, und Mittwoch – das ist meine Sternstunde. Sie möchten da nicht fehlen, sie möchten auch nicht woanders hingehen. Und an dem Tag dürfen die Eltern ihre Kinder auch nicht früher abholen, das wol-

len die Kinder nicht. Wir merken also ganz klar, dass es den Kindern gut tut. Und dafür nehmen wir den Mehraufwand in Kauf. Die Erzieher wech-seln ja in den Stunden nach dem Rotationsprin-zip. So sind die Kinder tatsächlich ganz auf ihr Tun konzentriert, nicht

auf die Beziehung zur Erzieherin. Sie lernen, dass alle Erzieherinnen in ihrer Unterschiedlichkeit für sie da sind und für sie ansprechbar sind.

TN: Aber trotzdem funktioniert das ganze doch über die enge Beziehung zum Kind, die da für alle Erzieherinnen entsteht. Das ist auch unsere Erfahrung, nach dem Grund-satz, dass richtiges Lernen erst mal durch eine Bindung in Gang gesetzt wird.

TN: Ich stelle mir vor, dass es bestimmt auch wichtig ist, dass man die entsprechenden Materialien hat, die die Kin-der brauchen. Die Kinder sollen ja auch nicht enttäuscht werden. Wir fi nden es gut, was die Kinder machen wollen, und dann fragt man sich: womit?

TN: Ja, genau. Man muss sich manchmal ganz schön dre-hen. Auf keinen Fall kann man sagen: das geht nicht, weil kein Material da ist. Ich weiß von einer Leiterin, die selber auch viel bastelt, die zaubert dann immer noch was aus irgendwelchen Kästen hervor, das ist enorm, was alles möglich ist.

Ivers: Unter allen Umständen alles ermöglichen, das ist ja sowieso unser Alltag. Wenn es an unserem Ausfl ugstag regnet oder schneit, dann muss man halt trotzdem raus-gehen. Oder man muss sich halt mit den Kindern in die Küche stellen und irgendwas machen. Das ist speziell für mich immer eine Herausforderung. Aber wenn die Kinder dann einen Kuchen hingekriegt haben, und der schme-ckt dann vielleicht auch noch, dann sind sie immer ganz stolz.

Hübner: Wir haben im Hinblick auf das Berliner Bildungs-programm im Team unsere Konzeption rechtzeitig überar-beitet. Das geschah auch mit Unterstützung von außen. Und jetzt haben wir im Zuge unseres 60jährigen Jubilä-ums einen Schwerpunkt zur Bildung herausgearbeitet. Dabei hat jeder sein spezielles Thema gefunden. Es geht um Alltagsgeschichten, was passiert in Gesprächen im Alltag? Da sind keine Fachausdrücke oder Fußnoten drin, sondern es geht um lebendigen Alltag. Ich lasse das hier mal rumgehen. Ich fi nde schon die Überschriften sehr schön, wie: ‚Kinder brauchen Wurzeln und Flügel’.

Ingrid Alberding: Zum Thema ‚Märchenstunde’. Ich habe bei diesem Projekt technische Hilfe geleistet. Das Nach-barschaftshaus Mittelhof hatte die Villa Folke Bernadotte, die bis dahin eine bezirkliche Kinder- und Jugendeinrich-tung war, in Trägerschaft übernommen. In diesem Haus war eine Kindergruppe in Elterninitiative untergebracht mit einem Angebot für nachschulische Betreuung. Also Eltern haben dieses selbst initiiert, beschäftigen dort Erzieherinnen, die ihre Kinder nach der Schule betreuen. Unser Projekt heißt: ‚Vom Lesen zum Erzählen – Freie Projektarbeit zur Förderung der Lese- und Erzählfähig-keit’. Von Kindern der Vorschulklassen und für Kinder der Grundschulklassen 1 bis 6. Als wir 2006 als Träger in diese schöne große Villa einzogen, gab es dort diese gut funktionierende Elterninitiative. Wir haben uns zusam-mengesetzt und Ideen gesammelt, was wir miteinander machen könnten und stellten dabei gleich fest, dass wir eine ganze Menge miteinander machen können. Andreas

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Nicht für die Schule, sondern für das Leben ...│ Bildung im Stadtteil 17

Kaminski ist einer, der im Akkord Ideen produziert, so schnell kann man gar nicht mitschreiben. Am Ende die-ser Sammlung stand für uns fest: ‚Wir können noch viel zusammen machen’.

Kaminski: Ich möchte ein paar Worte zum Standort sagen. Dieses wunderbare große Haus war sehr wenig genutzt worden. Die Elterninitiative ‚Die wilden Lichterfelder’ hatte sich gegründet, bevor die Horte an die Schulen gegangen sind. Es gab also viele Eltern, die vor dem Problem stan-den, dass ihre Kinder nach der Schule betreut werden müssen. Die Gruppe hat in der Villa eine Heimstatt in zwei Räumen gefunden, die wir ausgebaut haben. Unsere Kin-der kommen fast alle aus einer Kita, die zum Mittelhof gehört und dort in der Nähe ist. Und unsere Kinder – es sind jetzt beinah 30 - gehen fast alle in eine nahegelegene Grundschule. Es hat sich da so etwas wie ein magisches Dreieck gebildet aus Kita, Grundschule und dem Nach-barschaftshaus Folke Bernadotte. Ich habe mich einige Zeit mit der Frage beschäftigt: was kann man aus diesem magischen Dreieck entwickeln? Ich selbst habe eine 8 Jahre alte Tochter, die in diesem Hort ist. Und dadurch beschäftigt man sich zwangsläufi g auch mit den Schlüs-selkompetenzen, die Kindern vermittelt werden. Und eine dieser Kompetenzen ist Lesen und Schreiben. Wir haben dann untereinander abgesprochen, dass wir die Vermittlung von Lesekompetenz in unser Haus holen könnten. Im Zusammenhang mit der neuen Trägerschaft fi ngen wir an, den Anwohnern das Haus vorzustellen. Im Februar 2007 haben wir die 18. Berliner Märchentage als Anlass zur Vermittlung von Lesekompetenz ausgewählt. In jedem Jahr haben sie ein anderes Motto, 2007 war es wunderbarerweise der 100. Geburtstag von Astrid Lind-gren. Wir haben eine Projektwoche entwickelt, in der wir jeden Tag mit einer anderen Klassenstufe eine Geschichte durchgearbeitet haben. Wir haben überlegt, wie viele Kinder wir in unseren Räumen bewältigen konnten, das waren maximal 60 Kinder. Wir wollten jeden Tag von 9 bis 13 Uhr Projektstunden anbieten.

Im Vorfeld haben wir eruiert, wer alles im Haus tätig ist. Es gibt etliche Honorarkräfte, die verschiedene Kurse anbieten. Es gibt Ehrenamtliche, die dort verschiedene Dinge mitmachen. Die Überlegung war, ein übergreifen-des Projekt zu machen. Angestellte des Mittelhofes, Eltern und Ehrenamtliche haben ein Team zusammengestellt, das diese Projektwoche geplant und durchgeführt hat.

Wir haben dort ganz viele Kompetenzen von den Leuten einbringen können. Ein günstiger Umstand war, dass wir eine Erzieherin haben, die sich mit der künstlerischen Umsetzung in diesem Haus beschäftigt hat. Sie hat mit den Kindern ganz viele Figuren aus Pappmaché gemacht und im Haus verteilt. Sie hat zufällig einen Sohn, der sich sehr gut mit Aufnahme- und Beleuchtungstechnik auskennt. Der hat unser Haus auch von außen so illumi-niert, dass wir eine regelrechte ‚Villa Kunterbunt’ hatten. Die wurde allein schon durch die Optik ins Bewusstsein der Anwohner gerückt. Ein weiterer Zufall war, dass einer der Väter Pressesprecher von ‚amnesty Deutschland’ ist. Der hat unsere gesamte Pressearbeit übernommen. Eine Mutter ist Lehrerin an der Grundschule, die zusammen mit zwei Kolleginnen das pädagogische Konzept für die Projektwoche vorbereitete. Sie haben jeden einzelnen Tag konzipiert, eine Geschichte ausgesucht, die passend war für die jeweilige Altersklasse. Ich hatte die Gesamtkoordi-nation für die Projektwoche. Unsere größte Befürchtung war, ob wir das überhaupt schaffen könnten, jeden Tag 60 bis 80 Kinder durch das Haus zu schleusen. In unserer Organisationsgruppe waren wir 8 Leute. Wir alle haben ja auch berufl iche Ver-pfl ichtungen. Und unsere 4 Erzieherinnen hatten noch nie in ihrem Leben mit 80 Kindern pro Tag zu tun. Ich habe deshalb Kontakt aufgenommen mit den Berliner Universitäten und zufällig auch mit der Erzieher-Fach-hochschule Alice Salomon in Hel-lersdorf. Der pädagogische Bereich der Humboldt-Universität hatte uns intensive Unterstützung für die ein-zelnen Projekt-Stunden zugesagt. Sie schickten uns ein großes Kon-tingent von Studenten, die die Pro-jektgruppen betreut haben. Wir hat-ten für die jüngeren Kinder bis zu 58 Studenten am Tag. Dazu kamen etwa 20 Honorarkräfte und Ehren-amtliche aus unserem Haus, so dass es etwa 80 Helfer waren, eine riesige Menge, die natürlich auch organisiert werden musste. Das hat mich in der Vorbereitungszeit die meisten Nerven gekostet. Wir kann-ten uns alle nicht, und die Studenten kannte ich nur durch den Austausch von Mails. Wir haben mehrere Vorberei-tungstreffen durchgeführt, bei denen sich alle Helfer auf

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die Projektgruppen verteilt haben. So entstanden kleinere Gruppen, die die konkreten Angebote planten. Die Lehrer in der Kastanien-Grundschule wurden von mir gefragt, ob sie sich an unserer Projektwoche beteiligen wollten. Sie haben daraufhin eine eigene Projektwoche zum Thema Astrid Lindgren gemacht. Das hat erst recht das Interesse an unserer Woche geweckt, und in kürzester Zeit war unser Angebot am Überlaufen, so stark war der Andrang. Wir hatten eine ellenlange Warteliste, die wir nicht mal annähernd abarbeiten konnten.

Der rote Faden, der durch alle unsere Veranstaltungen lief, hieß: Vom Lesen zum Erzählen. Die Idee war, dass von den von uns ausgewählten Geschichten zunächst in der Schule eine Bearbeitung stattfi nden sollte. Die Kinder sollten also die Geschichten schon kennen. Und dann sollten die Lehrer die Kinder nach deren freier Wahl auf die Projektgruppen verteilen, maximal 10 Kinder pro Gruppe. Alle Gruppen waren sehr unterschiedlich. Wir hatten, nach dem jeweiligen Lesen der Geschichte, Schattenspiele, Theater, es gab Bücher, die nach der Geschichte hergestellt wurden. Es gab Leinwände, die als Kulisse für die Theaterspiele bemalt wurden. Es wurden Puppen für das Puppentheater hergestellt. Die älteren Kinder haben im Rahmen einer Zukunftswerkstatt Rock-songs mit Pippi Langstrumpf gemacht. Einige Arbeits-gruppen haben verzahnt miteinander und für einander gearbeitet. Nach den Arbeitsgruppen von 9 bis 13 Uhr gab es das Angebot an Lehrer, Kinder und an die Eltern vor allen Dingen, um 17 Uhr wieder zu uns zu kommen, um im Rahmen einer Blauen Stunde anzuschauen und anzuhören, was die Kinder am Vormittag bearbeitet hat-ten. Denn der Gedanke war ja, vom Lesen zum Erzählen zu kommen, und das sollten alle nacherleben, was die Kinder von der Geschichte verstanden haben. Und da sind sehr unterschiedliche, wirklich begeisternde Ergeb-nisse rausgekommen. Sie haben die Geschichten zum Teil verfremdet, und das haben die Kinder sehr zahlreich dargestellt. Als Ergänzung zur Blauen Stunde haben wir dann noch ein Sonderprogramm drangehängt, für das wir an den jeweiligen Tagen unterschiedliche märchenhafte Überra-schungen hatten. An einem Tag las ein Abgeordneter des Bundestages den Kindern eine Geschichte vor. Es gab an einem anderen Tag eine große Geburtstagsparty für Astrid Lindgren. Es kam eine Märchenerzählerin. Und es gab eine Band, die märchenhafte Musik für Kinder gemacht hat.

Zum Abschluss gab es eine Lange Nacht des Lesens, die bis zum nächsten Vormittag um 11 Uhr dauerte. Die Kin-der durften im Haus übernachten in allen Räumen, wo Geschichten gelesen wurden. Die Pfadfi nder hatten drau-ßen eine Feuerstelle aufgebaut, an der auch Geschichten gelesen wurden. Es war für mich ein sehr anstrengendes Programm. Aber die Stimmung war wunderbar, für mich vergleichbar mit der Stimmung bei der letzten Fußballweltmeisterschaft. Es war für alle unvorhersehbar und überraschend, was aus der Grundidee entstehen würde. Wir wussten nicht, ob alle wirklich an dem Tag kommen würden, für den sie sich angekündigt hatten. Aber alle kamen immer pünktlich, selbst an dem Tag, als der S-Bahnstreik war. Die Stimmung bewegte sich über alle Tage bei allen Beteiligten in sehr euphorischen Wellen, bis in die Lange Lesenacht hinein. Wir wussten im Vorfeld nicht, wohin uns das Projekt führt und haben auch noch keine Auswertung gemacht. Aber die Glücksmomente dabei waren so zahlreich, dass wir jetzt schon überlegen, was man im nächsten Jahr anders, noch professioneller machen kann. Aus meiner Sicht wäre es sinnvoll, die Auswertung in Zusammenarbeit mit den Universitäten zu machen, um zu sehen, was bei den Kin-dern an Verbesserung der Lesekompetenz angekommen ist. In jedem Fall werden wir im nächsten Jahr frühzeitiger mit den Vorbereitungen anfangen, denn wir waren diesmal unter enormem Zeitdruck. Es gab auch ein paar Kommu-nikationsschwierigkeiten mit der Schule, weil Lehrer sich nicht ausreichend einbezogen fühlten. Auch das wollen wir verbessern. Die Lehrer haben den spontanen Wunsch geäußert, die Zusammenarbeit zwischen unserem Haus und der Schule auszubauen und zu diesem Zweck eine gemeinsame Gesprächsrunde zu installieren. Eine Idee, die bereits neu entstanden ist, wäre, Geschäftsleute passend zum nächsten Motto der Märchentage mit einzubeziehen. Unser Bäcker hier ist der Leiter der Berliner Bäckerinnung, der war diesmal schon mit dabei und hat einen Bücher-tisch betreut. Es stecken einfach sehr viele Entwicklungs-möglichkeiten in dieser ganzen Veranstaltung. Meine Frau hatte die Idee, mich in die Rolle eines Mär-chenerzählers schlüpfen zu lassen, so dass ich also als erkennbare Märchenfi gur durch die ganze Veranstaltung gelaufen bin. Ich habe die Kinder jeden Morgen in die-sem Kostüm begrüßt, und sie fanden mich so auch in der Blauen Stunde wieder. Auch in dieser scheinbar simplen Idee steckte natürlich eine Menge Arbeit, denn meine Frau hatte sich entschlossen, das Kostüm selber zu schnei-

18 Workshop │ Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inneZa

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dern. Und in dieser Art gab es tausend kleine Dinge, die alle sehr aufwändig waren, die uns aber dazu motiviert haben, im nächsten Jahr wieder so etwas zu machen.

Hübner: Ich will auch noch mal sagen, dass die vie-len Arbeiten im Hintergrund kaum bemerkt werden. Es steckte aber unendlich viel Einsatz darin. Das Ergebnis war allerdings auch einmalig. So was hinreißend Schönes und durchgängig Stimmiges, über eine Woche durchge-halten, habe ich seit Jahren nicht gesehen. Es gab auch z.B. durchgehend zu essen, selbstgemachte Pizza und Kuchen, das wurde von den Eltern auch noch organisiert. Wir hatten auf unserer Internetseite geschrieben, dass wir jemand brauchen, der Pizza machen kann. Da kam ein junger Mann aus Potsdam als Pizza-Bäcker und hat drei Abende in der Küche gestanden und Pizza gebacken. Diese Veranstaltung hatte eine enorme Außenwirkung, auch durch die Beleuchtung im Garten. Die Kinder konn-ten damit spielen. Wenn sie sich vor einen Scheinwerfer stellten, dann wuchsen sie zu einem riesigen Gespenst über die ganze Villa. Es war wirklich eine Märchenwelt.

TN: Habt ihr darüber auch einen Film gedreht?

Kaminski: Ja. Es gab so vieles, dass wir jetzt noch gar nicht alles erzählen konnten.

Ingrid Alberding: Wir wussten überhaupt nicht, wie das wird. Ob überhaupt jemand kommt oder ob das nur eine peinliche Nummer wird. Es hätte ja auch sein können, dass die studentischen Hilfskräfte nicht pünktlich da gewesen wären. Oder dass wir vollkommen überlastet von den Kindermassen gar nichts zustande gebracht hätten. Stattdessen war es ein großes Glück. Und ich denke, das hatte auch damit zu tun, dass es relativ gut organisiert war von der Vorbereitungsgruppe. So dass die Helfer, die kamen, sich dann auch ganz gut angebunden fühlten. Und es hatte sicher auch damit zu tun, dass das Haus selber ein anheimelnder, magischer Ort ist. Das ist schon ein bisschen eine Villa Kunterbunt, die geradezu danach schreit, dass man etwas aus ihr macht. Für mich war das eine ganz tolle Erfahrung. Diese vielfältige Kooperation und das Erlebnis, dass am Ende das Ergebnis eigentlich deshalb zustande gekommen ist, weil sich jeder mit sei-nen Ressourcen einbringen konnte. Das hat zahnradar-tig ineinander gegriffen. Als es dann so weit war, kam es fast nur noch auf das Handeln an. Das war einfach ein

wunderbares Stück Kooperations-Projekt. Und am Ende stand dann, dass alle wirklich sehr viel Spaß dabei hat-ten. Und ich denke und hoffe, dass die Kinder viel dabei gelernt haben. Und die Erwachsenen auch.

Godulla: Kamen denn zur Blauen Stunde auch die Lehrer noch mal?

Kaminski: Auch da wussten wir nicht, was mit dieser Blauen Stunde passiert. Dass nach einer Lücke von vier Stunden die Kinder wieder zurückgekommen sind, war nicht unbedingt abzusehen. Sie haben ja zum Teil in dieser Zeit noch andere Verpfl ichtungen wie Sport oder Klavierspielen. Und wir wussten auch nicht, ob sie über-haupt wiederkommen und Interesse haben würden an dem, was sie sich ausgesucht hatten. Wenn zum Beispiel bei einem Theaterspiel 4 Leute fehlen, dann sind halt die Rollen nicht besetzt. An einigen Tagen konnten wir das Haus nicht schließen, weil so viele Kinder da waren. Das hatte sich dann auch rumgesprochen, und das Haus war einfach ununterbrochen brechend voll. Eltern, Tanten, Onkel, Großeltern, alle kamen. Einen klei-nen Trick hatten wir angewandt, indem wir den Kindern am Mittag ihre Arbeitsergebnisse nicht mit nach Hause gegeben hatten.

TN: Wir vom Kreativhaus waren ja bei den Märchenta-gen auch dabei, und wir waren ständig ausgebucht. Ich glaube, das hatte auch mit der diesjährigen Thematik zu tun.

Hübner: Toll waren ja am letzten Tag in der Blauen Stunde auch die drei Mädchen, die da gerapt haben. Pippi Lang-strumpf mit Rap! Und dann durften sich bis zu 20 Kinder zum Übernachten im Haus anmelden. Natürlich waren es viel mehr Anmeldungen. Und vor allem kamen auch Kin-der, die im Haus nicht bekannt waren. Jetzt stellt man sich die erschöpften Erzieherinnen und die erschöpften Eltern vor – die waren alle gar nicht erschöpft! Das wurde dann eben auch noch gemacht: um 19 Uhr wurde die Losliste aufgestellt, und um 20 Uhr saßen die Kinder rappeldicht neben dem Feuertopf in der Jurte draußen. Und da war der nächste Ehrenamtliche, der mit den Kindern Mär-chenlieder sang. Unglaublich!

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Sperling: Unser Thema ist ‚Chancen des Perspektiv-wechsels und der Entdeckung des Stadtteils als Lernfeld – Schule im Stadtteilverbund’. Die Frage ist, ob man einen Perspektivwechsel machen sollte oder ob man sich damit in Gefahr begibt. Ich will gleich hier alle ermutigen, ihre Arbeit vorzustellen, auch wenn die vielleicht nicht mit einem Perspektivwechsel verbunden ist. Vielleicht füh-ren uns die Impuls-Referate am Ende zu Überlegungen, an welchen Punkten sinnvolle Veränderungen in Gang gesetzt werden können oder wo es eben vielleicht auch nicht ausreicht. Metzger: Meine Kollegin Ricarda Wolter und ich machen das Projekt ’Going Social’ im Wedding in Berlin. Das Pro-jekt beruht auf der Idee, Jugendlichen praktische Erfah-rungen durch bürgerschaftliches Engagement zu vermit-teln. Es geht also um eine andere Art sozialen Lernens. Ziel des Projektes ist es, Jugendlichen Raum zu bieten, in dem sie neue Erfahrungen sammeln können, soziale Kompetenzen durch verantwortliches gewinnen und auf Grund ihres Engagements dann auch ganz neue Erfah-rungen sammeln. Das Ganze beruht auf dem Konzept des ‚Service Learning’, das aus dem angelsächsischen Raum kommt und den Ansatz des Lernens durch Erfahrung ver-folgt. Jugendliche erhalten die Möglichkeit, in sozialen und karitativen Einrichtungen in ihrer Nachbarschaft aktiv zu werden. Im Rahmen von zeitlich und inhaltlich

möglichst überschaubaren Projekten handeln die Jugend-lichen eigenverantwortlich, erproben ihre Fähigkeiten und erweitern ihre sozialen Kompetenzen. Dabei geht es um Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Einfühlungsvermögen in Situationen von unterschiedlichen Kulturen und Gene-rationen und um Teamfähigkeit. Unser Ziel ist es, den Jugendlichen Zugang zu bürgerschaftlichem Engagement zu öffnen, aber auch die Möglichkeit zu geben, dass sie ihre Nachbarschaft einmal ganz anders erleben, indem sie Bereiche kennen lernen, zu denen sie normalerweise keinen Kontakt hätten.

Uns geht es darum, möglichst vielen Jugendlichen dieses Projekt näher zu bringen. Das ist natürlich nicht ganz ein-fach. Deshalb sind unsere Anlaufstellen zunächst einmal die Schulen. Dort fragen wir an, ob sie interessiert sind, im Rahmen eines besonderen Schulprojektes mit uns zusammen zu arbeiten. Wenn Interesse besteht, müssen die Schulen dafür Raum und Zeit zur Verfügung stellen. Es geht also darum, dass der Einsatz der Jugendlichen in der Zeit des Schulunterrichts stattfi nden kann. Darüber hinaus ist es wichtig, dass die Jugendlichen neben ihrem Einsatz einen Raum zum Austausch ihrer Erfahrungen und Gedanken zur Verfügung bekommen. Über Schwierig-keiten und Probleme sprechen wir später noch. Das Team dieses Projekts sucht Einrichtungen, die sich daran betei-ligen, legt mit ihnen Einsatzfelder fest und entwickelt mit ihnen und den Jugendlichen ein kleines Projekt für den jeweiligen Einsatzort.

Die Umsetzung sieht konkret so aus: Das Team übernimmt die Planung und Durchführung der verschiedenen Vorha-ben. Wir vermitteln die sozialen Einrichtungen, überneh-men die Arbeitsplanung, die Vorbereitung und Begleitung der Jugendlichen vor und auch während der Einsätze. Wir halten die Verbindung zu den Einrichtungen und machen Absprachen im Zusammenhang mit den schulischen Lehr- und Zeitplänen. Wir organisieren die Vereinbarungen zwi-schen Jugendlichen, Schule und Einrichtungen. Am Ende der Projekte erarbeiten wir auch die Präsentation und Eva-luation der einzelnen Projekte. Vor allem aber machen wir gemeinsam mit den Jugendlichen eine Abschlussveranstal-tung, zu der auch die offi ziellen Vertreter des Bezirks einge-laden werden, damit ihr soziales Engagement angemessen gewürdigt wird. Auf der Veranstaltung erhalten sie öffent-liche Anerkennung und bekommen eine entsprechende Urkunde verliehen. Darüber hinaus bekommen die Jugend-

Workshop: Mit dem Zweiten sieht man anders

Inputs: Bernd Giesecke, (Bürgerschaftshaus Bocklemünd, Köln)Hannah-Ruth Metzger und Ricarda Wolter, (Nachbarschaftshaus Prinzenallee, Berlin)Markus Runge, (Nachbarschaftshaus Urbanstraße, Berlin)

Moderation: Petra Sperling und Viola Scholz-Thies

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Nicht für die Schule, sondern für das Leben ...│ Bildung im Stadtteil 21

lichen eine individuelle Beurteilung von der Einrichtung, in der sie aktiv waren. Die können sie bei Bewerbungen dann ihrem Schulzeugnis beilegen.Beispiele für Einsatzfelder sind Seniorenheime, Kinder-tagesstätten, Essensausgaben für sozial Benachteiligte, Einrichtungen wie das MacDonald-Haus, wo Familien mit schwerkranken Kindern unterstützt werden. Hier können die Jugendlichen z.B. morgens beim Frühstück helfen und mit den Eltern Kontakt haben. Oder es gab Anfragen aus einem Seniorenheim, dass einige gerne am Computer etwas lernen wollten, während wir zwei Jugendliche hatten, die dort ganz fi t waren.

Wir wollen jetzt noch einige Punkte ansprechen, die für uns schwierig sind oder wo wir etwas dazulernen müssten.

Wolter: Ich möchte über sowohl positive wie negative Erfahrungen mit dem Projekt berichten. Und ich will gleich-zeitig auch Fragen in den Raum stellen, die wir uns gestellt haben, die vielleicht Lösungsmöglichkeiten darstellen und gleichzeitig Diskussionsstoff für die Runde bieten. Wie schon gesagt wurde, hatten wir drei Schritte der Umsetzung. Als erstes mussten wir Einrichtungen fi nden, die überhaupt bereit waren, Jugendliche bei sich aufzunehmen. Manche Einrichtungen arbeiten nicht mit Jugendlichen aus Haupt-schulen zusammen. Das war schon mal die erste Hürde, die wir überwinden mussten Einrichtungen davon zu über-zeugen Zeit und Personal für eine solche Zusammenarbeit zur Verfügung zu stellen. Der zweite Schritt war, dass wir Schulen ansprechen mussten. Und da war das Problem, dass Schulen gerade in Berlin ganz oft überfordert sind mit den vielen Projekten, die auf sie zukommen, mit denen sie zusammenarbeiten sollen. Und da war unser Problem, wie wir die Schulen davon überzeugen, dass gerade unser Projekt ein gutes Projekt ist, das sie unterstützen sollten. Wie können Schulen die Qualität unterschiedlicher Pro-jekte unterscheiden? Darüber sind wir uns noch nicht so ganz klar geworden. Der dritte Schritt ist die Ansprache der Jugendlichen, was eigentlich die größte Hürde ist. Wie motivieren wir Jugendliche, wie machen wir ihnen klar, was es ihnen bringt, sich bürgerschaftlich zu engagieren? Das war auch deshalb für uns schwierig, weil wir im Rahmen der Schule agieren mussten. Dort sind sie als Schüler an bestimmte Muster, Rahmen und Methoden gewöhnt. Und wir wollten eigentlich ganz andere Methoden benutzen, um die Schüler zu motivieren. Wir sind in die Klassen rein-gegangen und ließen erst mal die Jugendlichen aus ihren

eigenen Erfahrungen berichten. Wir stellten ihnen Fragen zu ihrem Alltag, ob sie Geschwister haben, ob sie mit ihren Großeltern zusammen wohnen, wie viele Sprachen sie sprechen, ob sie schon im Ausland waren. Also alles Posi-tive ihres Lebens ein bisschen hervorzuheben und so ihr Selbstvertrauen zu stärken. Ihnen bewusst zu machen: sie sprechen häufi g zwei Sprachen, das ist auch ein Vorteil, es muss keineswegs ein Defi zit sein. Aufbauend auf ihren Fähigkeiten, die ihnen bewusst geworden waren, sagten wir ihnen, dass gerade ihre Fähigkeiten in den Einrichtungen, in die wir sie schicken wollten, gebraucht werden. Und dann stellten wir ihnen diese Einrichtungen vor. Und rückblickend auf ihre Erfahrungen, die wir herausgearbeitet hatten, konnten sie sich dann für eine Einrichtung entscheiden. Es war nicht einfach, aus dem Rahmen der Schule heraus-zukommen und solche freien Konzepte umzusetzen. Die Jugendlichen waren an unsere Art des Herangehens nicht gewöhnt. Und die Lehrer können sich nur schwer aus dem Geschehen heraushalten. Und dann waren wir schnell wie-der in der Schulsituation, was uns nicht gefallen hat. Außer-dem haben wir es mit Jugendlichen zu tun, die gerade in der Pubertätsphase sind, die also auch ganz andere Dinge im Kopf haben. Und die nicht immer bereit waren, sich auf dieses Thema einzulassen oder den Sinn dahinter zu sehen.

Ein weiteres Problem ist der Rahmen der Schule, der oft sehr begrenzt ist. Eine Schule hatte fünf Stunden zur Ver-fügung gestellt. Das war für viele Einrichtungen schon zu viel, an einem Tag Jugendliche für fünf Stunden zu betreuen und ihnen Einblick zu geben. Jetzt sind wir an einer Schule, die gibt sogar zwei Tage drei bis vier Stun-den frei, und zwar für die ganze Schule. Das ist schon fast eine perfekte Situation für bürgerschaftliches Enga-gement. Das ist eigentlich gedacht für Jugendliche, die versuchen langfristig zu arbeiten.

Aus diesen Situationen, in denen wir Erfahrungen gesam-melt haben, haben wir auch eine ganze Menge gelernt im Umgang mit Schulen. Eine Einsicht ist, dass wir gegenü-ber den Lehrern unbedingte Transparenz bewahren müs-sen. Sonst werden falsche Erwartungen geweckt, auch bei den Jugendlichen. Beispielsweise muss ein Zeitrah-men, den wir uns gesteckt haben, für die Lehrer einsich-tig sein. Sonst können Interessen sehr stark miteinander kollidieren. Dann müssen die Rollen genau abgeklärt werden, was die Rolle des Lehrers in der Situation ist und

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was unsere Rolle ist. Wir wollen ja nicht nur diejenigen sein, die die Einrichtungen ansprechen, sondern wir wol-len mit den Jugendlichen ins Gespräch kommen. Diese Dinge müssen vorher ganz klar geregelt sein. Und auch mit den Einrichtungen müssen konkrete Abspra-chen getroffen werden. In welchen Bereichen Jugendliche eingesetzt werden können, wo ist der Bedarf überhaupt da - oder: ist auch eine Betreuungsperson für die Jugendlichen da? Das wird von den Einrichtungen ganz oft vergessen. Das führt dann dazu, dass da Jugendliche hinkommen und niemand ist da, der sich um sie kümmert, so dass sie sich ganz verloren dort fühlen. Das darf nicht passieren.

Uns ist immer noch unklar, in welchem Maß man den Jugendlichen selbstständig auszuführende Arbeitsaufträge geben kann. Das hat auch was mit dieser Betreuungsper-son zu tun, die in den Einrichtungen sein sollte. Kann man sie also alleine losschicken, sich vorzustellen und Termine auszumachen? Oder muss man sie immer begleiten? Die Situation ist manchmal absurd, denn die Lehrer unter-schätzen die Jugendlichen regelmäßig, während wir sie meistens überschätzen. Irgendwas müssen wir da noch anders machen, vielleicht noch mehr Erfahrungen sam-meln? Ich weiß es nicht. Die Lehrer waren aber jedenfalls oft überrascht, was die Jugendlichen alles können.

Metzger: Abschließend noch ein Zitat von einem Lehrer: „Die Schüler kamen durch die Projekte in viele Situati-onen, wo sie sich im sozialen Umgang miteinander üben konnten. Auf andere eingehen, einen gemeinsamen Weg suchen in einer konkreten Situation, dafür stiftete das Projekt viele Anlässe. Aber vor allem haben die Schüler etwas für sich persönlich daraus ziehen können. Viele haben gemerkt: man braucht sie hier, egal welche Noten sie haben. Dass ihnen das von den Menschen gezeigt wurde, das tat ihnen gut“.

TN: Wie alt waren die Jugendlichen? Und über welchen Zeitraum hat sich euer Projekt erstreckt?

Metzger: Die Jugendlichen sind 15 bis 16 Jahre alt. Bei Jüngeren haben wir große Schwierigkeiten, Einrichtungen zu fi nden, die sie wollen. Die Erfahrungen mit diesem Pro-jekt erstrecken sich bis jetzt über ein Jahr. Davor gab es schon ein ähnliches Projekt, insgesamt sind es 1 ½ Jahre.

TN: Was ihr beschrieben habt, kenne ich aus den USA, da ist es Teil des Schulsystems. Dass die Jugendlichen bei dem Projekt etwas lernen, ist ganz sicher für mich. Auch wenn es im Rahmen der Schule stattfi ndet, ist ihr Engagement aber doch freiwillig. In dem Zusammenhang interessiert mich, ob einige der Jugendlichen weiterhin so was machen.

Metzger: Unser Ziel ist ja erst mal das Heranführen. Die Frage ist dann, wie kann man jemanden an soziales Enga-gement heranführen, der von sich aus noch nicht bereit ist, so was zu machen. Darum haben wir den Schritt in die Schule gemacht. Beim letzten Mal sind zwei Schüler dabei geblieben und arbeiten immer noch in einem Seni-orenheim. Sie machten im Anschluss dort sogar noch ein Praktikum. Und es ist ihnen eine Ausbildungsstelle ange-boten worden. Dass es von allen so angenommen wird, das erwarten wir gar nicht. Dass zwei dabei geblieben sind, ist für uns ein Erfolg.

TN: Wie viele Jugendliche haben insgesamt teilgenommen?

Metzger: Beim letzten Mal waren es 25, und jetzt sind es 15.

TN: Über welchen Zeitraum?

Metzger: Das letzte Mal waren es 8 Wochen, jeweils ein Tag pro Woche. Die Sonderschule, an der wir jetzt sind, gibt uns ein Jahr und zweimal vier Stunden pro Woche.

Sperling: Gibt es denn ähnliche Projekte, die bereits durchgeführt werden, hier in Berlin oder in anderen Bun-desländern?

Runge: In Kreuzberg wird Service Learning jetzt auch an einer Grundschule angefangen. Das Projekt geht aber gerade erst los, deswegen liegen noch keine Erfahrungen vor.

Wolter: Unsere Idee ist ja, dass sich die Schüler selbst ihre Projekte schaffen. Dass sie ihren Kiez erkunden, erst mal gucken, wo gibt es Bedarf, kann man was ändern? Wir haben es ja so gemacht, dass wir die Grundelemente vor-geben haben und sie sich daraufhin engagieren konnten. TN: In Schöneberg gibt es eine Hauptschule, die das seit Jahren macht. Dort gibt es ein Netzwerk, in das sie immer wieder ihre Schüler einsetzt.

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Nicht für die Schule, sondern für das Leben ...│ Bildung im Stadtteil 23

Giesecke: In Köln gibt es Schüler-Firmen. Das ist dann weniger im Rahmen von bürgerschaftlichem Engagement zu sehen als vielmehr: was habe ich davon, ich möchte gerne Geld verdienen. Gerade im Bereich Neuer Medien geht es da um Software-Entwicklung. Aber es geht auch um den Bereich, wo Hilfe angeboten wird, wie ‚Jung hilft Alt’. Und das ist erstaunlicherweise sehr gut, weil das näm-lich aus den Schulen kommt. Oft kommen diese Projekte ja eher aus der Jugendhilfe heraus. Und dieses ist eine inte-ressante Geschichte, die in der Schule entwickelt worden ist, wo durchaus auch Unterstützung von Jugendhilfe-Trä-gern gegeben wird. Das sieht dann so aus, dass am Vormit-tag in der Schule etwas erarbeitet wird, und am Nachmittag wird das in den Computerbereich von Jugendzentren ver-lagert. Aber auch hier fehlt immer noch etwas die Öffnung der Schulen. Das ist ein grundsätzliches Problem.

Sperling: Wir wollen weiter gehen zur nächsten Projekt-vorstellung.

Giesecke: Bei uns in Köln geht es um das Konzept der offenen Ganztagsschule. Das läuft in Nordrhein-Westfa-len seit drei Jahren. Es wird weiter ausgebaut, und wir gehen da im zweiten Jahr mit zwei Projekten rein. Hinter-grund ist, dass in Nordrhein-Westfalen die Hortbetreuung abgeschafft wird. Schon im nächsten Jahr werden die Grundschulen Ganztagsschulen sein. Ein Charakteristikum des Programms ist, dass es nicht nur von der Schule allein durchgeführt wird, sondern dass es auf eine Kooperation zwischen Schule und Jugendhilfe angelegt ist. Die Jugendhilfe soll dieses Projekt entweder in eigenen Räumen oder an der Schule stattfi nden lassen.

Unser Bürgerzentrum liegt in Köln-Bocklemünd. Das ist ein Stadtteil im Nordwesten und relativ weit draußen. Hier gibt es nun die offene Ganztagsgrundschule mit einem Konzept, das die Schule nicht grundlegend verändert. Es geht einfach darum, Kinder bis zum Alter von 16 Jahren in der Zeit von 8 bis 17 Uhr zu betreuen. Dabei gibt es wenig freie, spontane Entfaltungsmöglichkeiten für die Kinder. Hausaufgaben werden durch die Lehrer beauf-sichtigt, es gibt im Nachmittagsbereich Arbeitsgruppen und Förderunterricht. Wir haben hier einen schulischen Arbeitsalltag, der für die kleinen Kinder nicht sinnvoll ist. Als Partner der Schule versuchen wir, diesen sehr straffen Alltag dadurch aufzulockern, dass es sehr viele Bewegungsangebote gibt, weil wir von der Erkenntnis

ausgehen, dass Bewegung Ler-nen fördert. Wenn Kinder vier Stunden am Vormittag gelernt haben, brauchen sie danach Sport- und Gymnastikangebote. Das Problem, das wir grundsätz-lich in der Auseinandersetzung mit Schule haben, ist, dass Schule sich als ‚Lernort’ ver-steht und nicht als ‚Lernraum’, der über die Räumlichkeit der Schule hinaus geht. Das ist aus meiner Sicht ein ganz großes Problem, das ich so beschreiben möchte: den Lehrern fehlt sozi-ale Empathie. Sie bringen den Kindern einen Stoff bei, aber sie bekommen nicht mit, welche Lebenswelt diese Kinder haben. Die Frage sollte doch sein, wie kann ich darauf eingehen, um auch lustvolles Lernen zu ermöglichen. In den Bereichen, die ich kenne, also in der Grundschule und in der Lernbehinderten-Schule, gibt es das nicht. Kinder gehen in die Schule, ohne dass von den Lehrern ihr tagtägliches Drumherum anerkannt wird. Wir haben als Träger des Projekts das Problem, dass wir die Billig-Variante einer Betreuung für Kinder ver-kaufen müssen. Horte werden abgeschafft, wo bisher zwei Erzieher mit jeweils vollen Stellen gearbeitet haben. Für die Betreuung der Schülerinnen und Schüler in der offenen Ganztagsschule steht dagegen pro Gruppe nur eine halbe Stelle zur Verfügung plus Honorarkräfte, bzw. geringfügig Beschäftigte. Oder es wird eben nach ehren-amtlichem Engagement gerufen von Eltern, Pensionären, Lehrern, die da mitmachen sollen.

Die Gruppengröße ist 25. In dem Bereich, den wir gestal-ten, man kann schon sagen ‚beackern’, werden etwa 100 Kinder betreut. Das fi ndet in dem Spannungsfeld statt, dass wir als Jugendhilfeträger aus dem gestalterischen Bereich kommen und davon ausgehen, dass ein lust-volleres Lernen ermöglicht werden muss. Wir stecken immer wieder in der Auseinandersetzung mit dem System Schule, in dem es ausschließlich um die Vermittlung von Inhalten geht. Alles steht ständig unter dem Diktat des Lehrplans, mit dem unsere Bemühungen abgeblockt werden. Das macht die Zusammenarbeit ausgesprochen schwierig. Diese Haltung kann aber für mich nicht der

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Weisheit letzter Schluss sein, dass alle Möglichkeiten zu freierem lebensnahen Lernen ausgeklammert sind. Der Aufbau dieses Projektes hat im Vorfeld fast ein Jahr Arbeit gekostet. Wir haben mit der Schule lange diskutiert, wie es in der Praxis aussehen soll. Zunächst sagte die Schule noch, dass im Grunde der Hort mit anderen Mit-teln weitergeführt werden sollte. Es wurde also anerkannt, dass Hort-Arbeit eine relativ gute Arbeit ist. Mit Einsetzen der Praxis, das sind jetzt vier Monate, wurde eine große Schleife gedreht in Richtung auf Verschulung der Hort-Arbeit. Wir haben eine Gruppe in unserer Kindertages-stätte aufgeben müssen und dafür vier neue Gruppen im Bereich der offenen Ganztagsschule aufgebaut. Und wir haben da neue Arbeitsplätze geschaffen, wobei es aber nur noch halbe Stellen sind. Es gibt eine Koordinatorin, die hat eine volle Stelle und ist für die Auseinanderset-zung mit Schule zuständig. Und da gibt es eine Unmenge von Schwierigkeiten zu bereden. Es fängt damit an, dass wir eine Küche eingerichtet haben und dass jetzt nicht klar ist, wer die Mülltonnen bezahlt. Das war halt vorher nicht geklärt worden. Das muss dann mit der Schullei-tung, mit dem Schulamt, mit der Bezirksleitung und sonst wem geklärt werden. Auch die regelmäßigen Absprachen mit Schule und Lehrern erweisen sich als großes Problem. Es wird von den Lehrern gefordert, dass wir Informationen über das Verhalten einzelner Kinder im offenen Ganztags-betrieb weitergeben. Das wollen wir nicht. Und das sind viele Lehrer nicht gewöhnt. Sie sind sozusagen keine Team-Spieler. In den Klassen sind sie Einzelkämpfer. Und das ist bei uns im Bereich der Jugendhilfe anders. Wir arbeiten seit jeher im Team, und Dinge, die besprochen werden müssen, erfordern einen bestimmten Rahmen.

TN: Ich habe eine Frage in Bezug auf die Finanzierung. Wenn beim Personal so drastisch gespart wird, wird ja all das, was mit einer Ganztagsschule erreicht werden soll wie Altersdurchmischung z.B. komplett gekippt. Wie passt denn das zusammen?

Giesecke: Das Konzept soll ja noch ausgeweitet werden auf die Hauptschulen. Es ist sehr viel Geld in dieses Pro-jekt rein gesteckt worden, weil ja erst mal sehr viel umge-baut werden musste. Aber auf längere Sicht wird es auf Sparen hinauslaufen.

TN: Und wie verhält sich die Elternschaft dazu?

Giesecke: Der Elternschaft ist es relativ egal. Eltern wol-len, dass ihre Kinder betreut werden. Das Einzige, was den Eltern nicht gefallen hat, das ist, dass sie Essensgeld bezahlen müssen. Sie waren davon ausgegangen, das fi n-det in der Schule statt, es ist ja eine Ganztagsschule, und dann muss das Essen von der Schule bezahlt werden.

TN: Ich habe jetzt verstanden, dass Nordrhein-Westfalen Ganztagsschulen macht. Und das Schulamt kauft sich offene Jugendhilfe ein, von außen, um den Nachmittag mit sozialpädagogischem Personal abzudecken. Der Lehrkör-per bleibt wie er ist mit der Arbeitszeit am Vormittag. Ich kann nicht erkennen, wo da Geld rein gesteckt wurde, wenn vorher die Hortgruppen zwei Erzieher hatten, was viel ist.

Giesecke: Die Kooperation mit der Jugendhilfe ist ver-ordnet. Aber allein die Tatsache, dass das Schulamt mit dem Jugendamt zusammen arbeiten muss, das gibt einen unglaublichen bürokratischen Wust. Deren Arbeitsteilung sieht so aus, dass die Gelder über das Jugendamt reinge-holt werden, während das Schulamt eher die planerische Tätigkeit übernimmt.

Wolter: Es klang jetzt so, dass die Lehrer nur über die Hausaufgabenhilfe in den Nachmittag einbezogen sind, der Rest aber getrennt ist.

Giesecke: Das ist eine der Vorgaben, dass pro Gruppe 0,2 Lehrerstellen von der Schule eingebracht werden müs-sen. Wobei 0,1 Lehrerstelle ‚kapitalisiert’ werden kann, d.h., das relativ geringe Budget kann damit aufgestockt werden. Für uns ist das positiv, weil wir damit eine etwas bessere Personalsituation schaffen können.

TN: Für Berlin ist interessant, dass es unterschiedliche Modelle gibt bezüglich der ergänzenden Betreuung. Das kann entweder in der Schule sein, aber es gibt auch Bei-spiele, wo es außerhalb der Schule stattfi ndet. Das kann in der Beziehung zum Stadtteil ganz spannend sein. Wir haben selber auch eine ergänzende Betreuung an einer Ganztagsschule, die wir als freier Träger organisieren. Und da gehen die Erzieher sogar Vormittags in die Klassen mit rein. Da sind sie fördernde Erwachsene neben den Lehrern. Das hat in einer Schule zu einer sehr fruchtbaren Zusam-menarbeit zwischen Erziehern und Lehrern geführt und zu einem Miteinander im Sinne der Förderung der Kinder.

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TN: Ich arbeite an einer Grundschule als Erzieherin. Ich sehe meine Arbeit da als sehr positiv, ich arbeite gerne da, und wir sind auch ganz viel mit im Unterricht bei den Lehrern. Und so eine Zusammenarbeit wächst natürlich auch über Jahre. Natürlich ist es am Anfang schwierig, aber da kann sich eine Menge Tolles draus entwickeln. Wir sind jedenfalls sehr zufrieden.

TN: Ich arbeite in der Hortbetreuung, in Kooperation mit einer Grundschule. In dem, was hier gesagt wurde, habe ich vieles von uns wiedererkannt. Unsere Einrichtung besteht seit etwa zwei Jahren. Die Grundschule hat 500 Kinder, die wir Morgens ab 6 Uhr betreuen. Und am Nach-mittag sind es 220 Kinder. Und wir haben das alles ganz offen angelegt. Unser Betreuungsbereich ist von 6 bis 18 Uhr geöffnet, und da teilt sich das Team halt auf. Es gibt Kollegen, die nur im Vormittagsbereich sind und solche, die nur am Nachmittag da sind. Und es gibt Kollegen, die über-lappend sind. Dadurch, dass alle Angebote ganz offen sind, bietet sich für die Kinder die Möglichkeit, sich genau das auszusuchen, was sie machen wollen. Das hat für uns, die dort arbeiten, eine Schwierigkeit zur Folge, nämlich dass wir immer wieder anderen Kindern gegenüber stehen. Es entwickelt sich nur schwer ein enger Kontakt zu einzelnen Kindern und auch kaum mal ein Gruppengefühl.

Zinner: Wir haben immer schon versucht, als Nachbar-schaftsheim die Zusammenarbeit mit den umliegenden Schulen aufzubauen. Als die Ganztagsschule eingeführt wurde, entstanden unterschiedliche Formen. Es gibt die gebundene Ganztagsschule und die offene Ganztags-schule, wo wir als freier Träger zugelassen sind. Wir koope-rieren mit 5 Schulen, wir haben den Aufbau mitgemacht, was sehr anstrengend war. Aber ich habe nicht die Erfah-rung gemacht, dass die Schulen sich diesem Prozess der Öffnung verweigert oder nicht mitgemacht hätten. Und auch jetzt nach 3 Jahren, mit zwei Jahren Praxis, sind die Schulen sehr interessiert an der Zusammenarbeit mit uns. Natürlich ist es so, dass die beiden Systeme sich erst mal fremd sind und die Kooperation lernen müssen. Das ist ein Entwicklungsprozess. Aber wir als Nachbar-schaftseinrichtung sollten doch froh sein, dass an unserer Mitwirkung Interesse besteht. Gut, in Berlin müssen die Schulen nicht mit freien Trägern zusammenarbeiten, son-dern sie dürfen es. Das mag ein wichtiger Unterschied sein zu Nordrhein-Westfalen. Aber ich weiß von unseren Mitarbeitern, dass die Zusammenarbeit mit den Schulen

ausgesprochen positiv verläuft. Und die Reibereien, die es dort gibt, die gibt es in jedem Betrieb. Wir sollten es als große Chance sehen, dass wir mit den Lehrern zusammen an dem zentralen Ort für Bildung die Dinge mit beeinfl us-sen können. In Schule, Hort und Kindertagesstätte wer-den alle Grundlagen geschaffen, nirgendwo kommt man näher an Kinder, Jugendliche und an Eltern ran. Bei allen Problemen sehe ich das als ganz große Chance für uns.

TN: Gerade was die Zusammenarbeit zwischen uns und Lehrern betrifft, gibt es da Gespräche zum Paradigmen-wechsel, was das Lernen betrifft? Und vielleicht können ja gerade Eltern Partner sein, die auch für dieses Thema Interesse haben.

Giesecke: Grundsätzlich sehe ich diese Zusammenarbeit auch als große Chance. Und ich sehe es für die Schule als große Bereicherung an, dass sie uns als Bürgerzen-trum mit ins Boot bekommen hat. Weil dadurch nämlich ein anderer Blick auf den Stadtteil ermöglicht wird. In unserem Fall sehe ich unsere Zusammenarbeit mehr als Chance für die Schule, weil sie sich sehr auf den Raum Schule zurückgezogen hat. Das macht sich z.B. daran fest, dass die seit Jahrzehnten stattfi ndende Stadtteilkon-ferenz regelmäßig von den Schulen nicht besucht wird. Sie werden eingeladen, es werden bestimmte Themen regelrecht auf sie zugeschnitten, gerade was den Über-gang von der Hort-Betreuung zur offenen Ganztagsschule betraf. Das Einzige, woran sie teilgenommen haben, war eine Podiumsdiskussion, als wir das mit Vertretern der Stadt diskutiert haben. Ansonsten hat sich die Schule da zurückgehalten. Wir hoffen, dass die Schule erkennen wird, dass der Stadtteil auch für sie ganz wichtig ist. In der Schule nimmt man z.B. bisher gar nicht wahr, dass es Ansätze gibt, bürgerschaftliches Engagement im Stadtteil zu aktivieren, was sich ja auch die Schule zunutze machen könnte. Sie suchen Hilfen für Hausaufgaben, sie suchen ja gerade Menschen, die sich engagieren. Aber sie gehen dafür nicht aus ihrem Rahmen raus, das scheint sie zu überfordern. Das sind Dinge, die mich ärgern. Die Forde-rungen werden von der Schule an den Jugendhilfeträger gestellt, gleichzeitig gibt es auf ihrer Seite wenig Bewe-gung. Und das fi nde ich ausgesprochen problematisch.

Sperling: Gut, das sind zwei verschiedene Sichtweisen.

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TN: Ich frage mich, ob da nicht vielleicht ein Systemfehler vorliegt. Die Erzieherinnen fangen frühestens um 12 Uhr an zu arbeiten. Es gibt zwar eine Koordinatorenstelle, aber es gibt keine Überlappungen und keine gemeinsamen Erfahrungen von Lehrern und Erziehern.

Sperling: Aber es sind auf gewisse Weise ja tatsächlich unterschiedliche Systeme, Schule und Betreuungsbe-reich. Uns geht es ja heute nicht nur um die Frage, ob man gut oder schlecht mit Lehrern zusammen arbeitet, son-dern um die Chancen eines Perspektivwechsels. Schule ist zweifelsfrei der primäre Lernort. Und unsere zentrale Frage ist heute, wie wir den Stadtteil als Lernfeld mit ein-beziehen können. Vielleicht kann uns dazu Markus Runge vom Nachbarschaftshaus Urbanstr. in Berlin-Kreuzberg etwas mehr erzählen.

Runge: Das Nachbarschaftshaus arbeitet in Kreuzberg in mehreren Gebieten, mit zwei Schwerpunkten. Das eine Gebiet ist eine Neubausiedlung aus den 80er Jahren mit ca. 90% Migranten, 80% leben von Transferleistungen.

Das andere Gebiet ist ein gründerzeitliches Altbaugebiet mit mit-telschichtsorientierter Bevölkerung und 70% deutscher Staatsbür-gerschaft. Diese beiden Gebiete grenzen unmit-telbar aneinander. Ich bin vor drei Jahren mal aus einer Schule

rausgefl ogen, weil ich nach einem Raum gefragt hatte, in dem sich eine Initiative treffen könnte. Seither bin ich sehr an dem Thema Schule im Stadtteil interessiert. Die fünf Schulen für diese beiden Quartiere liegen alle im Altbau-gebiet. Es ist eine sehr vielfältige Schulstruktur mit einer öffentlichen Grundschule, einer privaten islamischen Grundschule, einer Hauptschule und zwei Gymnasien. Die Probleme im Umfeld der Schulen, die ich ganz kurz anskizziert habe, bilden sich auch in den Schulen ab. Bil-dungsorientierte Eltern aus dem Graefekiez schicken ihre Kinder möglichst außerhalb des Stadtteils zur Schule. Das bedeutet, dass 65% der Kinder aus dem Neubaugebiet in die öffentliche Grundschule gehen und damit natür-lich auch die Schule bestimmen. Die Gymnasien, aber auch die islamische Grundschule, haben keinen richtigen

Stadtteilbezug sondern größere Einzugsgebiete. Und auch dort trifft zu, dass der Anteil der Schüler mit Migrations-hintergrund überwiegt. Das heißt, wir haben fünf Schulen mit überwiegendem Migrationshintergrund, teilweise mit starkem Bezug zum Stadtteil, teilweise nicht.

In Gesprächen mit den Schulen stellte sich heraus, dass die Schulen sehr wenig miteinander zu tun haben, obwohl sie so nah bei einander liegen. Besonders fällt die isla-mische Grundschule heraus. Die wird immer wieder mit extremistischen Kreisen in Verbindung gebracht, mit vielen Vorurteilen belegt. Und wenn es dann um Sport-möglichkeiten für die islamische Grundschule geht, dann werden die am Freitag Nachmittag um 16 Uhr ermöglicht. Also zu Zeiten, wo es eigentlich für Schüler ungünstig ist. Eine zweite Schule, die ein bisschen rausfällt, ist eines der Gymnasien. Zwischen den anderen drei Schulen gibt es kleinere Kooperationsansätze, die in der Regel von dem zweiten Gymnasium ausgehen. Zum Thema Jugendsozialarbeit an der Schule: Es gibt zwei Schulen, die in der Schule über einen freien Träger Jugendsozialarbeit machen. Einmal in Form einer Schul-station, einmal in Form eines Jugendsozialarbeiters. Mein Fazit aus der näheren Beschäftigung mit der Schul-situation ist, dass eine Öffnung notwendig ist in das Quartier. Dass es aber eine Gefahr der Überforderung gibt, wie es ja auch in anderen Beiträgen schon ange-sprochen wurde. Es stellt sich die Frage: können Schulen das eigentlich leisten, sich dem Quartier zu öffnen? Ich glaube, die Schwierigkeit liegt darin, dass wir bisher das Problem zu sehr der schulbezogenen Sozialarbeit überlas-sen. Ich denke, es braucht mehr Initiative aus dem Stadt-teil und dass der Gemeinwesenarbeit dort eine zentrale Rolle zukommt. Es ist mehr Zusammenarbeit notwendig als nur die zwischen Schule, Sozialarbeit und Jugendhilfe. Wichtig ist auch eine Kooperation mit Sportvereinen und Kulturarbeit, Gewerbe und Bewohnern des Stadtteils.

2006 haben wir eine Initiative gegründet, die heißt ‚Grae-fekiez und Schule’. Wir haben uns über mehrere Monate getroffen, viel geredet aber wenig praktische Ideen gehabt. Bis wir schließlich auf ein ganz konkretes Projekt kamen, das wir im Sommer 2007 umgesetzt haben. Das war eine Schulprojektwoche zum Thema ‚Stadtteil’. Mit allen fünf Schulen, Tanzschulen, Sportvereinen, Künstlern, Kirchen-gemeinden, sozialen und gemeinnützigen Organisationen, Verwaltung, Ausbildungsbetrieben, alle, wenn möglich,

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aus der unmittelbaren Nachbarschaft. In Form schulü-bergreifender Projekte sollte eine Begegnung ermöglicht werden. Weil die Beobachtung war, dass zwischen den Schulen wenig Kontakt bestand und es besonders gegen-über der Hauptschule Vorurteile gab. Der Fokus war also darauf gerichtet, dass Schüler und auch Lehrer verschie-dener Schulen zu einander kommen. Und dass dann auch Schüler, Lehrer und lokale Akteure zu einander kommen. Daraus sind dann über 30 Workshops mit ganz verschie-denen Themen geworden, die jeweils über vier Tage gingen. Zwei Drittel der Projekte haben tatsächlich mit Schülern mehrerer Schulen stattgefunden. Davon fanden 14 Pro-jekte außerhalb von Schule statt. In Kirchengemeinden, in Jugendprojekten, in Stadtteilzentren, in Ausbildungsbetrie-ben oder kulturellen Vereinen. Und was wir noch zusätzlich angeboten haben, war die Möglichkeit des Mittagessens im Stadtteil, in Ausbildungsbetrieben, in einem Senioren-zentrum und im Nachbarschaftshaus. Und damit gab es auch die Möglichkeit, diese Orte kennen zu lernen.

Wir haben die vierte bis zwölfte Klasse eingebunden. Da ahnen Sie schon gleich eine Schwierigkeit, nämlich Kinder so verschiedenen Alters in Kontakt zu einander zu bringen. Aber das ist tatsächlich gelungen. Insgesamt haben wir mit etwa 890 Schülern gearbeitet. Unsere größte Schwie-rigkeit war, tatsächlich für alle ein Angebot zu schaffen. Dabei sind uns die Gymnasien sehr entgegen gekommen, indem die älteren Schüler für die jüngeren Angebote gemacht haben. Damit haben sie uns sehr entlastet. Die Angebote gingen von Beach-Volleyball über Capoeira, tür-kische Tänze, es gab mehrere Kochprojekte, handwerk-liche Projekte, Theater, Kampfsport, Selbstverteidigung. Insgesamt gab es 24 lokale Akteure, davon waren 16 unmittelbar aus dem Stadtteil. Das Ganze mündete am letzten Tag in ein Kiezfest aller Schulen, das nach län-gerer Diskussion nicht in einer Schule, sondern auf einem öffentlichen Platz im Stadtteil stattfand. Es nahmen etwa 1000 Kinder daran teil, außerdem Eltern und interessierte Bewohner. Jeder Workshop hatte die Möglichkeit, sich 10 Minuten lang zu präsentieren. Es gab natürlich sehr viele einzelne Erfahrungen, aber die große Erfahrung für uns war, dass die Kinder ganz anders wahrgenommen wurden als normalerweise. Und zwar sowohl von den Eltern als auch von den Lehrern. Das Kiezfest am Ende war sehr friedvoll und sehr bunt. Befürchtungen im Vorfeld, dass wir Polizeieinsätze haben würden und Sicherheitsdienste brauchen, haben sich nicht bewahrheitet. Das Fest ist vollkommen friedlich abgelaufen.

Im Moment stehen wir an dem Punkt, dass wir überle-gen, wie es weitergeht mit der Zusammenarbeit zwischen Schule und Stadtteil. Ich bin mir nicht sicher, ob es bei einer Projektwoche einmal im Jahr bleiben wird. Ich wün-sche mir eine regelmäßige Zusammenarbeit, die kontinu-ierlich weitergeht. Es gibt erste Früchte aus der Projekt-woche. Die islamische Grundschule hat zu einer anderen Grundschule im Stadtteil Kontakt aufgenommen, sie pla-nen jetzt gerade ein vierjähriges gemeinsames Projekt. Leider ist das nicht schulübergreifend, sondern läuft nur parallel, was ich schade fi nde. Und die öffentliche Grund-schule ist mit der Capoeira-Schule in Verhandlungen getre-ten. Wir sehen hier, wir haben etwas angestoßen, das erst mal nur ein Anfang ist. Es kann zu einer Verstetigung des Kontaktes kommen. Es gibt von allen Seiten viel Interesse. Aber es steht gleichzeitig immer die Frage im Raum, inwie-weit die Schule davon überfordert sein könnte.

TN: Das hörte sich jetzt alles so einfach an, dass man sich da eben vernetzt hat. Gab es da überhaupt keine Pro-bleme? So ein Projekt ist ja äußerst komplex, es mussten viele Entscheidungen getroffen werden.

Runge: Der Vorteil war, dass wir im Stadtteil sehr veran-kert sind. Ich mache dort Stadtteilarbeit seit sieben Jah-ren. Ich bin also relativ vertraut mit den verschiedenen Akteuren vor Ort. Wir konnten so an ganz viele Akteure relativ schnell herantreten. Für mich war die Schwierigkeit eher die Schulseite. Wir haben ein Konzept gemeinsam mit einer Grundschule erarbeitet. Was mich erstaunt hat, war die sofortige Bereitschaft aller fünf Schulen, darauf einzugehen. Davon konnte man vorher nicht ausgehen. Was ich auch nicht erwartet hatte, war die Trägheit des Systems Schule. Wir hatten im Februar begonnen, und dann mussten kleinere Entscheidungen immer von Gesamt-Eltern-Konferenzen und Gesamt-Schulkonfe-renzen abgesegnet werden. Das heißt für mich, früher anzufangen, weil Schule lange braucht in den Entschei-dungsprozessen. Es haben sich dabei sehr starke Unter-schiede bei den Schulen herausgestellt, was das Setzen der Prioritäten bei der Schulprojektwoche anging. So gab es eine Schule, wo wir nur eine einzige Lehrerin als Ansprechpartnerin gehabt haben, während es in anderen Schulen eine ganze Reihe von Lehrer/inne/n gab, die in gemeinsamen Arbeitsgruppen sehr intensiv mitgearbeitet haben. Und wir hatten lokale Akteure, die diesen Prozess intensiv begleitet haben.

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TN: Wie wurde das Projekt fi nanziert, über das Quartiers-verfahren?

Runge: Nein. Es wurde über Stiftungen und Sponsoren fi nanziert.

TN: Wurden Schüler in die Organisation im Vorfeld ein-bezogen?

Runge: Also das ist eine Erfahrung, die ich so nicht wieder machen möchte. Ich würde mir viel mehr Beteiligung von Schülern in dem ganzen Prozess wünschen. Wir hatten teilweise eine Beteiligung von Schülern der Gymnasien, die zum Teil mit eingebunden waren. Im Grundschulbe-reich aber gar nicht, obwohl das sicher auch machbar ist. Aber dafür brauchen wir offenere Formen des Arbeitens und des Einbeziehens. Es gab einzelne Ansätze, indem Schüler für die Teilnahme schulfrei bekamen. Das war eine generelle Freistellung für diejenigen, die bei uns mit-gearbeitet haben. Es gab also eine Gruppe von Schülern, die insgesamt mit koordiniert haben.

TN: Waren auch Eltern bei der Mitgestaltung einbezogen?

Runge: Eltern waren aus meiner Sicht immer noch zu wenig einbezogen. Wir hatten einzelne Eltern, die in den ganzen Prozess eingebunden waren. Ansonsten haben sich Eltern eher bei der Durchführung des Kiezfestes enga-giert. Wir wollen sie aber zukünftig mehr einbeziehen. Es entstand so die Idee, ein Elterncafé im Nachbarschafts-haus einzurichten. Wenn man mit Schülern arbeitet, hat man Termine nicht am Abend, sondern am Vormittag und am frühen Nachmittag. Das ist für die Einbindung von Eltern oft schwierig. Und auch von der Schule wünsche ich mir in der Hinsicht mehr Offenheit dafür, in den frühen Abend hineinzugehen, um die Beteiligung zu vergrößern.

TN: So könnten sicher auch mehr Unternehmen beteiligt werden.

Runge: Ja, genau. Eine Mutter z.B. leitet einen Verlag, und die hat die Öffentlichkeitsarbeit mitgestaltet.

TN: Das Projekt, das jetzt vorgestellt wurde, war ja riesig. Und was ich besonders gut fand war, dass es so öffentlich war. Viele Projekte werden ja oft von der Öffentlichkeit gar nicht so wahrgenommen. Habt ihr Rückmeldungen bekom-

men darüber, wie das von außen tatsächlich wahrgenom-men wurde? Vielleicht von Leuten, die nicht direkt beteiligt waren, sondern z.B. nur beim Fest waren und was darüber gehört haben? Und zum anderen waren ja auch Schüler in Arbeitsgruppen beteiligt, was haben die dazu gesagt?

Runge: Die Rückmeldungen aus dem Stadtteil waren sehr positiv. Für das Projekt insgesamt. Aber auch während der Woche war es ja auffällig, dass immer irgendwelche Schü-lergruppen durch den Stadtteil liefen. Morgens wurden die Grundschüler in der Schule abgeholt und z.B. in die Kirchengemeinde gebracht, begleitet immer durch Lehrer. Das fi el also auf, dass etwas anders war. Da gab es viele Nachfragen. Beim Fest waren viele Eltern, die sehr stolz waren auf ihre Kinder, die auf der Bühne vorführten, was sie in der Woche gelernt hatten. Es gab Arbeitsgruppen zu den einzelnen Themen, es gab eine Theatergruppe, Musikgruppen, Sport. Und da waren Schüler dabei, die für uns sehr wichtig waren, weil wir mit ihnen zusammen über die Umsetzung von Workshops nachdenken konn-ten. Als Projektleiter saßen in diesen Arbeitsgruppen Leh-rer, Schüler und wir als Koordinatoren.

TN: Gab es denn vielleicht auch eine wahrnehmbare Gegenbewegung oder Protest gegen dieses Projekt? Weil Sie z.B. gesagt hatten, es hätte die Befürchtung gegeben, dass Polizei präsent sein müsste.

Runge: Nein, über diese sechs Monate hinweg gab es nur immer wieder die große Frage in Bezug auf die Schulen. Sie waren sehr skeptisch, ob das überhaupt gelingen könnte. Und es gibt nach wie vor sehr viele Vorurteile gegen die Hauptschule. Und es sind Hauptschüler aus verschiedenen Workshops rausgefl ogen, weil Gymnasiallehrer nicht unbe-dingt Erfahrungen mit Hauptschülern haben und mit ihnen, aus meiner Sicht, nicht umgehen können. Auch Grundschul-lehrer haben mit Hauptschülern ganz große Schwierigkeiten. Richtig ist, dass es an der Hauptschule ein Gewaltpotenzial gibt, das zeigen etliche Vorfälle, die es in den letzten Jahren gab. In meinen Augen ist es aber eher ein Projizieren von Angst. Die Polizei hat mich auch gefragt, ob ich mir dessen bewusst sei, was für ein Potenzial ich da zusammenführe in Form von Schulen, die sich gegenseitig nicht leiden können und Schülern, die sich vor den Schulen verprügeln. Aber ich denke, dass wir mit dem Projekt deutlich machen konnten, wie man auch eine andere Atmosphäre schaffen kann, die des Miteinanders. Davon waren die Lehrer auch überrascht.

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TN: Gibt es Kontakte zwischen Schülern, die geblieben sind? Und gibt es weiterhin Kontakte zu Akteuren, die von außerhalb kamen? Ich weiß nicht, ob ihr das jetzt noch mitbekommt, aber wenn ja, wie unterstützt ihr das?

Runge: Es gab jetzt noch ein Stadtteilfest, und bei dem sind tatsächlich Schüler, die vorher ein Projekt zusam-men gemacht hatten, wieder gemeinsam aufgetreten. Das ist das einzige, was ich von gemeinsamem Weiter-machen weiß. Für uns ist die Frage, wie wir das verste-tigen können. Dazu gibt es Arbeitsgruppen, die Ideen zusammentragen und bei denen sich auch die Schu-len permanent darüber informieren, was wir gemein-sam machen können. Dafür haben wir aber noch keine neuen Wege gefunden. Sondern es läuft im Moment wie-der auf eine Schulprojektwoche hinaus. Ich selber hätte gerne noch was anderes. Es ist z.B. in der Diskussion, Schul-Kiez-Teams zu gründen. Das könnte so aussehen, dass aus jeder Schule Schüler und Lehrer zusammen in ein Koordinations-Gremium gehen, das sich regelmä-ßig treffen würde. Es gibt eine Reihe von Ideen, was die initiieren könnten. In der Umsetzung gibt es dann aber doch wieder einzelne Schulen, die da ausscheren und sagen: Ach, wir machen doch lieber unsere eigene Pro-jektwoche. Dann fragen wir uns natürlich: was haben wir eigentlich mit unserem Ansatz erreicht?

TN: Waren die Unterschiede eher individuell bedingt, z.B. in der Haltung einzelner Lehrer oder der Schulleitung oder gab es eher systemische Gründe, z.B. das Ausmaß, in dem eine Schule es schon gewohnt war, Teamarbeit zu ermöglichen?

Runge: Das ist etwas komplizierter. Manchmal sind es gerade die besonders engagierten Schulen, die schon viel machen und dann das Gefühl bekommen, dass das einfach zu viel wird.

TN: Wenn das so personenabhängig ist, fi nde ich das sehr schwierig. Was sollte man sich von der Schule generell wünschen, damit wir besser mit ihr zusammenarbeiten können. Also: welche Systemvoraussetzungen brauchen wir, nicht welche Persönlichkeiten?

Runge: O.K. Aus meiner Sicht braucht es z.B. variable Lehrerstunden, die eine Freistellung für solche Projekte ermöglichen. Wir haben durch Zufall in unserem Stadt-teil einen interessanten Anknüpfungspunkt gefunden

durch einen Lehrer, der gleichzeitig an einer Grund-schule und an einem Gymnasium unterrichtet, jeweils mit einer halben Stelle. Und plötzlich hat sich die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die von dieser Grund-schule ans Gymnasium gehen, signifi kant vergrößert, das hängt eindeutig mit dieser Person zusammen. Ich fände es toll, wenn es überall so wäre, wenn jeweils mindestens ein Lehrer an der Schule ist, der gleichzei-tig an einer anderen Schule unterrichtet. Das würde viel transportieren und wäre schon mal ein Bindeglied zwischen zwei Schulen.

Zinner: Mir gefällt das Projekt auch sehr gut. Man kann sei-nen Wert nicht nur an seinem unmittelbaren Erfolg messen. Der Sinn kann ja auch darin liegen, dass einmal Leute etwas zusammen machen, die sich so etwas vorher gar nicht vorstellen konnten. Es ist auch gut, dass es in einen öffentlich präsentierten Höhepunkt gemündet hat. Und bei irgendeiner Gelegen-heiten wird man sich vielleicht an die geschaffenen Kontakte erinnern und es werden neue Dinge gemeinsam entstehen können, ohne dass die von dem ursprünglichen Initiator gesteu-ert werden müssen. Die Verstetigung ist bei solchen Projekten immer ein schöner und verständlicher Wunsch, aber sie haben ihren Sinn auch, wenn dies Ziel nicht erreicht wird. Aber noch eine Frage: die beteiligten Institutionen sind doch alle real vorhanden und haben ihre Finanzierung, gab es hier noch zusätzliche Mittel?

Runge: Wir haben mit freien Tanzschulen, mit freien Sportvereinen, mit Videoleuten und freien Theaterpäda-gogen gearbeitet, die das professionell gemacht haben. Und die kosten dann schon mal 1.000 bis 1.500 € für eine Projektwoche. Außerdem hatten wir Raumprobleme und mussten Extra-Räume anmieten.

Zinner. Das ist auch wieder positiv, dass hier weitere Akteure mit Schule zusammengebracht wurden.

Runge: Wir waren erstaunt, wie groß das Interesse vieler dieser Akteure an der Zusammenarbeit mit der Schule in

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ihrem Wohngebiet war. Z.T. haben sie andere Aufträge abgesagt, um hier mitzumachen, obwohl die Finanzierung bis zuletzt unsicher war.

TN: Ich möchte noch einmal auf die Frage der strukturellen Rahmenbedingungen zurück kommen. M.E. wäre es wich-tig, dass Schulen auch abends aktiv sind und dass Leh-rer nicht mit den Regelanforderungen so überfordert sind, dass sie für so etwas nicht mehr zur Verfügung stehen.

TN: Ich fi nde es schade, dass keine Förderschulen dabei waren.

Runge: Es gab eine Reihe von Schulen, die gerne mitge-macht hätten. Wir wollten das Ganze aber nicht zu groß und unüberschaubar machen und haben uns deswegen räumlich auf einen Kernbereich begrenzt, obwohl wir wuss-ten, dass das Gebiet sehr wohl auch zum Einzugsbereich von Schulen gehört, die außerhalb liegen. Speziell zu den Förderschulen: ja, es wäre schön, auch solche Schulen mit einzubeziehen. Für uns war die Bandbreite Grundschule, Hauptschule, Gymnasium aber auch schon eine große Herausforderung. Sehr hilfreich war für uns übrigens die Jugendhilfe in den Schulen: das sind die Türöffner. Sie haben uns vor allem Zugänge ermöglicht, die wir alleine wahrscheinlich so nicht gefunden hätten. Es ist gut, dass in der nächsten Zeit wahrscheinlich an allen Schulen Schul-sozialarbeit angesiedelt wird. Das verbessert die Rahmen-bedingungen für Kooperationsansätze erheblich.

Sperling: Vielen Dank für die drei Inputs. Wir sollten das jetzt in einen Zusammenhang stellen zu dem, was Otto Herz heute von dem notwendigen Paradigmenwechsel gesagt hat. Können diese kleinen Projekte zu einem sol-chen Paradigmenwechsel beitragen oder müssen wir radi-kalere Brüche ins Auge fassen, um wirklich nachhaltige Ergebnisse zu erreichen?

TN: Eigentlich geht es nicht um die Integration der Jugend-lichen in die Schule sondern in die Gesellschaft. Dazu kann die Schule einen Beitrag leisten, wenn sie die Schüler z.B. an die Möglichkeiten heranführt, die das Internet bietet, die Realität außerhalb der Schule wahrzunehmen und auf sie sachthemenbezogen (auch politisch) einzuwirken. Auch das ist ein Paradigmenwechsel, weil diese Dinge nicht mehr länger den Experten und den Politikern da oben in alleiniger Verantwortung überlassen werden müssen.

Zinner: Ich möchte noch etwas zu dem generellen Thema dieser Tagung sagen, das ich als Vorsitzender des Ver-bandes für sozial-kulturelle Arbeit selbst mit angeregt habe. Wir Nachbarschaftszentren sollten uns m.E. auf die Position verständigen, dass Schule einer der wich-tigsten Akteure im Stadtteil ist, wo man alle antrifft: Kin-der, Eltern, Lehrer und dass es darüber hinaus hier eine Infrastruktur gibt, die man nicht noch einmal schaffen, sondern nutzbar machen muss. Schule, Kindergarten, Bürgerhaus – es wäre durchaus vorstellbar, dass das nicht unbedingt in einem Gebäude, aber in einer Leitung, einer Regie läge. Sofort würde eine andere Art von Kin-derbetreuung, von Schule entstehen, sofort würde der Stadtteil, würde die Nachbarschaft sehr viel stärker in alle Prozesse einbezogen werden können. Wir könnten unser know how, wie man Leute mobilisiert und einbe-zieht ins bürgerschaftliche Engagement einbringen, und das könnte alles an diesem einen Ort stattfi nden. Es ist vorstellbar, dass in solch einer Schule von morgens bis spät abends Betrieb ist, sie würde zu einem ganz neuen Ort. Das ist unter den gegenwärtigen staatlichen Struk-turen schwer vorstellbar. Der Paritätische Wohlfahrts-verband Berlin, dessen Vorstand ich auch angehöre, hat sich mit diesen Fragen intensiv beschäftigt und for-dert jetzt die Bürgerschule. Er orientiert sich dabei an Erfahrungen, die wir bei der Übertragung von ehemals öffentlichen Kindertagesstätten in freie Trägerschaft gemacht haben, wo plötzlich auch ganz vieles realisier-bar wurde, was vorher unmöglich schien. Auch Schulen könnte man in freie Trägerschaft überführen – und mein Traum ist wirklich, dass auch wir als Nachbarschaftszen-tren Schulträger werden, Schulen in unsere Trägerschaft und unsere Regie übernehmen. Wenn das nicht kommt, fürchte ich eine Zunahme von privaten Schulen als Schu-len für eine kleine Elite. Mir schwebt dagegen eine freie Bürgerschule vor, die als ganz normale Schule für alle da ist und die nicht auf die Altersspanne von 6-12 oder 18 beschränkt ist.

Giesecke: Aber das würde heißen, nicht Schule zu sein, sondern Bürgerzentrum oder Nachbarschaftsheim. Schule kann in diesem Sinne ein ganz zentraler Ort sein, aber so wird das zur Zeit von den Akteuren nicht begriffen. Insbesondere in der Schule nehme ich kaum die Bereit-schaft wahr, sich dem Gemeinwesen zu öffnen und da auch aktiv zu werden.

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TN: Die Bürgerschule ist sicher ein Weg und ein Ziel für die nächsten Jahre, aber wir sind an anderer Stelle ja schon mitten drin im Geschehen durch die Veränderungen, die es in Richtung Ganztagsbetrieb an den Schulen gibt. Nach drei Jahren Mitwirkung habe ich in Berlin die Erfahrung gemacht, dass es zwei Typen von Schulen gibt, mit denen wir gerne kooperieren. Das sind zum einen die, die eine sehr engagierte Leitung haben, die nur darauf gewartet hat, endlich einen Kooperationspartner von außerhalb zu fi nden, um gemeinsam etwas verändern zu können. Und da sind zum andern die, denen das Wasser bis zum Halse steht, die also kurz vorm Versinken sind. Und da gibt es einige, die sagen: Bitte helft uns! Und auch da haben wir gute Erfahrungen gemacht. Solche Initiativen von außen, wie Ihr sie in Kreuzberg gemacht habt, sind sehr wichtig und sie hinterlassen auch Spuren, aber das Entscheidende ist: Es muss sich von innen was verän-dern, es muss sich in der Schule was verändern. Und da muss man nicht drauf warten, sondern das kann man auch selber mit gestalten. Und da glaube ich, dass der Hebel, den wir in Berlin da jetzt mit den Ganztagsgrund-

schulen haben, ein ganz hervorragender ist. Es hat sich in den letzten drei Jahren ganz viel getan. Durch unsere Mitwirkung an der Schule sind Netzwerke entstanden, die Innen und Außen verbinden und unseren Einrichtungen und Aktivitäten im Stadtteil einen ganz anderen Sinn und eine größere Bedeutung geben. Und Schule wird auch von unseren Mitarbeiter/innen als ‚ihre’ Schule verstanden, Schule ist für die Jugendhilfe kein Fremdkörper mehr, sondern ein gemeinsamer Ort, der durch das defi niert ist, was dort stattfi ndet. Und das ist keine Vision, das ist bei allen Schwierigkeiten im Detail eine gestaltbare Realität. Anscheinend ist das in Köln um einiges schlechter als das, was wir erleben, aber ich glaube, das ist eine Dyna-mik, die auch vor Euch nicht Halt machen wird und die Veränderungen erzwingt. Da bin ich ganz optimistisch. Die Stadtteilzentren, die bisher noch nicht in den Schulen drin sind, sollten sich bereit halten. Es gibt Signale, dass viele Schulen, die den Ganztagsbetrieb kommunal, ohne freie Träger realisieren wollten, kurz vorm Untergang sind und jetzt auch nach Hilfestellungen bei den freien Trägern suchen. Von daher gibt es da durchaus noch Hoffnung.

ZeitreiseBlick zurück - nach vorn60 Jahre MittelhofJubiläumsschrift

Aus dem Inhalt:Georg Zinner Das Nachbarschaftsheim MittelhofSeit 60 Jahren erfolgreich Stadtteilzentrum und Mehrgenerationenhaus

Dr. Eberhard LöhnertDas Nachbarschaftsheim Mittelhof seit 1951 aktives Mitglied im PAITATISCHEN Berlin

Dr. Herbert Scherer Das Nachbarschaftsheim Mittelhof und die Kinderladenbewegung

Gerd Schmitt Holzhaus, Gemeindekeller und zurückDer Mittelhof als Kooperationspartner der Offenen Jugendarbeit in Zehlendorf-Süd

Barbara Tennstedt Erziehung in beiden Berlins eine pädagogische Begegnung im Januar 1990

Karin Stötzner Im Zentrum des IntimenSelbsthilfe und Selbsthilfekontaktstelle im Nachbarschaftsheim Mittelhof

Dr. Stefan Wagner Mittelhof - Brücke zur neuen Welt

Lutz Caspers10 Jahre QUÄKERHILFESTIFTUNG

Überall ist WunderlandÜberall ist LebenGeschichten aus dem Alltag der Kindereinrichtungen des Mittelhof

soebenerschienen

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Nachbarschaftsheim Mittelhof e.V.Königstr. 42-4314163 [email protected]

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Fontana: Wir werden uns in diesem Workshop mit Erfah-rungen aus einer Langzeitbeobachtung beschäftigen, die Theo Teucher, in dem Film „Die Deutschstunde“ doku-mentiert hat, der vom Südwestfunk produziert wurde und derzeit in einigen Dritten Programmen gezeigt wird.

Teucher: Es handelt sich um eine vierjährige Begleitung des Deutschunterrichts an einem Kreuzberger Gymna-sium, das einen sehr hohen Migrantenanteil unter seinen Schülern hat. Der Film zeigt, dass Schüler/innen und Leh-rer sich in weitgehend voneinander getrennten Welten bewegen. Dabei könnte der Deutschunterricht meiner Meinung nach durchaus zum Brückenbau beitragen, weil er traditionell die Möglichkeit bietet, sich das Erbe der Weltkulturen anzueignen. Damit folgt er einer Bildungs-programmatik, die schon Herder vor 200 Jahren formu-liert hat und die in einer aktuellen Formulierung z.B. so beschrieben wird:„Die Fähigkeit der Mitglieder eines Gemeinwesens zu einer anspruchsvollen Verständigung untereinander setzt gemeinsame kulturelle Erfahrungen voraus. Litera-turkenntnis ist dafür eine wichtige Basis. In der Schule geht es bei der literarischen Grundbildung daher um die Begegnung junger Menschen mit großen Werken der deutschen Literatur, die exemplarisch und fundamental für eine Epoche sind“ (aus Bildungsoffensive durch Stär-kung des Deutschunterrichts ‚ Konrad-Adenauer-Stiftung, 2001).

Das Paradigma der literarischen Bildung hat sich nicht geändert. Das lässt sich gut an den Prüfungsaufgaben des Zentralabiturs belegen, die sich bundesweit von Bayern bis Berlin auf einen entsprechenden Kanon bezie-hen. Wie sich das in der Praxis darstellt, zeigt der Film, von dem ich jetzt einen kleinen Ausschnitt zeigen werde.Nach der Filmpräsentation folgt die Auswertung.

Wie ist die Lage insgesamt einzuschätzen? Grundsätz-lich muss man sagen, dass es einen Fortschritt gegeben hat. Der Anteil der Jugendlichen, die die gymnasiale Aus-prägung erleben und damit dieses Bildungsprogramm durchlaufen, ist im Verlauf der letzten Jahrzehnte gestie-gen, von ca. 10 Prozent auf nunmehr 30 Prozent. Wo lie-gen die Probleme? Wenn man sich das bezogen auf die sozialen Schichten ansieht, ist festzustellen, dass mehr als 50 Prozent der Kinder der ‚Oberschicht’ das Abitur machen, während es bei den Kindern der Ungelernten und der Facharbeiter immer noch auf keinen Fall mehr als 15 Prozent sind. Also: Im Grundsatz kann man eine positive Entwicklung feststellen. Und das Programm, das da abgearbeitet wird, hat es durchaus in sich. Der Kanon ist sehr anspruchsvoll. Die Jugendlichen lernen die deut-sche Literatur vom Mittelalter bis in die Neuzeit kennen und müssen diese Literatur auch interpretieren können. Wenn die Jugendlichen dies Programm der Sekundarstufe II durchgearbeitet haben, haben sie Vorstellungen davon, was in der deutschen Klassik wie geschrieben wurde, sie haben die Romantik kennen gelernt, den Realismus des 19. Jahrhunderts und auch die Moderne. Was ich damit sagen will: die Fähigkeit, diese Literatur zu lesen und damit auch etwas anfangen zu können, ist gestiegen. Früher war die gymnasiale Oberstufe ein Oberschichtsprivileg, das ist es nicht mehr. Wie sieht es aber bei den Kindern aus Migrantenfamilien aus? Bildung ist ja schwer messbar, aber das Vorhandensein oder Fehlen bestimmter ‚Kompe-tenzen’ schon. Und da ergibt sich folgendes Bild: Bei den Migranten sind mehr als 50% nicht in der Lage, einfache Texte lesen, verstehen und sinngemäß wiedergeben zu können. Bei der Schreibkompetenz ist es genau so. Der Anteil der Migranten, die das Abitur erreichen, liegt bei ca. 10 Prozent. Es gibt auch geschlechtsspezifi sche Aspekte. Die Zahl der Schulabbrecher ist bei Jungen signifi kant höher als bei Mädchen.

Bevor wir zur Diskussion kommen, möchte ich versuchen, Gründe dafür zu fi nden, warum insbesondere Jungen aus

Workshop: Das Dilemma der parallelen Welten

Inputs: Theo Teucher, (Medienwerkstatt Berlin)

Moderation: Theo Fontana

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der Unterschicht und aus Migrantenfamilien hier beson-dere Schwierigkeiten zu haben scheinen. Ich sehe einen engen Zusammenhang zum Freizeitverhalten. Wieder ein paar statistische Daten: 16 Prozent der Jugendlichen aus der oberen Mittelschicht haben einen eigenen Fernseher in ihrem Zimmer, bei den Unterschichtsjugendlichen sind es 57 Prozent. Einmal zugespitzt formuliert: In der Freizeit der Schüler konkurrieren die Angebote der literarischen Bildung mit den Angeboten der kommerziellen Freizeit-industrie – und wer nun dieses klassische Bildungspro-gramm absolvieren will, kommt nicht darum herum, bei-spielsweise Lessings ‚Emilia Galotti’ zu lesen. Und alle Statistiken ergeben ein klares Bild: die Zeit von Jugend-lichen aus der Unterschicht und aus Migrantenfamilien wird 3 – 4 mal soviel von Fernsehen und Computerspielen absorbiert wie die Zeit derjenigen, die im Programm der höheren Bildung erfolgreich sind.

Fontana: Das war jetzt ein Blick auf die Situation in der Schule. Stellt es sich für diejenigen, die in anderen Bil-dungsbereichen, z.B. in den Nachbarschaftshäusern tätig sind, ähnlich dar?

TN: Ich arbeite in einem Projekt des Nachbarschafts-heims Schöneberg mit Grundschulkindern. Und da sehe ich schon die gleiche Problematik, nämlich den Fernseh-apparat im Kinderzimmer. Bei dem Filmausschnitt hat mich besonders die Szene im Lehrerzimmer berührt, in der die Lehrer darüber herziehen, was die Grundschule angeblich versäumt hat. Das war einerseits typisch – die Vertreter der unterschiedlichen Schulformen pfl egen ihre gegenseitigen Vorurteile – andererseits ein starkes Argu-ment für die Sinnhaftigkeit einer Gemeinschaftsschule vom 6. bis zum 16. Lebensjahr, damit die Lehrer dann vielleicht gemeinsam über Lösungen beraten könnten, wenn Probleme auftauchen, die für den Werdegang von jungen Menschen typisch sind.

TN: Ich möchte noch einmal zurückgehen auf die Bil-dungsinhalte. Es gibt ja bei uns in Deutschland einen ganz engen Zusammenhang zwischen dem Elternhaus und dem Schulerfolg. Wenn aus dem Elternhaus die richtige Unterstützung kommt, klappt es auch in der Schule. Wenn nicht, dann nicht. Das heißt, die Schule korrigiert nicht, was bei den Schülern zu Hause möglicherweise schief läuft oder wo sie nicht die ausreichende Unterstützung fi nden. Das ist bei allen Schulformen ähnlich und nicht

nur eine Frage des Gymnasiums. Es gibt da auch einen Zusammenhang mit den Bildungsinhalten. Der deutsche Literaturunterricht hat eigentlich nichts mit sprachlichen Fertigkeiten und der Fähigkeit sich auszudrücken oder einen Brief zu schreiben zu tun. Im Deutschunterricht wird aber das eine mit dem anderen vermischt, indem nicht die Entwicklung der sprachlichen Fähigkeiten im Zentrum steht, sondern der Umgang mit Literatur und die Literaturanalyse. In anderen Ländern ist das anders. Da gibt es zwei Fächer. Während in dem einen Fach der Umgang mit der Sprache gelernt wird, gibt es die Literatur in einem anderen Fach. Dass die internationale Literatur in unserer Art des Literaturunterrichts ausgeblendet wird, hängt vielleicht auch mit dessen Ansiedlung im ‚Deutsch’-Unterricht zusammen. Für die Lektüre der Werke eines türkischen Nobelpreisträgers gibt es auf diese Weise an einer deutschen Schule keinen Platz. Dieses klassizi-stische bürgerliche Bildungsideal ist ein Riesenproblem. Es geht in der Schule nicht darum, die Jugendlichen in der Entwicklung ihrer Fähigkeiten, auch im Sprachgebrauch, zu unterstützen, sondern sie an einem Anspruch zu mes-sen, der ihnen fremd ist, und immer wieder nur festzu-stellen, dass sie dem Anspruch nicht genügen, dass sie wieder etwas falsch gemacht haben etc. Es handelt sich bei denen, die nicht an der Leistungsspitze stehen, um eine ständige Entmutigung. Dazu kommt, und das sage ich aus persönlicher Erfahrung, durchaus auch ein sub-tiler Rassismus, bei dem Migrantenkinder, unabhängig von ihren individuellen Fähigkeiten und sogar unabhängig vom familiären Bildungshintergrund, generell schlechtere Chancen haben, so als hänge der Schulerfolg von ihrem Aussehen ab.

TN: So wie bei den Mathematiklehrern, die annehmen, dass Mädchen nicht so gut in Mathematik sind. Das hat man herausgefunden. Und weil sie das annehmen, sind die Mädchen, die sie unterrichten, dann tatsächlich nicht so gut in Mathematik. Das wäre schon seltsam, wenn das in diesem Feld anders wäre. Ich möchte auch noch ein paar persönliche Dinge beisteuern. Meine Tochter ist 15. Sie geht auf ein Gymnasium in Berlin-Mitte mit einer Mitschülerschaft, die fast ausschließlich deutscher Her-kunft ist. Und diese Schüler haben in der Regel auch sehr große Probleme mit dem Deutschunterricht – die genau so sind, wie Sie das gerade dargestellt haben. Sie stehen fassungslos vor dieser Art von Vermittlung klassischer Bil-dung, die sich wirklich nicht verändert hat. Es ist noch das

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klassische deutsche Gymnasium, das vielleicht vor 200 Jahren einmal seine Berechtigung hatte, aber heute wirk-lich an den Kindern vorbei geht. Ob Kinder darin erfolg-reich sind, hängt tatsächlich ganz stark davon ab, ob sie einen Hintergrund haben, der ein bestimmtes Versagen von Schule wieder einigermaßen kompensieren kann. Ich erlebe das immer wieder im Englischunterricht. Der Eng-lischunterricht ist übrigens ähnlich. Die lesen dann irgend-wann Shakespeare auf Englisch, aber können noch nicht einmal einen Kaffee auf Englisch bestellen. Das ist eine ähnlich Fokussierung auf ganz hohe Bildungsziele, und die einfachen Dinge, die den Kindern viel näher wären, werden vernachlässigt, übergangen oder zu wenig behan-delt. Wir müssen nicht nur die Formen des Unterrichts ändern, sondern auch die Inhalte überprüfen.

Teucher: Das ist eine Forderung, die sehr stark auch nach 1968 aufgestellt wurde, als man in dem Bildungskanon ein Herrschaftsinstrument des Bürgertums sah. Wir müs-sen uns fragen, warum sich dieser Ansatz nicht durch-gesetzt hat. Es gab damals auch Versuche, die Unter-schichtssprache als gleichwertig anzusehen. Man wollte Unterschichtsliteratur, Heftchen, comics und so weiter in einen modernisierten Deutschunterricht integrieren. Meine Perspektive war und ist eine andere. Ich habe mich in Interviews mit einzelnen Schülern aus der ganzen Band-breite von der 7. Klasse bis zum Abitur beschäftigt und auch ihre Texte analysiert und dabei festgestellt, dass es eine Reihe von Schülern mit Migrationshintergrund gibt, die sehr wohl in der Lage sind, dieses bildungsbürgerliche Programm zu absolvieren. Und man muss auch danach fragen, warum man festhält an diesem Programm. Bei der Lektüre von Aufsätzen konnte ich feststellen, dass bei vielen Schülern in der Art zu schreiben eine enorme Leistungssteigerung über die Jahre eingetreten ist. Das System funktioniert. Ein Beispiel: ich habe eine Schüle-rin gebeten, einmal ihre Lesebiographie aufzuschreiben. Es sind 15 Seiten dabei herausgekommen und sie hat zu all diesen klassischen Texten einen Bezug für sich selber herstellen können. Sie empfi ndet diese Programmatik als sehr positiv für sich selber. Zu der Frage, ob das nicht alles veraltet ist, möchte ich den amerikanischen Wirtschafts-nobelpreisträger des letzten Jahres, Edmund Phelbs, zitie-ren, der wie viele andere aus der technokratischen Elite eine Lanze für das klassische Bildungsprogramm bricht: „Tatsächlich fi ndet ein großer Teil westlich-humanistischer Literatur heute nicht mehr den Weg ins Klassenzimmer

oder in den Hörsaal. Als ich im College war, da mussten wir noch die Klassiker lesen. Das war alles selbstverständlich und vermittelte uns Werte wie Neugier, Entdeckerfreude, Veränderungs- und Abenteuerlust.“ Und er sagt dann: „An der Columbia-Universität in New York, an der ich lehre, bieten wir eine Klasse zeitgenössischer Zivilisation an, wo wir diese Literatur mehr oder weniger verpfl ichtend lesen. Solche Werte und Haltungen kennen zu lernen, ist ent-scheidend in einem Land, das einen innovativen Konjunk-turzyklus haben will.“

Wir müssen feststellen, dass die Elite unverändert an die-sen Dingen festhält. Das hat sicher auch etwas mit dem Konfl ikt der Zivilisationen zu tun – die westliche Welt steht in einem Konfl ikt mit dem asiatischen Raum, sie steht in einem Konfl ikt mit dem islamischen Raum. Und in dieser Situation vergewissert man sich seiner eigenen Werte und bietet die europäische Literaturgeschichte – es stimmt übrigens nicht, dass nur deutsche Literaturen gelesen werden – eine Menge Stoff. Ich glaube übrigens, dass der Bildungswert von Shakespeare, Goethe, Eichendorff und .. und .. und tatsächlich immens ist und dass Jugendliche im Alter zwischen 15 und 18 Jahren, die sich dieser Pro-grammatik aussetzen, ganz viel lernen, ganz Unterschied-liches. Sie werden ja mit Themen konfrontiert, die einen existenziellen Bezug haben. Und meine Strategie wäre eher, dass man doch versuchen sollte, diese Bildungspro-grammatik auch gegenüber Migranteneltern und gegenü-ber den Schülern ‚besser zu verkaufen’. Es ist illusorisch zu meinen, die Elite würde auf diesen Bildungshorizont verzichten, und das gilt nicht nur für Deutschland sondern für die ganze westliche Welt, das Beispiel Amerika habe ich ja schon genannt. Man könnte ja annehmen, ein Wirt-schaftsnobelpreisträger hat mit Literatur nichts zu tun. Wir haben aber gehört, dass er sogar so weit geht, einen Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Erfolg und Literatur herzustellen.

TN: Es ist aber dringend notwendig, die Werke der Lite-ratur in ihrem historischen Zusammenhang verstehen zu lernen. Das ist doch heute oft nicht der Fall. Ich sehe den Deutschunterricht, den meine Tochter erfährt, in dieser Hinsicht als negatives Beispiel. Die liest die Texte, bekommt sie gar nicht eingeordnet, sie erfährt nicht, in welcher Zeit sie geschrieben sind und warum sie eine bestimmte sprachliche Form haben. Das gehört doch einfach dazu, zu wissen, wie bettet sich ein Stück Lite-

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ratur in die Kultur und Geschichte eines Landes ein, in welchen Zusammenhängen steht es. Und dass das nicht geschieht, ist ein zusätzliches Problem.

TN: Ich fi nde, dass wir an diese Frage anders heran gehen müssen. Sie haben gesagt, dass die Migrantenkinder durchaus in der Lage sind, die Literatur interpretierend zu verstehen. Natürlich sind sie dazu in der Lage – wie alle anderen Kinder. Dann haben Sie gesagt, dass es in diesem Unterricht nicht nur um deutsche Literatur son-dern um die gesamte europäische Kultur geht – wo aber bleibt die arabische, türkische oder kurdische Literatur? Wir leben doch in einer anderen Zeit. Wir haben heute in Deutschland Millionen von Menschen mit einer Her-kunft aus dem mittleren Osten. Davor dürfen wir nicht die Augen verschließen und das muss im Schulprogramm eine Rolle spielen. Als mein Kind aufs Gymnasium kam, habe ich den Geschichtslehrer gefragt, was sie in diesem Schuljahr machen. Da hat er gesagt: Mittelalter. Ich habe weiter gefragt: Welches Mittelalter, europäisches Mittelal-ter oder auch im Mittleren Osten? Ich bin auch nicht dafür, dass man auf Klassiker verzichtet, aber das muss breiter angelegt sein, wenn es dazu beitragen soll, dass sich die Kinder unterschiedlicher Herkunft ihrer historischen Wur-zeln vergewissern können. Die Inhalte müssen widerspie-geln, dass wir eine multinationale Gesellschaft geworden sind und nicht mehr rein europäisch oder rein deutsch. Es ist gut, wenn die Kinder schon in jungen Jahren Bekannt-schaft mit anderen Kulturen schließen, um damit besser umgehen zu lernen. Sonst bleiben wir bei dem Niveau, dass fast 33 Prozent aller Migrantenkinder ohne jeglichen Abschluss aus der Schule kommen. Und das ist eine Kata-strophe für uns alle, nicht nur für die Migranten.

TN: Man muss das auch so sehen: diejenigen, die ankom-men, defi nieren das als Zuwachs für sich. Das sind die, die durchgehalten haben. Aber unverhältnismäßig viele Migrantenkinder fallen aus diesem Bildungsplan bis zur 13. Klasse heraus, an unterschiedlichen Stellen. Ich fi nde, dass das, was literarische Bildung erreichen will, durchaus seinen Platz an der Schule haben soll, aber in anderer Form. Wir haben in dem Film gesehen, wie sich das heute darstellt: die Lehrerin hat kulturelle Kenntnisse vorausgesetzt, die nicht da sind. Man könnte auch sagen, die sie versäumt hat zu vermitteln. Da gab es diesen Punkt mit der Sprachrichtigkeit, mit der Einordnung von Präpositionen. Das Training der Sprachrichtigkeit fehlt

im Deutschunterricht. Es wird nicht vermittelt sondern vorausgesetzt. Bei der Interpretation von Texten kann es auch kulturelle Hürden geben. In unserer Kultur gilt z.B. der Ochse als dummes Tier. Das kann in anderen Kulturen ganz anders sein. Vielfach fehlt es den Lehrern an interkultureller Kom-petenz, so dass sie hier keine Brü-cken bauen können. Wenn so ein Unterricht einen Sinn haben soll, müssen die Schüler Spaß daran haben können, gerade auch die weniger motivierten männlichen Jugendlichen. Wenn Gedichte so interpretiert werden, wie das in der Schule üblich ist, muss man sich nicht wundern, dass die mei-sten damit freiwillig nichts zu tun haben wollen. Wenn ich möchte, dass Leute Spaß am Lesen haben, muss ich sie damit herausfordern und fördern und nicht Erörterungen darüber schreiben lassen und sie auf Sprachrichtigkeit hin bewerten, sondern dann muss ich versuchen, sie dahin zu bringen, dass sie sich damit aus-einandersetzen und sich dazu einbringen. Dazu gehören auch andere Arbeitsformen. Sonst habe ich immer diese Geschichte, dass nur eine bestimmte Elite, die das aus dem Elternhaus mitbringt, dem folgen kann. Einige haben trotzdem Erfolg. Es gab auch früher immer mal wieder Arbeiterkinder, die Erfolg im Bildungssystem hatten. Das ist aber ein verschwindend geringer Prozentsatz. Wenn wir in diesem Land erfolgreich sein wollen, dann müssen wir unsere Systeme so umgestalten, dass mehr Menschen in ihnen Erfolg haben. Das bedingt eine Überprüfung der Inhalte und der Darreichungsformen.

TN: Ich möchte auch etwas zu der Szene sagen, in der die Deutschlehrerin die Gedichtinterpretation korrigiert und bewertet. Ich fi nde, da macht sich dieses Schulsystem, das wir heute haben, auf fatale, fürchterliche Weise noch einmal bemerkbar. Die Lehrerin sagt, dass sie bei dieser Schluss-Strophe schon als Kind immer weinen musste. Wenn diese Emotionalität von Schülern nicht rüberge-bracht wird, haben sie eh’ keine Chance. Und dann noch ein falsches Wort und es ist ganz aus. Die Methode müsste doch vielmehr sein, erst einmal davon auszugehen, dass sich jeder auf seine Art mit dem Text auseinander gesetzt

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hat und jetzt die Frage ist: Was machen wir daraus? Das könnte in einer Art Teamarbeit passieren, so dass alle mehr Spaß daran hätten. Ausgangspunkt müsste die Wertschätzung der unterschiedlichen Reaktionen auf den Text sein und nicht die Abwertung von allem, was als nicht richtig deklariert wird. Das wird häufi g schon in der Grundschule falsch gemacht. Noch etwas zum Thema Sprachfertigkeit. Ich bin von Beruf Heilpädagogin und keine Lehrerin, habe aber im letzten Dreivierteljahr ein Sprachprojekt gemacht, und zwar nicht für Kinder, die die deutsche Sprache nicht sprechen, sondern für Kinder, die die deutsche Sprache nicht beherrschen. Und die Eltern wollten alle, dass an dieser Gruppe mit insgesamt 20 Kin-dern nur Ausländerkinder, das heißt Kinder mit Migrati-onshintergrund, teilnehmen sollten. Ich habe gesagt: Das kommt gar nicht in Frage. Das Projekt biete ich ja gerade an, weil ich festgestellt habe, dass es hier mindestens 20 Kinder gibt, denen der Wortschatz fehlt, die die Arti-kel nicht richtig können, die sich überhaupt nicht ausdrü-cken können. Und das ist bei den deutschen Kindern kein anderer Anteil als bei den Kindern mit Migrationshinter-grund. Der Sprachschatz dieser Kinder ist irrsinnig gering, egal woher sie kommen. Dabei ist es meiner Meinung nach fatal, dass es bei den Grundschulkindern viele gibt, deren Familien in der zweiten oder dritten Generation in Deutschland leben, während die Eltern zum Teil heute

noch kein Deutsch spre-chen. Das bekomme ich dann mit, wenn die Eltern ihre Kinder zur Ganztags-betreuung anmelden, weil sie entweder berufs-tätig sind oder weil die Kinder sprachlich geför-dert werden sollen. Das Elternhaus kann dazu in

diesen Fällen keinerlei Beitrag liefern. Die Eltern sind in dieser Hinsicht kein Vorbild für ihre Kinder.

TN: Mich interessiert, welches persönliche Verhältnis die Schülerinnen und Schüler zu ihrer Lehrerin haben. Es kommt mir in dem Film so vor, als ob sie zur Lehre-rin keine richtige Beziehung haben, sondern dass es auf beiden Seiten eher klare Feindbilder gibt – oder die Posi-tionen: das ist die strenge Lehrerin auf der einen Seite und das sind die dummen Schülerinnen und Schüler, die das alles eh nicht lernen werden. Diese Haltungen lösen

sich in der Langzeitbetrachtung auf, sie kriegen also tat-sächlich eine persönliche Beziehung zu einander. Entwi-ckelt sich daraus auch ein Stück Lernen? Die zweite Frage richtet sich auf das bürgerliche Bildungsideal, eine oft an mich gestellte Frage: wie kann es sein, dass trotz 1968, wo sehr viele Bildungsaspekte diskutiert wurden und sich auch die Öffnung der Gymnasien erst vollzogen hat, den-noch die Zementierung des bürgerlichen Bildungsideals im deutschen Literaturunterricht so massiv ist? Woher kommt das? Das ist ja wie ein Rollback. Und es wird ja noch stärker in Zement und in Stahl gegossen als es vor-her schon war.

Teucher: Noch mal zur Film-Sequenz mit der Gedichtinter-pretation. Diese Arbeit ist nicht besonders schlecht aus-gefallen, die Bewertung war einigermaßen ausgeglichen: 1/3 1-2, 1/3 3-4, 1/3 5-6. Zur Frage des Bildungsideals. Was ist das Problem? Nehmen wir einmal so eine typische Pisa-Frage, die nach der Lesekompetenz. In Deutsch-land sind lt. Pisa 25 % der Jugendlichen der sog. Stufe 1 zugeordnet worden, die bedeutet: nicht ausreichende Lesekompetenz. Schüler dieser Gruppe haben z.B. bei der Berufsfi ndung oder bei einer Lehre in der Berufsschule große Schwierigkeiten, die ihnen vorgelegten Texte über-haupt zu verstehen. Deutschland liegt damit im internati-onalen Vergleich auf einem der letzten Plätze. Nun kann man sich damit trösten, dass es in Mexiko über 50 % sind, aber das bringt natürlich nicht viel. Dies sind Probleme nicht nur für die Schulsituation sondern für alle, die mit diesen Schülern später zu tun haben. Wie funktioniert dieses System? Es handelt sich um Standards, die inter-national gesetzt sind. Wenn man sie bewältigt, gehört man zu der Spitzengruppe. Und auch für die Erfolgreichen setzt sich dieses System fort. Sie werden z.B. studieren. Es ist also ein Selektionssystem. Und dieser klassische Bildungskanon stellt natürlich hohe Anforderungen, die in Deutschland rein formal immerhin 30 % schaffen. 30 % machen das Abitur. Da ich aber die Deutschaufsätze kenne, weiß ich, dass mindestens ein Drittel davon auch ziemlich schwach ist. Sicher stimme ich der Forderung zu, dass der Unterricht besser werden muss. Das ganze Bildungsprogramm im Gymnasium lässt sich aber nur dadurch bewältigen, dass die Schüler in ihrer Freizeit etwas tun, lesen, arbeiten.

Meine These dazu, was die Problematik ist, ist folgende: Und zwar zeige ich Ihnen dazu einmal einen Ausschnitt

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von dem, was den Jugendlichen als ‚alternatives Bildungs-programm’ zum Deutschunterricht tagtäglich angeboten wird. Das ist jetzt aus dem Programm von VIVA, ich könnte genaus so gut MTV oder Pro7 nehmen. Was sind die The-mengebiete, die den Jugendlichen lt. Hauptmenü-Über-sicht von VIVA angeboten werden: TV / Stars / Charts / Events / Livestyle / Win / Handy. Das sind die Highlights. Und wenn Sie sich danach die Medien-Nutzungsstatistik anschauen – Was sind die beliebtesten Sender? Bei den Jugendlichen Pro7, RTL, Viva, MTV, also Sender, die auf einem ähnlichen Level sind. Schon daraus lässt sich ersehen: das System ist schon brutal. Es nimmt keine Rücksicht auf die Jugendlichen, die ihre Freizeit nicht mit diesen Dingen verbringen wollen oder sich nicht diesem ‚Lernprogramm’ aussetzen wollen. Während mein Vor-schlag wäre, gerade im Freizeitbereich mehr Lese- und Schreibaktivitäten zu initiieren. Es ist zutiefst beeindru-ckend, was für einen Bezug auch etwa Kopftuchschüle-rinnen zur deutschen Literatur fi nden. Das Bildungspro-gramm, Literatur, auch deutsche, kennen zu lernen, ist sehr gut. Es gibt noch eine Sequenz in dem Film, in der gesagt wird, wir sollten auch die arabische Literatur, die türkische Literatur berücksichtigen. Meine Meinung ist, dass man in jedem Fall auch die Literatur aus dem isla-mischen Raum berücksichtigen muss. Um Immigranten-Jugendlichen zu sagen: wir nehmen euch ernst.

TN: Ich denke, dass sich hier das Grundproblem der deut-schen Schule zeigt, und hier speziell am Gymnasium. ... Man geht davon aus, dass die Schüler so sein müssen, wie das Gymnasium sie braucht. Schulen begreifen sich überhaupt nicht als Dienstleistungsbetriebe, die im Inte-resse der Schüler und mit ihnen zusammen bestimmte Ziele verfolgen. Und sie fragen sich auch nicht: was muss ich bei mir ändern, wenn es nicht mehr klappt? Sondern da, wo es nicht klappt, senken sie klammheimlich die Leistungsanforderungen. Damit sie in diesem System bestehen können, damit sie die Anerkennung der Büro-kratie nicht verlieren. Das muss aber anders laufen. Wie wir es gerade gehört haben von Otto Herz, nämlich das Gelingen zu organisieren. Sich immer wieder zu fragen, wie man möglichst alle mitnehmen kann. Und sie nicht ganz schnell in die unteren Abteilungen versetzen. Das können wir uns bei 25 % der schwachen Schüler einfach nicht mehr leisten. Nun gibt es aber auf der anderen Seite die Pläne für eine Gemeinschaftsschule. Und es gibt dagegen erhebliche Widerstände. Dagegen wehrt sich

vor allem die CDU, das hat sicherlich etwas damit zu tun, dass die Leute, die CDU wählen, fast alle ihre Kinder aufs Gymnasium schicken. Und diese Eltern haben natürlich Ängste vor der Gemeinschaftsschule, weil sie befürchten, dass es da drunter und drüber geht und dass sozusagen all das, was wir heute in der Zeitung lesen, dann in der Schule ihres Kindes passiert. Mit solchen Ängsten muss man auch umgehen, sonst wird man die Gemeinschafts-schule nicht kriegen.

Teucher: Wenn es erlaubt ist, dass ich dazu noch einen kleinen Kommentar abgebe: Ich vertrete die Positionen aus der 68er-Bewegung, nur deren Schlussfolgerungen waren falsch. Als Illustration ein typisches Zitat aus dem Jahre 1974:

„Niemand darf wegen seiner Sprache benachteiligt oder bevorzugt werden, heißt es in Artikel 3 des Grundge-setzes. Wenn wir ihn beim Wort nehmen wollen, stellen wir schnell fest: Verfassungsnormen und soziale Realität klaffen hier freilich ebenso auseinander wie bei den mei-sten Artikeln des Grundgesetzes. Das Fach Deutsch gilt als Leistungsfach, das bei der Zuteilung von Sozialchan-cen mit den Ausschlag gibt. Die fehlende Beherrschung der Hochsprache wird als soziales und persönliches Ver-sagen, der fehlerfreie Gebrauch in Wort und Schrift als Ausweis von Bildung betrachtet. Es wird die gelungene oder misslungene Anpassung an die herrschende Sprach-norm als Anpassung belohnt und bestraft.“

Aus meiner Sicht war diese Analyse damals im Prinzip richtig und sie ist auch heute noch zutreffend. So funk-tioniert das System. Aber es wurden meines Erachtens falsche Konsequenzen gezogen, nämlich eine Relativie-rung des Bildungskanons, der in den 80er Jahren ziem-lich heruntergefahren wurde, zum Beispiel durch Sen-kung der Anforderungen bei Sprachrichtigkeit. Nur: das herrschende System sorgt dafür, dass die Elite sich unver-ändert reproduziert, mit den klassischen Orientierungen. Und zwar international. Das ist kein deutsches Phäno-men. Andere Länder haben zwar eine Eingangsstufe, die USA beispielsweise, haben dann aber doch wieder eine extreme Differenzierung, die zu ähnlichen Unterschie-den führt. Ich fi nde es aus diesem Grund richtiger, den Jugendlichen im Interesses ihres Erfolges das klassische Bildungsprogramm so gut wie möglich näher zu bringen. Ich kann meine Vorstellungen davon hier nicht im Detail

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ausbreiten, aber ich will es wenigstens kurz anreißen: Die Schüler müssen nicht nur analysieren, nicht nur erörtern, sondern es gehört Theaterspiel, kreatives Schreiben dazu. Es geht nicht nur darum, fehlerfrei zu schreiben, sondern auch Kreativität und Innovation wird ja durch dieses klas-sische Bildungsprogramm gefördert. Man kann auch nicht sagen, das alles alte Hüte sind. Rüdiger Safranski hat ein Buch über die Romantik geschrieben. Das ist zur Zeit ein Hit. Und das bedeutet, ein Teil der deutschen Gesellschaft fi ndet romantische Literatur supercool. Und ich selber fi nde sie im Nach-hinein auch phantastisch, und sie ist auch bei Jugend-lichen heute total angesagt.

TN: Mich würde mal interessieren, ob dieser Film an der Schule, bei diesen Lehrern, bei diesen Schülern, irgend was in Gang gebracht hat, irgendeine neue Bewegung.

Teucher: In der Schule wurde der Film sehr kontrovers diskutiert. Die Akteure fanden ihn in der Mehrzahl gut. Es gab aber wütenden Protest von türkischer Seite, Plakate wurden abgerissen, weil der Film als anti-türkisch ange-sehen wurde. Also die Aufnahme des Films war sehr kon-trovers. Auch unter den Lehrkräften wurde der Film sehr kontrovers diskutiert.

TN: Das, was wir hier diskutieren, hat also im Lehrerkolle-gium keine große Rolle gespielt?

Teucher: Die Lehrer befi nden sich in der Situation, dass sie in der dritten Klasse 30 bis 40 % im Probehalbjahr raus-schmeißen müssen. Die Lehrer ersticken in dem Problem. Ich habe nach wie vor Kontakt mit Herrn Müller, der in dem Film gezeigt wird. Er betreut jetzt wieder einen Abitur-Jahr-gang und sein Problem ist, dass sehr viele kurz vor dem Abitur aufgeben. Das ist in der Schule eine ziemlich stress-belastete Situation und man ist ausreichend beschäftigt mit der Bewältigung der dringendsten Tagesaufgaben. Für die großen Fragen bleibt da wenig Energie übrig.

TN: Was mir ein bisschen sauer aufstößt, ist immer diese simple Sichtweise, dass die Bildung zusammen bricht mit VIVA und Ähnlichem. Es wäre aber doch mal zu fragen: fl üchten sich Jugendliche in diese Welten, weil sie einfach nicht mehr lesen können? Diese permanente Verneinung der Lebenswelten der Jugendlichen hilft uns nicht. Die Jugendlichen haben erst mal ein Recht, so zu sein, wie

sie sind. Ich muss ja nur das, was sie sind, ergänzen, und zwar sinnvoll ergänzen, damit es ein besseres Bild gibt. Aber nur zu sagen: die gucken zu viel das falsche Fern-sehen und können deswegen vielleicht nicht mehr lesen, deswegen fallen sie berechtigterweise durchs Raster, Pech gehabt, - das passt mir nicht. Diese 25 % unterstes Leseniveau, das sind gerade diejenigen, die wir abholen müssen.

Fontana: Das ist ja eigentlich die Frage, um die es uns geht. Wie können wir das machen sowohl innerhalb der Schule als auch außerhalb?

TN: Dazu wollte ich jetzt gerade etwas sagen. Wir haben bei uns zwei Angebote, von denen eines jetzt leider aus-läuft. Wir hatte Horte, und das waren Förderhorte für Kin-der mit Migrationshintergrund. Wir hatten bei uns nach sechs Jahren Förderung Kinder, die wesentlich bessere Schulempfehlungen erreicht hatten als sonst der Durch-schnitt. Dazu muss man wissen: zu uns wurde immer die ‚Negativ-Auslese’ von einer Ganztagsschule in der Nachbarschaft geschickt. Das waren eher die Kinder, die sich in irgendeiner Weise verweigert hatten. Sie wurden zu uns empfohlen, weil es in unserem kleinen Rahmen besser funktionierte. Diese Förderung erfährt inzwischen kein Kind in der Umgebung mehr, es gibt sie nicht mehr in den Ganztags-Grundschulen. Schüler, die in der Vor-mittagsschule teilweise schwierige Erfahrungen machen, haben nicht mehr die Möglichkeit, sich am Nachmittag in völlig anderen Gruppen anders zu fühlen und anders zu erleben. Diesen Wechsel in der Berliner Herangehens-weise halte ich für sehr problematisch, weil man praktisch gerade die Kinder, die man eigentlich mit der Ganztags-schule besonders fördern wollte, auf diese Weise noch einmal fallen lässt.

Das Zweite ist ein Programm, das noch läuft. Wir haben sehr umfangreiche Schularbeitshilfe, die sehr nachgefragt ist. Sie beruht auf Freiwilligkeit, die Kinder melden sich dazu selber an, nicht irgendwelche Eltern oder Lehrer. Wir haben eine so hohe Nachfrage, dass wir sie überhaupt nicht befriedigen können. Die Kinder kommen freiwillig am Nachmittag und holen sich die Hilfen, die sie brauchen. Wir können uns nicht über mangelnden Bildungswillen der Kin-der beklagen. Aber die Schüler brauchen dazu Angebote. Ich fi nde es an diesem Punkt schwierig, das Jugendamt zu verteidigen, das immer behauptet, diese Unterstützung sei

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Aufgabe der Schulen. Das fi nden wir überhaupt nicht. Wir müssen Kinder mit ihren Problemen ernst nehmen und dort auch abholen, denn sie brauchen Hilfe, um die Schule zu schaffen. Wir haben aber auch eine Gruppe von Kindern und Jugendlichen, die wir gar nicht mit Bildungsmotivati-onen erreichen. Die wollen bei uns nur abhängen, und mehr nicht. Die müssen wir aber auch so nehmen wie sie sind, wir können sie nicht dazu zwingen. Damit müssen wir auch leben und gucken, was wir trotzdem noch tun können. Und bei manchen klickert es dann ja auch noch später. Das ist so dieser Rahmen, in dem sich unsere Arbeit bewegt. Ich glaube, es braucht Angebote außerhalb der Schule, und zwar für die Kinder, deren Elternhäuser Schule nicht korrigieren können – wie das bei den Mittel- und Ober-schichtsfamilien an ganz vielen Stellen der Fall ist: Mütter, die praktisch als Hilfslehrer fungieren und quasi selbstver-ständlich in dieser Rolle in Anspruch genommen werden. Das wurde mir bezogen auf meine Kinder ganz drastisch gesagt: ich müsse mit denen Englisch lernen, und das in einer Ganztags-Grundschule. Ich erwiderte: ‚Ich dachte, dass das eigentlich in der Schule gemacht würde.’ ‚Nein, das machen doch Eltern ganz selbstverständlich. Wenn Sie das nicht tun, helfen Sie Ihren Kindern nicht.’ Und ich bin eine berufstätige allein erziehende Mutter, und da hat es schon einen ganz besonderen Charme, abends um 19 Uhr noch Englisch-Vokabeln zu lernen. Also, das Schulsystem baut darauf, dass Eltern die Schule unterstützen, und das tun Eltern aus der Mittel- und Oberschicht in einem ganz hohen Maße.

Fontana: Wo kann Veränderung beginnen, wenn Schule in dieser Hinsicht so ein schwerfälliges Gebilde ist? Wel-che Chancen haben Eltern, sich ggfs. über die Nachbar-schaftshäuser einzubringen?

TN: Es ist tatsächlich so. Das Schulsystem erwartet, dass das Bildungsprogramm außerhalb der Schule eine wesentliche Ergänzung zum Unterricht leisten muss. Wenn Eltern nicht schon in der Grundschule anfangen, ihre Kinder zu unterstützen, sind die Spannungen schon vorprogrammiert. Also, das schulische Bildungsprogramm des Vormittags muss am Nachmittag in der Freizeit der Kinder durch die Eltern gefestigt werden. Sonst hat man in dem System keine Chance.

TN: Ich weiß nicht, ob Lehrer in dieser Runde sind. Ich selber bin keine Lehrerin, aber ich fi nde es erstaunlich,

wie viele Leute sich Gedanken über Schule machen. Ich habe manchmal das Gefühl, am wenigsten machen sich die Lehrer darüber Gedanken, was mit diesem System bei uns passiert. Beziehungsweise, irgendwann fangen sie mal an, sich darüber Gedanken zu machen, aber weil das dann nirgendwo gehört wird, bricht das dann wieder auseinander. Meine Erfahrung in der Stadtteilarbeit ist: es wird immer mehr zurück gefahren. Das was Schule lei-stet, wird immer weniger. Das geht in der Kita schon los, und in der Schule geht das so weiter. Was aus dem Boden schießt, sind dagegen ohne Ende Angebote am Nach-mittag, Förderung, Angebote in den Ferien, Angebote am Wochenende, nur um das zu kompensieren, was Schule nicht mehr leistet. Ich habe teilweise schon gar keine Lust mehr auf solche Diskussionen, weil ich einfach denke, es muss an einer ganz anderen Stelle angefangen werden. All das in Ehren, was wir alle machen, und wenn die Kin-der nicht wären, würde sicher schon manch einer abge-hauen sein. Aber die Kinder sind es eben einfach wert, und deswegen machen wir das alles. Aber es wird an der komplett falschen Stelle angesetzt. Vielleicht klappt es ja mal irgendwann, wenn die Familien mit Kindern die Ober-hand gewinnen, dass sie dem jetzigen System nicht mehr so bedenkenlos zustimmen.

Fontana: Was mir in dem Zusammenhang einfällt ist, dass ja durchaus die Lehrer auch sehr unzufrieden sind. Aber vielleicht ist der Leidensdruck der Lehrer noch nicht groß genug.

TN: Natürlich machen sich die Lehrer große Sorgen. Ich kenne sehr viele, die mit dem Herzen dabei sind und etwas versuchen. Natürlich sind schlechte Deutsch-kenntnisse bei Schülern mit ausländischer Herkunft ein Problem. Aber es geht nicht, dass man das isoliert analy-siert und versucht zu verbessern. Da muss man wirklich zurück in die 70er Jahre gehen und sehen, was für eine Integration wir haben. Ich kann das Wort eigentlich nicht mehr hören. Wir haben es nicht geschafft, dass alle wirk-lich zusammen existieren. Wenn man heute von multi-kultureller Gesellschaft spricht und vom Anderssein, muss man sehen, dass Trennungen geschaffen wurden, von Leuten, die seit Jahrzehnten an der Macht sind. Das kann nicht in der Schule verändert werden. Wir müssen das als gesellschaftliches Problem begreifen und nicht als isoliertes Problem einzelner Schüler. Sonst liegen wir falsch.

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Teucher: Ich habe dazu auch Erhebungen über Lehrer: Machen die sich Gedanken? Haben sie ein Problembe-wusstsein? Sie haben ein beträchtliches Problembewusstsein, denn durch das Scheitern ihrer Bildungsversuche haben sie ausgesprochen viel Arbeit. Die Arbeit als Deutschlehrer ist auf Grund der großen Masse an Problemen sehr bela-stend geworden.

Was läuft hier schief? Die Schuld wird dem Freizeitver-halten der Schüler gegeben, das betrifft die Gymnasien. Was machen Schüler aus Sicht der Lehrkräfte falsch? Die Dinge, die da angesprochen werden, sind alle nicht sehr originell. Disziplinlosigkeit heißt: die Texte werden nicht gelesen. Langeweile ist ein sehr verbreitetes Problem. Es stellen sich Fragen wie: was will ich überhaupt machen, wer bin ich, was mache ich mit meiner Freizeit, welchen Wert hat das? Ein anderer Bereich betrifft insbesondere die Jungen: falsche Vorbilder, z.B. durch Computer-Spiele. Es gibt einen weit verbreiteten Fatalismus, Jugendliche strengen sich nicht mehr an, sie haben aufgegeben. Es gibt eine soziale Gefühllosigkeit, die sich etwa in stei-gender Aggressivität ausdrückt. Lehrer werfen den Schü-lern mangelnde Fähigkeit zur Selbstkritik vor. Dem Punkt würde ich zustimmen. All das betrifft aber immer nur einen Teil der Schüler, ein anderer Teil wird ja extrem gut. Deswegen warne ich vor Verallgemeinerungen. Man muss hier sehr differenzieren. Es gibt Schüler, die sehr moti-viert sind, die an ihrer Persönlichkeit arbeiten, die in ihrer Freizeit Gedichte schreiben. Auch die kommen in diesem Film vor. Es kein kein Wunder, dass die dann auch sehr gut sind am Schluss. Bei vielen ist allerdings die Schreib-fähigkeit erschreckend. Wir reden hier schließlich von Gymnasiasten, wir reden nicht etwa von Hauptschülern. Ein großer Teil der Schüler hat schlicht kein Interesse an Geschichte, was das 17., 18. oder 19. Jahrhundert angeht, haben sie keine Vorstellung von signifi kanten Ereignissen. Sie haben übrigens auch keine Gedächtnisfähigkeit. Das Vergessen ist wirklich ein Phänomen. Gut, wenn sie nach Hause kommen und dort gibt es dann nur noch Musik-Programm, dann werden Informationen verdrängt und eben vergessen. Das, was man so unter Allgemeinbildung versteht, ist bei vielen Migrantenschülern extrem niedrig. Grundlegende Dinge der Erziehung wie Formen der Höf-lichkeit sind bei diesen Schülern fast nicht vorhanden. Ebenso haben sie keine Vorstellung davon, was es bein-haltet, gebildet zu sein. Sicher muss Schule sich auch ver-

ändern, das ist auch Konsens. Auch auf der politischen Ebene ist gewollt, dass Schüler durch moderne Formen des Unterrichts eine Bildungsorientierung erhalten. Aber das alles garantiert nicht den Erfolg. Auch auf der Ebene der Eltern gibt es grundsätzliche Fehler. Es gibt keine Ein-stellung etwa zum Lesen. Lesen wird als Schulaufgabe aufgefasst. Wenn Eltern so eine Einstellung haben, moti-vieren sie ihre Kinder nicht zum Lesen. Sie fragen nicht nach: was habt ihr denn heute in der Schule gemacht? Das ist eben der feine Unterschied zwischen Mittelschicht- und Unterschichteltern. Allein diese Frage könnte ganz viel bewirken. Stattdessen gibt es eine Notenfi xierung, und es geht ihnen nicht um Inhalte. Dazu kommt, dass Deutschland abgelehnt wird, in vielerlei Hinsicht. Es wird als ungastlich, als kalt angesehen. Das ist natürlich fatal, wenn Eltern ihr Kind in die Schule schicken, und es ist double bind. Ihm wird gesagt: geh zur Schule, mach das Abitur, während zugleich impliziert ist, dass sie Deutsch-land eigentlich ablehnen. Das funktioniert nicht. Der letzte Punkt ist: Bildung ist auch Knowhow. Das ist dann eine rein technische Frage. Das Kind muss eine Klassenarbeit schreiben, es muss eine Klausur schreiben. Da besteht wieder ein Unterschied zu den Mittelschicht-Eltern. Da sie selber das Programm durchlaufen haben, können sie ihr Kind vorbereiten, auch nachbereiten. Das sind aber alles Dinge, die auch bei den Eltern eine gewisse Sprachkompetenz voraussetzen. Dann ist der Rest ziem-lich einfach. Allein über das Internet gibt es mittlerweile unendlich viele Ressourcen, um sich Informationen zu beschaffen. Und da sehe ich eben auch die Chancen in der Elternarbeit, in die Richtung sollte man gehen. Mit gleichzeitigen Veränderungen im Schulbereich. Natür-lich darf man die Schüler und ihre Mängel nicht unnötig abwerten, das ist ganz klar.

TN: Ich arbeite in Neukölln in einem Projekt, wo es darum geht, vorwiegend türkische Jugendliche zu motivieren, überhaupt irgendwas zu machen. Ich treffe dort auf Jugendliche, die probieren, überhaupt erst noch einen Hauptschulabschluss zu machen. Dass jemand am Real-schulabschluss arbeitet, ist schon seltener. Es gibt da einen Jungen, der macht jetzt seinen Realschulabschluss, er kann gebrochen Deutsch. Ich habe ihn gefragt: ‚Und was machst du danach?’ - ‚Ich werde Konditor’. Das muss man sich vorstellen: ein Bulle von Typ, der die Hanteln schwingt. Und der wird Konditor, weil in seiner Groß-groß-groß-Familie der Bruder vom Onkel Bäcker ist. Ich fand

Workshop │ Das Dilemma der parallelen WeltenD

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Nicht für die Schule, sondern für das Leben ...│ Bildung im Stadtteil 41

das unglaublich. Und ich habe ihn auch gefragt: ‚Was willst du denn mal haben?’ – ‚Einen schweren Mercedes’. Das ist ein ganz anderer Denk- und Lebensansatz. Und da kann man ihm natürlich nicht mit Goethe kommen, denn der ist ihm völlig Wurst. Ein anderes Beispiel ist eine Frau: 17 Jahre, Kopftuch, schwanger, verheiratet, verhei-ratet worden, und die fi ng richtig an zu strahlen, als sie im Rahmen des Projektes an einem Schmiedekurs teilnahm. Sie merkte auf einmal, sie betritt männliches Gebiet. Also ganz archaisch, Feuer, Eisen, Kraft – und die war ganz froh. Da spielen also ganz andere Erlebnisse eine Rolle als das, was wir mit unserem Projekt eigentlich wollten. Und ich denke, was heute früh gesagt wurde, dass unter-schiedliche Gruppen sich ihre eigenen Welten suchen - die haben sie schon längst. Und da sind wir mit Goethe und Gymnasium die Minderheit. Wir sind nicht mehr die Personen, die den Kurs bestimmen und integrieren kön-nen.

TN: Das fi nde ich natürlich richtig, was Sie sagen, aus der Erfahrung Ihrer Arbeit mit jungen Menschen. Was im Hinblick auf das Gymnasium und den Literaturkanon gesagt wurde, heißt ja nicht, dass alle bundesdeutschen Bürger dieses Programm durchlaufen müssen. Dort, wo man arbeitet, muss man auch an den Bedürfnissen der Kinder oder Jugendlichen ansetzen, selbstverständlich. Trotzdem möchte ich noch auf den vorletzten Punkt bei den Mängeln der Schüler eingehen, auf die fehlende Erziehung. Dazu gehört ja nicht nur, höfl ich und freund-lich zu sein. Sondern dazu gehört auch, dass Eltern sich ihrer Verantwortung bewusst sein müssen. Da kommt so viel zusammen, dass wir darüber drei Tage oder sogar drei Wochen reden könnten, bis wir eine Vorstellung davon fi xieren können, wie es gehen könnte. Ich fi nde, es greift so unglaublich viel ineinander. Nicht alle Men-schen auf dieser Welt können Abitur machen. Und das ist auch gar nicht nötig. Trotzdem brauchen sie bestimmte Grundvoraussetzungen. Und was ich immer wieder fest-stelle ist: wenn das Elternhaus den Kindern nichts bie-tet, gar nichts, weil man nicht kann oder nicht will, wenn die Kinder schon von klein auf alleine gelassen sind – und andererseits das Schulsystem so ist, wie es ist, haben die Kinder keine Chance. Die wenigsten Lehrer, aus meiner Sicht, sehen überhaupt, was in der Schule abläuft. Wenn sich auf der Ebene der Eltern und in der Schule nichts ändert, dann sitzen wir hier in drei Jahren wieder und reden über genau die gleichen Dinge. Aber

ich fi nde es sehr wichtig, dass an den unterschiedlichen Orten, an denen mit jungen Menschen gearbeitet wird, angesetzt wird.

TN: Aber wie sind die Leute zu dieser negativen Einstel-lung zu Deutschland gekommen? Als wir in den 70er und Anfang der 80er Jahre die Politik gewarnt haben, dass so etwas passieren könnte, wurden wir fast ausgelacht. Man hat es verpasst, das Zusammenleben so zu gestalten, dass sich ein Gefühl der Zugehörigkeit entwickeln konnte. Diese Menschen leben hier seit 40 Jahren, und sie füh-len sich nicht zugehörig. Sie gelten nichts. Und wenn ich ihnen keine Achtung entgegen bringe, dann kann ich auch nichts anderes erwarten. Das ist das Problem, vor dem wir stehen. Und das ist gewachsen und hat sich über viele Jahre entwickelt. Wir haben erst gestern erkannt, dass wir ein Einwanderungsland sind. Das ist ein komplexes Pro-blem, und es ist falsch, isoliert über die Schule zu spre-chen. So werden wir keinen Schritt voran kommen.

Teucher: Vielen Dank für die Diskussion und die Anre-gungen. Wir sind jetzt nicht zu Lösungen im Detail gekom-men. Es gibt aber durch-aus Ideen, was getan werden kann. So gibt es z.B. Überlegungen für ein Schreib-Projekt, das auch im Freizeitbereich und nicht nur an den Schulen anzusiedeln ist. Das ist das nächste Projekt, das ich mir vor-genommen habe.

Fontana: Und für die Durchführung sucht Herr Teucher noch Partner. Vielleicht hat ja diese Diskussion dazu geführt, dass dafür Interesse entstanden ist.

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42Theo Teucher:

„Wie es weiter gehen kann“ - Projektskizze und Partnersuche – oder: das Schreibprojekt „Unsere Geschichte“

In dem Projekt „Die Deutschstunde“ war von Anfang an vor-gesehen, eine gesellschaftspolitische Problemsituation nicht nur fi lmisch zu beschreiben, sondern auch einen Beitrag zu ihrer Lösung zu leisten.

Der Film „Die Deutschstunde“ thematisiert das Scheitern im Deutschunterricht im Zeitverlauf von der 7.Klasse bis zum Abi-tur. Im Probehalbjahr der 7.Klasse müssen 1/3 der Schüler des Robert Koch Gymnasiums in Berlin Kreuzberg die Schule wieder verlassen, u.a. weil sie nicht in der Lage sind, Fontanes „Brücke am Tay“ nachzuerzählen. Das Diktat „Utopia“ in der gleichen Klasse zeigt, dass sich die Lage im Vergleich zu der Situation vor 20 Jahren massiv verschlechtert hat. Der Film beschreibt, dass auch viele der Schüler, die das Probehalb-jahr schaffen, bis zum Abitur große Schwierigkeiten haben. Gleich zu Beginn des Films strauchelt ein Schüler eines Deutsch-Grundkurses an der Interpretation von Goethes „Faust“. Gegen Ende des Films scheitert der Schüler Ugur in einer Klausur kurz vor dem Abitur an der Interpretation von Heine- und Goethe-Gedichten. Die 5-, die er erhält, wird seinen Abiturnotendurchschnitt senken und seine Studienplatzsuche erschweren. Über das Problem der Leistungen hinausgehend führt der Film das Scheitern des Deutschunterrichts auch in anderer Weise vor. So hat die humanistische Botschaft des Deutschunterrichts ganz offensichtlich die extremistisch ori-entierten Schüler nicht erreicht. Und die Revolte am Ende des Films zeigt, dass viele Schüler die Schule und auch den Deutschunterricht primär als Zwangsveranstaltung ansehen, mit der sie innerlich nichts zu tun haben wollen.

Ein Schwerpunktthema des Films ist die Situation von Migran-tenschülern. Der Film beschreibt exemplarisch das Drama, das der Deutschunterricht für viele Migrantenschüler bedeutet. Wie PISA und DESI nachgewiesen haben, erreichen sie in der Schulzeit bedeutend geringere Niveaus an Lese- und Schreib-kompetenz als deutsche Schüler. Außerordentlich extrem ist die Diskrepanz, wenn man sie mit den Leistungsniveaus ver-gleicht, die die Kinder von deutschen Akademiker- und Ober-schichtfamilien erreichen. Während die große Mehrzahl die-ser Kinder das Abitur schafft und anschließend studiert, trifft dies für gerade einmal 10% der Migrantenkinder zu.

Diese Situation widerspricht dem Artikel 3 des Grundgesetzes, der allen Menschen unabhängig von der sozialen Herkunft gleiche Chancen verspricht. Die Situation trägt zur sozialen Spaltung der Gesellschaft bei und führt dazu, dass der Wirt-schaft zunehmend die benötigten Fachkräfte fehlen.

Migrantenschüler müssen in größerem Umfang als bisher höhere Bildungsabschlüsse erlangen. Dies wird nur möglich sein, wenn sie im Deutschunterricht bessere Leistungsni-veaus erreichen.

Es sind insbesondere zwei Projekte, die einen Beitrag dazu leisten sollen, dass diese Ziele erreicht werden. Die Projekte wollen sich in die Vielzahl von Maßnahmen integrieren, die beispielsweise im Rahmen der Qualifi zierungsoffensive „Auf-stieg durch Bildung“ zur Verbesserung der schulischen Situa-tion von Migrantenschülern angegangen werden.

In dem bundesweit geplanten Schreibprojekt „Unsere Geschichte“ sollen Migrantenschüler zeigen, dass sie zu sehr guten Leistungen im Umgang mit der deutschen Literatur und Weltliteratur und im kreativen Schreiben fähig sind. Ein derar-tiges Projekt existiert noch nicht. Vergleichbar ist der Landes-wettbewerb Deutsch, der seit 1991 jährlich in Baden-Württem-berg durchgeführt wird. Wie der Landeswettbewerb setzt sich das Schreibprojekt „die Pfl ege der Literatur, den refl ektierten Umgang mit unserer Muttersprache, die kreative und inno-vative sprachliche Gestaltung von Situationen, Ereignissen sowie detaillierte Beobachtungen und die Analysen von Lite-ratur zur Aufgabe“ (so ein Pressetext zu dem Landeswettbe-werb). Unter den Preisträgern des Landeswettbewerbs Baden-Württemberg fi nden sich so gut wie keine Migrantenschüler. Das ist kein Zufall, weil das Design des Wettbewerbs primär Leistungskursschüler aus deutschen Mittelschichtfamilien anspricht. Deswegen werden in dem Schreibprojekt „Unsere Geschichte“ die Themenstellungen, die Kommunikation und auch die Organisation speziell darauf abgestimmt, Migranten-schüler in der gymnasialen Oberstufe zu erreichen.

Die acht Themen behandeln die Begegnung mit Literatur („Meine Begegnung mit Goethe und Co“), die Lernsitua-tion („Klausuren überleben“, „Die Deutschstunde viele Jahre lang“), die Entwicklung der Identität („Meine, unsere Geschichte“), kreatives Schreiben (Texte der Romantik als Schreibimpuls), aber auch Themen des sozialen, kulturellen und ideologischen Umfeldes („Gewinner, Verlierer“, „Kampf der Kulturen“). Mit dem achten Thema („Arbeitswelt“) sol-len auch Jugendliche angesprochen werden, die sich in der Berufsbildung befi nden. In den Schülermaterialien zu dem Projekt werden die allgemeinen Zielstellungen in Form unter-schiedlicher Schreibimpulse konkretisiert und mit vielfältigen Hintergrundmaterialien versehen. Die entstandenen Texte werden auf der Website www.deutschstunde.org veröffentli-cht. Unterschiedliche Zugriffs- und Refl exionsmöglichkeiten werden angeboten.

Weiterhin werden die Ergebnisse des Projektes, so ist die Planung, auf einer Tagung mit den Preisträgern veröffentli-

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cht, diskutiert und öffentlichkeitswirksam präsentiert. Damit soll ein deutliches Signal gesetzt werden sowohl gegenüber der deutschen wie auch der Migrantenöffentlichkeit, dass die Ziele einer höheren Sprachkompetenz von Migrantenju-gendlichen erreichbar sind. Dies ist eine Zielsetzung, in der zwischen der deutschen und der türkischen Regierung kein Dissens besteht.

Auch der türkische Ministerpräsident Erdogan fordert ja eine höhere deutsche Sprachkompetenz seiner Landsleute in Deutschland. Ein derartiges Ziel muss aber inhaltlich ausge-füllt werden. Sprachkompetenz ist keine abstrakte Technik, sondern sie beweist sich beispielhaft im Umgang mit Litera-tur und in der Qualität des Schreibens. Insofern wird mit dem Schreibprojekt und seinen Ergebnissen konkretisiert, wie sich die Umsetzung der allgemeinen politischen Zielsetzung gestalten kann.

Außerdem wird deutlich gemacht, was Integration jenseits der kulturellen und ideologischen Konfrontation bedeutet. Die Schüler beweisen, dass sie durchaus ihre religiöse und kul-turelle Identität bewahren können und gleichzeitig kompetent und virtuos mit den Werken der deutschen Literaturgeschichte und mit der deutschen Sprache umgehen können. Dies wird ein wichtiges Signal gegenüber der Migrantencommunity sein, die in großen Teilen unverändert hilfl os und widersprüchlich mit den Anforderungen der deutschen Schule umgeht. Höhere Bildungsabschlüsse sind nur zu erreichen bei einer größeren Offenheit der Migrantenschüler gegenüber der deutschen Kultur, durch ein größeres Engagement im Deutschunterricht. Dieses Engagement befördert immens die Persönlichkeitsbil-dung und bedeutet keine Aufgabe der eigenen Herkunftsiden-tität. Ganz im Gegenteil: eine höhere Kompetenz im Umgang mit der deutschen Kultur geht einher mit einer höheren Kom-petenz im Umgang mit der Herkunftskultur. Diese Botschaft soll mit den Ergebnissen des Schreibprojektes eindringlich kommuniziert werden, es sollen damit attraktive Orientie-rungen jenseits von Assimilation oder Konfrontation sowohl für Migrantenschüler wie -eltern vermittelt werden.

Zusätzlich zu dem Schreibprojekt entsteht ein Modul zur Elternbildung. Der Bezug zu dem Schreibprojekt besteht darin, dass ein Teil der Schülertexte zum Aufhänger für die Arbeit mit den Eltern genommen wird. Die Texte repräsentieren, was Migrantenschüler bis zum Abitur grundsätzlich schaffen kön-nen. In dem Elternbildungsmodul wird vermittelt, wie sich der Weg zum schulischen Erfolg gestaltet. Den Eltern wird Hin-tergrundwissen vermittelt zu den Angeboten, die die Schule, insbesondere der Deutschunterricht, ihren Kindern macht. Sie werden auf Stolpersteine aufmerksam gemacht und ihr Verständnis für die Anforderungen der schulischen Bildung wird verbessert. Ihnen wird vermittelt, wie sie die Entwicklung

der Lese- und Schreibkompetenz und der Bildung ihrer Kin-der aktiv unterstützen können. Die Elternbildung besteht aus Präsenzphasen wie aus einer multimedialen Unterstützung in DVD und Internet-Form.

Für eine medial attraktive Umsetzung des Projektes existiert eine große Datenbasis, die u.a. aus einem umfangreichen Video- und Fotoarchiv und aus einer umfangreichen Samm-lung von Schülertexten besteht. Das Schreibprojekt und seine Ergebnisse sollen in einem Film dargestellt werden.

Bisher wurde das Schreibprojekt von einer Reihe von Lehrern und Schülern engagiert unterstützt. Eine Initiativgruppe von Schülern an dem Robert Koch Gymnasium in Berlin-Kreuz-berg organisiert in einer Pilotphase die Produktion von Tex-ten ihrer Mitschüler. Mit diesen Schülern wird auch die inter-nationale Teilkomponente des Projektes erarbeitet. Da die Schüler über türkische und arabische Sprachkompetenzen verfügen, soll das Projekt auch auf türkisch und arabisch prä-sentiert werden (außerdem auf englisch). Auch Schüler aus der Türkei und dem arabischen Raum sollen mittels der Mög-lichkeiten des Internets angeprochen und integriert werden. So ergibt sich für Teilnehmer des Projektes die Möglichkeit, „unsere Geschichte“ als nationen- und kulturüberspannende Geschichte zu erarbeiten und zu erzählen.

In einer nächsten Phase ist geplant, die Projektunterstützung mit Hilfe von Mailing-Aktionen, von vorhandenen Netzwerken (wie dem der Deutschdidaktik) und mit Hilfe der Möglich-keiten des Internets auf eine breitere Basis zu stellen. Für die Umsetzung des Schreibprojektes ist insbesondere die Unter-stützung von Lehrkräften wichtig, die geeignete Migranten-schüler zur Teilnahme motivieren und sie bei der Umsetzung beraten. Flankierend dazu sollen Sozialarbeiter für die Unter-stützung gewonnen werden. Bisher hat sich gezeigt, dass zur Aktivierung der meisten Migrantenjugendlichen bedeutend mehr getan werden muss, als dies für Jugendliche aus deut-schen bildungsorientierten Milieus notwendig ist. Deswegen ist Unterstützung willkommen.Das Schreibprojekt „Unsere Geschichte“ besteht aus meh-reren Teilprojekten. Oben beschrieben wurde umrisshaft das Teilprojekt für Gymnasiasten mit Migrationshintergrund. Selbstverständlich sollen auch Gymnasiasten ohne Migrati-onshintergrund angesprochen werden. In einem weiteren Teil-projekt sollen auch Jugendliche einbezogen werden, die sich in einer Berufsbildung befi nden.

Mit einer Mail an [email protected] können Sie die Film-DVD „Die Deutschstunde“ (19.90€ inklusive Versandko-sten) bestellen und/oder konkretere Informationen zu dem Schreibprojekt und der Elternbildung anfordern.

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Sperling: In unserem Workshop geht es um Eltern- und Familienbildung, besonders mit eingeschlossen sind Eltern aus sogenannten bildungsfernen Schichten. Wir haben aus zwei Einrichtungen Impuls-Geber, die uns ihre Anregungen geben. Das wird zunächst Gerald Saathoff vom NBH Mittelhof sein. Danach hören wir Annette Mau-rer-Kartal und Enver Sen vom Verein Stadtteil-VHS, Berlin. Die anwesenden TN sind eingeladen, Fragen zu stellen und ihre eigenen Erfahrungen mit einzubringen.

Saathoff: Ich bin seit jetzt schon 18 Jahren Mitarbeiter im NBH Mittelhof. Mit unterschiedlichen Aufgabenfeldern, seit einigen Jahren im Bereich Jugendbildung, Familienarbeit beschäftigt. Ich leite Familienbildung und Elternberatung. In diesem Kontext bin ich natürlich auch mit allen anderen Kollegen sehr eng verbunden, die im Bezirk Elternbildung betreiben. Ein sehr wichtiger Punkt, der in den Diskus-sionen über gemachte Erfahrungen immer wieder auf-tauchte, war die Frage, wie wir Eltern, die zu den üblichen Angeboten nicht kommen, erreichen. Diese Frage ist Ihnen allen sicherlich auch sehr bekannt. Wir haben hierzu im Bezirk natürlich schon verschiedene Versuche unternom-men und haben dabei ganz unterschiedliche Erfahrungen gesammelt. Es ist immer sehr schwierig. Umso glücklicher

waren wir, als wir auf einer Fachtagung im Mai 2006 im Jagdschloss Glienicke ein Programm aus Nordrhein-Westfalen kennen lernten, das offensichtlich diese Lückeschließen kann. Es geht um das Programm ‚Fun’, wie Spaß, der volle Name ist ‚Fun in Familie und Nachbar-schaft’. Es ist entwickelt worden vom Institut für präven-tive Pädagogik Nordrhein-Westfalen, wird dort schon an über 200 Standorten praktiziert. Und seit damals, seit der Fachtagung, wird es auch in Berlin eingesetzt, und wir sammeln damit Erfahrungen. Ich selber habe einen ersten Kurs angestoßen und kann deshalb jetzt mit einem Praxis-Hintergrund darüber sprechen.

Das Programm ist entwickelt worden nach einem ameri-kanischen Vorbild. ‚FAST’ heißt das: Families-Services and Teachers and Schools Together. Das haben sie in Nordr-hein-Westfalen ausprobiert und überlegt, ob sie es ein-führen. Das hat sich aus lizenzrechtlichen und anderen Gründen nicht ergeben. Sie haben sich dann zu dem sehr aufwändigen Schritt entschlossen, ein eigenes Programm zu konzipieren. Und ich fi nde, das ist sehr überzeugend gelungen. Dieses Programm ist ebenfalls für sozial benachteiligte Familien entworfen worden. Das heißt, alle Bestandteile sind so abgestimmt, dass sie möglichst keine Hürde, keine Schwelle bedeuten, sondern dass sie sogar eine gewisse Attraktivität entfalten für Eltern aus sozial benachteiligten Familien.

Das Programm besteht im wesentlichen aus zwei Phasen. Die erste ist die Kurs-Phase, das sind acht Mal drei Stun-den, die im Wochenabstand durchgeführt werden, und zwar in einer Einrichtung, die regelmäßig Kontakt zu den Familien und Eltern hat, die an diesem Programm teilneh-men. Das ist ganz wichtig, weil diese Personen ganz häufi g von vertrauten, aber außenstehenden Personen ermuntert werden müssen, die Termine auch tatsächlich wahrzuneh-men. Die Kurs-Phase besteht aus immer den gleichen Ele-menten. Nach der Begrüßung gibt es ein Kommunikations-spiel, danach das gemeinsame Essen, ganz wichtig, gerade wenn es um interkulturelle Zusammensetzung geht, und das ist ja meistens der Fall. Dann gibt es die Eltern-Kin-der-Zeit. Am Ende dann noch die Überraschung und den Abschluss. Diese Abfolge ist immer gleich.

Die Spiele wechseln natürlich, haben aber alle einen ganz bestimmten Charakter. Sie sind sehr einfach. Die Aufga-ben für die Familien sind immer sehr, sehr einfach, so

Workshop... Eltern sein dagegen sehr.

Methoden der Eltern- und Familienbildung,auch für/mit Menschen aus sog.

„bildungsfernen Schichten

Moderation:Petra Sperling und Viola Scholz-Thies

Inputs:Gerald Saathoff, (Nachbarschaftsheim Mittelhof)Annette Maurer und Enver Sen, (Halk Kösesi - Verein Stadtteil-VHS)

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dass daraus keine Schwelle entsteht. Andererseits bein-halten sie eine neue Erfahrung, die als Anregung nach Hause in die Familie mitgenommen wird. Und auch das ist sehr wichtig. Es sind alles Spiele, die diese Familien in der Regel noch niemals vorher gespielt haben. Es sind also neue Erfahrungen. Und obwohl die Aufgaben sehr einfach sind – z.B. über ein ganz bestimmtes Thema miteinander zu sprechen, etwa 15 Minuten – ist es für manche Familien richtig schwer, das zu erfüllen. Diese Gespräche können manchmal auch konfrontierend sein. Das wird allerdings durch die besondere Zusammensetzung des Programms insofern wieder ausgeglichen, weil das Programm viele Elemente enthält, die ausgesprochen Spaß machen und also wieder entlasten. Kinder lieben besonders alle Spiele, die in der großen Runde gemacht werden. Sie lieben es vor allem, dass ihre Eltern mal mit ihnen spielen. Das ist für Kinder eine ganz seltene Erfahrung.

Im Vordergrund des Programms steht die Elternrolle. Eltern schätzen es sehr, sich mit anderen Eltern aus-zutauschen. Und das ist auch deshalb so, weil das ganze Programm ausgesprochen wertschätzend orientiert ist. Das heißt, Eltern hören in diesem ganzen Kurs-Programm keine einzige Kritik. Das ist mit Absicht so konstruiert. Sie bekommen ganz systematisch Rückenstärkung, Unter-stützung. Und sie werden ganz systematisch in ihrer elter-lichen Verantwortung angesprochen. Um ein Beispiel zu geben: die Regeln der Spiele werden immer zuerst den Eltern getrennt von den Kindern erklärt. Sie kommen nach vorne, während die Kinder an den Familientischen sitzen bleiben. Die Aufgabe der Eltern ist es dann, die Regeln ihren Kindern zu vermitteln. Die Eltern schicken ein Kind nach vorne, um das Material abzuholen, die Eltern schi-cken ein Kind nach vorne, um das Material wieder abzu-geben. Das sind vermeintliche Kleinigkeiten. Aber in der Summe bedeutet das, dass sich die Eltern ernst genom-men fühlen, sich angesprochen und gestärkt fühlen.

Ich gebe Ihnen hier ein Beispiel von dem, was da gespielt wird. Die dahinter stehende Einstellung ist, dass es sich um sehr einfache und preisgünstige Materialien handeln soll. Da ist absolut nichts Wertvolles oder Teures dabei, ich bin manchmal ganz überrascht, mit welchen Dingen man spielen kann.

Die zweite Phase des Programms, die auch sehr wichtig ist, ist eine Selbstorganisations-Phase. Das Programm hat

zwei Zielsetzungen: einmal die Eltern in ihrer Rolle und in ihrer Kompetenz zu stärken. Und die zweite ist, die Isolie-rung der Familie, die in der Regel sehr stark vorhanden ist, ein bisschen aufzuheben und das Familiengefl echt zu stärken. Dafür hat das gemeinsame Essen eine wichtige Funktion, das ja am Abschluss eines jeden Nachmittags steht und immer von allen mit einem Riesenapplaus bedacht wird. Die Kinder reißen sich darum, ihre Mütter davon zu überzeugen, dass sie das nächste Mal kochen sollen. Sie sind begeistert von diesem öffentlichen Beifall für etwas, was sie geleistet haben, als Familie.

Die Selbstorganisationsphase ist entweder wöchentlich oder monatlich über mehrere Monate gedacht. Sie kön-nen sich im Anschluss sogar ganz selbstständig treffen. Das klappt nicht immer. Der Gedanke dabei ist, dass aufgebaute Beziehungen bleiben, die sie weiter pfl egen können und auf die sie weiter bauen können. Auch diese Phase kann man sehr schön in eine unterstützende Ein-richtung integrieren. Eltern, von denen man nie dachte, dass sie sich in Kitas konstruktiv engagieren, können auf diese Weise sehr schön gewonnen werden. Denn dort bekommen sie ganz andere Rollen.

Sperling: Ich möchte die Runde jetzt für Fragen öffnen.

TN: Ich komme aus Potsdam und arbeite im Quartiers-management. Wir sind ganz konkret dabei, FUN in einem Neubaugebiet zu installieren und auszuprobieren. Wir sind an dem Punkt zu überlegen, bei wem wir dieses Coaching für bestimmte Leute machen. Vielleicht hat dazu jemand hier aus der Runde einen Vorschlag. Wir haben bisher ein Angebot aus Hamburg für das Coaching. Ich habe zu dem dargestellten Projekt ein paar Fragen: Wo kochen die Eltern? Am Treffpunkt oder bringen sie das Essen fertig von zu Hause mit? Und wie groß ist so eine Gruppe?

Saathoff: Sie kochen entweder zu Hause oder in der Ein-richtung, wenn das geht. Manchmal muss das Team ein bisschen dabei helfen. Denn je nach Gruppengröße ist es manchmal sehr viel, was gekocht werden muss. Die Gruppe sollte 6 – 8 Familien umfassen. Unter 6 Familien ist der in jedem Fall notwendige Organisationsaufwand und die darin steckende Arbeitszeit zu groß. 8 Familien bedeutet aber auch schon, dass sehr viele Menschen im Raum sind. Das geht dann manchmal drunter und drü-ber und kann auch schon mal sehr laut sein. Auch in so

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einer Situation werden übrigens immer die Eltern ange-sprochen. Die Coaches sprechen nie die Kinder selber an, sondern immer die Eltern, die mit ihren Kindern am Tisch sitzen. Das Programm ist sehr konsequent.

TN: Zum Stichwort Elternzeit-Kinderzeit möchte ich wis-sen: wenn die Eltern miteinander beschäftigt sind, wer betreut dann die Kinder? Die Eltern scheinen ja in der Zeit nicht im gleichen Raum zu sein.

Saathoff: Die Kinder müssen betreut werden. Das geschieht entweder im Rahmen der Einrichtung, in der dieser Kurs stattfi ndet. Oder, wenn Geld da ist, gibt es eine eigene Kinderbetreuung. Das wird unterschiedlich gelöst.

TN: Meine andere Frage bezog sich noch auf Anbieter für Coaching.

Saathoff: Mir ist in Hamburg nichts bekannt. Ich weiß nur, dass das Institut für präventive Pädagogik diese Weiter-bildung zweimal im Jahr macht und dass die Kurse immer sehr schnell ausgebucht sind. Das können Sie sich vor-stellen, weil es ja einen hohen Bedarf dafür gibt. Und man braucht ja, um den Kurs zu machen, eine Mitarbeiterin aus einer Einrichtung, in der die Familien schon sind. Das kann zum Beispiel eine Kita sein oder auch Nach-barschaftseinrichtungen. Man braucht aber auf jeden Fall noch eine zweite Mitarbeiterin, aus einer Familien-Institution, vom Jugendamt oder woher auch immer. Der Kurs, den ich mache, fi ndet in Zusammenarbeit mit einem Jugend- und Kinder-Treffpunkt und einer Schule statt.

TN: Wie ist die Beteiligung?

Saathoff: In meinem Fall war es so, dass es sich aus-schließlich um deutsche Familien handelte. Das lag ein-fach an dem Wohngebiet in der Umgebung der Einrich-tung, in der wir das gemacht haben. Ansonsten sind die Erfahrungen in Berlin und auch in Nordrhein-Westfalen so, dass das Programm sehr gut akzeptiert wird von Familien mit ausländischer Herkunft. Wichtig ist dabei aber, dass es auch Teamer/innen geben muss, die aus dem entspre-chenden Kulturkreis kommen. Wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, eignet sich das Programm sehr gut gerade für gemischte Gruppen. Das völlige Fehlen von kritischen Bli-cken ist sehr wohltuend für diese Eltern.

TN: Wie schafft man es, die Eltern für den ersten Ter-min zu interessieren? Das Programm hat ja trotz allem eine ziemlich starke Struktur, festgesetzte Termine, eine bestimmte Dauer, und es richtet sich ja an diejenigen, die enge Strukturen eigentlich meiden. Wie ist diese Hürde zu bewältigen?

Saathoff: Nun habe ich selber ja noch nicht so viele Erfah-rungen, ich habe erst einen Kurs gemacht. Da ging das überraschenderweise sehr einfach. Wir haben insgesamt 8 Familien angesprochen, und 6 haben sofort zugesagt und halten auch die Termine ziemlich gut ein. Mit der Ein-schränkung, dass mal jemand auch zu spät kommt oder absagt, weil das Kind krank ist oder so. Daran merkt man schon, dass offensichtlich Eltern und Kinder das Gefühl haben, es tut ihnen gut. Dass da nichts von ihnen verlangt wird, was sie nicht auch schaffen können. Klar, die Anmel-dung, der erste Termin, ist die größte Hürde. In meinem Fall war es aber wirklich sehr einfach, das hat mich über-rascht. Man muss vielleicht dazu sagen, dass es sehr viele Eltern gibt, die diesen sogenannten bildungsfernen oder sogar bildungsunwilligen Schichten angehören, die aber sehr wohl gerne gute Eltern sein wollen. Diese Erfah-rung war für mich sehr wichtig. Sie wollen tatsächlich gute Eltern sein, haben diesen Anspruch an sich, wissen aber oft nicht, wie sie ihn verwirklichen können.

TN: Wenn Eltern nun mit drei Kindern kommen wollen, wie wird die Situation dann geklärt?

Saathoff: Die Eltern müssen schon vor Kursbeginn sagen, mit welchem Kind sie das machen wollen, denn sie kön-nen es nur mit einem Kind machen. Und die Erfahrung ist, dass Eltern immer sehr genau wissen, welches Kind es am meisten braucht. Der andere Punkt ist: das Programm beruht ja auf einigen Grundpfeilern, u.a. Spieltheorie, Spieltherapie usw., und es ist ganz klar, dass die Wirkung größer ist, wenn Eltern immer mit demselben Kind spie-len. Das hat Auswirkungen auf die Besserung, auch für die anderen Kinder.

TN: Ich komme aus Berlin und führe Schulungen für den Sozialpädagogischen Dienst durch. Welche Rolle spielt der Ort, an dem so ein Kurs stattfi ndet, als Zugangsort für die Familien? Ist es günstig, wenn er vertraut ist, oder ist es günstig, wenn er etwas anonymisiert ist, damit Eltern nicht in eine Nachhilfe-Situation kommen?

Workshop │ ... Eltern sein dagegen sehrEl

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Nicht für die Schule, sondern für das Leben ...│ Bildung im Stadtteil 47

Saathoff: Der Ort ist sehr wichtig. Der Ort sollte gut erreich-bar sein, damit nicht schon die Entfernung eine Hürde aufbaut. Es muss auch ein Ort sein, der irgendwie einla-dend wirkt und der in keiner Weise mit Ablehnung oder Abwehr besetzt ist. Das ist wichtig. Ansonsten gibt es da viele Möglichkeiten, denke ich. Kitas sind möglich. Schule könnte vielleicht mit zwiespältigen Gefühlen besetzt sein, aber da gibt es vielleicht auch schon andere Erfahrungen. Oder Nachbarschaftstreffs, wunderbar. Es ist aber gene-rell schon wichtig, dass es für die Familien ein vertrauter Ort ist. Gut sind eigentlich Kindertagesstätten, wo min-destens ein Kind der Familie hingeht. Dieser persönliche Kontakt muss einfach da sein. Das ist kein Programm, wo man mit einem Flyer Eltern fi ndet, sondern das geht nur über persönliche Ansprache. Es wird ja mit Eltern vorher ein Gespräch geführt, in Einzelfällen sogar zwei. Da wird ihnen genau erklärt, was auf sie zukommt. Das dient auch schon der Vertrautmachung mit den Personen, mit den Inhalten, dass sie dafür ernsthaftes Interesse aufbauen. Insgesamt ist das ein ziemlich zeitaufwändiger Prozess, schon in der Vorbereitung.

TN: Wie heißt denn die Eintrittskarte? Die heißt doch bestimmt nicht: wir sind die Profi s, die euch jetzt mal beibrin-gen, wie ihr mit eurem Kind umgeht. Wie ist das Verkaufs-etikett für ein Elternteil mit einem Kind?

Saathoff: Es ist oft so, dass nur ein Elternteil beteiligt ist. Aber das ist kein Programmbestandteil, sondern es liegt in der Natur der Sache, weil es sich oft um getrennte oder geschiedene Eltern handelt. Manchmal muss der Vater während der Kurszeit noch arbeiten. Oder er will auch gar nicht teilnehmen. Die Eltern werden, wenn es sie beide in der Familie gibt, beide eingeladen. – Die Eintrittskarte? Es wird dazu eingeladen, sich selber mal etwas Gutes zu gönnen. Eine gute Zeit miteinander zu verbringen. Man muss ein bisschen sensibel vorgehen und im Einzelfall auch darauf gucken, in welcher Institu-tion so ein Gespräch stattfi ndet. Das gehört mit zu der Entscheidung, welche Einladungspolitik man macht. Ich habe jetzt die Erfahrung gemacht, dass Eltern eine ziem-lich realistische Einschätzung von sich selber haben. Sie kennen ihre Grenzen sehr gut, es ist keineswegs so, dass das im Ungewissen ist.

TN: Heißt das, dass die Eltern gezielt angesprochen wer-den oder ist das wie ein offenes Angebot?

Saathoff: Es geht ja im Grunde darum, bestimmte Eltern anzusprechen, sie zur Teilnahme zu gewinnen. Es ist also immer ein persönlicher Kontakt. Es ist eine persönliche Einladung von jemandem, dem sie vertrauen, den sie kennen. Das ist eine wesentliche Voraussetzung. Die aber überhaupt nicht ausschließt, dass in einer Einrichtung durchaus auch sehr gemischte Familien angesprochen werden. Damit sind auch sehr gute Erfahrungen gemacht worden.

TN: Ich arbeite in einem Nachbarschaftshaus. Und FUN heißt ja: Familie und Nachbarschaft. Wo ist denn in die-sem Programm die Nachbarschaft? Ich sehe das doch eher als einzelfallorientiert.

Saathoff: Na ja, es ist ja zunächst mal eine Gruppen-Methode. Zum anderen wird systematisch daran gear-beitet, dass Eltern den Kontakt unter einander entwi-ckeln. Elternzeit fängt immer mit Zweierkonstellationen an. Es wird ausgelost, und zwei Eltern machen eine viertel Stunde einen kleinen Spaziergang um den Block. Und das macht man jedes Mal mit jemand anders. Dann kommen 45 Minuten Gruppe. Und da zeigt sich sehr schnell, dass die Eltern doch viele Ebenen entdecken, die sie miteinander teilen können. In dem Kurs, den ich gerade gemacht habe, gab es ein bisschen Zöger-lichkeit bei der Frage: Wollen Sie sich weiter treffen? In der letzten Elternzeit war das Interesse dann aber schon da, sich auf jeden Fall noch ein paar Mal zu treffen und was gemeinsam zu backen oder zu kochen. Diese Familien sind häu-fi g sehr, sehr isoliert, das ist einer der Faktoren, die eine Schwierig-keit ausmachen. Und diese Isolation wird ein Stück weit durchbrochen. Die Einrichtung, in der der Kurs stattfand, macht auf jeden Fall das Angebot, dass sie sich weiter treffen können. Am Anfang ist noch einer von uns mit dabei. Und wenn sie sich darüber hinaus noch treffen wollen, geht das auch. Das ist ein ganz wesentlicher Aspekt. Es wird ein kleines soziales Netz geschaffen. Und dieses Netz hält dann auch ein bisschen länger. Das nehme ich einfach mal an.

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Sperling: Ich gebe weiter an Annette Maurer-Kartal und Enver Sen, die ein ähnlich niedrig schwellig angelegtes Projekt vorstellen werden. Dort geht es vor allem um die Frage: Wie kommen wir in Kontakt? Insbesondere auch mit Familien mit Migrationshintergrund.

Maurer-Kartal: Wir sind angesiedelt in einem Teil von Schöneberg, in dem auch viele Migranten leben. Unsere Arbeit ist im Kern interkulturell angelegt. Wir arbeiten in einem Team, so wie wir jetzt hier auch sitzen, mit deutschem und Migrationshintergrund zusammen. Der Stadtteil ist ziemlich gespalten. Die unterschiedlichen Gruppen sind bestrebt, mehr oder weniger unter sich zu bleiben. Wir haben uns in unseren Angeboten sehr stark konzentriert auf die Nachfrage von Leuten, die wenig Bildungshintergrund haben. Wir erreichen sie mittler-weile ziemlich gut, wir machen diese Arbeit jetzt seit 30 Jahren, und wir haben inzwischen einen guten Ruf. Für uns war Bildungsarbeit ein Ausgangspunkt der Vereins-gründung. Und zwar um genau Leute zu erreichen, die sich nicht in diese Volkshochschul-Zusammenhänge einbinden lassen. Deshalb auch dieser komische Name des Vereins (‚Stadtteil-VHS’), der uns bisher erhalten geblieben ist, obwohl wir nur sehr wenig mit der Volks-hochschule zusammen machen. Wir haben Gesprächs-kreise für Kinder und Familien in verschiedenen Volks-hochschulen angeboten. Diese haben mit Deutschen TN/innen immer sehr gut funktioniert, das stand dann auch im Programm. Sie haben sich angemeldet und 40 Mark bezahlt. Aber genau dieses System funktioniert mit

Nicht-Deutschen eben nicht. Sie wählen sich Angebote nicht auf diese Weise aus, weil sie das Bedürfnis nach einem solchen Bildungsange-bot im Vorfeld nicht so spüren. Wir haben aber festgestellt, dass sie in Handlungszusammen-hängen mit der täglichen

Arbeit einen Bedarf durchaus spüren. Denn sie kommen und melden sich an für einen Deutschkurs, wo sie einen Bildungsbedarf durchaus defi nieren. Aber sie sagen nicht, überspitzt ausgedrückt: Wir haben ein Problem bei der Erziehung unserer Kinder, das eine schreit zu viel, das andere arbeitet nicht ordentlich in der Schule,

dazu möchten wir gerne was wissen. Das formulieren sie so nicht, das sind Themen, die angesprochen werden in anderen Zusammenhängen.

Und zunächst mal ist es so, dass wir erfahren haben, dass eigentlich alle Eltern das Allerbeste für ihre Kinder wollen. Sie sind leicht zu verunsichern mit allem, weil sie nie genügen. Das kennen Sie selber sicher auch, man hat immer ein unheimlich schlechtes Gewissen, nicht genü-gend getan zu haben. Man möchte es immer noch besser machen. Das ist ein sehr schwieriger Punkt in allen Foren, in denen wir mit Eltern zusammen arbeiten, dass wir uns immer wieder damit auseinander setzen müssen, dass sie so eine Abwehr aufbauen. Das ist mir an dem vorher dargestellten Programm aufgefallen, dass es gerade das vermeidet. Darin liegt die Chance, dass sich das Problem der Abwehr bessert. Wir fi nden diese Eltern in unserer ganz alltäglichen Arbeit, in den Kitas, in der Jugendarbeit, in der Beratung, in den Gruppen und Kursen. Dort sind immer auch Eltern-Themen im Angebot. Wir kommen in all diesen Handlungszusammenhängen auch über Probleme ins Gespräch. Auch zum Thema ‚Elternbildung’. Manch-mal gibt es noch andere Angebote, die sie unterstützen. Gelernt wird nicht nur in Zusammenhängen, die ‚Bildung’ heißen. Sondern gelernt wird in der Beratung, gelernt wird im Treff, gelernt wird auch zum Thema ‚Familienbildung’ in einem Sprachkurs. Und gelernt wird auch auf einem Fest. Man tauscht sich aus, man sieht Anderes und sieht, dass man nicht nur in organisierten Bildungszusammen-hängen lernt.

Wenn wir Angebote in ‚Familienbildung’ machen möchten, dann auch, weil sie nur so fi nanzierbar sind. Wir haben sehr stark gesetzt auf ein Programm mit Frauen-Kursen, so heißt das jetzt. Früher hießen die ‚Integrations-Kurse’. Hier soll es darum gehen, mit Müttern zusammen zu arbeiten. Mütter sind diejenigen, die oft am ehesten bereit sind, etwas zu machen. Über Männer und Bildungsange-bote könnten wir lange reden. Sie sind auch als Väter sehr viel schwieriger zu erreichen als Mütter. Auch bei uns.

Der erste Ort, wo so ein Lernen im Alltag stattfi nden kann, sind die Kitas. Bei uns gibt es kleine Kitas, mit einem Elterntreff, wo Eltern immer wieder zusammen kommen, auch mit Erziehern. Über die Elternabende hinaus. Wich-tig dabei ist, dass das regelmäßig stattfi ndet. In einer anderen Kita gibt es am Freitag Nachmittag eine Anlauf-

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stelle für Eltern mit Problemen aller Art oder für Fragen und Beratung. Wichtig hieran ist, dass das die Erzieher zusammen mit Leuten aus dem Stadtteilzentrum machen. Es gibt dort einen Raum, in dem es ein Müttercafé gibt, und zwar deshalb, weil die Mütter einen so starken Bedarf nach Austausch haben, dass sie ständig in der Kita rum-hängen. Und wenn wir diesen Bedarf aufgreifen, haben wir Raum für einen Gesprächszusammenhang, wie man ihn auch braucht im Zusammenhang mit Bildungsarbeit.

In der sozialen Beratung, die wir als ganzheitliche Beratung machen, sind Familie und Kinder immer wieder Themen. Die muss man aber auch ansprechen und nachfragen. Was sich neu heraus kristallisiert ist, dass Bildungsplanung für Kinder oft ein Anliegen ist, das in die Sozialberatung hinein-getragen wird. Fragen wie: Wie fi nde ich eine gescheite Schule für mein Kind? Wo soll es in die Oberschule? Was kann ich machen, wenn dies und das nicht funktioniert? sind für uns alltäglich in der sozialen Beratung. Die werden dort auch angesprochen. Dass es spezielle Beratungsan-gebote zu solchen Themen gibt, auch zu Erziehungsfragen, wird erst darüber vermittelt. Es geht aber nicht, einfach nur zu sagen, wo die stattfi nden, da gehen Sie hin, sondern man muss eine Gesprächsführung aufbauen, indem man sich nicht rauszieht, wenn Neues erprobt werden soll. Man muss auf der Ebene von konkreten Fragen ein Repertoire von konkreten Antworten haben. Die Kita- und Schulpro-blematik als Thema der sozialen Beratung hat sich bei uns fokussiert auf einen Bereich, über den wir eigentlich ziemlich entsetzt sind. Dass nämlich gerade Familien häu-fi g darüber sprechen, dass sie sich nicht gleichberechtigt fühlen und sich nicht gleich behandelt sehen. Das ist für uns ein ganz schwieriger Beratungsgegenstand. Wenn es um Schule geht, geht es ganz oft auch in schulrecht-liche Geschichten hinein. Ich erzähle mal ein Beispiel aus der letzten Woche. Eine Mutter war da, deren Kind in der Schule gemobbt wird. Es gab da gewisse Vorfälle, u.a. Erpressung, die Schule reagierte erst sehr spät darauf, als schon vieles verloren war. Ein anderer Fall war, dass ein Schüler beschuldigt wurde, einen Amoklauf zu planen. Das sind Schulen, die haben Schwierigkeiten in der Zusam-menarbeit mit Familien nicht-deutscher Herkunft. Diese Themen bringen Eltern an, sind davon sehr betroffen. Und wir wissen noch nicht genau, wie wir damit umgehen.

Der letzte Punkt, den ich mir notiert habe, ‚Alles hängt mit allem zusammen’, bezieht sich auf die Einsicht, dass

das Befi nden von Eltern und Kindern sehr von ihrer wirt-schaftlichen Situation abhängt. Wir arbeiten mit sehr vielen armen Leuten zusammen. Das bedeutet, dass Bil-dungsangebote möglichst sehr wenig oder noch besser gar nichts kosten sollen. Das ist nicht immer zu machen, denn Betreuer z.B. können sich nicht selbst tragen. Das ist für mich ein wichtiges organisatorisches Moment. Wir haben in unseren Sprachkursen wichtige Sequenzen, in denen es sich um Familienthemen handelt. Ein Bei-spiel: Wir haben festgestellt, dass der berühmte Arztbe-such, der in jedem Sprachkurs sein muss, für die TN viel interessanter ist, wenn wir uns dabei mit einem Besuch beim Kinderarzt beschäftigen. Das heißt, wir müssen uns inhaltlich an bestimmte Vorgaben halten, zur Sicherung der Finanzierung der Kurse, aber wir können die Inhalte anders bearbeiten im Team, und das machen wir dann auch.

Jetzt wollen wir vorstellen, was wir im Rahmen von orga-nisierten Bildungsveranstaltungen machen. Das macht Enver Sen. Und dann kommen wir noch dazu, was für Erfahrungen wir mit Gruppenangeboten für Eltern und Kinder gemacht haben. Und zum Schluss sprechen wir über eine Konzeptidee, die wir gerne umsetzen wollen.

Sen: Wenn wir mit Migranten arbeiten, muss das Team so zusammen gesetzt sein, dass verschiedene Spra-chen vorhanden sind. Wir sprechen z.B. Deutsch, Tür-kisch, Kurdisch, Arabisch. Das ist wichtig, um die ver-schiedenen kulturellen Hintergründe zu verstehen und damit zu erreichen, dass die Familien Fragen stellen. Wir erreichen Eltern auch durch Nachbarschaftsarbeit und versuchen, sie miteinander in intensive Zusam-menhänge zu bringen. Wie schon gesagt wurde, kann man bei den Menschen, mit denen wir arbeiten, nicht einfach Termine für Kurse bekannt geben. Sondern wir sprechen sie direkt in den verschiedenen Einrich-tungen an. Wir achten von Anfang an darauf, ihnen nicht oberlehrerhaft zu begegnen, sondern auf glei-cher Augenhöhe. Wir wollen ihnen das Gefühl geben, dass alle Beteiligten von einander lernen, auch wir von ihnen. Die Kurse finden in der Regel in deutscher Sprache statt, aber es wird auch in anderen Sprachen gesprochen. Es gibt Gruppenangebote zu kreativem Spielen von Eltern und Kindern. Und wir machen bewusst gemeinsame Computer-Kurse für Eltern und Kinder, damit die Eltern sehen, dass sie auch von

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ihrem Kind lernen können. Es geht uns darum, dass Eltern ihre Kinder als eigenständige Persönlichkeiten sehen lernen und dass traditionelle Rollenverhalten langsam abgebaut werden.

Unsere Beratungsangebote sind sehr breit gefächert. Soziale Beratung beinhaltet auch allgemeine Orientie-rungs-Beratung, ganz viel Arbeitslosenberatung, weil an einigen Standorten die Arbeitslosigkeit sehr hoch ist. Es gibt aber auch sehr gut verdienende Familien. Aber der größte Teil der Menschen, die zu uns kommen, lebt an der Armutsgrenze oder sogar darunter. Auch unter den Migranten-Familien gibt es Mittelschichtverhalten, und es gibt zwischen den verschiedenen Ursprungsländern Unterschiede.

Sperling: Was Sie beide vorstellen, ist ja sehr breit gefä-chert, eine Arbeit, die auf vielen Ebenen stattfi ndet.

Maurer-Kartal: Ja, in unserer Bildungsarbeit ist es so, dass ein Angebot das nächste nach sich zieht. Wenn wir also z.B. zuerst eine Familien-Gruppe machen, kann daraus als nächstes eine Müttergruppe entstehen. Wir haben für einen ‚Elterntag’ unterscheidliche Angebote gruppiert, weil wir gesehen haben, dass die Kommunika-tion unter Eltern etwas elementar Wichtiges ist. Dass sie sich über ihre alltäglichen Schwierigkeiten austauschen können, in einer informellen Runde. Wir haben uns über-legt, dass wir um einem ‚Elterntag’ unterschiedliche Ange-bote - gruppieren, damit die Eltern deren Inhalte dann gleich an Ort und Stelle erfahren können. Eine wichtige Rolle spielen auch die ‚Experten-Veranstaltungen’, also spezielle Einzelveranstaltungen, mit denen wir generell sehr gute Erfahrungen gemacht haben Hier werden The-men behandelt, die sehr nachgefragt sind.

Es geht von Kindererziehung zu Gesundheitsthemen bei kleinen Kindern. Damals haben wir schon sehr viel erreicht bei Ein- und Zweijährigen. Wir kamen hier in einen Diskussionszusammenhang, aus dem dann eine Müttergruppe wurde. Und wir haben erreicht, Veranstal-tungen zur Erziehungsarbeit mit Schulkindern mit einem Schulpsychologen zu machen, und zwar für Eltern von Schulkindern in der Vorpubertät. Diese Veranstaltung ist inzwischen in Grundschulen übernommen worden, weil es auch dort einen ähnlichen Bedarf gibt. Enver sagte: welches sind die Themen, die diese Eltern haben? Aus

den Bedürfnissen der Eltern sind dann Veranstaltungen entstanden. Die Schwierigkeit dabei ist, dass man so etwas nicht ein Jahr im Voraus planen kann. Die Fragen der Eltern entstehen und müssen dann möglichst umge-hend bearbeitet werden. Wir müssen Raum dafür haben, spontan reagieren zu können, und zwar innerhalb von 6 bis 8 Wochen. Es muss möglich sein, beim Elterntag Ver-anstaltungen zu initiieren. Wir hatten uns vorgenommen, auch die Eltern erreichen zu wollen, die normalerweise sehr ausgegrenzt sind.

Sen: Allgemein ist es richtig, dass Eltern mit auslän-discher Herkunft an Angeboten weniger teilnehmen. Aber das heißt nicht, dass sie gar nicht teilnehmen. Und es ist tatsächlich schwer, diese Eltern zu erreichen. Die Einstellung ist, dass der Vater von außen die Familie versorgt, während Kindererziehung die Sache der Mut-ter ist. Trotzdem erreichen wir zunehmend auch diese Eltern und haben für sie Kurse organisiert. Eltern haben gemerkt, dass ihre Kinder besser mit Problemen umge-hen können als sie selber. Sie merken langsam, dass es so nicht geht, dass auch sie etwas lernen müssen. Wir haben sehr viele Gespräche geführt mit ihnen, immer wieder, um sie darauf aufmerksam zu machen, dass es Deutschkurse, Computerkurse, Beratungen verschie-denster Art gibt, wo sie etwas für sich tun können. Sie sollen verstehen lernen, dass Erziehung die Sache der ganzen Familie ist, und nicht nur ein Teil dafür zuständig sein kann. Wir wollen, dass auch die Väter sich daran beteiligen und lernen, in Sitzungen offen darüber zu sprechen. Es ist sehr wichtig, dass sie auch mal sagen können: Ja, das war unser Fehler. Wenn sie das sagen können, haben wir sehr viel erreicht.

TN: Sie haben ja in Ihrem Namen das Wort ‚Volkshoch-schule’ drin, mit dem Sie nicht so ganz glücklich sind. Vielleicht wäre ‚Stadtteil-Service’ ein passenderer Aus-druck für das, was Sie machen. Ich würde gerne wissen, wie lange Sie diesem Ansatz schon nachgehen. Und ob Sie das Gefühl in Bezug auf den Erfolg Ihrer Arbeit haben, dass Sie die klassischen Volkshochschul-Ange-bote erfolgreich angepasst haben an das, was im Stadt-teil erforderlich ist.

Maurer-Kartal: Der Verein ist 1978 gegründet worden. Die Zusammenarbeit mit der Volkshochschule ist heute nicht mehr so intensiv, weil wir inzwischen Bildungsarbeit

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in anderen Zusammenhängen machen. Die Volkshoch-schule hat sich allerdings auch verändert. Es geht ja um Erwachsenenbildung, und wir hatten uns damals die Frage gestellt, warum so wenig Leute aus der Unterschicht diese Bildungsmöglichkeit wahrnehmen.

TN: Ich will in Bezug auf die Väter bestätigen, dass auch bei uns im NBH Prinzenstraße, wir machen ja so ein Lot-sen-Projekt und haben am Anfang vorwiegend Mütter an gesprochen und eben mit Frauen gearbeitet. Aber je stärker wir in die Arbeit mit einzelnen Familien reingingen, um so mehr waren die Väter auf der individuellen Ebene mit drin. Nicht so sehr auf der Gruppen-Ebene als viel-mehr auf der Ebene, wenn es um Familien-Kompetenzen ging. Etwa bei der Frage: Was macht mein Sohn auf der Schule? Da fühlten sich auch die Väter angesprochen. Wir haben viele Hausbesuche gemacht ...

TN: Ich wollte die Beobachtungen in Bezug auf die Väter bestätigen. Wir haben am Anfang hauptsächlich Mütter angesprochen, auch im Hinblick auf die Frauenarbeit. Je stärker wir in die Familienarbeit reingingen, um so stärker rückte der Vater auf der individuellen Ebene ins Blickfeld des Geschehens. Wenn es um Familienkompetenzen in Schulfragen etwa ging, dann kamen an dem Punkt die Väter mit rein. Oder auch wenn wir Hausbesuche machten, hatten Väter die Rolle eines Erziehungsverantwortlichen.

Maurer-Kartal: Es gab zwei Angebote, bei denen wir Väter gut erreicht haben. Das war der Zusammenhang ‚Kinder und Eltern bei Medien’. Da fühlten sich die Väter offen-sichtlich als der kompetente Elternteil und kamen demzu-folge. Und sie haben den Kurs zusammen mit den Kindern gemacht. Und wir haben immer mal wieder in unregelmä-ßigen Abständen Fortbildungen gemacht für Elternvertre-ter bzw. Leute, die diese Aufgabe in Schulen gerne über-nehmen würden. Und da sind es auch die Väter, die sich kompetent fühlen und die auch zu den Elternabenden gehen. Und die Mütter, die in der Erziehungsarbeit viel mehr mit den Kindern machen, gehen da weniger häufi g hin. Der Vater übernimmt die Rolle des ‚Außenministers’, weil das ein Außenkontakt ist. An diesen beiden Punkten jedenfalls waren Väter zu erreichen.

Sperling: Gut, wir öffnen dann jetzt die Runde für Fragen oder auch für die Darstellung Ihrer Erfahrungen, die Sie

gemacht haben, in anderen Einrichtungen, in anderen Städten. Wir können auch überlegen, wie Nachbarschafts-häuser ihre Rolle als Bildungsträger für Familien auswei-ten können. Im Denken besteht oft noch die Vorstellung fort, dass Schule ein Monopol für Bildung hat. Wie können wir die Bildung im Stadtteil stärken? Welche Perspektive schieben wir damit an?

TN: So weit ich weiß, bauen Baden-Württemberg, Nord-rhein-Westfalen und Niedersachsen die Kitas zu Familien-zentren aus. Das ist wohl nicht fl ächendeckend, aber doch in Teilen. Gibt es hier jemanden, der darüber Genaueres weiß?

TN: Ich kann nichts zu den von Ihnen angesprochenen Ländern sagen, aber ich weiß, dass von der Senatsverwal-tung in Spandau Familienzentren geplant sind. Ein Modell-projekt, das dann auch in der ganzen Stadt umgesetzt werden soll. Diese Familienzentren sollen im Verbund arbeiten zwischen Schule, Kita, Nachbarschafts- oder Stadtteilzentren. Und sie sollen an eine Schule angeglie-dert werden. In Spandau laufen derzeit die Bewerbungen, und es ist noch nicht klar, welcher Träger den Zuschlag bekommt. Aber dass dort für 3 Jahre ein Familienzentrum als Modellprojekt initiiert wird, ist ganz klar. Die Diskus-sion, in der wir uns gerade befi nden, ist also sehr aktuell.

Zinner: Ich habe in diesen Tagen in der Zeitung gelesen, dass eine Fraktion im Abgeordnetenhaus fordert, dass die Kindertagesstätten weitergebildet werden sollen zu Familienzentren und Familienbildungszentren. Wir haben für uns als Nachbarschaftshaus daraus die Konsequenz gezogen, dass wir Trägerschaften für Kindertagesstätten übernehmen, dass wir sehr stark ganzheitlich mit den Schulen kooperieren. Und zwar auf dem Hintergrund, dass wir dann in diesen Einrichtungen Familienbildungs-arbeit machen. Denn das sind die Orte, an denen gerade die Eltern, die wir nur schwer erreichen, sowieso immer sind. Auf diese Art lässt sich Familienbildungsarbeit viel leichter und auch in unterschiedlichen Formen realisie-ren. Mir geht es auch darum, dass die Erzieher ständige Ansprechpartner für die Eltern werden. Die Mitarbeiter in diesen Institutionen müssen so gestärkt werden, dass sie wahrgenommen werden als Personen, die kompetent sind und den Mut haben, Eltern auf die Möglichkeiten der Familienbildung anzusprechen. Mein Wunsch ist, dass sich die Nachbarschaftshäuser zu Kompetenzzentren

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machen auf diesem Gebiet. Es hat lange Zeit Kompetenz-zentren in Berlin gegeben, auch Familienbildungsstätten. Da ist aber niemand mehr hingegangen. Wir haben es in Berlin geschafft, diese Angebote wieder zu öffnen, wir sind wieder zu Einrichtungen geworden, wo die Eltern hin-gegangen sind. Mit dieser Kompetenz sollten wir weiter wuchern. Aber was ich persönlich glaube ist, dass wir eine besondere Stärke gewinnen, wenn wir tatsächlich Träger von Einrichtungen werden. Damit also auch eine gewisse Unabhängigkeit erreichen und auch eigene Akzente set-zen können.

Saathoff: Ich möchte einige Aspekte reinbringen, mit denen wir gerade in Zehlendorf Erfahrungen sammeln. Generell kann man ja sagen, dass Elternbildung – abge-sehen von einer kleinen Minderheit von Eltern, die sich auch von sich aus zu Kursen anmelden – immer dort gut besucht ist, wo die Eltern kurze Wege haben, wo sie Räume vorfi nden, in denen sie sich auskennen und wo sie vertraute Personen haben, die sie anspre-chen. Wir haben jetzt einige Kooperationen mit Schu-len aufgebaut, und ich will mal ein Beispiel nennen, wo dieses sehr gelungen ist. Wir haben begonnen mit einer Elternberatungsgruppe in einer Realschule in Zehlen-dorf. Diese Gruppe ist zu meiner Überraschung sehr gut angenommen worden, wir haben jetzt schon 10 Eltern in der Gruppe. Und sie läuft auch deswegen so gut, weil die Schulstation alle diese Eltern kennt und schon vorher zu ihnen einen guten Kontakt aufgebaut hatte. Neulich fragte eine Mutter: Warum gibt es so eine Elternbera-

tung nicht an jeder Schule? Und ich fi nde wirklich, so was sollte es an jeder Schule geben. Für uns als Nachbarschaftszen-trum ist daran wichtig, dass wir auf diesem Gebiet schon eine gewisse Kompetenz haben, die wir weiter entwickeln. Das Thema in dieser Elterngruppe sind Pubertätspro-bleme. Sie haben alle Kinder in dem entsprechenden Alter. Ein Vater sprach darüber, dass seine Tochter auf ein Gymnasium gehe, während der Sohn in der Realschule sei. Hier sei das ganze Klima, alle Fragestel-lungen vollkommen anders. Und er sagte, wie froh er sei, dass es jetzt

so eine Gruppe gibt, in der er sich alle 2 Wochen mit anderen Eltern und mit uns Beratern austauschen kann. Diese Eltern hätte man nicht erreicht in einer staatlichen Beratungsstelle oder in einer kirchlichen Familienbil-dungsstätte.

TN: Ich denke, es gibt zwei Strategien. Die eine ist, dass es Nachbarschaftszentren möglich ist, als Träger in der Richtung zu fungieren. Und das andere ist unsere Kompe-tenz als Kooperationspartner. Wir betreiben in der Kiez-Oase Schöneberg auch eine Kinder- und Familienbera-tungsstelle. Dort haben wir festgestellt, dass die normale Familienberatung nur minimal die Familien erreichte, die einen Austausch am meisten brauchen. Wir haben des-wegen andere Wege gesucht und haben jetzt Zugänge zu Familien über Schulen und drei Kitas. Die Familienbera-ter sind jetzt in den jeweiligen Schulen verankert. Nicht nur in Sprechstunden, sondern sie gehen auch zu Eltern-abenden, wo Familienbildung angeboten wird. Und aus diesem Zusammenhang ergibt sich dann oft auch das Aufsuchen der Familienberatung. Aus meiner Sicht ist es eine Illusion zu meinen, dass innerhalb von 3 Jahren in Berlin alle Kitas zu Familienzentren würden. Aber wenn sie sich in dieser Richtung öffnen und dafür auch alle Ressourcen nutzen, die schon da sind, dann kann so ein Prozess in Gang kommen. Und es gibt eine Menge von Funktionen und Diensten, die dann nicht mehr an ihrem Ort bleiben könnten. Auch für Stadtteilzentren hieße das, dass wir unseren Schwerpunkt ein Stück weit verlagern müssten. Was dann daraus wird, ist eine andere Frage. Ich hatte manchmal in der Diskussion den Eindruck, dass man denkt, die anderen seien ein Stück hinter uns her. Das ist in mancher Hinsicht sicher richtig. Aber auch wir können sehr viel lernen, z.B. von traditionellen Bildungs-einrichtungen.

TN: Ich komme aus einem Nachbarschaftshaus in Wies-baden. Dort sind sicherlich etwas andere Bedingungen als in so einer Riesenstadt wie Berlin. Ich würde gerne etwas über ein Projekt mit bildungsfernen Eltern sagen. Unser Stadtteil ist ein Entwicklungsgebiet des Programms ‚Sozi-ale Stadt’. Das heißt, da fl ießen Gelder rein, um bauliche Veränderungen vorzunehmen, Grünfl ächen zu schaffen. Erstmals in diesem Jahr sind auch nicht-investive Mittel ausgeschüttet worden, um in diesen Stadtteil auch kultu-rell und sozial Bewegung reinzubringen. Im Zuge dessen sind wir als Träger angefragt worden. Ob unser Versuch

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tauglich ist, weiß ich jetzt noch nicht, denn unser Projekt steht ganz am Anfang. Zusammen mit Kooperationspart-nern im Stadtteil haben wir ein Projekt gegründet, das nen-nen wir ‚Stadtteilmütter’. Wir haben eine Regiestelle, das ist eine halbe Sozialarbeiter-Stelle, für 3 ½ Jahre an unser Haus angebunden. Ziel ist, Eltern zu erreichen, die nicht über die Multiplikatoren Kita und Schule erreicht werden. Bei uns gibt es einen sehr hohen Migranten-Anteil, es gibt sehr viele Griechen und sehr viele Türken. Stadtteilmüt-ter sollen nicht professionell ausgebildete Kräfte sein. Sie sollen Kräfte sein, die durch uns eine Rahmenschulung bekommen und über Multiplikatoren im Stadtteil – durch Ärzte, Sozialdienste und andere, über die wir einen Hin-weis bekommen, in Familien vermittelt werden. Die Idee ist, an die Familien durch jemand aus dem gleichen Kul-turkreis und mit einem vergleichbaren Bildungsniveau heranzukommen. Weil wir damit gerade erst gestartet sind, können wir leider noch nicht viel darüber sagen, ob das so klappt, wie wir uns das vorstellen.

Zinner: Wir haben ein Projekt im Rathaus Friedenau, das ursprünglich auf Wunsch des Bezirksamtes eingerichtet wurde. Als Betreuung von Kindern, wenn ihre Mütter im Rathaus zu tun haben. Das ist nicht so richtig angenom-men worden. Wir haben dann eine Art Winter-Spielplatz daraus gemacht, den die Kinder bei schlechtem Wet-ter besuchen können. Der wird jetzt ganz gut besucht. An einem Tag in der Woche laden wir jemand aus dem Gesundheitsamt ein, jemand aus der Erziehungsbera-tungsstelle, ganz gezielt Leute aus den Ämtern, die dann irgend ein Thema mit den Eltern besprechen. Es geht darum, dass nicht immer die Eltern die Stellen aufsuchen müssen, sondern umgekehrt, dass es Orte gibt, an denen Mitarbeiter der Ämter Eltern antreffen, sich die Ämter also auch in Bewegung setzen. Das ist ja eine ganz einfache Möglichkeit, die kein zusätzliches Geld kostet.

TN: Das ähnelt den Spaziergängen, von denen vorher die Rede war. Dass Eltern auch mal rausgehen und sich mit Gleichgesinnten unterhalten können.

TN: Ich will noch von unserem neuen Projekt erzählen, das mir selber viel besser gefällt, als ich das am Anfang gedacht habe. Und zwar machen wir etwas ganz Klas-sisches, nämlich unterstützende Hilfen für Roma-Kinder an Schulen. Dass ihre Kinder in der Schule mitkommen, das wollen alle Eltern, egal wer sie sind oder woher sie

kommen. Wir haben immer klassische Hausaufgaben-hilfe gemacht, und fast immer waren nur Migranten-Kin-der dabei. Und immer kamen die Eltern und wollten auch gerne, dass ihre Kinder daran teilnehmen, wenn sie ihnen zu Hause nicht so helfen konnten. Von den Roma-Eltern können viele wirklich nicht lesen und schreiben. Jetzt kommen die Eltern oft mit ihren Kindern zur Hausaufga-benhilfe mit. Einer unserer Mitarbeiter ist selber Roma und zeigt den Kindern den Kontext von Begriffen. Gleich-zeitig macht er das mit den Eltern und arbeitet auch mit den Lehrern zusammen. Es hat sich einfach so ergeben, dass das sich miteinander verzahnt. Und das geht eigent-lich ziemlich gut. Es funktioniert nicht hundertprozentig. Aber es gibt Ansätze zu einer Verknüpfung. Und das fi ndeich sehr schön. Sie machen wirklich sehr viel, vertie-fen das, was sie in der Schule gelernt haben z.B. bei Computer-Spielen.

TN: Wir haben auch ein schönes Projekt, einen sogenann-ten Integrations-Garten. Das war ein ehemaliger Schul-garten, ziemlich heruntergekommen. Der gehörte zu einer Grundschule, die immer zu Beginn eines Schuljahres mit der Gartenarbeit anfi ng, dann kamen die Sommerferien und danach war alles hinüber. Wie das eben so ist. Wir hatten dann Anfragen von etlichen Frauen aus Russland, die jetzt hier wohnen. Eine war Biologin, eine kam vom Bauernhof. Sie wollten gerne gärtnern. Sie haben diesen Schulgarten übernommen, der Brandenburgische Kul-turbund ist der Träger. Die Frauen gärtnern dort mittler-weile seit etwa 8 Jahren, gleichzeitig machen sie mit den kleinen Kindern den Schulgarten-Unterricht, und zwar ehrenamtlich. Inzwischen arbeiten dort 15 Familien aus unterschiedlichsten Nationalitäten. Das ergibt ein ziem-liches Gedränge, denn das Gelände ist kaum größer als ein Badehandtuch.

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Jonas: Ich arbeite jetzt seit 20 Jahren im Bürgerhaus Oslebshausen. Das ist der Stadtteil mit dem schlechtesten Sozialindex in Bremen. Unsere Region ist ein bisschen bes-ser gestellt, trotzdem gibt es auch bei uns die bekannten sozialen Schiefl agen. Ich habe da vor 18 Jahren angefan-gen, Zirkusarbeit zu machen. Damals habe ich den Kin-dern selber Jonglieren beigebracht und habe es dabei selber zu einer gewissen Professionalität gebracht. Das Kennzeichen unserer Arbeit ist, dass sie in sehr großen Zeiträumen angelegt ist. Wir rechnen wirklich in Fünf- bis Zehn-Jahres-Zeiträumen. Das können wir deshalb, weil wir nach wie vor von der Stadt gefördert werden und die Finanzierung bisher nie in Frage stand. Das Geld wird aller-dings weniger, und wir müssen uns immer mehr einfallen lassen, um das Geld für die kostenintensive Kinder- und Jugendarbeit zu erwirtschaften. Zentrales Ziel unserer Arbeit ist, den Kindern über Zirkus und inzwischen auch über Tanz die Möglichkeit zu geben, ihr kreatives Potenzial zu entfalten. Unsere Arbeit mündet immer sehr schnell in öffentlichen Aufführungen. Das ist also nicht nur ein Training. Die Kinder kommen ein- bis zweimal pro Woche ins Bürgerhaus, manche auch jeden Tag. Wir versuchen, über Workshops Verbindungen zwischen den einzelnen Projekten herzustellen. Wir fahren mit den Kindern und Jugendlichen viel weg, sind viel unterwegs. Und machen

dann halt auch in anderen kleinen Städten Auftritte. Im Haus gibt es im Jahresverlauf verschiedene Höhepunkte, auf die die Kinder dann zuarbeiten können. Diese Arbeit ist zielgerichtet darauf, dass die Kinder irgendwann auf der Bühne stehen und da ihr Können zeigen. Meine These ist, dass sowohl Zirkus als auch Tanz in solchen Einrich-tungen, wenn man das ein bisschen ganzheitlich aufbaut, ein ausgezeichnetes Feld ist, in dem Kinder lernen zu ler-nen.

Unsere Tänzer sind überwiegend Jugendliche, die kei-nen Hauptschulabschluss und damit ganz schlechte Per-spektiven haben. Wir haben im letzten Jahr eine Agentur im Haus gegründet und versuchen, über diese Agentur Tanzauftritte zu vermitteln. Aber wir gehen auch mit Fly-ern auf den Markt. Das ist ein Jahr lang sehr erfolgreich gelaufen. In diesem Jahr hat es einen Knick gegeben, weil die Beständigkeit der Jugendlichen dann doch nicht so ist, wie sie auf dem Markt notwendig ist. Aber es gibt nach wie vor Ansätze, und wir bleiben da auch dran. Wir sind davon überzeugt, dass Jugendliche, auch wenn sie keinen Hauptschulabschluss haben, ein marktfähiges Produkt herstellen können. Einige haben ganz große Fähigkeiten und haben trotzdem riesige Schwierigkeiten, auf dem Arbeitsmarkt etwas zu werden.

TN: Wie lange macht ihr das schon mit dem Tanzpro-jekt? Mich erinnert das ein bisschen an das ‚Trumping‘ aus Amerika, wo schon die kleinsten Kinder aus dem Ghetto dazu angeleitet werden, was Tolles mit ihrer Zeit zu machen.

Jonas: Das Tanzen machen wir seit 10 Jahren. Die Jugend-lichen, die hier im Filmausschnitt zu sehen waren, sind auch alle 8 bis 10 Jahre in der Einrichtung. Aber angefan-gen hat eigentlich alles mit Zirkus. Und in den Tanzpro-duktionen sind fast immer Zirkuselemente mit eingebaut. Wenn die Jugendlichen 17 oder 18 Jahre alt werden, ist es schwierig, sie im Zirkusbereich zu halten. Entweder werden sie professionell und gehen nach Berlin zur Zir-kus-Schule. Oder sie gehen raus aus der Einrichtung. Und da kam das Tanzen genau richtig. Es gibt eine andere Produktion, in der HipHop mit Zirkus und Jonglieren ver-bunden ist. Das hat sich sehr gut ergänzt, weil HipHop ja für viele Jugendliche ihr Leben ist. In der Verbindung zwi-schen Zirkus und HipHop kann man tolle Sachen machen, z.B. mit Feuer. Akrobatik ist ja sowieso mit dabei.

Workshop: Wehe, wenn sie losgelassen ...

Die Befreiung zum Lernen durch Kreativprojekte in der Kinder- und Jugendarbeit /

Zirkus und andere Künste

Inputs: Ralf Jonas, (Bürgerhaus Oslebshausen, Bremen)Inge Kersten und Christoph Mitrega, (Juxirkus Schöneberg, Berlin)

Moderation: Reinhilde Godulla

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In den Zirkus-Gruppen sind unterschiedliche Altersgruppen von 6 bis 14 Jahren. Es sind drei Gruppen. Bei den ganz Kleinen kann man noch nichts über ihre Entwicklung sagen, die sind erst zwei Jahre dabei. Aber die 12-jährigen sind jetzt schon 6 Jahre dabei. Sie brauchen ja sehr lange, bis sie eine Qualität erreichen, mit der sie auch auftreten können. Intern, wenn nur Eltern zusehen, geht das aber auch schon nach 3 Stunden, dass sie ihre Fortschritte vorführen.

TN: Mich interessiert die Frage der Leitung. Zieht die sich nach einer Weile mehr zurück und machen Jugendliche, wenn sie älter werden, dann auch eigenständige Projekte? Oder seid ihr nach wie vor dabei?

Jonas: Wir sind dabei, aber eher begleitend. Ich leite noch drei Zirkus-Gruppen jede Woche. Aber bei den Tanzgrup-pen bin ich gar nicht mehr dabei. Für die organisiere ich ab und zu Auftritte, in einer größeren Halle, weil das Bürgerhaus zu klein ist. Was Choreographie angeht, das machen die Jugendlichen alles komplett selber.

TN: Und da ist dann keiner der Anleiter?

Jonas: In manchen Gruppen gibt es durchaus Jugendli-che, die als Honorarkräfte bezahlt werden. Es gibt eine zentrale Figur da, der heißt Aton, weshalb auch die Agen-tur ‚Aton-Agentur‘ heißt. Man braucht schon wirklich gute Leute, damit so eine Gruppe was Tolles zustande bringt und über einen langen Zeitraum bestehen kann. Aton ist mal Weltmeister im Breakdance gewesen, der ist schon richtig gut.

TN: Ist das für sie eine Motivation, so lange dabei zu sein, mit ihrem Können nach draußen zu gehen und damit auch Geld zu verdienen?

Jonas: Ja, das ist aber meistens erst so, wenn sie unge-fähr 15 Jahre alt sind. Da bilden sich erste Duos raus und sie bekommen über die Agentur erste Aufträge für Auf-tritte in Kindergärten oder Seniorenheimen. Diese kleinen Auftritte lassen wir uns bezahlen, daran verdiene ich was und die Jugendlichen auch.

TN: Von wo kommen die TN?

Jonas: Die Kinder, die beim Zirkus mitmachen, kommen ausschließlich aus der näheren Umgebung. Das Tanzen

lockt aber Jugendliche aus der ganzen Stadt an. Wenn wir ein großes Tanzprojekt machen, mit 50 Tänzern auf der Bühne, dann kommen vielleicht 30 aus unserem Stadt-teil, und 20 sind aus Oldenburg, Bremerhaven, Hannover oder sonst wo her. Die Tanzveranstaltungen haben schon einen Ruf. Man braucht halt immer wieder Geld, das ist eigentlich das Schwierigste daran. Eine Halle zu mieten, kostet in der Woche 6000,-€, dazu kommt die Technik, es soll ja auch professionell sein. Hinzu kommt Öffent-lichkeitsarbeit, um eine Halle mit 800 Leuten zu füllen, da entstehen noch mal Kosten. Wir starten ein Projekt immer erst dann, wenn das Geld dafür vorhanden ist. Wir haben das Glück, dass wir eine Reihe von Stiftungen für unser Haus interessieren konnten, die immer wieder mal bereit sind, eine größere Summe da rein zu stecken. Wenn wir noch mehr Geld hätten, könnten wir traumhafte Sachen machen. Das Potenzial ist einfach auf der Straße. Die Begrenzungen liegen im wesentlichen bei den Räumen. Ich habe festgestellt, dass die Kinder, die wir im Zirkusbereich aufgenommen haben, alle ihren Weg machen. Sie kommen in der Schule ganz gut klar. Natürlich gibt es in der Puber-tät trotzdem Brüche, und da versuchen wir zu helfen, auch über Kontakt zu den Eltern. Wir versuchen jetzt, Kontakt zu Lehrern aufzubauen, obwohl das schwer ist.

TN: Sag mal, im HipHop-Bereich gibt es doch eine reelle Chance, in den professionellen Bereich zu kommen, nicht?

Jonas: Ja, die gibt es im HipHop-Bereich, und es gibt sie auch tatsächlich im kreativen Bereich insgesamt. Weil Agenturen kaum darauf gucken, welche Qualifi kationen auf einem Papier stehen, sondern was die Jugendlichen können. Das einzige Problem dabei ist nur das begrenzte Durchhaltevermögen von jungen Leuten. Wenn sie län-gere Zeit aus einem Arbeitsalltag draußen waren und sollen dann plötzlich 13 Stunden am Tag arbeiten, das können die nicht. Die sind unglaublich kreativ, aber das hat dann seine Grenzen in der Zuverlässigkeit und beim morgendlichen Aufstehen.

TN: Aber wenn ihr solche 50-Mann-Projekte macht, dann brauchen sie die doch auch, oder?

Jonas: Ja, da klappt das dann auch. Da wird in der Gruppe so viel Druck ausgeübt, so viel Druck könnten wir gar nicht ausüben.

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TN: Was für eine Trägerstruktur habt ihr?

Jonas: Wir sind ein gemeinnütziger Verein, der vom Bre-mer Senat eine jährliche Förderung bekommt, die in etwa unseren Personalkosten entspricht. Das Haus gehört der Stadt, und wir sind mietfreier Mieter. Betriebskosten und Programmkosten müssen wir uns selber erwirtschaften.

Godulla: Ich habe hier noch ein Stichwort, über das ich gerne noch von dir hören möchte, nämlich über die ‚Fami-lien-Olympiade‘.

Jonas: Ja, das ist ja das, womit wir unser Geld verdie-nen. Das heißt jetzt nicht mehr Familien-Olympiade, son-dern Oslebshauser Spielmanege. Wir können ja eigene Mittel akquirieren, indem wir das Haus vermieten und ab und zu Familienfeiern mit Kneipen-Betrieb machen. Das wurde aber immer schlechter. Und dann haben wir überlegt, wie wir Geld verdienen können und dabei Kin-der und Jugendliche einbeziehen, die dann auch was lernen können. Wir haben dann über Spender ein Zirkus-zelt angeschafft, und inzwischen haben wir eine ganze Lagerhalle gefüllt mit Equipment, mit Musikanlagen, mit Bühnen, allem möglichen Kram, den man so für Veran-staltungen braucht. In Bremen und Umgebung machen wir für verschiedene Firmen, Einkaufszentren und soziale Einrichtungen Kulturprogramme und organisieren große Veranstaltungen. Ein Beispiel ist der Martinshof, das ist einer der größten Arbeitgeber für behinderte Menschen. Da organisieren wir einmal im Jahr das Kunterbunt-Fest, mit dem kompletten Programm. Wir bauen da unser Zir-kuszelt auf und machen die ‚Familien-Olympiade‘, mit der die Spielmanege angefangen hat. Das sind inzwischen 20 Spielstationen, die wir selber entwickelt und gebaut haben. Jede Station ist mit Personal versehen, mit Eltern oder Jugendlichen für Hilfestellungen. Alle kriegen einen Durchlaufzettel für die Stationen und am Ende einen klei-nen Anerkennungspreis. Das ist eine Sache, die uns von allen kommerziellen Anbietern unterscheidet. Und das ist immer sehr gefragt. Der Nachteil ist, dass wir in der Sai-son keine freien Wochenenden mehr haben.

Godulla: Habt ihr vom Juxirkus eigentlich schon mal Kon-takt gehabt mit dem Bürgerhaus Oslebshausen?

Mitrega: Noch nie! Ich habe jetzt ganz genau zugehört und versucht, eine Parallele zu fi nden zu unserer Arbeit

im Juxirkus. Ich arbeite da ja jetzt auch fast 20 Jahre. Ich sehe unsere Projekte aber als sehr unterschiedlich an und staune, dass die Unterschiede so groß sind. Vielleicht haben wir Glück gehabt, dass wir als Erste ein schönes Zelt aufgebaut hatten. Wir bekamen damals vom Senat und jetzt vom Bezirksamt das Grundstück, auf dem wir jetzt schon jahrelang stehen. Wir bemühen uns im Moment darum, von der BVG eine Bushaltestelle ‚Juxir-kus‘ zu bekommen. Was für uns am Zirkus interessant ist, ist zunächst mal das Zelt, das da eben seit 20 Jahren unverändert steht. Und was wir darin machen, ist sehr modern. Habt ihr auch so viele Mädchen? Bei uns sind es 70 bis 80% Mädchen.

Jonas: Ja, das ist bei uns im Zirkusbereich auch so, wäh-rend es beim Tanzen hauptsächlich Jungs sind.

Mitrega: Und wie viele Kinder sind es, die regelmäßig zum Training kommen?

Jonas: Bei den Zirkusgruppen sind es etwa 60 Kinder. Bei den Tänzern ist es die Hälfte.

Mitrega: Ich kann ja mal ein bisschen über uns erzäh-len, damit wir das etwas vergleichen können. Es hat ziemlich lange gedauert, bis wir Strukturen aufgebaut hatten, die heute sehr gut funktionieren. Wir haben um die 100.000,-€ im Jahr, das ist ja kein großes Geheimnis. Das sind Betriebskosten, Strom, Öl, Heizung, Lastwagen. Und es kommen zwischen 100 und 120 Kinder, die uns regelmäßig besuchen. Unsere pädagogische Arbeit kann man in etwa drei Bereiche teilen. Der Hauptbereich ist der, in dem wir Training machen. Alle Disziplinen, die mit Zirkus zu tun haben, vom Trapez, Einradfahren, Tanz, Singen, Jonglieren, Seiltanz, Bretter- und Leiterakrobatik und alles das, was die Kinder von der Straße da noch an Ideen reinbringen, die wir versuchen umzusetzen. Wir haben einen festen Stundenplan, in dem es feste Termine gibt, die wir seit Jahren nicht ändern, z.B. Mon-tag 15.30 Uhr Einrad für Anfänger. Unser Konzept war von Anfang an, dass wir nicht leistungsmäßig arbeiten wollten, sondern mit Spaß die Ideen der Kinder umset-zen wollten. Ich glaube, das ist genau das, was unsere Projekte verbindet. Morgen haben wir die 30. Premiere, das bedeutet, 70 Kinder auf der Bühne, mit schönen Kostümen und eine Musik-Band, die uns begleitet. Dies-mal ist es ein Theaterstück, das heißt ‚Ballaballa‘, also

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alles ist verrückt. Sie singen Lieder von ABBA und den Rolling Stones, und es gibt jemanden, der dazu die Texte schreibt.

Der zweite Bereich, der wohl genauso wichtig ist wie das Trainingsprogramm am Nachmittag, ist die Kooperation mit Schulen. Wir haben gedacht, die Kinder durch sogenannte Animationstage zu gewinnen. Das war immer Dienstag und Donnerstag. Jetzt hat sich ergeben, dass wir auch eine Pro-jektwoche Zirkus machen, das heißt, wir sind ausgebucht bis Sommer 2008. Jede Woche kommt eine Schulklasse. Kinder ab 10 Jahren können teilnehmen, nach oben hin ist es offen. Wir machen erst zusammen Frühstück. Dann erzählen wir, was wir da machen, und die Kinder sagen uns, was sie vorhaben. Dann machen wir uns warm und teilen uns danach in vier Gruppen. Es geht zunächst darum, eine Kunstfertigkeit kennen zu lernen, zum Beispiel Jonglieren mit zwei Bällen, also einfachste Methoden, die schnell zum Erfolg führen. Die anderen Gruppen sind das Seil, Kugeln und Trapez, mit 5 bis 7 Kindern. Nach 2 1/2 Stunden sind die Kinder müde und gehen nach Hause. Am nächsten Tag kommen sie wieder und machen dann drei andere Gruppen, beispielsweise Partner-Akrobatik, Bretterakroba-tik und noch was anderes. Nach einer Stunde haben die Kinder die Möglichkeiten alle kennen gelernt. Sie überle-gen dann, was ihnen am meisten liegt und Spaß gemacht hat und sie entscheiden sich dann für feste Gruppen. Mit den Trainern, das sind Honorarkräfte, machen wir ein Pro-gramm. Und am Freitag, am Ende der Projektwoche, wer-den zwei bis drei Klassen eingeladen, es kommen etwa 90 Kinder plus Eltern, und dann gibt es eine Vorführung bis 12 Uhr. Es wird pro Kind pro Tag 2,50€ bezahlt, das sind für die Woche 10,-€ pro Kind. Und von dem Geld fi nanzie-ren wir die Honorarkräfte, die nicht fest angestellt sind bei uns. Und so läuft das jetzt schon seit Jahren. Wir wollen jetzt behinderte Kinder einbeziehen. Es gibt bereits einige Gruppen, zu denen wir Kontakt aufgebaut haben. Und alle zwei bis drei Monate kommt so eine Gruppe zu uns, worauf wir uns dann speziell vorbereiten. Wir versuchen, für sie die Kunststücke noch einfacher zu machen. Und am Schluss gibt es dann vielleicht keine richtige Vorstellung, sondern eine kleine Darbietung, wo alle auf der Bühne sitzen und zeigen, was sie gelernt haben. Und natürlich kommen auch Integrationsklassen und auch Studentengruppen.

Wir sollen in Schöneberg-Nord auch mit Grundschulen zusammen arbeiten, die sich bei uns in der Nähe befi n-

den. Wir haben einen Mitarbeiter, der geht entweder in die Schule, oder die Schulen kommen zu uns. Zwischen 10 Uhr und 21 Uhr ist das Zelt mit Kindern gefüllt. Wir haben 3 Mitar-beiter, die fest angestellt sind. Zwei oder drei Mitarbeiter sind Honorar-kräfte, und der Rest sind Studenten oder Pädagogen, die schon Erfah-rungen mit Zirkus haben. Kinder wachsen aus der Zirkusarbeit raus, wovon du auch gesprochen hast. Aber wir haben es geschafft, etliche von ihnen an uns zu binden, und die leiten eigene Gruppen. Sie leiten grundsätzlich die Anfängergruppen, weil Kinder von Jugendlichen leich-ter Erfahrungen übernehmen. Aber sie leiten auch manchmal Fortge-schrittenen-Gruppen. Wir sind schon ein Betrieb, das muss man schon sagen. Aber wir haben noch Glück gehabt. Es gab natürlich Zeiten, in denen alle Gelder gestrichen waren und in denen wir nur dauernd auf die Barrikaden gegangen sind. Aber irgendwann gab es für uns wieder Rückenwind, und jetzt haben wir keine Sorgen, dass wir durch fehlendes Geld Probleme bekommen. Auch wenn wir nicht viel Geld haben.

Jonas: 100.000,-€ sind für ein so großes Projekt eine geringe Summe.

Kersten: In den 80er Jahren waren es 200.000,-DM. Wir können uns wirklich glücklich schätzen, dass uns damals nicht noch Geld gestrichen wurde. Wir haben durch dieses Geld vom Bezirksamt ein festes fi nanzielles Standbein. Zum anderen machen wir aber auch sehr viele Außen-auftritte, 2007 waren es bis zum Herbst etwa 10 Außen-auftritte. Die Bezahlung ist unterschiedlich. Für eine halbe Stunde gibt es zweimal 50,-€ Gage. Die Auftritte müssen sich fi nanzieren. Wir haben aber natürlich auch ganz viele Menschen, die uns durch Spenden helfen. Wir haben Eltern, die einen geringen Beitrag bezahlen, 7,50 €im Monat. Wir können aber dazu niemanden verpfl ich-ten und wollen das auch nicht. Es gibt Eltern, die zahlen deswegen wesentlich mehr, weil sie sagen, sie schätzen unsere Arbeit. Und wir haben mal für ein Firmenjubiläum einen Außenauftritt gemacht, die haben uns so viel Geld

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gegeben, dass wir ganz glücklich waren. So was braucht es einmal im Jahr. Und so fi nanzieren wir uns. Jetzt sind wir an einem Punkt, wo wir sehen: es ist nicht alles billiger geworden. Ein Zelt zu heizen ist eigentlich schon Luxus. Wir müssen die Preise hoch setzen, um uns zu fi nanzie-ren. Aber es muss natürlich im Rahmen bleiben, damit alle, die bei uns mitmachen wollen, sich nicht ausgenom-men fühlen. Die Schulprojektwochen mit den 10,-€ pro Kind, die fi nanzieren sich selber. Da bleibt für uns zwar nicht viel, aber uns ist der Inhalt in dem Fall viel wichtiger. Jede Woche in der Schulzeit kommt von Dienstag bis Frei-tag eine andere Schulklasse. Die Resonanz darauf war so groß, dass wir vor zwei Jahren an dem Punkt waren, dass wir sagten: wir können nicht mehr. Es kamen jeden Tag 5 neue Anfragen. Das ging einfach nicht mehr. Wir haben dann einen Anmeldetag überall bekannt gemacht. 2007 hatten wir 90 Anfragen und konnten aber nur 29 Projektwochen vergeben. Dann mussten wir also aus-wählen. Aber nach welchen Kriterien? Da wir Bezirks-gelder bekommen, war klar, dass erst mal alle Schulen aus dem Bezirk kommen dürfen. Wogegen wir anderen Schulen, die seit Jahren mitmachen, absagen mussten. Unsere Erfahrungen mit den Lehrern waren nicht durch-weg positiv, man muss sich von ihnen einiges anhören. Auf der anderen Seite bestätigt sich aber, dass es in Ber-lin ganz viele Lehrer gibt, die sagen: diese Projektwoche gibt meiner Klasse und mir so viel, dass ich sie auf jeden Fall mitmachen will. Das Resumee vom pädagogischen Standpunkt aus ist sehr positiv.

Die Lehrer dürfen nur zugucken, im Zirkus ist Christoph Mit-rega der Chef. Die Lehrer nehmen die Gelegenheit wahr, die Kinder mal aus einer anderen Perspektive zu beobach-ten. Ich sage mal ein Beispiel: In der 2. Klasse von meinem Sohn, die auch bei uns war, ist so ein typisches Schub-laden-Kind, das immer an allem Schuld ist, schlechte Schulleistungen und schlechte Noten hat. Aber dieses Kind hat durch die Zirkusarbeit etwas geschafft. Er ist auf der Kugel gelaufen. Und in dem Moment hatte er sich so toll präsentiert - vor den Eltern, die ihn alle nament-lich kannten, vor der Lehrerin, die ganz erstaunt war, dass dieses Kind etwas konnte, was alle anderen nicht konn-ten. Für dieses Kind hat das enorm sein Selbstwertgefühl gestärkt, er kam danach immer zum Training. Mittlerweile ist er 10 Jahre alt und fährt durch Berlin, um seine Kugel-lauf-Auftritte zu machen. Das ist ein Erlebnis, bei dem ich denke: Schule muss sich bewegen, sie bewegt sich auch

zum Teil. Es gibt richtige Kooperations-Verträge zwischen uns, der Kiezoase und der Werbellinsee-Schule im Sozial-raum Schöneberg-Nord, für zwei Stunden in der Woche. Da wechseln die Kinder im Turnus, sie trainieren achtmal mit einer anschließenden Vorstellung. Und dann sind die nächsten dran.

Insgesamt sind es mittlerweile 5 Schulen, an denen wir einmal in der Woche sind. Und das Ganze hat so viel Erfolg gehabt, dass das Pestalozzi-Froebel-Haus 2007 für die Kooperation eine halbe Stelle eingerichtet hat. Das macht eine Pädagogin, die Zirkus-Erfahrungen hat, die geht in die Schulen. Gleichzeitig eröffnet sie den Kindern die Möglich-keit im Sportunterricht Zirkusarbeit anzubieten, oder aus der Schule raus und zum Zelt zu gehen. Dieses Zelt hat eine eigene Atmosphäre, lässt den Kindern andere Mög-lichkeiten und öffnet mehr ihre Kreativität als Schulräume oder eine Turnhalle. Es sind ganz viele Elemente, durch die es bei Kindern und Eltern ‚Klick‘ macht. Aber eigentlich müsste es davon noch viel, viel mehr geben.

Jonas: Mich wundert es, dass sich das an Schulen ein-fach nicht rumspricht, wo es doch auch eine Menge Lite-ratur darüber gibt, dass Zirkus eine wunderbare Alterna-tive zum normalen Turnunterricht ist. Ich habe ähnliche Erfahrungen wie ihr: Lehrer kommen mit ihrer Klasse in unsere Einrichtung zu einem eintägigen Workshop. Eine ganze Woche können wir aus räumlichen Gründen nicht anbieten. Jedenfalls sind die Lehrer immer ganz erstaunt, was wir mit ihren Kindern machen und was die ganz schnell lernen. Und ich sage dann, Mensch, ihr seid doch Pädagogen. Es ist doch ganz offensichtlich, dass Kinder, wenn man sie begeistert, sehr schnell lernen. Und die Kin-der nehmen davon sehr viel für sich mit. Es ist ja wissen-schaftlich nachgewiesen, dass Kinder, die solche Sachen machen, auch viel besser lernen.

Kersten: In Israel wurde untersucht, dass Kinder, die eine Lese-Rechtschreibschwäche haben, durch das Balancie-ren auf dem Hochseil Blockaden abbauen können. Und zwar weil durch die Balance beide Gehirnhälften zusam-men arbeiten müssen. Unsere Hochseil-Trainerin ist eine Legasthenikerin. Und sie hat inzwischen ein Studium in Sozialpädagogik mit einer sehr guten Note abgeschlossen. Und auch viele Eltern sagen uns, dass sich bei ihren Kin-dern durch das Balancieren Blockaden abgebaut haben, was vorher einfach nicht möglich war. Es gibt ganz viele

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Türen, die dadurch geöffnet werden. Ich sprach neulich mit einer Mutter, die hat mich fertig gemacht. Sie wollte alles immer hundertprozentig richtig haben von ihrer Tochter, sie durfte nie einen Fehler machen. Und wenn es einen Fehler gab, dann gab es sofort richtig Zoff. Die Mutter sagte dann: Nach einem Jahr Juxirkus hat mein Kind endlich begriffen, dass es auch mal Fehler machen darf. Dieses Kind hat jetzt nicht mehr diesen Druck, weil es weiß, dass man vom Seil auch mal runterfällt. Ist halt so. Aber sie kriegt trotzdem Applaus, weil sie wieder auf-steht, grinst und gackert und wieder aufs Seil geht. Das macht den Wert aus, man lernt durch Fehler. Ein Fehler ist, wenn ich merke, es fehlt was. Und wenn was fehlt, kann ich was dafür tun.

Godulla: Das Zelt hat wirklich eine ganz besondere Aus-strahlung. Da vorbei zu gehen und das Zelt zu sehen, ist alleine schon wunderschön.

Mitrega: Das war auch eins unserer Ziele, dass das Zelt und das ganze Gelände so eine Ausstrahlung hat, dass es ein Treffpunkt für Kinder ist. Wir haben alles so aufge-baut, dass wir im Sommer dort grillen können und andere Sachen machen. Denn die Kinder kommen nicht nur zum Training, sie treffen sich da.

Jonas: Das ist aber ganz entscheidend. Denn das unter-scheidet so einen Ort nämlich klar von Sporthallen.

Mitrega: Da sind Freundschaften entstanden, über die Jahre. Wir haben noch nicht gesagt, dass wir sehr stark auf der Basis von Praktikanten arbeiten. Es kommen sogar welche aus Dänemark. Wir haben also einen aner-kannten Ruf als Ausbildungsstelle für Praktikanten. Wir kämpfen darum, dass wir immer zwei oder drei junge Leute bekommen, die mit Zirkus schon was zu tun hatten. Nach zwei Stunden intensiver Arbeit können sie sofort in die Unterstützung der Projektwochen einsteigen. Man muss ihnen eigentlich nur beibringen, dass sie vor den Kindern Sicherheit ausstrahlen müssen in ihrem Können. Ich sage ihnen: auch wenn du nur mit drei Bällen jonglie-ren kannst, darfst du nie zeigen, dass du vielleicht unsi-cher bist. Und dann machst du noch ein paar Spiele. Und das reicht den Kindern. Stefan z.B. ist vor 5 Wochen aus Dänemark gekommen, er konnte nicht deutsch sprechen, und heute leitet er eine Gruppe. Er hat eine Jongliernum-mer vorbereitet, mit 6 Kindern. Und wenn die dann ihre

Vorstellung haben, sehe ich, wie seine Augen leuchten, was ‚seine‘ Kinder schon können. Ich hatte ihn an einem Dienstag kennen gelernt, und am Freitag hat er eine Num-mer gemacht, die ich ihm beigebracht hatte. Das ist natür-lich toll. Wir haben zur Zeit drei Praktikanten ...

TN: Habt ihr auch welche aus Berlin?

Mitrega: Wir haben natürlich auch welche aus Berlin. Das sind Pädagogik-Studenten. Die Kinder wollen die unbedingt haben. Die sind jung, bringen uns auf neue Ideen. Das ist wichtig.

Kersten: Du sprachst davon, die älteren Jugendlichen zu halten. Wir haben in diesem Jahr eine Reise gemacht, was wir jedes Jahr machen, mit Selbstverpfl egung, Über-nachten auf der Iso-Matte und mit ganz viel Trainieren. Wichtig daran ist, dass die Kinder die Möglichkeit haben, sich kennen zu lernen, weil auch bei uns natürlich Fluktu-ation herrscht. Die Älteren wollen sich ganz doll abgren-zen, aber es war auch eine unglaubliche Menge von klei-nen, wuseligen Kindern gekommen. Ich saß im Bus und dachte: ich kenne die Hälfte der Kinder überhaupt nicht. Aber genau das macht es aus: einpacken, losfahren und ankommen. Ich kenne das aus anderen Freizeiten, bei denen man die Kinder ständig animieren musste, was zu machen. Das brauchen wir alles gar nicht. Es reicht, wenn wir anfangen zu trainieren. Diesmal waren es wirklich 7 Tage, früher waren es immer nur 5 Tage. Die waren die ganze Woche lang mit Ausdauer dabei. Und dabei steht ja auch eine ziemliche körperliche Anstrengung dahinter. Auf die Kleinen muss man ein bisschen achten, dass die nicht einfach mal zusammen brechen. Diesmal waren zwei Drittel der Kinder neu. Ein Kind hatte nur eine ein-zige Trainingsstunde vor der Reise. Es waren 65 Kinder. Natürlich hatten wir ein paar Heimweh-Kinder, Bauchweh-Kinder, Übelkeits-Kinder. Aber so eine Reise ist ein toller Einstieg in die Arbeit. Es entwickelt sich eine richtig nette kleine Familie.

Mitrega: Wir suchen eigentlich noch geeignetere Räume für eine solche Fahrt. Diesmal, an der Loreley, war es eine Jugendherberge. Die Kleinen gingen um 21.30 Uhr schlafen, die über 15jährigen etwas später, sie lasen den Jüngeren was vor. Wir sind mit 20 Kindern Pilze sammeln gegangen für unser Essen, während ganz viele sagten: ach, lass mich doch trainieren! Jeder hat einen Dienst zu

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versehen, die Erwachsenen kaufen ein. Und dadurch ent-steht auch der familiäre Kreis. Als wir uns nach der Reise wieder getroffen haben, war das so entspannend! Wir haben uns alle hingesetzt und Fotos angeschaut. Das ist wirklich schön. Und die sind überhaupt nicht so anstren-gend, wie man sich das vielleicht vorstellt. Es blieb immer noch Zeit, ein Buch zu lesen oder spazieren zu gehen oder allein Kaffee trinken zu gehen, weil die Kinder unglaublich viel bekommen, aber sie lassen uns auch mal in Ruhe. Wir bekommen ganz viel von ihnen zurück.

Kersten: Solche Reisen mit jüngeren Kindern und etwas älteren, sind besonders gut. Das merken wir besonders beim Einhalten von Regeln. Ich kann ihnen sagen: Es gibt hier feste Zeiten, Licht aus!, dann passiert erst mal nicht viel. Wenn aber die großen Jungs vor dem Zicken-Mäd-chen-Zimmer stehen und sagen: seid mal ein bisschen leiser, dann heißt es: natürlich, klar, machen wir. Dann denke ich mir: ist doch schön, dass es solche Jungs gibt. Es ist eben immer was Anderes, wenn Kinder auf Augen-höhe einander was zu sagen haben, als wenn wir als Erwachsene intervenieren.

Das Schöne ist zu erleben, wie die Kinder das, was sie gelernt haben, von einer Kinder-Generation zur anderen weitergeben. Diejenigen, die jetzt die Älteren sind, haben ihre Kompetenzen von denen gelernt, die jetzt schon wie-der draußen sind aus dem Juxirkus. Sie wurden damals auch von den Großen ins Bett gebracht, also machen sie das jetzt auch mit den Kleinen.

Oder ein anderes Beispiel: Geburtstags-Animationen am Wochenende. An Wochenenden steht das Zelt im Prinzip leer. Da kamen die großen Mädchen, die schon aus dem Juxirkus draußen sind, auf die Idee, sie könnten doch am Wochenende Geburtstags-Animationen anbieten. Sie haben dann drei Monate lang mit einer Trainerin das Pro-gramm vorbereitet und durchgeführt. Und jetzt machen sie das selbständig. Die Organisation, die Planung, wer wann was macht, dafür haben sie einmal im Monat eine Team-Sitzung, auf der auch die Termine vergeben werden. Und auch da herrscht ein Run, das ist ausgebucht bis Sommer 2008. Damit verdienen sie auch Geld. Und das brauchen sie auch, denn einige fangen an zu studieren. Und sie geben dabei auch ihr eigenes Wissen weiter an andere. Sie machen das mit einer unheimlichen Freude, da ist ihnen das Geld gar nicht mehr so wichtig.

Mitrega: Und eine Geburtstags-Animation läuft so ab: eine Mutter kommt mit zehn Kindern, die vielleicht 8 oder 9 Jahre alt sind. Sie bringt Kuchen und was zu trinken mit. Und die zwei großen Mädchen machen dann drei Stunden Programm für die. Und dann räumen sie auf, sie bekom-men Geld, und alle sind glücklich. Am Sonntag machen sie sogar zweimal Animation für Kinder, weil die Nach-frage so groß ist. Die beiden Mädchen bekommen einen festen Betrag. Und wenn mehr Geld reinkommt, fl ießt der Rest uns zu.

Kersten: Oder wenn wir einen Engpass bei Außenauftrit-ten haben. Dann rufe ich einige der Älteren an, die nicht mehr dabei sind, dann frage ich sie, ob sie eine Nummer machen können, gebe ihnen eine Telefonnummer wei-ter, und dann läuft das. Dann bin ich froh, dass wir nicht immer alles selber machen müssen. Und wir können es auch nicht leisten, ganz ehrlich.

Mitrega: Wenn wir z.B. morgen eine Vorstellung haben, dann weiß ich vorher schon, dass sich 5 dafür gemeldet haben: einer macht Stand, einer hilft beim Umbauen, der Dritte sagt: ich komme sowieso vorbei, wenn du Hilfe brauchst. Das macht es alles leichter.

Kersten: Das läuft alles so, dass es immer ein gegensei-tiges Geben und Nehmen ist, was ich sehr positiv fi nde. Den Übergang zu machen vom Zirkus in eine neue Lebens-phase, ist ja nicht so einfach. Das dauert eben auch eine Weile, man trennt sich, und dann sind sie wieder da. Und dann trennen sie sich wieder und sind ein bisschen wie-der da. Die Zuwendungsgelder gehen ja eigentlich nur bis 18 Jahre. Aber wenn jemand älter ist, wir schmeißen niemanden raus. Jeder wird in einer ihm gemäßen Form eingebunden.

TN: Wenn nun eine Einrichtung keine 20 Jahre Zirkus-Erfahrung hat, aber die Idee hat, damit anzufangen, was brauchen sie dazu?

Mitrega: Man muss erst mal ein Konzept auf dem Papier haben. Unser Zirkus hat angefangen mit einem kleinen bunten Bauwagen für Kinder, in dem gab es Keulen, Bälle, ein Tuch und solche Sachen. Und zwei Mitarbeiter sind damit durch Schöneberg Richtung Kleistpark gefahren. Also, wir haben am Anfang auch keine Ahnung gehabt.Ich bin von Beruf Sportlehrer, ich konnte gar nichts, auch

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nicht deutsch sprechen, ich war aus Schlesien nach Berlin gekommen. Und dann hat mir jemand davon erzählt, dass es da eine Chance gibt. Er fragte: Hast du verstanden? Ich sagte: 25 Prozent. Da sagt er: Das reicht. Ich hatte nur meine sportlichen Erfahrungen, die Kinder haben den Rest reingebracht. Und wir haben auch erst mal in der Turnhalle angefangen. Und dann haben wir uns das Zelt organisiert. Wir hören immer wieder jemand sagen: das Zelt muss größer sein! - Nie! Das Zelt, das sind wir. Das ist die Atmosphäre, die da entsteht. Das ist gerade schön, wenn es eng wird, wenn wir 120 Zuschauer haben, wo nur 115 rein passen, was Besseres kann für die Kinder gar nicht passieren. Besser so, als wenn wir 250 Plätze hätten, und dann kommen nur 60 Zuschauer. Der Durchmesser ist 12,60 Meter. Die Manege ist aber nicht in der Mitte, sondern in einem Drittel. Daran angebaut ist ein Zelt als Turnhalle mit einem Boden, die wird als Garderobe oder auch als Trainingsraum genutzt.

Kersten: Ich will noch mal auf deine Frage zurückkommen, was man zum Zirkusmachen braucht. Einen Kinderwagen, einen Leiterwagen, irgendwas, vielleicht noch einen aus-rangierten Teppich, damit kann man wunderbare Akroba-tik machen. Jedes Kind liebt ‚Flieger machen‘, wir kennen das alle. Super, die erste Nummer steht, die können wir machen.

TN: Also einfach anfangen.

TN: Aber ihr habt keine Tiere?

Kersten: Doch, wir haben Tiere - die Flöhe, die wir im Kopf haben. Und die Kinder.

Mitrega: Nein, Tiere haben wir nicht, wollen wir auch gar nicht. Ich fi nde das affi g, muss ich ganz ehrlich sagen. Wenn jemand anfängt, seinem Hund irgendwas beizu-bringen, also, geht‘s noch? Was wir da machen, das muss authentisch sein. So wie das auch aus Bremen erzählt wurde, dass die Kinder sich das ausdenken. Und sich dann Musik dazu suchen. Wenn es authentisch ist, dann hat das auch eine gewisse Ausstrahlung auf der Bühne.

Godulla: Zum Authentischen gehört ja auch, dass die Kinder Fehler machen dürfen. Die müssen ja nicht per-fekt sein, und das ist dann gerade das Tolle. Ich hatte

bei euch in Bremen eigentlich den Eindruck, dass ihr versucht perfekt zu sein und dann erst aufzutreten.

Jonas: Na, perfekt will ich nicht sagen. Wir haben aber schon den Anspruch, die Kinder so weit zu bringen, dass sie vor Gleichaltrigen auftreten können, ohne ausgelacht zu werden.

Mitrega: Das kommt aber doch darauf an, wie sie auftre-ten. Wenn du so cool tust auf der Bühne, trägst du gleich einen großen Anspruch vor dir her. Aber die Musik kann dich unterstützen, und wenn du Spaß hast an dem was du machst, ist der Auftritt schon geritzt. Es gibt einige wenige Kinder, die die Artistik-Schule gemacht haben. Das sind von 200 Kindern vielleicht 2%.

Kersten: Lutz, das ist ein Künstler, der bei uns war, war in Paris zu einer riesigen Veranstaltung mit Preisverlei-hung. Er hat keinen Preis gewonnen. Aber Jury-Mitglieder haben ihm hinterher gesagt: Schade, dass ihr keinen Preis gewonnen habt, aber ihr habt verstanden, worum es geht. Eure Ausstrahlung bei dem, was ihr auf der Bühne gemacht habt, hat uns das gezeigt. Die hatte kein ande-rer, die waren alle zu perfekt.

Jonas: Ja, das meinte ich auch, die Präsentation muss nicht perfekt sein. Aber der Rahmen, das Licht, das sollte meiner Meinung nach professionell sein. Sie sollen schon das Gefühl haben, wenn sie drau-ßen auftreten, dass sie sich dem gewachsen füh-len. Denn es ist ja schon ein großer Unterschied, ob man vor Eltern und Freunden auftritt oder ob man engagiert wird, Geld dafür kriegt, dann muss es schon stimmen.

Kersten: Die Kinder kritisieren sich aber auch gegenseitig sofort hinter der Bühne. Wenn etwas schief gelaufen ist, kommt das gleich auf den Tisch. ‚Ernsthaft lachen zu kön-nen‘, das steckt dahinter. Die Ernsthaftigkeit der Anstrengung und gleichzeitig die Leichtigkeit auf der Bühne zu sehen, das ist eine enorme Leistung. Ich setze mich manchmal auf das Einrad, das sieht ja immer ganz easy aus, aber wenn du es

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dann mal selber machst, sieht die Sache schon anders aus. Aber dann spürt man gleich, was für eine wahnsinnige Ener-gie und Übung darin steckt.

Mitrega: Mein Ziel war, eine Atmosphäre zu schaffen, die hinter der Bühne genauso lustig und locker ist wie auf der Bühne. Und genau so ist es auch, die machen so tolle Sachen hinter der Bühne, ganz nebenbei. Es gibt natürlich auch andere Kinder. Wenn die kommen, sind sie schon im Stress. Sie müssen dann gleich noch zum Geigenunterricht, zum Sport oder sonst wo hin. Das kommt natürlich von den Eltern. Aber alle die kommen, machen ihre Sachen wirklich leidenschaftlich gerne und würden am liebsten gar nicht aufhören, wenn abends Schluss ist. Für mich ist das Geschehen hinter der Bühne, wo sie ihre selbstbewussten Kunststücke zeigen und sich erzählen, was sie vielleicht später mal machen, fast noch wichtiger als die Vorstellung auf der Bühne. Denn auch hinter der Bühne passiert immer was Gutes, weil jeder seine Ambitionen hat für das, was er machen möchte.

TN: Was ich als Theatermensch am Zirkus sehr sympa-thisch fi nde ist, dass man ihn mit diesem Ansatz auf-machen kann für jede Fähigkeit, die da ist. Man kann ja sogar aus dem Seifenblasen-Pusten eine Zirkusnummer machen. Und das fi nde ich das Sympathische an der Zirkusform, dass das alles relativ schnell präsentabel ist - zumindest den Eltern oder im Kontext Schule. Aber man hat die Möglichkeit alle mitzunehmen, egal wie die Fähigkeiten sind. Mich interessieren natürlich am meisten die Möglichkeiten im darstellerischen Bereich, z.B. die Clowns oder wenn zwei Leute ein Pferd spielen. Da gibt es ja auch viele Sachen, für die man keine akrobatischen Fähigkeiten haben muss.

Jonas: Unsere Workshops für die Schulen, wo wir manch-mal nur 3 Stunden an einem Tag haben, münden auch immer in Auftritten für die Eltern. Die Eltern fragen oft: was könnt ihr denn jetzt? Und man stellt fest, dass fast jedes Kind irgendwas kann. Wenn man ein paar Elemente zusammenstellt und noch ein paar einfache Sachen dazu nimmt, kann man wirklich in ganz kurzer Zeit was Präsen-tables herstellen.

TN: Und das Wichtigste ist ja wirklich das Präsentieren.

Kersten: Ja, das Präsentieren bedeutet für die Kinder: ich stehe auf der Bühne mit meinem Können, kriege meinen Applaus, und ich wachse. Das ist ein sich verstärkender Kreislauf. Das Schöne beim Darstellen ist, da gibt es sprechen und nicht sprechen müssen. Beim Zirkus gibt es ja immer die Möglichkeit, sein Können zu zeigen aber nicht reden zu müssen. Und wenn man sein Können in einer Gruppe zeigt, hinter einem noch 20 andere Kinder stehen, dann gibt es immer einen Zusammenhang und einen Hintergrund, der einen stützt. Die Kinder brauchen ganz stark die Gegenseitigkeit. Gleichzeitig merken sie: ich bin wichtig. Aber ich bin nicht alleine.

TN: Ihr habt eure Projekte generationsübergreifend genannt, aber es sind eigentlich ja nur Jungen daran betei-ligt. Mich interessiert der große Generationensprung. Habt ihr auch Gruppen mit Leuten über 80? Oder entsteht so ein Kontakt eher zufällig?

Kersten: Der ist tatsächlich zufällig entstanden. Ein Bei-spiel ist Fritz.

Mitrega: Ja. Fritz ist 66 Jahre alt. Er kam zu mir und sagte: Ich möchte Einradfahren lernen, aber meine Frau darf das nicht wissen. Ich habe gesagt: Gut, Montag 15 Uhr. Er kam, brachte ein paar Kekse mit, und es waren reichlich Kinder da. Er hat natürlich ein bisschen länger gebraucht, um das zu schaffen. Das war 2002, und wir sind Freunde geworden. Er besucht uns regelmäßig. Es fragen auch manchmal Eltern, ob sie was mitmachen können. Wieso nicht? Wir haben schon zweimal Workshops für Eltern organisiert. Ihnen ging es aber eher darum, Erfahrungen zu sammeln mit verschiedenen Zirkuselementen, nicht um Können und Auftreten. Wir können und wollen aber nicht mehr tun als wir jetzt machen. Sonst verlieren wir irgendwann den Spaß daran, und der ist ja das wichtigste für die Kinder. Dass Zirkus Spaß macht, lernen sie ja zuerst von uns und dann von einander.

Kersten: Unsere Kontakte zu älteren Menschen entste-hen eher dadurch, dass wir Auftritte in Altersheimen machen. Und darüber Interesse daran wecken, auch mal in unsere Vorstellungen im Zelt zu kommen. Wir treten beim Obdachlosen-Fest in der Heilig-Kreuz-Kirche auf. Aber wir wollen keine Artistengruppe aus alten Leuten bilden. Trotzdem kann Zirkus bestimmt für Ältere sehr attraktiv sein und Spaß machen.

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Ich war bei der Eltern-Animation mit dabei, weil ich das als Chance sah, für mich selber noch mal Sachen auspro-bieren zu können. Wir hatten da Trapez, Jonglieren und Einrad. Die Eltern waren unheimlich motiviert, wir konn-ten gar nicht aufhören, und wir wollten auch gar nicht aufhören. Am Ende waren sie alle so erschöpft, dass der Trainer durchgreifen musste, bevor sich noch jemand alle Knochen brechen würde. Und die Nachfrage, noch mal so einen Nachmittag zu machen, ist enorm hoch.

Mitrega: Ja, es ist natürlich auch für Eltern spannend, das auszuprobieren, was ihr Kind kann. Und sich ganz neue Fähigkeiten zu erobern, seine Grenzen zu erwei-tern, mit anderen zusammen, das ist natürlich wunder-bar und attraktiv.

Broschüre zum Jubiläum des Juxirkus

Wir sind 20

Jonas: Wo man gut mit älteren Menschen was machen kann, das ist in der Verbindung von Theater und Zirkus. Wenn die eher den darstellerischen Bereich abdecken, damit habe ich gute Erfahrungen gemacht. Das halten die Senioren auch aus.

Godulla: Ihr könntet es doch so machen, dass ihr euch gegenseitig besucht und auftretet, einer beim anderen.

Kersten: Bei uns gibt es im Oktober Plätze für 75 Leute zum Schlafen, und kochen kann man da auch.

Jonas: Bei uns könnt ihr auch schlafen, das machen wir!

Mitrega: Das ist doch toll. Seit 20 Jahren wissen wir nichts von einander...

Aus dem Klappentext:

„Es ist nicht unsere Absicht, die Kinder und Jugend-lichen im Sinne einer Berufsausbildung zu ArtistInnen zu machen. Wir wünschen uns, dass sie bei uns Artistik als Lebenseinstellung lernen. Was so viel heißen soll wie: Ich weiß, was ich kann, und ich bin auch stolz darauf; ich habe Zutrauen, dass ich Dinge, die ich noch nicht beherr-sche, lernen kann; wenn ich will, kann ich den Boden unter mir in eine Bühne verwandeln und kann entspannt und selbstbewusst jeder Situation begegnen, die mir in die Quere kommt. Und wenn einmal etwas schief läuft, dann kann ich auch über mich selber lachen und weiß, das nächste Mal falle ich wieder auf die Füße.“

soebenerschienen

Zu erwerben gegen eine Schutzgebühr von 5,-- Euro beimJuxirkus SchönebergBarbarossastr. 6510781 BerlinEmail: [email protected]

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Scherer: Wir wollen uns in diesem Workshop zwei ver-schiedene Ansätze ansehen, die aber eine Gemeinsam-keit haben. Sie haben etwas mit Lernen zu tun, aber nicht mit schulischem Lernen, sondern mit spielerischem Ler-nen. Das eine ist ein Kreativ-Theater. Und das andere das Spie-len eines Spiels. Beides ist mit der Frage des Umgangs mit Rechtsradikalismus verknüpft, mit Aufklärung. Wir haben heute morgen gehört: wir wissen nicht, ob Informa-tion etwas nützt. Die Frage ist jetzt: kommen Emotionen ins Spiel? Ist vielleicht der spielerische Zugang eine Mög-lichkeit, sich Menschen zu nähern mit bestimmten Fra-gestellungen, die gegenüber der konventionellen Art der Wissensvermittlung ziemlich ablehnend sind? Wir beschäftigen uns zunächst mit Theaterspielen und danach mit dem Spiel.

Bittner: Ich erzähle erst mal kurz, in welchen Rahmen das Theater der Erfahrungen gehört. Es ist ein Altentheater-Projekt, das es jetzt seit 27 Jahren gibt. Wir entwickeln aus eigenen Erfahrungen zusammen Stücke und ziehen dann damit als Wandertheater durch die Einrichtungen der Stadt. Also eine Art ‚Aufsuchendes Theater’. Es geht uns darum, aus unseren Erfahrungen Zusammenhänge

herauszuarbeiten, die auch in der Stadt wichtig und inte-ressant sind. Vor 15 Jahren wurden wir des Ghettos, in dem wir uns im Altensektor bewegten, überdrüssig. Wir haben ein Projekt entwickelt, das heißt ‚Schule des Lebens’. Die Alten sind in die Schulen gegangen, haben da ihre Stücke gezeigt und Workshops gemacht, in denen sie mit Jugendlichen Stücke entwickelt haben. Da gab es eine ganz große Bandbreite von Experimenten. Es gab Straßentheater, das in S-Bahnen gezeigt wurde anlässlich des Holocaust-Gedenktages. Sie haben sehr viel auspro-biert, was man mit Jugendlichen machen kann, aus ver-schiedenen Schultypen.

Ich würde Ihnen gerne von einem Projekt erzählen, das wir kürzlich gemacht haben. Um den Blick zu lenken auf die anderen Mittel, die entstehen, wenn Jung und Alt zusam-men spielen, und auch darauf, was dabei passiert.

Es gibt eine Gruppe, die heißt ‚Ostschwung’. Ihre Mit-glieder haben sich in der Theaterarbeit vorwiegend mit ihrer Biographie in der DDR und nach der Wende befasst. Wir haben mit dieser Gruppe und Schülern aus einer 9. Klasse Gymnasium in Berlin-Steglitz (Westteil) eine gemeinsame Theaterproduktion begonnen. Sie waren in ihrem Denken und ihren Erfahrungen sehr weit auseinander. 9. Klasse ist auch ein etwas schwieriges Alter, und wir waren ganz erstaunt, dass unsere Befürch-tungen von Fremdheit und Ablehnung ganz unbegründet waren. Sie waren hochmotiviert. Von 27 Jungen und Mädchen hat sich keiner verkrochen oder verweigert, alle wollten spielen und fanden es auch nicht blöd, etwas mit den Alten zu machen. Wir kennen viele gute Schulen, die viel Bereitschaft haben, solche Projekte zu machen. Die Ausgangslage war also sehr gut, das war auch eine sehr offene Lehrerin, die auf uns zugekom-men ist und gesagt hat, sie möchte das gerne mit uns machen. Wir hatten uns einige Male vorher getroffen, um das Thema ‚Zivilcourage’ vorzubereiten. Das wollten die Alten gerne, und die Jugendlichen wollten es auch. Die Lehrerin wollte gerne mit den Kindern aus der Schule rauskommen, damit sie auch mal andere Stadtteile ken-nen lernen, andere Leute treffen mit anderen Ideen. Wir haben die Proben also jedes Mal an einem anderen Ort gemacht: einen Tag im NBH Schöneberg, einen Tag im Pfefferwerk, zwei Tage in Neukölln. Dann haben sie fünf Tage zu verschiedenen Konfl ikten gearbeitet: zwischen Jungen und Alten, zwischen Deutschen und Nichtdeut-

Workshop: Schutzimpfung gegen dumpfe Parolen?

Die Bedeutung von historischem Wissen und Empathie als Mittel gegen den Rechtsextremismus

und die Chancen von spielerischen Zugängen

Inputs: Stefan Schützler, Gangway, BerlinEva Bittner, Theater der Erfahrungen, NBH Schöneberg, Berlin

Moderation: Herbert Scherer

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schen. Sie haben sich mit Vorbildern, die nicht funktio-nieren, mit Fluchtwegen wie Drogen, also vielen heißen Eisen beschäftigt. Und am Ende war daraus eine kleine Aufführung vor Eltern und Mitschülern entstanden.

Was rechtsradikale Phänomene angeht, sind sie nicht zu den harten Themen vorgedrungen, es blieb in der Ecke von Fremdenfeindlichkeit. Ob das wirklich ein Input sein kann gegen rechte Gedanken, das würde ich gerne mal hier besprechen. Sie haben sich eigentlich nur mit den Vorurteilen beschäftigt. Meiner Ansicht nach waren in der Gruppe zu viele, man kann nicht mit 35 Leuten zu historischen oder auch persönlichen Themen arbeiten. Man erreicht die Leute nicht wirklich, es gibt so eine Art Herdentrieb, sich so oder so zu verhalten. Man kommt in einer Woche, in so einer Konstellation, nur ein ganz kleines Stück weit. Um mehr in die Tiefe zu gehen, wären kleinere Einheiten notwendig und mehr Zeit. Was man allerdings machen kann ist, diese Vorurteile ein bisschen anzuknabbern. Von diesen Jugendlichen glaube ich nicht, dass sie mal einer alten Dame die Handtasche klauen. Ich glaube, dass dieser Kontakt zwischen den Generationen und der spielerische Umgang zwischen Jung und Alt viel bewirkt hat. Aber ob das wirklich stabil macht gegen Aus-grenzung, das bezweifl e ich.

Aber diese Arbeit hat Sinn. Zumindest tun solche Projekte den Schulen unheimlich gut. Was durch die Öffnung für andere Milieus und andere Gruppen und Denkweisen in den Schulalltag einbricht, wenn Jugendliche aus ihrer Wärmestube Schule rauskommen, das ist ein unheim-licher Gewinn.

Scherer: Eine meiner Töchter hat gerade einen Konfl ikt mit ihrer Klassenlehrerin, wo es anscheinend um Aus-grenzung geht. Die Lehrerin bemüht sich, gruppendyna-mische Arbeiten zu machen zum Thema Vorurteile und Hierarchiebildung, aber sie kommt an das, was eigentlich abläuft, nicht heran. Die Beziehungskonstellation bleibt die gleiche, sie bleibt die Lehrerin. Ich kann mir vorstel-len, dass Außenstehende da mehr Chancen haben, etwas aufzuknacken.

Bittner: Das ist das eine, aber die Verknüpfung mit schulischen Fragestellungen ist auch wichtig, z.B. mit dem Geschichtsunterricht. Ein Thema wie Zivilcourage braucht einen längeren vorbereitenden Vorlauf, das ist

einfach schwer. Aber auch das verhindert nicht, dass so ein Thema an der Oberfl äche bleibt. So ein Anstoß, der durch unsere gemeinsame einwöchige Arbeit entstanden ist, versackt leicht wieder.

TN: Gibt es Unterschiede mit Teilnehmer/innen aus ver-schiedenen Schultypen?

Bittner: Das Projekt über Zivilcourage war mit einer Gym-nasialklasse. Aber wir haben auch mit Grund- und Haupt-schulen alle möglichen Projekte. Die funktionieren eigent-lich immer. Man muss vorher relativ gut die Schule kennen lernen, mit den Lehrern vertraut werden, damit man weiß, was die brauchen oder wollen. Wir waren an einer recht aktiven Grundschule, in die viele Kinder mit Migrations-hintergrund gehen. Wir waren da mit einer deutsch-tür-kischen Seniorentheatergruppe, und das war für die Kin-der ein tolles Erlebnis, dass sie sahen: es gibt da aktive Alte, die aus unserer Ecke kommen. Weil es kleine Kinder waren, haben sich richtige Liebesbeziehungen zwischen den alten Türken und den Kindern ergeben. Aber die Vor-bereitung ist sehr wichtig, dass man sich einen deutlichen Eindruck davon verschafft, was an der Schule Thema ist und was die Kinder brauchen.

TN: Finden die Projekte in der Schule statt?

Bittner: Wir gehen aus der Schule lieber raus. Man hat da keinen Platz, man muss die Tische erst beiseite schaffen, man muss hinterher wieder alles umräumen. Eine Schule ist ein schlechter Ort für Theaterarbeit, deswegen versu-chen wir eigentlich immer, woanders unterzukommen. Aber oft gelingt das halt nicht, wenn die Lehrer nicht mit-spielen. Das steht und fällt mit den Lehrern, ob die das mittragen.

TN: Kann man ein Thema wie Rechtsradikalismus in der Hauptschule oder Gesamtschule bearbeiten, ohne dass es zu massiven Konfl ikten kommt?

Bittner: Ich habe das vorhin gerade überlegt, aber eigent-lich ist das noch nie so direkt aufs Tapet gekommen. Wir haben z.B. im Jugendmuseum der Riesengebirgs-Ober-schule, die ja auch eine Hauptschule ist, gearbeitet. In den Workshops geht es eigentlich immer ziemlich harmonisch zu, die Jugendlichen kommen mit den harten Dingern gar nicht raus. Das einzige, was manchmal passiert, ist, dass

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sie sich weigern zu spielen, weil ihnen was zu blöd ist. Aber es passiert nicht, dass sie offen Stellung beziehen. Das fi nde ich eigentlich eher schwierig.

TN: Meinst du, dass das an einer Hauptschule im Osten, z.B. in Oberschöneweide anders wäre? Weil ich glaube, Rechtsradikalismus ist da virulenter.

Bittner: Wir waren auch an verschiedenen Schulen in öst-lichen Stadtbezirken, und das Thema von Übergriffen in der S-Bahn und wie man sich dazu verhalten kann, war schon präsent. Die Jugendlichen hatten auch schon von Rollenspielen gehört. Aber es war eher so, dass sie nach Argumenten suchten, wie sie sich stark machen könnten. Niemand von ihnen wollte den Übeltäter spielen. Sondern sie wollten eher wissen, wie sie als eventuelles Opfer dagegen ankommen können.

TN: Ich glaube schon, dass das für Jugendliche im Osten ein bedrängendes Thema ist. Ich hatte kürzlich mit einem Jugendlichen aus Hohenschönhausen zu tun, der ein Gymnasium am Hermannplatz in Neukölln besucht. In seiner Klasse ist er einer von zwei deutsch-stämmigen Jugendlichen, alle anderen haben einen Migrationshin-tergrund. Ich habe ihn gefragt, warum er das macht. Er sagte, in Hohenschönhausen gäbe es zu viele Rechts-radikale, die hätte er an der jetzigen Schule in Neukölln nicht.

TN: Ob es mehr Rechtsradikale im Ostteil der Stadt gibt, ist eigentlich nicht das Thema. Sondern die Frage ist, mit welcher Intensität ihr an solchen Themen in den Schulen arbeitet. Oder ob ihr an der Oberfl äche bleibt. Weil viel-leicht Leute nicht die Zeit haben oder auch sich nicht näher ran trauen. Das ist eine Frage. Eine andere Frage ist, ob man rechtsradikale Positionen mit Ostdeutschen identifi ziert. Es gibt natürlich auch unter Migranten faschi-stoide Positionen. Werden Grenzüberschreitungen und Tabubrüche überhaupt thematisiert? Mich würde interes-sieren, wie weit ihr in solche Bereiche mit eurer Projekt-arbeit vorstoßt.

Bittner: Wir bleiben ja doch oft in der Schule, und es ist immer ein Lehrer mit im Raum. Ehe da mal einer eine Parole los lässt, überlegt er sich das lieber. Und die Alten sind ja für sie Fremde, die sich irgendwie schon Respekt verschaffen. Das sind Leute, die eine beson-

dere Ausstrahlung haben, die macht man nicht so blöde an. Mit Leuten unseres Alters kann es schon eher pas-sieren, dass sie über Tische und Bänke gehen. Aber die Alten haben einen gewissen Einfl uss darauf, dass es im Rahmen bleibt. Anders kann es schon mal in einem anderen Rahmen sein. Wir haben auf einer S-Bahnlinie Szenen aus den 30er Jahren gespielt, als die Verbote für Juden immer zahlreicher wurden. Da passierten dann schon mal Pöbeleien. Das eskalierte dann in einer Rich-tung, die wir nicht ganz im Griff hatten. Aber da war das Tolle, dass Mitreisende eingriffen und die Störenfriede in Gespräche verwickelten. Das waren Situationen, in denen die Spieler auch Angst hatten. Aber in der Schule würde so was einfach nicht passieren.

TN: Kann es nicht auch sein, dass ein junger Mensch sich nicht dagegen wehrt, wenn alte Menschen vondiesen Dingen als Teil ihres Lebens sprechen? Wie kön-nen sie diese Zeit glorifi zieren, wenn ihnen ein Zeitzeuge gegenüber sitzt? Das halte ich für ganz wichtig.

Bittner: Ja, dass sie vielleicht denken: die haben das erlebt, und deshalb ist das glaubwürdig.

TN: Da kann man mal sehen, was passiert, wenn es diese Alten nicht mehr gibt ...

Scherer: Dann gibt es vielleicht diese Konfrontation nicht mehr.

Bittner: Das ist gar nicht unbedingt eine Konfrontation, das ist eine Unterstellung. Was da abläuft, ist ja auf einer Metaebene. Sie denken: die könnten ja dabei gewesen sein.

Scherer: Es gab bei Euch einmal ein Zeitzeugen-Projekt, bei dem ältere Menschen mit Kindern zusammen trafen. Das war ja auch eine interessante Begegnung, oder?

Hübner: Ja, das lässt sich wiederholen. Erst mal ist das passiert, was du jetzt auch gerade beschrieben hast. So ein Projekt muss von allen Seiten gewollt sein. Auf der einen Seite von den Schulen und von Lehrern, die Geschichte so lebendig machen wollen. Und es muss eben ältere Menschen geben, die Lust haben zum Erzählen. Wir hatten in der Woche eine 85-jährige Geschichtslehrerin, die dermaßen putzmunter war. Sie

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hat das Ganze nicht nur in der Schule vorbereitet son-dern auch in einem Kreis, den die Alten untereinander gebildet haben. Sie haben sich zunächst mit sich selbst beschäftigt, um sich zu vergewissern, was sie aus der Zeit noch wissen und an was sie sich erinnern. Sie fi ngen mit Schulen an und die Erinnerungen bestanden aus tausend Kleinigkeiten: was gab es zu essen, was hatten sie angezogen, welche Schulbücher und Hefte gab es. Sie erinnerten sich z.B. daran, dass es kein Papier gab und Zeugnisse auf Rückseiten von alten Rechnungen geschrieben waren. Diese Einzelheiten haben sie für die Kinder sortiert. Sie hatten einen Vorlauf von vier Mona-ten. Und dann kamen die konkreten Verabredungen mit der Schule. Wir haben das dann in einem Film dokumen-tiert. Das war schön, denn mit dem jungen Mann, der den Film gemacht hat, kam eine dritte Generation ins Spiel. Die Senioren waren ohne Scheu, und die Kinder waren auch ohne Scheu. Allerdings haben sich die Kin-der sehr schulisch verhalten. Sie haben sich gemeldet, wenn sie eine Frage stellen wollten. Es dauerte ein biss-chen, bis sie sich daran gewöhnt hatten, nicht Lehrern gegenüber zu sitzen. Es bestand ein riesiges Interesse. Wenn Kinder in ihrer Nähe keine Großeltern haben, wird das für sie eine bleibende Erinnerung sein, was sie da gehört und gesehen haben. Und den älteren Menschen hat diese Begegnung auch viel gegeben. Sie würden so was gerne noch einmal machen, vielleicht nicht in dieser Form, aber man bleibt im Gespräch, in unterschiedlichen Formen. Überhaupt haben wir mit dem Lernen in gene-rationsübergreifenden Zusammenhängen gute Erfah-rungen gemacht. Junge Menschen von der Kennedy-Schule bieten bei uns z.B. Computer-Kurse für Senioren an. Da gab es bei den Älteren erst mal eine ganz große Scheu, auch bei den Jugendlichen. Sie sind aber doch auf einander zugegangen und haben mit sehr viel Spaß von einander gelernt. Es war ganz offensichtlich, dass auch ihre Herzen eine Rolle spielten. Es ging dann auch nicht nur um Computer, sondern auch um Kuchenre-zepte und andere Kleinigkeiten.

Scherer: In der Familie ist die Situation oft so, dass die Jungen die Alten gar nichts fragen.

Hübner: Ja, wenn in der Familie die Oma zum Kaffee kommt, dann hat sie ihre Erinnerungen, die wiederholt sie immer wieder. Da erlahmt das Interesse natürlich. Aber gegenüber unbekannten Menschen ist das anders.

TN: Ich würde den Generationen-sprung nicht unterschätzen, zwi-schen der Großelterngeneration und den Kindern. Meine Erfahrung ist, dass Geschichte nicht so sehr von den Eltern tradiert wird, sondern von den Großeltern. Das Schlimm-ste am Krieg war, dass Großmut-ter von den Russen vergewaltigt worden ist. Das ist etwas, was bei den Kindern eine Vorstellung vom Krieg hinterlässt. Gerade in Fami-lien, in denen Kinder anfällig sind für rechte Parolen, was häufi g aus einem Eltern-Kind-Konfl ikt entsteht, erscheinen Großeltern oft authen-tischer. Da haben die Großeltern für die Kinder einen ganz großen Stellenwert. Da wird die Oma zu einer Vertrauensperson, weil es die Eltern nicht sind. Insofern sollte man das Verhältnis zwischen Alt und Jung schon bewahren, denn wenn sie sterben, kann das sehr problematisch sein.

TN: Wir haben das gerade vor ein paar Tagen auf der Ver-anstaltung im Abgeordnetenhaus diskutiert. Dort ging es auch um die Bedeutung von Zeitzeugen, und es wurde die These vertreten, dass die historischen Bezüge für die rechte Szene heute eine untergeordnete Rolle spie-len. Man bezieht sich vielmehr auf aktuelle Situationen wie den Nahostkonfl ikt. Daraus ergab sich die Schluss-folgerung, dass Zeitzeugen bei Leuten, die schon fester in rechten Zusammenhängen sind, wenig bewirken, wäh-rend sie bei Jugendlichen, die noch offener sind, schon eine wichtige Rolle spielen können.

Hübner: Mich wundert, dass die Diskussion mehr auf die Gegenwart bezogen ist als auf die Vergangenheit. Ich glaube, dass es in Bezug auf die Vergangenheit eine grö-ßere Sicherheit gibt, sowohl bei den Alten als auch bei den Jungen. Über etwas, was 60 Jahre vorbei ist, lässt sich anders reden als über das, was heute passiert. Ich fi nde es sehr bedauerlich, dass sich heute z.B. die Welt über das Rauchen echauffi ert und überhaupt kein Ende fi ndet und dass das, was in meinem Nachbarland gerade passiert, überhaupt gar kein Thema ist. Ich fi nde, es müsste eine Brücke geben – dass wenn man sich über die Vergangenheit gut austauschen kann, dass daraus

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eine Kultur entstehen müsste, sich auch über Probleme der Gegenwart auszutauschen. Und dann sind wir in unserer Welt. Dann geht es nicht nur um Geschichte und Geschichten, sondern um die Umsetzung in unserem All-tag. Es geht dann vielleicht um aggressive Situationen in der U-Bahn, um Weggucken oder Eingreifen, etwas Tun. Das ist doch nicht ganz losgelöst von dem, was vor über 60 Jahren war.

Bittner: Ich fi nde es auch nicht ausreichend, die Alten nur als Transferriemen für den Geschichtsunterricht zu

betrachten. Ich fi nde das bei unseren Alten gerade so klasse, dass die auch ganz fest mitten im Heute stehen. Das ist es eben, was von Alten nicht erwartet wird, dass sie eine politische Haltung haben, eine sehr wohl durchdachte, dass sie eine große Klappe haben,

wenn man sie nicht beachtet, dass sie ihre Positionen auch durchfechten. Damit sind sie eher auch vorbildhaft für die Jugendlichen. Sie erstaunen die Jugendlichen, weil sie sich in deren Augen gar nicht wie Alte verhalten. Die Alten möchten aber auch gar nicht immer als diejenigen mit dem Wissen von vor 60 Jahren antreten. Sie haben alle ein politisches Köpfchen auf den Schultern, sie schla-gen immer politische und persönliche Themen an. Sie sind sehr direkt, fragen nach einem mit Jugendlichen ver-brachten Tag: Und? Haben wir heute was gelernt oder war das alles umsonst? Die Frage stellen sie sich selber, aber auch den Zuschauern. Und ich glaube, das bringt Bewe-gung in die Runde.

TN: Mir fällt es schwer, das alles zusammen zu fassen, was mir durch den Kopf geht. Ich hatte bei uns mal mei-nen Opa eingeladen. Ihm fi el es ganz leicht zu reden, weil er als Widerständler fast eine Heldengeschichte zu erzählen hat. Was aber ganz schwer ist, ist Zeitzeugen zu fi nden, die sagen, ganz ehrlich: Hier habe ich Fehler gemacht, hier habe ich weggeguckt. Es gibt aber in den Familien Menschen, die immer noch die alten Parolen wiederholen. Und ich kann mir vorstellen, dass das in der Familie so weitergetragen wird. Aber man redet nicht richtig drüber, das fi nde ich schade. Weil wenn wir uns

mit Zivilcourage beschäftigen, ist es ja wichtig darüber zu refl ektieren, warum habe ich da nichts gemacht? Es werden eher die großen Geschichten erzählt, aber kaum einer sagt: da habe ich gesehen, wie die Nachbarn geholt wurden ... Also, ich hätte mich bei meinen anderen Groß-eltern nicht getraut, Fragen zu stellen. Es gab ja schon Konfl ikte zwischen den Großeltern und ihren Kindern um die Vergangenheit (Stichwort 68), und als Enkel traut man sich dann nicht, noch mal nachzufragen, inwieweit die Großeltern in irgendwas verwickelt waren.

TN: Zwischen Großeltern und Enkeln ist ein anderes Gefühl und ein anderer Zusammenhalt als zu den Eltern. Ich konnte mit meiner Großmutter über Dinge reden, über die meine Mutter auch heute noch behauptet, darüber hat sie nie was gewusst. Und ich fi nde es wichtig, schon mit Grundschülern und auch mit Jugendlichen darüber zu sprechen: Was heißt das heute? Wer kann sich eine Situation von heute vorstellen, in der es ähnlich ist? Daraus kann man Rollenspiele entwickeln. So kann man das vielleicht aufarbeiten, anstatt sich immer nur zurück zu lehnen und zu sagen: das gibt’s doch nicht, da hat ein ganzes Volk weggeguckt? Das kann doch nicht sein. Man muss die Geschehnisse aus der Vergangenheit auf die Gegenwart beziehen und sie so real machen. Wichtig ist, das eigene Verhalten in diesen Situationen nicht aus den Augen zu verlieren. Es ist ja immer leicht, über andere zu sagen: Ist ja unerhört, dass sich da keiner gerührt hat. Die Frage bleibt aber immer: was mache ich?

Hübner: Ja, das ist der Unterschied zwischen dem, was alltäglich in der Schule gemacht wird und dem, was das Theater der Erfahrungen macht. Ihr hebt euch aus dem unschuldigen Zuschauerverhalten total heraus. Es sind dabei ja fast nur alte Leute, wenn die sich mit Jugend beschäftigen und Rocker-Mädchen spielen, dann haben sie sich damit auseinander gesetzt, was bei der Jugend abläuft. In der Darstellung von konfl iktreichen Alltagssze-nen seid ihr wirklich genial.

Bittner: Das war aber nicht so einfach, damit anzufangen. Es hat wirklich 10 Jahre gedauert, bis Johanna und ich uns getraut haben ihnen zu sagen: wir würden gerne mal was mit euch über das Dritte Reich machen. Es hat ewig gedauert, diese Frage zu stellen, bis so ein Vertrauensver-hältnis auch in der Gruppe war, dass sie sich trauten, ihren Kollegen diesen Vorschlag zu machen. Zwei Spieler wollten

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das nicht mitmachen und haben die Gruppe verlassen, sie wollten an dieses Thema nicht mehr ran, weil das für sie zu belastend war. Und mit den anderen sind dann ganz tolle Interviews und Spielsituationen entstanden. Aber ein The-aterstück wollten sie daraus nicht machen. Das Argument war: wir wollen uns nicht 50 mal auf die Bühne stellen, um uns jedes Mal vom Publikum fragen zu lassen, warum habt ihr nichts dagegen gemacht? Das schaffen wir nicht! Und dann fanden wir die Lösung: da machen wir einen Film draus. Ich guckte ihnen eine Woche lang mit der Kamera über die Schulter. Es entstanden auch in den Interviews viele Bezüge zu heute. Eine Frau erzählte: Ich war 1933 14 Jahre alt und wohnte bei meinem kommunistischen Onkel in Neukölln. Und ich habe mich in der Zeit, tut mir Leid, viel mehr für Lippenstifte interessiert und gar nicht für Politik. Ist das falsch? So eine Rückschau zu machen, sich dem Thema noch einmal auszusetzen, ist extrem schmerzhaft. Das ist bei anderen Zeitzeugen-Themen nicht so. Oft sind sie selber überrascht und merken es erst beim Spielen, dass sie mit etwas aus ihrer Vergangenheit noch gar nicht abgeschlossen haben. Sie treffen unvorbereitet auf vermin-tes Gebiet.

Scherer: Was die Zeitzeugenfrage angeht, gibt es vermut-lich eine Besonderheit mit dem Theater, weil das Theater ja immer wieder eine Gegenwart schafft. Bei einem Zeit-zeugen, der zum 50. Mal über die Vergangenheit redet, besteht die Gefahr, dass das Gegenwärtige verloren geht, dass eine gewisse Routine eintritt, dass eine Art geistiger Zaun um die Erinnerung gezogen wird. Es kann sein, dass das Individuelle, das ja eigentlich gerade das Normale ist, verschwindet – und damit auch die Möglichkeit des Gegenübers, sich selbst in dem Erzählten wiederzufi nden. Bei euch sind es individuelle Geschichten, die solch ein Wiedererkennen und damit so etwas wie Selbsterkennt-nis ermöglichen – und damit einen starken Bezug zum Denken und Handeln im Hier und Heute.Ich nehme das jetzt mal als Übergang zu unserem zweiten Projekt. Man könnte natürlich sagen, wieso – da geht es doch ausschließlich um Vergangenheit und Wissen, es ist ja ein Wissensspiel, das uns Stefan Schützer vorstellen wird. Das Spiel heißt „Alles, alles über Deutschland“, ein interessanter Titel! Wie seid Ihr darauf gekommen?

Schützler: Ich habe seit 1994 als Streetworker in verschie-denen Regionen, aber immer im Osten Berlins gearbeitet (Hohenschönhausen, Hellersdorf, Treptow). Wenn man in

diesen Gegenden auf Gruppen von Jugendlichen stößt, hat man immer Kurzhaarige dabei. Und nach dem ersten Beschnuppern, so nach etwa zwei Monaten, kam immer einer aus so einer Truppe mit so einem listigen Blick auf mich zu und sagte: „Woll’n wir nicht mal nach Auschwitz fahren?“ Ist ja klar, da hat er mit seinen Kumpels drüber gesprochen, da kann man den Sozialarbeiter ordentlich in die Klemme nehmen. Meine Reaktion: Nein, machen wir nicht. Ich weiß ja, das ist die reine Provokation. Er will da tatsächlich hin und sein Nazitum da heldenmäßig rauslassen, in Auschwitz oder in Sachsenhausen. Dann beschäftigst du dich mit dem, bist ja Sozialarbeiter. Wenn du dann mitkriegst, dass er in irgendwelchen Strukturen drin ist, heißt es: Du kannst da mitspielen oder bei uns, du musst dich entscheiden. Dann sagt der irgendwann in einer etwas dumpfen Art: Ich interessiere mich für deut-sche Geschichte. Ich hatte irgendwann die Idee, darauf auf eine bestimmte Weise einzusteigen:

Ja, dann lasst uns mal über die Reichs-Kirchenreform reden. – Häh? Aber mein Opa war bei der SS; oder: meine Oma ist von den Russen vergewaltigt worden. Das ist immer die gleiche Story. Und sie hätten eigentlich Land-güter in Ostpreußen, immer dasselbe. Und irgendwann dachte ich mir: das ist mir alles zu doof. Sie erzählen irgendwas von deutscher Geschichte und warum sie als Deutsche besonders wertvoll sind und warum die deut-sche Kultur bewahrt werden muss. Aber wenn man sie fragt: Buchstabier mal Goethe, dann wissen sie es nicht, keine Ahnung. Ich habe mich dann ernsthaft gefragt: wie kriegst du nun die Leute dazu, sich damit zu beschäftigen? Es gibt ja Pro-jekte, politische Bildung und so weiter. Aber das waren für mich keine gangbaren Wege, weil die Beziehungsarbeit auf der Straße anders läuft als in Einrichtungen, wo die Leute hinkommen. Ich musste mir was einfallen lassen, das für sie auch attraktiv ist. Also habe ich mir gedacht: es wird ja wohl irgendeine Art von Spiel geben. Wir spielen jetzt mal deutsche Geschichte, Rollenspiele oder so, gibt es ganz wenig. Sonderschüler, Hauptschüler, Abbrecher, bildungs- und kulturfernes Milieu, Leute, die gerade mal in der Lage sind, mit Messer und Gabel zu essen. Dann habe ich mir gedacht, wir erfi nden eben selber eins. Wir haben uns also dieses Spiel ausgedacht. Und weil ich von Haus aus ein böser Mensch bin, der gerne auf Provoka-tion setzt, habe ich gesagt: Ich möchte ein Spielbrett, das an ein Eisernes Kreuz erinnert. Um die Leute zu zwingen,

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sich mit der Geschichte auseinander zu setzen. Daraus ist so nichts geworden, und im Nachhinein ist das auch ganz gut. Ich wollte, dass die Leute sich richtig damit auseinan-

der setzen, was es bedeutet, Deut-scher zu sein. Meine Erfahrung ist, dass jeder in diesem Land so etwa fünf bis zwanzig Kilo Geschichte als Subtext mit sich rumschleppt. Unabhängig davon, ob das heute thematisiert wird oder ob es inzwi-schen selbstverständlich ist. Diese geschichtliche Last trägt jeder mit sich rum, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht. Das führt aber auch zu innerlichen Verbie-gungen. In anderen Ländern sind das bestimmte Formen von Reli-gion oder überholte Traditionen. In Deutschland ist das die Geschichte und was es bedeutet, Deutscher zu

sein. Wir wollten also eine Zeitreise durch die deutsche Geschichte machen, vom Jahre Null bis heute. Mit Anfang und Ziel, woran die Leute Spaß haben, wo sie gezwun-gen werden, sich damit auseinander zu setzen und wo es nebenbei vielleicht noch gelingt zu sehen: wer hat denn hier eigentlich die Bildungshoheit? Das ist eine Mischung aus Würfelspiel, Quiz, Activity und allem Möglichen.

Ich erkläre euch jetzt mal, wie das geht.Also, das Spielfeld ist eingeteilt in vier Kategorien, die Jahre Null bis 1000, 1000 bis 1500, 1500 bis 1815, 1815 bis heute. Und dazwischen liegen immer Felder, die heißen ‚Zeitenwende’. Es ist ein Würfelspiel. Man bildet Mannschaften, das ist ganz wichtig. Immer zwei Leute spielen zusammen, einer liest die Fragen vor, der andere antwortet und führt aus. Als Beispiel eine Frage aus dem Zeitraum Null bis 1000: ‚Wie hieß der Hunnenkönig, der im Nibelungenlied Etzel genannt wird’?

TN: Attila

Schützler: Richtig, Du darfst jetzt würfeln. Wenn du eine 4 würfelst, darfst du setzen. Eine 6 heißt: aussetzen. Eine 6 heißt auch, dass in der Geschichte noch was passiert. Z.B. ein Fest, oder eine kleine Hungersnot. Die nächste Frage: ‚Im Jahr 848 wurde das Reich Karls des Großen unter seinen Enkeln aufgeteilt. In wie viele Teile?’

TN: Vier

TN: Drei

Schützler: Richtig: In drei Teile. Hier haben wir jetzt ein interaktives Feld, das heißt ‚Volksbefragung’. Hier wird die Frage an alle gestellt. Damit die Anderen, die nicht dran sind, sich nicht langweilen. Jeder schreibt seine Ant-wort auf. Beispielsweise auf die Frage: ‚Welchen Herzog wählten die deutschen Stammesherzöge 911 zum ersten deutschen König? A) Wilhelm I. von Lothringen, B) Conrad I. von Franken, C) Friedrich II. von Preußen’?

TN: Conrad I. von Franken.

Schützler: Gut, korrekt! Jetzt darf der Letzte 4 Felder vor, der Vorletzte 3 Felder vor usw. und der Erste 1 Feld vor. Nun gibt es aber auch die Möglichkeit des Rausschmei-ßens. So, wir sind durch die erste Phase alle durch und kommen zur ersten Zeitenwende. Das sind 3 Felder, über die kann man nicht rüberwürfeln, sondern man muss passend reinwürfeln. Hier muss ein Wort umschreibend erklärt werden oder zeichnerisch oder pantomimisch dar-gestellt werden. Das ist der Punkt, an dem ich bei diesem Spiel immer scheitere. Ich suche mir als meinen Spielpart-ner immer den Ober-Deutschen mit der größten Klappe aus. Der will ja nun auch unbedingt gewinnen, aber das sind selten die Intelligentesten.Was z.B. ist das: Bewegt sich ständig, ist mal leicht und mal schwer, geht an wundervollen Dingen vorbei, ist in unserem Land, durchschneidet es ...

TN: - Luft? – Die Elbe!

Schützler: – Ja! Hier muss man bedenken, dass Sprechen für uns leichter ist als für diese Jugendlichen. Für Haupt-schüler ist es sehr schwer, einen Fluss zu beschreiben. Auf dem nächsten Feld muss ein Begriff gezeichnet wer-den. Gut, das Prinzip kennt Ihr aus ‚Activity’, nicht? Dies hat nun nichts mit Wissen zu tun, wenn das Wort ‚Taufe’ etwa gezeichnet werden soll. Es ist einfach eine andere Art von Fähigkeit, die notwendig ist. Und ich will erreichen, dass sie sich mit dem Begriff auseinander setzen. Das ist ja bei den Ostdeutschen besonders schwierig, in diesem Fall, denn sie hatten ja überwiegend mit Kirche nichts zu tun. Auf dem letzten Feld muss das Wort pantomimisch dargestellt werden, z.B. ‚Christenverfolgung’. Wenn man

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dann das Wort hat, räumt man das Spiel einfach mal eine Weile beiseite und fängt an zu quatschen. Man kommt sonst einfach nie dazu, mal über Christenverfolgung mit den Leuten zu reden. Worum es mir geht ist, die Leute dazu zu motivieren, zu denken und zu reden.

TN: Deutsche Geschichte reduziert sich ja im Bewusstsein oft auf das Dritte Reich. Und ich fi nde gut an diesem Spiel, dass der Rahmen zwei Jahrtausende umfasst.

Schützler: Deutsche Geschichte ist christliche Geschichte, germanische Geschichte, es ist europäische Geschichte. Wenn man sich mit Jugendlichen unterhält, kann man nur darüber erschrecken, was für ein Geschichtsbewusstsein die haben. Das sieht dann so aus: da waren irgendwann mal Germanen und Wikinger, und dann kam schon der Adolf, der die Autobahnen und die Mauer gebaut hat. Ganz oft wird die Nazi-Zeit mit der DDR-Zeit verwechselt. Aber welche reiche Geschichte davor liegt und was man da alles auch für heute rausholen kann, davon wissen sie nichts. Das ist, was mich immer so ärgert, dieses kulturlose, dumpfe Nazitum, das nur hohl irgendwas nachplappert.

Wenn wir jetzt in die jüngste Geschichte kommen mit unserem Spiel, gehört ja die Nazizeit auch dazu. Und weil ich nicht wollte, dass es heißt: Ja, 6 Millionen ermordete Juden, wir sind im Ziel!, habe ich ‚Katastrophen-Karten’ eingebaut. Darauf steht eine kleine Geschichte, und die Katastrophe ist, dass man zum Anfang der Epoche zurück muss. Je weiter man im letzten Geschichtsbereich voran kommt, umso mehr häufen sich die Katastrophen-Karten. Auf einer steht: ‚Die Bürger von Worms müssen im Jahre 1232 auf Befehl des Kaisers ihr Rathaus niederreißen. Du hattest gerade im Keller zu tun und endest unter den Trümmern. Ist das eine Katastrophe oder nicht?’

Eine andere Frage: ‚Was passierte mit jemand, der im Mit-telalter vom Papst gebannt wurde? A) Er wurde aus der Kirchengemeinschaft ausgeschlossen, B) Er wurde mit Brennessel-Stricken gefesselt, C) Er wurde aus Deutsch-land ausgewiesen.’ Keiner weiß es, auch die Jugendlichen wissen so was nicht.

In der Neuzeit haben wir viele Volksbefragungen in das Spiel eingebaut als einen Trick, um die Mitspielenden bei der Stange zu halten, wenn sie langsam müde werden. Durch die aktive Beteiligung bleiben sie länger dabei.

Das Spiel dauert mit 3 Mannschaften mit 2-3 Leuten etwa 45 Minuten. Man kann es verlängern, indem man die Regel verändert und die Rausgeschmissenen ganz auf den Anfang zurückschickt. Oder auch, indem man in einem Buch nachschlägt, wenn sie ausführlichere Antwor-ten haben wollen. Beispiel: ‚Wann wurde die Theodisca, die deutsche Sprache, erstmals nachweislich erwähnt? A) 358, B) 531, C) 786’. Die Antwort ist: 786.

Wir haben im Internet ein interaktives Lexikon erarbeitet unter http://www.allesallesueberdeutschland.de/. Da fi n-det man zu jeder Antwort noch mal eine Erklärung, in der sie ein bisschen mehr darüber erfahren. Das Spiel soll ja dazu anregen, mehr wissen zu wollen. Man kann das Spiel jederzeit komplett verändern, indem man andere Fragen stellt. Etwa Fragen aus der eigenen Umgebung. Wenn ich das mache, ich bin Ost-Berliner, dann wird das natürlich ein bisschen Ost lastig. Ja, das passiert. Ich will nur sagen, die Fragen zum eigenen Umfeld kann man überall machen, aus der Lokalgeschichte, und die mischt man einfach unter die anderen historischen Fragen. Eine Frage lautet: ‚Warum hatte Adolf Hitler keine Kinder?’ Für manche ist das ein Tabubruch. Und das ist gerade gut. Denn dann hat man wieder ein Thema, über das man reden kann. Hitler war nicht zeugungsfähig. Man kann also darüber reden, ob so jemand ein Mann ist, was über-haupt ein Mann ist und so weiter. Wichtig bei dem Spiel ist eigentlich nur, dass man die Gelegenheiten zum Reden ergreift, wenn die Kinder oder Jugendlichen Interesse zei-gen und Fragen haben.

Oder zu der Frage: ‚Wer stand 1683 vor Wien und wurde zurückgeschlagen? Die Türken, die Ungarn oder die Bul-garen?’ Es waren die Türken. Und wenn man dann mit bestimmten Jugendlichen zusammen ist, kommt unwei-gerlich irgendwann die Bemerkung: Und heute sind sie wieder da. Also kann man darüber diskutieren, ob das nicht was anderes ist, wenn man mit einer kriegerischen Armee anmarschiert kommt. Oder ob jemand als Arbeiter kommt.

Dieses Spiel funktioniert sehr gut mit jungen Leuten im Alter ab der 7. Klasse. Wenn sie jünger sind, können die Kinder von deutscher Geschichte nichts wissen, weil das noch kein Lehrstoff für sie war. Mit wem man das Spiel gar nicht machen kann, das sind Geschichts-Studenten. Wir haben das mal im Deutschen Museum für Geschichte

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probiert, das ging nicht. Die beißen sich an tausend Ein-zelheiten fest. Uns geht es aber nicht um exakt darge-stellte Details, sondern darum, die Lust am Forschen und Wissen zu wecken.

Hübner: Mich interessiert, wie das Spiel entwickelt wurde. Wenn mir das jemand anders erzählen würde, würde ich das nicht glauben, dass man das mit Jugendlichen von der Straße spielen kann.

Schützler: Man muss das natürlich inszenieren. Das ist ja immer so. Man kann sich nicht hinstellen und sagen: jetzt machen wir mal ein Spiel. Dann kommt die Antwort: nein, lass uns mal eine Party machen oder grillen. Als Bestandteil einer Geschichts-Werkstatt ist es gut. Die Jugendlichen lassen sich wirklich darauf ein, weil sie gar nicht den Verdacht haben, dass sie damit gebildet wer-den. Sie wollen spielen. Und wenn dann noch so ein alter Vater sitzt, den sie womöglich schlagen können, ist das noch besser. Wie lange haben wir daran gesessen? Von der ersten Idee bis dahin, wie es jetzt ist, waren es etwa 3 Jahre. Die graphischen Sachen hat ein Buchdrucker gemacht.

Scherer: Was hat es denn gekostet, das Spiel herzustellen?

Schützler: Ich weiß nur, es ist relativ teuer, aber ich habe keine Ahnung, was es gekostet hat.

Die Fragen zu entwickeln, ist das eine Problem. Aber viele Jugendliche haben ja auch Schwierigkeiten mit dem Lesen. Gar nicht zu reden von Allgemeinwissen oder von historischem Wissen. Schon das Vorlesen der Fragen kann eine ernsthafte Hürde sein. Wir müssen deswegen darauf achten, niemanden bloß zu stellen. Es darf nicht so sein, dass einer alleine da steht und seine sämtlichen Defi zite zum Vorschein kommen, sondern dass sie im Team sind. Da kann sich immer einer hinter dem anderen verstecken, das ist wichtig. Da können sie interaktiv sein, sich mitei-nander beraten und miteinander sprechen. Wenn mehr als 20 Leute dabei sind, wird es unübersichtlich. Aber zu wenige sollten es nicht sein. Je mehr Leute dabei sind, um so mehr Spaß haben sie. Und wenn sie auch nicht alles lernen, dann haben sie wenigstens viel Spaß bei der Sache und lachen viel. Auch das ist eine Art von Lernen, ein neues Gefühl für die Dinge zu bekommen. Sie bekom-men auf jeden Fall mit, dass es nicht nur eine jüngere

deutsche Geschichte gibt, sondern vieles andere vorher. Man könnte es noch um Biographien erweitern oder um Textzeilen von Gedichten.

Scherer: Das Spiel ist ja auf eine gewisse Weise ein Trick. Denn du kriegst es damit ja hin, dass du mit Jugend-lichen, mit denen du dich in dem üblichen Rahmen von Schlagabtausch eigentlich gar nicht unterhalten willst, ins Gespräch kommst.

Schützler: Ja, und zwar auf ganz vielen Ebenen. Zum Bei-spiel auf der Geschlechterebene. Man kann das Spiel mit Mädchen gegen Jungs spielen. Mädchen wissen ja viel mehr. Oder Mädchen, die mit Jungs in einer Gruppe sind, kriegen plötzlich einen anderen Stellenwert. Oder man stellt fest, dass nicht der am besten spielt, der normaler-weise immer der Stärkste ist. Da wird der entzaubert, der sonst das Alpha-Tier ist. Das Spiel kann auf vielen Ebenen eine Initialzündung bewirken. Ich denke, man kann das Spiel mit einer Gruppe nicht mehr als drei Mal spielen, dafür reichen die Fragen ein-fach nicht. Es sind natürlich auch Fangfragen dabei wie etwa: Warum waren die Grünen und die SPD nicht an den deutschen Bauernkriegen dabei? Mögliche Antworten: Weil die SPD und die Grünen noch nicht existierten; weil der Bauernkrieg von den Nazis ausgerufen wurde; weil die SPD eine Arbeiterpartei und keine Bauernpartei war. Also völlig sinnlose Fragen. Oder Geographie-Fragen: Welche Stadt liegt nicht an der Elbe – Meißen, Magdeburg oder Brandenburg? Oder: Welche Stadt liegt nicht am Meer – Bremerhaven, Friedrichshafen oder Cuxhaven?

TN: Und ist das auf dem Markt? Wenn ja, was kostet es?

Schützler: 30 € incl. Versandkosten. Das Spiel gibt es bei Gangway.

Das Spiel ‚Alles, alles über Deutschland‘

kann bestellt werden bei:Gangway e.V.Schumannstr. 510117 BerlinE-Mail: [email protected]

Workshop │ Schutzimpfung gegen dumpfe Parolen?S

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Nicht für die Schule, sondern für das Leben ...│ Bildung im Stadtteil 73

Radix: Ich würde gerne den theoretischen Hintergrund zu Generationengärten vorstellen: „Unsere Gesellschaft durchlebt zur Zeit eine schwere Krise. Am Rande der Diskussionen um Generationen-gerechtigkeit und sinkende Geburtenzahlen stellt man überrascht fest, dass sich alte und junge Menschen oft nur innerhalb der Familien begegnen. In der Öffentlichkeit bewegen sich die unterschiedlichen Generationen oft nur in getrennten Sphären. Uns kam deshalb die Idee, Orte zu schaffen, an denen das, was auf einem Spielplatz eher beiläufi g und zufällig geschieht, in den Mittelpunkt zu stellen: die Begegnung der Generationen. Es gibt ältere Menschen, die zum Vorlesen in Kindergärten und Schulen gehen; es gibt Kinder, die ältere und alleinstehende Men-schen besuchen, um kleine Dienste für sie zu verrichten. Warum, so fragten wir uns, gibt es keine Gärten, die von Alten und Jungen gemeinsam geführt werden?“Soviel zur Hinführung zum Thema. Unsere Idee ist dabei, dass wir soziale Einrichtungen mit einander verbinden möchten, um einen Generationen-Kontakt entstehen zu lassen. Als Ort dafür kann eine soziale Einrichtung die-nen oder eine Freifl äche, die nicht oder nur unzureichend genutzt ist. Der Ansatz ist, dass man die Vorstellungen und Ansprüche der Beteiligten gemeinsam zusammen-

trägt und daraus ein Konzept entwickelt. Die Idee zu Generationengärten ist in dem Planungsbüro ‚planwerk-statt’ entstanden, das Frau Bastian und Frau Haas-Wohl-farth zusammen führen. Frau Bastian ist Dipl.-Ing. für Gartenbau und Sozialtherapeutin. Frau Haas-Wohlfarth ist Landschaftsarchitektin und Gartenbau-Ingenieurin. Das Team wurde vervollständigt durch Jens Clausen als Moderator und Spezialist für generationenübergreifende Beteiligungsverfahren. Und ich, Kristin Radix, bin Land-schaftsarchitektin und Referentin für Fundraising und Sponsoring. Wir haben uns so zusammengefunden, dass wir die verschiedenen Bereiche für das Umsetzen eines Generationengartens gut abdecken können.

Wir arbeiten seit zwei Jahren an diesem Projekt.Die erste Phase war die Konzept-Entwicklung, die Zusam-menstellung des Teams, die Netzwerk-Bildung, die Öffent-lichkeitsarbeit, die Mittelakquise und die Auswertung unserer Aktivitäten, um unserem Ziel, einem ersten Gene-rationengarten näher zu kommen. Die zweite Phase war dann die Umsetzung eines ersten Generationengartens in Berlin-Kreuzberg. Wir haben auf dem Gelände der Senioren-Freizeitstätte zusammen mit zwei benachbarten Kitas einen Garten entstehen lassen. Die einjährige Förderung für diesen Generationengarten läuft jetzt aus. Ein Folgeprojekt ist geplant.Und die dritte Phase ist jetzt in Vorbereitung und leitet sich aus den Erkenntnissen und Erfahrungen ab, die wir aus den ersten beiden Phasen gewonnen haben. Wir planen jetzt in Zusammenarbeit mit dem VskA eine Koordinati-onsstelle für Generationengärten. Sie soll Einrichtungen, die einen Garten initiieren wollen, beraten und bei der Umsetzung unterstützen. Für die Koordinierungsstelle ist zunächst eine Laufzeit von drei Jahren vorgesehen.

Bastian: Unser erstes Projekt wurde vom Quartiersma-nagement Wrangelkiez für ein Jahr gefördert. Wir haben gemeinsam mit zwei Kindertagesstätten in der Nachbar-schaft einer Seniorenfreizeitstätte ein Programm entwi-ckelt, nach dem wir uns einmal in der Woche zu einer Gartenstunde treffen. Leider konnten wir wegen der ver-späteten Freigabe der Mittel nicht im März, sondern erst im Mai mit der Gartenarbeit beginnen; für die Gartensai-son etwas zu spät. Wir arbeiteten mit einer Gruppe von etwa 6 Senioren und in den beiden Kindergruppen sind ebenfalls 6 bis 7 Kinder. Die Beteiligten waren gleich von Anfang an sehr gespannt auf das Projekt und hatten auch

Workshop: „Learning by Doing“ im Generationenverbund

Die Wiederentdeckung und / oder Rekonstruktion natürlicher Lernumgebungen

Von Kinderbauernhöfen und Generationengärten

Inputs: Katrin Bastian, (Generationengärten, planwerkstatt Berlin)Kristin Radix, (Generationengärten)Andreas Knoebel, (Kinderbauernhof NUSZ ufafabrik)

Moderation: Jens Clausen

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Vorstellungen, wie es gehen könnte. Die Motivation war bei allen groß, wir mussten auch gar nicht so sehr Vorschläge lancieren, sondern es passierte vieles von selber. In der Kennenlernphase haben sich Senioren und Kinder gegenseitig in ihren Einrichtungen besucht. Zum Auftakt übergaben wir den drei Projektbeteiligten für die erste Aussaat auf dem Fensterbrett einen Sack Erde, Sonnen-blumensamen und Anzuchttöpfe. Mit einem gemein-samen Workshop wurde die Gartensaison eröffnet und die bereits gekeimten Sonnenblumen in den Garten gepfl anzt.Da unsere Gartenstunden regelmäßig stattfanden, freuten sich die Kinder schon darauf, in die Seniorenfreizeitstätte in den Garten zu gehen. Wir hatten verschiedene Rituale in der Gartenstunde: zu Beginn begaben wir uns auf einen Gartenrundgang und besprachen, was wir in den letzten Stunden gemacht hatten, was gewachsen oder gereift war. Erst dann begannen wir mit der eigentlichen Gar-tentätigkeit des Tages. Am Ende der Stunde wurde aus dem Hochbeet, das wir selbst gebaut hatten, die Pfeffer-minzblätter geerntet und auf der Terrasse zusammen Tee getrunken. Zur Begrüßung und zum Abschied haben sich alle die Hand gegeben, damit hatte die Begegnung auch einen schönen Rahmen. Es gab auch verschiedene Höhepunkte: Wir haben ein Sommerfest gefeiert, für dessen kulinarische Genüsse vorher im Garten geerntet wurde. Wir haben einen Aus-fl ug in die Marzahner Gärten unternommen, um auf neue Ideen für unseren eigenen Garten zu stoßen. Wir feierten ein Erntefest und im Dezember beschlossen wir unser Jahr mit gemeinsamem Weihnachtssingen.Das Projekt war nicht nur für die TN interessant, sondern auch für uns, das Generationen übergreifende beobach-ten und verstehen zu können: wie sich die Senioren und Kinder einander angenähert haben; wie es aber auch immer wieder Situationen gab, wo sie sich voneinander distanzierten. Es musste nicht immer zwanghaft alles zusammen gemacht werden, und trotzdem haben sie den Faden zueinander gehalten. Und was auch sehr beeindruckend war: Das Projekt hatte einen Mitnahmeeffekt, der weit über die Gartenarbeit hinausging.Der Keramikkurs hat Bilder für den Schmuck der trost-losen Mauer getöpfert. Im Computerkurs wurde eine tolle Internetpräsentation zum Generationengarten ins Netz gestellt. Es wurde viel fotografi ert und in der Freizeitstätte und in Kindergärten ausgestellt.

Besucher der Freizeitstätte brachten Pfl anzen aus ihrem Garten oder vom Balkon für den Generationengarten mit.Die Tische der Seniorenfreizeit wurden mit Blumen aus dem Garten dekoriert.Senioren, die nicht an unserem Projekt mitarbeiteten, brachten sich verbal ein und erfreuten sich an den Verän-derungen im Garten.Außerhalb traf man sich in der Mittagspause, beim Ein-kauf beiläufi g auf der Straße zum kurzen Plausch. Das Resümee der Gartensaison 2007 in der Falkenstein-straße ist, dass alle Beteiligten wollen, dass das Projekt unbedingt weitergeht. Wir werden versuchen, noch einmal einen Fördertopf zu fi nden. Das Thema Pfl anzenwelt soll schon bleiben, aber vielleicht können wir auch einen Teil der Tierwelt einbeziehen und den ökologischen Zusam-menhang hervorheben, den dann die Generationen erfor-schen können.

TN: Ich habe verstanden, dass ihr euch einmal pro Woche eine Stunde getroffen habt. Da kamen die Senioren, die Kinder und ihr zusammen, oder?

Bastian: Ja. Es sind zwei Kindergruppen aus zwei verschie-denen Kindergärten. Die Kinder einer Gruppe sind 5 bis 6 Jahre alt; die Kinder der anderen Gruppe sind kleiner, erst drei bis vier Jahre. Mit den Kleineren ist es schwieriger, da hier eine größere Einzelbetreuung erforderlich ist.

TN: Ist der Garten für die Öffentlichkeit zugänglich?

Bastian: Der Garten hat einen halböffentlichen Charak-ter, er ist während der Öffnungszeiten der Seniorenfrei-zeitstätte geöffnet und über Nacht geschlossen. Trotzdem gab es einige mutwillige Zerstörungen.Es wurden Pfl anzschilder weggenommen, Tomatenstan-gen abgebrochen, Pfl anzen rausgerissen und Keramiken zerbrochen. Wir haben ein Plakat aufgehängt mit der Bitte, den Gene-rationengarten wachsen zu lassen. Zu einer Gartenstunde hatten wir den Kontaktbereichsbeamten eingeladen, der mit den Kindern beraten hat, was man gegen solch sinn-lose Zerstörung tun kann.Wichtig in der Auseinandersetzung mit Zerstörung war auch die Verankerung des kinderfreundlichen Haus- und Gartenhelfers mit Migrationshintergrund. Er hat in seiner Umgebung darauf hingewiesen, dass der Garten geschützt sein soll. In den Kindergärten wurde der Generationengar-

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Nicht für die Schule, sondern für das Leben ...│ Bildung im Stadtteil 75

ten den Familien vorgestellt. Durch einen immer höheren Bekanntheitsgrad entstand auch eine höhere Kontrolle und Verantwortlichkeit.

TN: Ich könnte mir gut vorstellen, wenn man den Garten so sieht, dass sich mancher denkt: das muss weitergehen.

Bastian: Das Projekt in der Falckensteinstraße soll auch in den nächsten Jahren weiter geführt werden, zumal alle beteiligten große Freude am Gärtnern haben.

Radix: Mit unserer neuen Initiative, der Koordinierungs-stelle, wollen wir Informationen geben, was zum Aufbau von Generationengärten notwendig ist. Fragen beantwor-ten, wie man Partner für einen Garten gewinnen kann, woher man die nötigen Mittel bekommt. Wir wollen dazu beitragen, die Chancen, die in so einem Gartenprojekt lie-gen, bewusst zu machen. Es soll Initiativen anschieben, koordinieren und Netzwerke bilden.

Bastian: So ein Generationengarten kann auch wie ein Kurs sein. Das Projekt bedurfte während des Verlaufes einer konstanten Initiativkraft.

TN: Ihr seid ja drei Leute, und Ihr habt den Beteiligten bei-gebracht, wie die Anlage eines Gartens funktioniert. Und sie stellen irgendwann einen Landschaftsgärtner an, weil sie wissen, wie wertvoll so ein Garten ist.

Radix: Sicher kann ein Gärtner angestellt werden, die Erfahrung ist eher, wie vielfältig das Material ist, aus dem man da schöpfen kann, wie viele Möglichkeiten ein Gar-ten bietet.

TN: Und die andere Frage ist, was aus einem gemein-samen Gartenprojekt alles erwachsen kann.

TN: Für die Initiative und die Umsetzung eines Garten-projektes muss auch fachliches Know-how da sein, eine Anleitung, auch dazu, welche Pfl anzen günstig sind....Aber über welche Fördersummen spricht man, um z.B. ein Projekt wie das in der Falckensteinstraße zu initiie-ren, in welcher Bandbreite bewegen wir uns da? Und gibt es einen Automatismus bei der Weiterführung so eines Gartens oder stellt sich die Frage nach dem Geld immer wieder?

Bastian: Der Antrag für die Förderung betrug 10.000,-€ für die Laufzeit eines Jahres. Das Geld wurde benutzt für die Neuanlage des Gartens, die Gartenstunden, Höhepunkte, wie Workshop, Feste und einen Ausfl ug. Bewilligt wurden 6.500,-€. Der Garten ist relativ klein, da fi elen nicht so hohe Materialkosten an und wir haben nicht wenige Stun-den im Ehrenamt geleistet. Das war der Rahmen.

Knoebel: Vielleicht kann ich an dieser Stelle mit der Dar-stellung des Kinderbauernhofs einsteigen, der inzwischen etwa 12 Jahre alt ist. Er wird generationsübergreifend geführt: eine Großmutter kommt mit einem Kleinkind, und man kommt ins Gespräch. Früher war die Personalsi-tuation war eigentlich so, dass man sich die Zeit nehmen konnte, die notwendig war. Der Tierbereich lief so neben-bei. Es kam mal ein Händler mit Futter. Trockenes Obst oder Brot kam mehr aus dem Seniorenbereich. Das kam so aus der Nachbarschaft. Auch die Versorgung der Tiere lief weitgehend so. Es ging bei einzelnen Personen sogar noch weiter, dass jemand in die Einkaufsläden ging und kistenweise Futter mitbrachte, aussortierte Ware. Das hat eigentlich immer ganz gut geklappt. All die anderen, die immer wieder Interesse gezeigt haben – ach, schön, dass Ihr so was macht - , wer nimmt sich da schon die Zeit, da immer zuzuhören? 1996 haben wir den Antrag auf Finanzierung eines gene-rationsübergreifenden Projektes gestellt, weil wir die Arbeit vom Personal her nicht mehr schaffen konnten. Und wir haben tatsächlich eine Projekt-Finanzierung für zwei Jahre bekommen. So konnten wir einen Sozialpädagogen anstellen. Und dann erhielt das Ganze auf einmal wahnsinnige Dimensionen. Wir hatten Tempelhofer Senioren in verschiedene Geschichten ein-gebunden, was Senioren eben so interessiert. Ihr Sicherheitsbedürf-nis, also Polizei, alles Mögliche. Auf jeden Fall waren es dann schließlich 120 Interessierte. Die zahlreichen Angebote erwiesen sich dann als sehr kostspielig. Nach zwei Jahren ist diese Initiative zusammengebrochen, weil es keine Möglichkeit mehr gab, das alles zu fi nanzieren. Es gab dann eine Selbsthilfegruppe mit 120 Menschen. Es hatte sich aber vorher schon rauskristallisiert, dass

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sich etliche von ihnen für den Kinderbauernhof interes-sierten. In der Selbsthilfegruppe waren dann 10 Senio-rinnen, alle über 60, mittlerweile über 70 Jahre. Die sind ganz ausdauernd dabei geblieben. Wir haben ab und zu Koordinationstreffen mit ihnen gemacht, gefragt, was sie machen wollten. Zur Weihnachtszeit war das etwa Advents-Backen und Basteln. Sie betreuen auch immer ein Spiel bei den Kinderfesten, machen Öffentlichkeits-arbeit, um mit anderen abgestimmte Termine bekannt zu machen. Es besteht ein kontinuierliches Interesse am Kinderbauernhof und an den Kindern. Wir geben bei den wöchentlichen Treffen manchmal Anregungen wie zum Beispiel, dass sie ein neues Kaninchenhaus mit den Kindern basteln könnten. Es sind ganz nette Verbindungen, die da entstanden sind. Weil es einfach zahlreiche Erwachsene gibt, die die Kinder von Anfang an miterleben. Es kommen immer mal wieder neue Seni-oren dazu. Und das ist das Schöne, dass es eben aktive ältere Menschen gibt, die es immer wieder schaffen, die neu Hinzugekommenen mit einzubinden. Für Ältere sind Kinder ja häufi g zu laut, zu schnell. Aber das passt zusammen, die Akzeptanz ist da. Senioren wissen häufi g recht gut, wo ihre Grenzen liegen. Beispielsweise sagt dann jemand: Ich kann Rezepte mitbringen, aber ich kann das mit den Kindern dann nicht kochen, weil ich das Gequirle gerade nicht mehr ertrage. Es hat in die-sem familiären Gefüge jeder für sich den Weg gefunden, wie das Zusammensein möglich ist. Die Tiere sind das, was die Kinder mit den Senioren verbindet. Wir können wegen der Hühner, die frei rumlaufen, nicht den Gemü-segarten mit einbeziehen. Aber wir haben den großen Obstgarten, auf die Bäume kommen die Hühner nicht mehr rauf, aber die Äpfel essen sie schon ganz gerne. Das ist eine tolle Sache.

Clausen: Ich würde gerne mehr wissen vom Aufeinander-treffen der Generationen. Was wird da miteinander oder voneinander gelernt?

Bastian: Hier gibt es verschiedene Beobachtungen zu beschreiben:Beim gemeinsamen Arbeiten waren die Senioren anfangs etwas zurückhaltend oder sie haben allein die Gartenar-beit betrieben. Erst nach Aufforderung arbeiteten sie mit den Kindern zusammen. Das lockerte sich im Laufe der Zeit, trotzdem war ab und zu ein Anstoß erforderlich, wie-der mit den Kindern zu arbeiten.

Es tat den Senioren auch sichtlich gut, ihr Wissen an die Kinder weiter zu geben.Es war häufi g so, dass sich die Kinder und Senioren in einer Tätigkeit zusammenfanden, dann aber auch wieder voneinander entfernten. Es gab viele Zaungäste, die stehen blieben, wenn sie in die Freizeitstätte zu einem Kurs kamen und wir bei der Arbeit waren. In unserem Garten wurden sowohl Nutzpfl anzen als auch Blumen gesät und gepfl anzt.Es war uns wichtig, dass die Kinder den Lebenszyklus der Pfl anzen vom Samenkorn bis zur blühenden Sonnenblume und zur Samenernte mitverfolgen konnten. Stadtkinder, die keine Gärten kennen, wissen nicht wie die Kartoffeln, die sie ja häufi g essen, wachsen. Sie wissen nicht, dass aus einer Knolle, eine krautige Pfl anze wächst, die dafür sorgt, dass unter der Erde bis zum Herbst neue Knollen wachsen. Wir habe viele Kräuter gepfl anzt, um auch die Geschmacks- und Geruchsempfi ndungen zu wecken.Zu Beginn unserer Gartenstunden war auffällig, dass die Kinder die Erde nicht selbstverständlich anfassten. Sie mussten erst dazu aufgefordert werden. Zum Ende des Gartenjahres hatten die Kinder keine Berührungsängste mit der Erde mehr. Allerdings waren Käfer und Regen-würmer im Boden oder kleine Fliegen im Tee immer noch nicht beliebt.Unser regelmäßiger Gartenrundgang und die Pfl anzenbe-stimmung erweiterte neben dem Wissen auch den Wort-schatz der Kinder und der Teilnehmer/innen, die nicht deutscher Herkunft waren.

TN: Aber steht denn eigentlich das Lernen im Vorder-grund? Am Anfang sprachst du mehr von Begegnung, das Lernen passiert dann mit der Zeit sowieso. Es geht ja bei eurem Projekt eher darum, dass neue Kontaktmöglich-keiten im praktischen Tun geschaffen werden.

Clausen: Wenn man nun Tiere als Verbindungselement hat, was passiert da?

Knoebel: Die Älteren haben sehr viel zu erzählen. Und die Kinder haben durchaus auch manchmal ein Ohr, da zuzuhören. Wenn jemand z.B. einen Unfall hatte oder so. Oder jemand ein Bedürfnis hat, seine Zuneigung raus-zulassen. Und dann funktioniert das ganz sublim, wie man das vielleicht von früher kennt im Haushalt, und die Kinder sehen dann: Ja, das ist unsere Oma. Es gibt so

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kleine Geschichten. Beispielsweise eine Tanzgruppe hat eine Aufführung, und sie möchten gerne ein einheitliches Kostüm haben. Dann ist es ganz klar, dass die Senioren sagen: das machen wir euch. Dann kommt vielleicht von uns die Anregung: Könnt ihr das hier mit den Kindern zusammen machen? Dann wollen die Kinder vielleicht auch mal nähen, und die Naht ist vielleicht etwas schief geworden. Die dafür erforderliche Geduld bringen manche Seniorinnen nicht mehr so auf, deshalb müssen wir diese Prozesse ein bisschen begleiten. In diesen sich wieder-holenden Ereignissen steckt ein immer wiederkehrendes Geben und Nehmen. Es gibt eine gegenseitige Anteil-nahme. Wenn bei uns Tiere sterben, gibt das Anlass zu Gesprächen. Das sind wichtige verbindende Elemente.

TN: Ihr Kinderbauernhof hat aber nichts mit stationärer Kinder- und Jugendhilfe zu tun, oder?

Knoebel: Doch, das ist eine Kinder-Freizeiteinrichtung. Der Kern ist das Alter zwischen 6 und 14 Jahren. Und sie ist erweitert für Familien mit Kleinkindern und sie ist generationenübergreifend. Wir versuchen also, in unserer Stadtteilarbeit im Nachbarschaftszentrum alle mit einzu-binden.

TN: Was Sie erzählen, klingt so organisch gewachsen, es hat sich hergestellt. Während das Gartenprojekt durch Initiative von außen entstanden ist, um die Generationen zusammen zu führen. Diese beiden Zugänge sind ja sehr unterschiedlich. Während beim Kinderbauernhof die Inte-ressen aus der Nachbarschaft nur aufgegriffen und entwi-ckelt werden mussten, ging es beim Generationengarten eher darum, einen geeigneten Standort mit Einrichtungen für Junge und Alte und einer Freifl äche zu fi nden. In der Einrichtung, aus der ich komme, wäre wahrscheinlich eher so ein Input von außen das Richtige.

Radix: Wir haben allerdings auch darauf gesetzt, dass unser Einsatz von außen nur am Anfang notwendig ist, die Idee aber mit der Zeit ein Selbstläufer wird. Im End-effekt soll es auf das Gleiche hinauslaufen, sodass man im gegebenen Stadtraum das größtmögliche Potenzial aufbringen kann. Es sollte also nicht aufgesetzt sein, son-dern die Beteiligten sollten für sich klären, was sie bei-tragen können und wollen. Auch wenn die Generationen-begegnung von außen initiiert wurde, hat das Projekt nie ‘aufgesetzt’ gewirkt.

TN: Wie weit verstehen die Senioren das schon als ihren Garten? Können sich Anwohner mit einer Fläche identifi zie-ren, zu der sie eigentlich keinen Zugang haben? Der Garten liegt ja auf dem Gelände der Senioren-Freizeitstätte.

Radix: Man merkt deutlich, dass sich die Menschen mit diesem Garten identifi zieren. Der schon vorhin beschrie-bene Mitnahmeeffet und auch den Garten mit den Kin-dern gemeinsam im nächsten Jahr unbedingt weiter füh-ren zu wollen, sind beste Zeichen für die Akzeptanz des Gartens.

TN:. Die Senioren, die da tätig sind, machen die Arbeit ja ehrenamtlich. Ich kenne es von ehrenamtlicher Arbeit so, dass man Ansprache und Zuspruch haben will und auch in gewissem Maße mit bestimmen will. Kannst du etwas dazu sagen, wie bei euch die Mitbestimmungsregeln sind, wie ihr das aushandelt und welches die größten Konfl ikte sind?

Knoebel: Die Senioren haben immer wieder ganz viele Ideen, was sie alles machen möchten. Das muss dauernd ausgehandelt werden, was ist möglich und was ist nicht möglich und wo wird der Spielraum der Kinder beschnit-ten. So z.B. einen Garten anlegen, das ist schon auch ein Thema bei uns. Wir haben eine Gruppe ‚Pfl anzenbereich’, das ist also nicht nur der Nutzgarten. Und die Ufa-Fabrik hat viele Gründächer, wo Senioren nur schwer oder gar nicht raufkommen. Und deswegen haben wir den ganzen Pfl anzenbereich sein lassen.Wir haben eigentlich keine Konfl ikte. Alle sind sehr tole-rant mit einander. Jeder ältere Mensch hat sich vorher schon geprüft, ob der ständige Umgang mit den Kindern überhaupt etwas für ihn/sie ist. Das meiste spielt sich durch die Tiere draußen ab. Wir haben nur einen ganz kleinen Raum, wenn man drin mal was machen will. Aber das Leben fi ndet draußen statt. Ich weiß nicht, ob das vielleicht auch schon konfl iktbegrenzend wirkt. Es ist klar, die ältere Generation ist anders erzogen worden, ist strenger, und mit unserer Laisser-faire-Haltung haben die schon auch ihre Schwierigkeiten. Aber darüber wird dann diskutiert, sie fragen uns: warum macht Ihr das nicht so? Und wir erklären das. Und sie akzeptieren, dass wir es anders machen. Das ist so eine schöne Ver-netzungsrunde.Wir haben mal in einer gemeinsamen Aufführung einen schönen Sketch gemacht. Zehn Minuten in einem rie-

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sigen Sketch mit moderner Rap-Musik, alle haben mit-gemacht und sich damit identifi ziert. Und alle Senioren sagen auch: ‚Meine Kinder’.

TN: Mir ist aufgefallen, dass beide Projekte einer Einrich-tung zugeordnet sind. Das fi nde ich interessant, denn uns ist eine Blechhütte zugesprochen worden. Die vorgestell-ten Projekte haben nicht dazu geführt, dass die jeweilige Einrichtung erweitert wird, sondern es entsteht ja wirk-lich etwas Neues. Es gibt genügend Freifl ächen, es gibt zugleich immer weniger öffentliches Begegnen. Die Frage ist, wie man Leute aus der Umgebung anspricht und inte-

ressiert. Aber durch die praktische Arbeit mit der Natur und mit Tieren gibt es ja genügend Zugänge, die nicht auf der päda-gogischen Ebene ange-siedelt sind. Die Frage ist ja oft einfach nur: hier haben wir ein Stück Land – was machen wir damit? Natürlich haben

die Generationen unterschiedliche Interessen, die aber in ein praktisches Projekt einfl ießen können. Bisher haben wir nur von zwei Generationen gesprochen, über Kinder und Senioren. Aber allein die Senioren kann man in etli-che Generationen aufteilen, und es gibt ja auch noch die Eltern dazwischen. Das fi nde ich sehr interessant, so ein Projekt vielleicht auch mal losgelöst von einer Einrichtung zu betrachten.

Jonas: Das alles bringt natürlich auch einen großen Orga-nisationsaufwand mit sich. Wir haben bei uns auch ein großes Grundstück, das man für einen gemeinsamen Garten nutzen könnte. Das Grundstück liegt ein ganzes Stück vom Haus entfernt, und da müssen die Kinder und die Senioren ja auch erst mal hinkommen. Dafür muss man Fahrzeuge, vielleicht Rollstühle organisieren. Dann braucht man eine Hütte, es gibt also auch einen fi nanzi-ellen Aspekt.

TN: Ich meine, die Lösung dieser Probleme, die kommt dann schon. Man muss ja nicht gleich einen Bus orga-nisieren. Es gibt ja Fahrdienste oder Ähnliches. Aber zunächst geht es darum, so ein Projekt anzufangen. Und erst dann stellt sich die Frage: wie können wir auch

diejenigen einbeziehen, die nicht mehr Fahrrad fahren? Wichtig ist, dass das Thema vorgegeben ist: da gibt es eine Grünfl äche, was machen wir daraus. Diese Aufgabe muss ja nicht erst von uns erfunden werden, sondern es gibt sie bereits. Die zweite Aufgabe ergibt sich aus den unterschiedlichen Interessen, also die Frage, wie man die Begegnung der Generationen so steuern kann, dass sie auch wirklich miteinander zu tun haben. Da ist eine öffentlich nutzbare Fläche, auf der Begegnung stattfi nden kann. Es kann ja nicht sein, dass wir alles in unsere Häu-ser reinziehen. Aus meiner Sicht muss so ein Projekt raus aus einer Einrichtung.Auch wenn die Anbindung an eine Einrichtung natürlich Vorteile hat – man nutzt die Räume, den Publikumsver-kehr und ähnliches – sehe ich doch die Gefahr, dass man auf die Art ein künstliches Projekt startet. Und man muss unheimlich ackern, um es mit echtem Leben zu erfüllen.

Clausen: Wenn eine Freifl äche eine Anbindung an eine Einrichtung hat, dann kommt es nur auf die Dimension der Entfernung an. Z.B drei Kilometer sind überbrück-bar. Und Kinder machen ganz gerne Wege, die sind für sie bereits der Beginn des Abenteuers. Man muss sich einfach nicht unter Zeitdruck setzen, sondern davon aus-gehen, dass alle wichtigen Dinge mit der Zeit entstehen. Wenn wir einen Baum pfl anzen, dann werden wir die eigentliche Größe dieses Baumes ja vielleicht gar nicht mehr erleben. Die Sache, die ich im Moment mitbekomme, läuft in einer Kinder-Freizeiteinrichtung, die versucht, ihr Projekt nach außen zu transportieren.

TN: Ich habe in Lichtenberg, das ist ein sehr verdichteter Stadtteil in Berlin, einen sogenannten Mietergarten. Der hat so zwischen 500 und 600 Quadratmeter. Daneben ist ein kleiner ungenutzter Garten. Und der Besitzer hat immer auf diese Brache geguckt, die da so ungenutzt lag. Aus dieser Brache wurde dadurch ein Mietergarten, dass Leute aus der Nachbarschaft fragten, ob sie auf der Bra-che mal in ganz kleinem Rahmen familiär feiern könnten, sie würden das gerne auf der Brache tun. So ging das los. Inzwischen ist die ehemalige Brache sehr gefragt. Es gibt zu dem Grundstück einen Schlüssel, und man muss einen richtigen Nutzungsplan machen, wer wann seinen Grill aufstellen kann. Jugendliche wollen sich dort treffen, es soll auch möglich sein, dass sich unterschiedliche Men-schen begegnen können und nicht nur einzelne Familien

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dort feiern. Inzwischen hat der Kleingartenverein, der ein Stück weiter weg ist, die Pfl anzen gesponsert, Kitas sind dabei, die Schulen der Umgebung. Es ist ganz erstaunlich, was sich dort in relativ kurzer Zeit entwickelt hat zwischen Alt, Jugend und Jung. Manchmal möchten Leute rein, die nicht auf der Anmeldungsliste stehen, dann einigt man sich irgendwie. Natürlich gab es auch Probleme mit Alko-hol. Aber die Nutzer haben sich dazu selber Regeln gegeben, die dort in ihrem Garten gelten sollen. Also, der Garten wird von einer Initiative ‚Stadtbild’ betrieben. Ich habe hiermit zeigen wollen, dass dies eine Möglichkeit ist, eine Brache zu beleben. Meine Frage an die hier dargestellten Projekte: wie sind die Eltern der Kinder, also die mittlere Generation, eingebunden?

Knoebel: Die sind schon eingebunden. Es gibt zwei Sor-ten von Eltern: die Einen achten sehr auf ihre Kinder, behüten sie und wollen wissen, wo sie sind und was sie da erleben. Und es gibt die Anderen, deren Kinder noch viel längere Öffnungszeiten brauchen, als wir sie anbie-ten können, weil sie es zu Hause nicht aushalten. Wir versuchen, die daraus entstehenden Probleme immer ein bisschen in der Waage zu halten. Die Senioren lei-sten dazu einen ordentlichen Beitrag, sie fangen viele Mängel auf. Aber gut betuchte Eltern, die das womöglich auch fi nanziell unterstützen könnten, sind leider sehr rar. Wir haben vier Ponys, und alle Kinder, die zu uns kommen, wollen reiten. Der Reitunterricht ist kostenlos. Wir sind aber kein Reitstall. Wenn also ein Kind reiten will, dann muss es zum Bauernhof kommen und da mit-arbeiten. Und es muss warten, bis Zeit und Platz ist. Das kann mal eine Woche dauern, es kann aber auch ein halbes Jahr dauern, bis es dran ist. Dann sind die Eltern manchmal ein bisschen pikiert, wenn ich sage, wir sind kein Reitstall. Ansonsten ist von unserer Seite die Unter-stützung durch Eltern vor allem bei den gemeinsamen Festen gefragt. Eltern vernetzen sich vorher schon, und die Begegnung fi ndet dann vor allem bei den Festen statt. Wir laden die Eltern der Kinder nicht gesondert ein, um die Kinder mit den schwierigen Elternhäusern nicht unnötig zu bedrücken. Das ist ein starker Konfl ikt. Die Kinder wollen immer so gerne gemeinsam verreisen. Und was wir machen, sind z.B. Übernachtungen bei uns im Bauernhof, wofür es tatsächlich eine hundertprozen-tige Finanzierung gibt. Für viele Kinder ist es aber nicht möglich, 20,-€ für eine kurze Fahrt nach außerhalb von

zu Hause mitzubringen. Senioren haben sich da mal ein-geschaltet, aber das hat nicht wirklich funktioniert. Und wir können das fi nanziell nicht leisten.

TN: Ich will aber auch noch mal unsere Probleme anspre-chen. Die kleinteiligen Dinge wie das Versorgen der Tiere, die funktionieren, das ist überschaubar. Es wird aber zunehmend schwierig, dass wir wirklich schöne Freifl ä-chen haben. Weil das zunehmend Geld kostet. Hundefut-ter oder so was zu besorgen, das geht. Aber bei 6 Hektar Fläche sieht das schon anders aus. Und da gibt es auch nicht nur eine Person, die das schaffen kann. Die Kollegen können sich auch nicht im notwendigen Maß darum küm-mern. Das ist eben das Problem der Einzelträgerschaft, etwas so zu organisieren. Wie bekommt man das so orga-nisiert ,dass es auch auf längere Sicht funktioniert? Ich glaube nicht, dass es letztendlich eine Frage des Geldes ist, sondern eine Frage der Organisation. Es ist auch ein gesellschaftliches Problem, denn die Gestaltung von Freifl ächen wurde systematisch in den letzten 20 Jahren abgebaut. Alle wohnungsnahen Freifl ächen, die in kleine Parzellen aufgestückelt wurden, funktionieren wunder-bar. Aber alles was größer ist, wo man versucht, mehrere Generationen oder verschiedene Kulturen zusammen zu bringen, da wird es schon richtig schwer. Man müsste sol-che Gartenprojekte an Nachbarschaftshäuser anbinden – und das auch entsprechend fördern. In kleinen pädago-gischen Einheiten wird so was nicht funktionieren. Alles, was frei ist, ist sowieso nichts wert, das ist die Einstellung. Man ist nicht bereit, etwas dafür zu tun, es sei denn, man kann einen Zaun ziehen. Und das ist der Punkt, an dem wir sehr viel politischer werden müssen in unseren Forde-rungen. Wir haben in Neukölln große Schwierigkeiten, im Hin und Her zwischen Bezirk, Eigentümerforderungen und Ansprüchen der Nachbarschaft zu vermitteln, um über-haupt ein Konzept für die Nutzung hinzukriegen. Selbst die Schulen haben diese Einstellung: macht mal, aber ohne uns. Wir können es dann nutzen, sagen sie, aber Geld können wir nicht dafür geben. Der Kampf zwischen verschiedenen Nutzungsinteressen! Man bekommt sofort Flächen frei für Hundebesitzer. Aber für alles andere, da gibt es Schwierigkeiten.

TN: Man kann meiner Ansicht nach eine große Fläche nicht einfach an ein Nachbarschaftshaus angliedern. Es bedarf einer übergeordneten Organisation, die die unterschied-lichen Elemente eines solchen Projektes zusammenführt.

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TN: Ich fi nde es interessant, wie viele unterschiedliche Vorgänge es in einem solchen Projekt gibt. Wann wächst da was? Was muss man tun, damit da was wächst? Es gibt einen vorgegebenen Rhythmus von dem, was man tun muss, man kann ja nicht im September zum Beispiel die Tomaten pfl anzen. Vor allem aber ist es nötig, zu schauen, was ist eigentlich erforderlich, um so einen Gar-ten zu betreiben. Und die zweite Frage ist, wenn man den Garten unter dem Generationen-Thema sieht: wo sind die Punkte, an denen man die Generationen zusammenbrin-gen kann? Das wären vielleicht bestimmte Freizeitaktivi-täten wie Spiele, Grillen. Und auch für Zwei- bis Vierjährige muss man sich überlegen, was für sie interessant sein kann. Und an welchen Stellen kann man gemeinsames Tun initiieren? Du beschreibst das ja sehr schön für den Kinderbauernhof, dass die Senioren die Kinder und auch eure Anliegen für die Kinder unterstützen. Aber dabei ver-folgen sie ja nicht unbedingt ihre eigenen Interessen, son-dern eure und die der Kinder.

Knoebel: Das Verbindende hierbei ist, glaube ich, zwi-schen Kindern und Senioren ihr Motiv, warum sie zu uns kommen. Die Einen wie die Anderen sagen: ich lang-weile mich zu Hause, ich will raus und was Sinnvolles tun. Bei uns empfi nden sie: ich bin in der Gesellschaft, ich habe eine Funktion, ich habe eine Aufgabe. Es gibt eben die engagierten Menschen, und es gibt die Konsu-menten. Die Konsumenten muss man immer ein biss-chen anschieben und bewegen. Wenn aber ein enga-gierter Mensch in der Gruppe ist, kann ich aus meiner aktiven Rolle raus, ich kann einen Prozess an die Gruppe übergeben und sagen: versucht es mal. Und dann klappt es auch wunderbar. Gut, ich überblicke jetzt einen lan-gen Zeitraum, es gibt das Generationenprojekt jetzt 12 Jahre. Und wir stehen heute ziemlich gut da. Ich würde so ein Projekt auch jederzeit wieder machen. Ich will immer wieder neue Leute mit ins Boot holen, und das kostet unheimlich viel Zeit und Nerven. Und manchmal hätte ich es auch ganz gerne ein bisschen ruhiger. Die Engagierten in einer Gruppe, die fi ndet man auch immer wieder. Aber man muss auch grundlegend akzeptieren, dass die Menschen mit sehr unterschiedlichen Interes-sen kommen. Manche wollen sich ja gar nicht einbin-den. Sie wollen das Grünzeug für die Tiere holen und dabei mit den Verkäuferinnen plaudern. Und auch wenn sie sich aus dem Betrieb irgendwie raushalten, sind sie doch immer wieder da, kommen mit den Kindern und

mit uns ins Gespräch. Und sie sind bei den Kindern und bei uns eigentlich ziemlich beliebt, weil sie sich in die Tierhaltung einmischen, die Kinder ermuntern, das Fut-terholen auch selber zu machen. Und dann ist es eben möglich, dass der elektrische Rollstuhl bei uns aufl ädt. Und der Mann macht es wirklich gerne. Ich bin immer wieder begeistert, wie das funktioniert. Und auch jetzt die große Bar – es ist klar, dass die Geld kostet. Aber wenn sie funktioniert, kann es ja auch sein, dass sie wieder Geld für den Stadtteil bringt. In unserer Gegend sind Wohnungen sehr beliebt, wirklich sehr beliebt. Alle wollen da einziehen, auch wenn die Mieten in den letzten Jahren sehr geklettert sind. Je nachdem, wie man so ein Gelände betreibt und wie viele Aktivi-täten es im Stadtteil gibt, desto mehr Geld kommt ja dann auch in die Region rein.

TN: Es gibt ja ein Bundesmodellprojekt der generations-übergreifenden Freiwilligendienste. Die Bundesregie-rung hat gesagt, dass sie dieses Programm fortsetzen wird. Hier geht es um Leute, die sich für zwei Jahre ver-pfl ichten, 20 Stunden in der Woche mitzuarbeiten. Dafür gibt es dann ein Taschengeld. Das sind Möglichkeiten, die man in einer Aufbauphase mit einbinden kann. Man muss nicht nur auf die lockere Art an Ideen rangehen, nach dem Motto: ich habe jetzt Lust dazu, sondern man kann das ernsthaft als Projekt aufziehen. Man sollte ernsthaft gucken, wie man Unterstützungsmöglichkeiten noch mehr einbeziehen kann. Und ich glaube auch nicht, dass es ohne Hauptamtliche geht, also ohne jemanden, der die Sache stringent verfolgt. Von der Idee her kön-nen wir sagen, dass wir den Ansatz und die Rahmen-bedingungen schaffen. Wir sorgen für eine Moderation, die sich zurück ziehen kann oder einspringen bei Bedarf. Unsere Aufgabe ist dabei nur, Gelegenheiten der Begeg-nung und des Miteinanders zu schaffen.

TN: Ja, aber ganz wichtig ist auch die wirtschaftliche Seite. Die muss schon abgesichert sein.

TN: Ja, je nachdem, um welches Thema es geht, ist die wirtschaftliche Seite mehr oder weniger im Vordergrund. Geht es um Pfl anzenanbau und Ernten oder um Tierhal-tung und Bauernhof? Es gibt unterschiedliche Schwer-punkte. Die können natürlich auch verbunden werden. Wie ist das bei Eurem ‚Mehrgenerationenhaus’ in Bre-men?

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Jonas: Das Gartengelände ist 3000 Quadratmeter groß, ist aber etwas entfernt. Am Haus ist auch ein sehr großes Gelände zum Spielen. Aber es gibt bei uns noch ein anderes Problem. Wir haben sehr große Parzellenge-biete in der Nähe, und dort gibt es einen Leerstand von 50%. Und die Gartenvereine bemühen sich zur Zeit sehr darum, diese Flächen an jemanden zu vergeben. Uns wurden auch Flächen angeboten, das sind drei Parzel-len in einem Stück. Aber natürlich können wir nicht alles selber machen. Wir haben eine Landschaftsarchitektin angesprochen, die sich dafür interessiert. Wir überlegen jetzt, ob man dort einen generationenübergreifenden Treffpunkt machen kann, zum Grillen und Pfl anzen, z.B. von Kürbissen, die schnell wachsen und wo Kinder einen schnellen Erfolg sehen. Wir haben im Haus eine Senioren-Begegnungsstätte, aber auch Kindergruppen. Von denen würden sich sicher etliche für den Garten interessieren.

TN: Wie ist es möglich, dass es bei Parzellen so einen großen Leerstand gibt? In Berlin ist das kaum vorstellbar.

Jonas: In Bremen haben viele alte Leute in den Parzellen gewohnt. Und zwar in Steinhäusern, die müssen dann abgerissen werden. Wir haben da einen Leerstand von bestimmt 20.000 Quadratmetern. Das Areal, das für uns in Frage käme, ist nicht so unheimlich attraktiv, es sind das Stahlwerk und der Güterbahnhof in der Nähe. Andererseits gibt es da auch ein Flüsschen, auf dem man paddeln kann. Daraus können sich vielfältige Sachen ergeben.

TN: Für uns ist die Frage, was wir als nächsten Schritt machen sollen. Manche möchten Pferde anschaffen. Da ist es unsere Aufgabe abzustecken, wie weit wir gehen können. Und an dieser Stelle haben wir einen entschei-denden Mangel, es fehlt uns eine Koordinierungsstelle.

TN: Bei uns ist es so, dass die Senioren fast alle Deutsche sind, die Kinder aber meistens aus Migrantenfamilien kommen. Ist das bei euch auch so?

Knoebel: Das ist auch gemischt, aber nicht sehr gemischt. Es gibt eine alte Anwohnerin aus Osteuropa, die aber schon seit 70 Jahren in Berlin lebt. Bei den Kindern ist es gut gemischt, es gibt auch arabisch-türkische Kinder, bei einem Drittel gibt es einen Migrationshintergrund.

TN: Wie sieht es denn bei euch aus mit der Nachbarschaft?

TN: Wir hatten auch einen Nachbarschaftsgarten. 2001 ist dieses Projekt angeschoben worden. Das hing irgend-wie damit zusammen, dass ein Spielprojekt für Kinder entstanden ist, weil Eltern aus der Nachbarschaft immer mehr eingesprungen sind. Am Anfang war das ein Projekt, das drei Jahre ehrenamtlich geführt wurde. Auf die Dauer fehlte aber die Anleitung, weil Eltern immer wieder mit-einander zerstritten waren, also das war schon ziemlich schwierig.

Zwischenfrage: Aber über die 3 Jahre lief dieses Projekt autark, ohne Finanzierung? Hat man versucht, es auf eigene Beine zu stellen?

TN: Ja, und es hat auch grundsätzlich eine ganz gute Struktur. Die Beteiligung wechselt natürlich auch. Bei uns waren es keine Senioren sondern Eltern. Ein Teil der Eltern, die sich in diesem Garten engagieren, haben ihre Kinder in anliegenden Kindergärten. Wir möchten eigent-lich die bisherige Angebotsstruktur ein bisschen mehr auf-lockern, versuchen, mehr öffentliche Angebote zu schaf-fen wie Veranstaltungen und Feste. Wir haben auch ein kleines Häuschen gekauft, das dort aufgestellt wurde. Es gibt dort eine Spielecke und ein Teil ist Nutzgarten. Der Garten ist nicht an eine Einrichtung angegliedert, sondern er untersteht einem freien Träger. Viele Einrichtungen nut-zen ihn. Ich bin wirklich sehr schlecht im Schätzen und kann deshalb nicht genau sagen, wie groß er ist. Aber jedenfalls ist er ganz schön groß.

TN: Ich komme aus Rostock, und wir haben ein ähnliches Projekt mit dem Kinder- und Jugendamt gemacht. Auf dem ehemaligen Gütergelände haben wir einen Naturgar-ten wieder bewirtschaftet, mit Schule, Jugendclub, Kin-dergarten und Jugendhilfe, das fand ich schon manchmal sehr kompliziert. Zwischen Jugendclub und Kindergarten gab es klare Absprachen, und das hat auch ganz gut funk-tioniert. Mit der Schule war es aber schon sehr schwierig. Das war ein abgeschlossenes Gelände, das man nur mit Eintrittskarten betreten konnte. Die waren zwar kostenlos, aber es gab einfach keine regelmäßige Unterstützung bei der Pfl ege des Geländes.

TN: Wenn man die Senioren aus der anliegenden Frei-zeitstätte mit einbeziehen würde, wäre es zum Teil noch schwieriger, denn die sind oft auf Reisen, also nur unre-gelmäßig verfügbar.

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TN: Ja, gerade im Sommer ist das ein schwieriges Feld, man muss doch täglich gießen. Mit kleinen Kindern und vielleicht zwei kleinen Terminen pro Woche funktioniert so was nicht.

Knoebel: Wenn mal viel zu tun ist, wird bei uns auch schon mal sozialpädagogisches Personal eingesetzt für die Ver-sorgung der Tiere. Früher, als der Kinderbauernhof noch schlechter fi nanziert war, da waren die Kinder tatsächlich

das stabilste Personal, das wir hat-ten. Die wussten, wo der Schlüssel liegt, da kamen wir am Ende nur mal gucken, ob alles geklappt hat. Das waren so die Anfänge. Ich weiß, dass das so funktioniert. Auch der Dienstplan wird dementsprechend gemacht, dass die Verantwortung der Kinder und der Senioren mit einbezogen wird. Und wenn die Verantwortung mal von einem zum anderen geschoben wird, kann man sie auf den Plan verweisen. Und vielleicht muss man auch mal aktive Eltern mit ins Boot holen. Jedenfalls weiß ich, das kann so funktionie-ren. Aber eins ist klar: es geht nicht

ohne eine bezahlte Kraft. Aber wenn die Verantwortung auch auf Ehrenamtliche verteilt ist, habe ich eben doch auch die Möglichkeit, mal krank zu sein oder in Urlaub zu fahren. Denn es gibt verantwortungsvolle Helfer, die die Aufgaben gerne übernehmen. Nur, bei Kindern und auch bei Senioren habe ich festgestellt, dass man sie nicht zu lange anbinden kann. Alles was über einen kleinen über-schaubaren Zeitraum hinausgeht, überfordert sie. Ich glaube, es gibt in Berlin 6 Kinderbauernhöfe und ver-schiedene Tierhaltungen. Aber bei denen gibt es wohl ein Finanzierungsproblem. Wenn man sich größere Tiere anschafft als nur Kaninchen, dann kostet das eben auch.

TN: Futterkosten, die Unterbringung der Tiere, wie hoch sind solche Kosten?

Knoebel: Es gibt vom Bezirksamt immer mal wieder die Ehrenamts-Mittel, die in Abständen bereit gestellt wer-den für Instandhaltung. Darauf greife ich gerne zurück, weil Zäune kaputt gehen und alles mögliche nachgebes-sert werden muss. Ansonsten haben wir natürlich wirt-

schaftlich gedacht und haben von zwei Ponys auf vier Ponys erhöht. Wenn Mütter mit ihren Kindern Mittwochs das Angebot des Familienreitens annehmen, müssen sie dafür bezahlen. In den Vormittagsstunden haben wir zur Versorgung der Tiere Schulklassen und Kindergruppen-betreuung. Auch das ist kostenpfl ichtig. Pro Kind wird 1 €bezahlt, dafür können sie füttern, eine Runde reiten. So fi nanzieren die Ponys, mit dem Personal, komplett den Tierbereich, der ca. 60 Tiere hat. Wobei die Ponys selber allerdings auch das Teuerste sind an der ganzen Sache. Der Tierstandard ist sehr hoch bei uns, auch wenn wir ihnen nicht den Lebensraum geben können, den sie benötigen. Aber in den Sommerferien sind die Ponys mindestens 4 Wochen auf einer Sommerweide. Das ist dann Urlaub für sie. Das alles muss man berücksichti-gen, und das geht nur über eine überschaubare Finan-zierung. Das alles selbst zu erwirtschaften, geht nicht. Da muss dann jemand dabei sein, der fi nanziell unab-hängig ist. Dann kann man das auch machen. Aber die Tiere schaffen diese Einnahmen nicht alleine. Trotzdem trägt sich das im Grunde selber. Durch dieses Generati-onenprojekt, in dem Futter rangeschafft wird, durch die engagierten Helfer und eine engagierte Nachbarschaft, kosten die Tiere eigentlich nichts. Die Sachmittelausga-ben, die wir haben, haben wir – bisher – nicht durch die Tiere.

Nachfrage: Also ihr gebt kein Geld z.B. für Futter aus?

Knoebel: Wir geben Geld aus, aber es kommt ja auch einiges wieder rein. Wir haben inzwischen einen Futter-automaten. Füttern ist verboten, außer mit den Dingen, die aus dem Automaten gezogen werden. Weil da Dinge drin sind, die die Tiere vertragen. Mitgebrachtes Futter kann aber bei uns abgegeben werden. Das Futter aus dem Automaten ist eine teure Angelegenheit, weil ja die Verpackung noch dazu kommt. Aber der Automat bringt auch ein bisschen was ein. Besonders am Wochenende. In die Verpackungen passen etwa 200 Gramm Futter, die füllen wir mit den Kindern auf. Das geschieht spie-lerisch, so wie der ganze Bauernhof spielerisch geführt wird. Also der Tierbereich ist ein Kostenfaktor, der sich selber tragen kann. Für die Materialien, die für die Instandhaltung der Ställe gebraucht werden, braucht man vielleicht noch eine Baufi rma, die ab und zu etwas beitragen kann.

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TN: Ist aber die kontinuierliche Betreuung nicht doch ein Problem?

Knoebel: Wenn man einen Hund zu Hause hat, kann man die Betreuung doch auch organisieren. Und das kann man für die Tiere auf dem Bauernhof auch organisieren, wenn man eine stabile Gruppe von 20 Leuten hat.

TN: Im Programm ‚Soziale Stadt’ gibt es sicherlich eine Anschubfi nanzierung für solche Projekte. Aber natürlich ist das keine Garantie für einen Erfolg. Es gibt auch bei geförderten Projekten solche, die gescheitert sind. Es gibt immer wieder Arbeiten, die an uns Mitarbeitern hängen bleiben, wenn eine Brachfl äche gestaltet wird oder Recy-cling angeboten wird. Oder dass Kinderspielplätze an Einrichtungen angebunden sind, damit von dort aus ein bisschen mit aufgepasst wird. Die Projekte, die im Rah-men von Sozialraumentwicklung und ‚Sozialer Stadt’ ent-stehen, bringen auch Probleme mit sich wie Fragen der Sicherheit, von Gewalt, die zunimmt.

TN: Ich frage jetzt aus provinzieller Sicht, wie das in Berlin ist: Kann man nicht einen freien Träger beauftragen, ein Konzept zu erstellen, damit mit den nicht investiv gebun-denen Mitteln des Programms ‚Soziale Stadt’ Grünfl ächen oder Brachfl ächen im Sinne des nachbarschaftlichen Mit-einanders gestaltet und belebt werden können?

TN: Das größte Problem ist in der Regel, die öffentliche Verwaltung mit ins Boot zu bekommen. Daran scheitert es meistens schon. Es ist sehr schwierig, die verschiedenen Fachbereiche der Verwaltung an einen Tisch zu bekom-men. Es gab eine Anschubfi nanzierung für verschiedene Projekte, aber die anschließende Phase, dass sie sich sel-ber tragen sollten, wurde kaum noch erforscht und auch nicht mehr unterstützt. Bei der Auswertung werden haupt-sächlich Sozialdaten erfasst, und das ist die Frage, ob das die adäquaten Kriterien sind. Gefördert werden Projekte in Bezirken mit großen sozialen Problemen und jetzt Projekte in den Randbezirken mit großen Plattenbau-Siedlungen. Es wäre wichtig, für diese Projekte eine langfristige Kontinuität zu sichern. Die ufafabrik hat diese Langfristigkeit geschafft. Sie blickt inzwischen auf viele Erfahrungen zurück und auf große Unterstützung im Stadtteil. Wo es das noch nicht gibt, ist es sehr schwer, das muss dann erst ganz mühsam aufgebaut werden. Eine Kultur von Bewohner-Initiative her-zustellen, ist nicht überall leicht.

TN: Es ist wirklich schwer, Realpolitik vom Kopf auf die Beine zu stellen. Und dabei ist für das soziale Leben in einer Nachbarschaft ein Projekt wie ein Generationengar-ten ein sehr positiver Faktor. Es ist Geld da. Das nehme ich so wahr.

Bastian: Das Problem ist, dass die Förderung nur über ein Jahr geht. In einem Jahr erreicht man aber nur einen Anfang, ein zartes Pfl änzchen, das dann erst richtig gestärkt werden muss, um auf eigenen Beinen stehen zu können.

TN: Wir haben ein Projekt, das über ‚Soziale Stadt’ über einen längeren Zeitraum, nämlich über 3 ½ Jahre geför-dert wird. Das hat jetzt nichts mit Gärten zu tun. Aber ich frage mich, warum macht man nicht mal einen großen Wurf? Wieso versucht man nicht, in den Bezirken für ein großes Projekt Gelder zu bündeln, mit interkulturellem, generationsübergreifendem Ansatz, an den Vereine, Ein-richtungen angebunden werden?

TN: Sie haben ja keine Vorstellung von der Rivalität der Bezirke! Es ist nicht so, dass wir EINE Stadt sind, sondern die Bezirke sind teilweise regelrecht zerstritten. Es läuft doch so: Es kommt ein Aufruf, sich um einen bestimmten Bereich zu kümmern. Dann müs-sen die Koordinierungs-büros eine Ausschrei-bung machen. Es muss ständig Wettbewerbe geben. Doch dauernder Wettbewerb und soziale Kontinuität schließen sich gegenseitig aus. Und auch die Mitarbei-ter/innen sind ständig auf Trab und können sich nicht richtig einlas-sen. Nachbarschaft bil-det sich demgegenüber aus Kontinuität, Verläss-lichkeit und Vertrauen. Das kommt nicht durch Projekte zu Stande, die gleich wieder gehen.

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Monteiro: Wir sind ein Nachbarschaftshaus in Lichtenberg, unser Haus liegt in einem Neubaugebiet aus den siebziger Jahren. Es leben dort ca. 10.000 Einwohner. Davon ist ein Drittel älter als 55 Jahre. Seitdem die Wohnungen saniert sind, haben wir auch wieder einen größeren Zuzug von Familien. Wir arbeiten als Nachbarschaftsverein sehr eng mit der Gmeiner Grundschule zusammen, die bei uns im Kiez ist. Aber das war nicht immer so. Meine Erfahrung damit ist, dass es, wie so oft im Leben, entscheidend an den Personen hängt. Wir saßen früher in einem ausgebauten Keller einer Gesamtschule. Das war ein Altbau. In den fünf Jahren, in denen ich in diesem Keller als Geschäftsführerin gearbeitet habe, ist es mir nie gelungen, einen Termin bei der Schulleiterin zu bekommen. Es war ein Ausbau-Projekt, in dem wir ursprünglich gemeinsam in der Schule einen Jugendclub betreuen wollten. Das Erste, was die Schule gemacht hat, war, eine Trennwand zu ziehen. Sie wollten

mit uns nichts zu tun haben. Sie haben auch unsere Ein-ladungen nie beantwortet. Wir hatten an dieser Schule einen Schüler-Club, der ist dann später an die Gmeiner Grundschule weitergereicht worden. Unsere Kooperation hat mit einem Seminar mit dem Titel „Interkulturelle Stadtteilarbeit“ begonnen, an dem ich auch teilgenommen habe. Das fand bei uns im Nachbar-schaftshaus statt. Ich habe vor allem deswegen daran teil-genommen, um die Leute kennen zu lernen, die verrückt genug sind, am Wochenende ehrenamtlich einen Kurs zu besuchen und dann auch zur Verfügung zu stehen. Eine der Teilnehmerinnen war die jetzige Schulleiterin, die damals noch an einer anderen Schule war. Wir betreiben den Schülerclub, vor allem für die Lücke-Kinder, indem wir viele konkrete Sachen anbieten, spezi-ell im offenen Bereich. Wir haben schnell gemerkt, dass die Potenziale des Schülerclubs nicht weit genug reichten, um das zu verwirklichen, was wir uns eigentlich für den Kiez vorstellen.

Schröder: Damit Sie auch mal eine andere Stimme hören, haben wir uns überlegt, dass wir uns ergänzen. Ich bin von Hause aus Mathematik-Lehrerin und haben einen Großteil meiner Zeit auch mit Personalrats-Arbeit verbracht. Ich war irgendwie nicht ganz zufrieden mit meiner Situation, wollte aber weder in die Politik gehen noch Berufsgewerkschafterin sein. Und nur die Arbeit mit Kindern zu machen, ohne weiterreichend Schule mitbe-stimmen zu können, das hat mir auch nicht gefallen. Ich habe irgendwas anderes gesucht, fand die Idee der Stadt-teilarbeit total gut und wichtig, auch als Kommunikations-grundlage. In der Gruppe habe ich Birgit Monteiro kennen gelernt. Ich habe mir angesehen, was sie mit ihrem Nach-barschaftshaus und dem Kiez-Club macht und dachte mir: damit müsste man eigentlich die Schule verbinden. Dann könnten wir in Richtung Stadtteil-Schule gehen, was gerade in unserem Neubaugebiet gut wäre. Es gibt zwar eine kleine Kirche, aber es gibt eigentlich keinen richtigen Mittelpunkt. Die Kinder gehen alle in unsere Grundschule, weil sie keine andere Möglichkeit haben. Ansonsten ist es ganz schwer, irgendwo einen gemeinsamen Punkt zu fi nden. Deshalb habe ich mich entschieden, mich auf genau diese Grundschule zu bewerben, die in der Nähe des Nachbarschaftshauses ist, obwohl ich eigentlich sehr gerne mit großen Kindern arbeite. Es ging mir darum, mit der Kiezspinne gemeinsam etwas aufzubauen, was ein bisschen anders als das sonst Übliche ist.

Workshop: Der Widerspenstigen Annäherung

Jugendhilfe und Schule - Kooperation und Kollisionen,

Erfahrungen und Perspektiven / Schülerclubs, Schulsozialarbeit, ‚Offene Tür‘,

Offener und gebundener Ganztagsbetrieb

Inputs: Birgit Monteiro und Uta Schröder, (Kiezspinne und Gmeiner Grundschule)Anna Madenli, Outreach-Schülerclub, (Amelia-Earhart-Oberschule, Berlin-Schöneweide)Ilhan Emirli, Outreach MariendorfHeike Schmidt, (Nachbarschaftsheim Mittelhof)Viola Wagner, (NUSZ ufafabrik)

Moderation: Reinhilde Godulla

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Mit dem Schülerclub gibt es schon ein gemeinsames Pro-jekt. Und wenn wir beide zusammen sitzen, dann fallen uns ganz viele Sachen ein, die wir machen können. Aber die Veränderung ist im Bereich der Mitarbeiter natürlich nicht so einfach. Weil es ganz viele Lehrer gibt, die der Meinung sind, Unterricht ist das Non-plus-ultra. Und in Berlin ist das Bildungssystem zur Zeit ja auch so gruselig schlecht, dass man als Lehrer nicht viel anderes planen kann als seinen Unterricht. Und in der Situation kann man nicht mal richtig dankbar sein für Hilfen und Unterstüt-zung von außen. Man kriegt als Lehrer immer erst mal einen Schreck, wenn da jemand kommt, der helfen will. Die meisten Lehrer wollen ihren Unterricht alleine gestal-ten und möchten nicht noch eine Mutter beispielsweise dabei haben, die unterstützen will. Und auch ein Schüler-Club stößt auf Abwehr: da kommen irgendwelche Kinder, die ich nicht kenne, nachmittags in mein Gebäude und fassen meine Tafel an und machen da irgendwas. Und diese Einstellungen zu öffnen und zu zeigen, dass eine Kooperation funktionieren kann, zum Vorteil aller, dafür sind wir jetzt zusammen angetreten.

Monteiro: Aus der praktischen Arbeit ergeben sich ganz viele Erfordernisse und Ideen für Projekte. Wir waren in den letzten Jahren mit unserer Einrichtung an generati-onsübergreifenden Freiwilligen-Diensten beteiligt. Wir haben Eltern als Freiwillige für die Betreuung von verhal-tensauffälligen Kindern gewonnen. Dann hatten wir zwei-mal in der Woche ein Angebot mit Frühstück, damit Kinder auch mal eine gemeinsame Mahlzeit einnehmen konnten. Daran werden wir weiter arbeiten. Ein ganz großes Thema ist die Begegnung von Jung und Alt, wo ältere Nachbarn als Zeitzeugen in die Klassen gehen und aus ihrem Leben und von ihren Erfahrungen erzählen. Ein weiteres wich-tiges Thema ist die Verkehrsproblematik im Kiez, die alle Bewohner interessiert, besonders auch die Älteren. Es gibt eine große Straße quer durch das Wohngebiet und andererseits Straßenverengungen. Daraus ergeben sich gemeinsame Vorhaben wie z.B. Verkehrszählungen, die wir mit Schülern durchführen können, damit wir konkrete Zahlen in der Hand haben. Wir haben für 2008 ein Pro-jekt ‚Gemeinsam für den Stadtteil – Nachbarschaft und Schule’ eingereicht, das wir zusammen mit der Schule durchführen und dabei auch die Eltern mit ins Boot holen wollen. Vorgesehen ist auch ein Mentor/innen-Programm. Wir haben an der Gmeiner Grundschule festgestellt, dass dort, wie auch an anderen staatlichen Schulen, hochbe-

gabte Kinder so gut wie nicht gefördert werden. Mir war aufgefallen, wenn man Begabte in einer Gruppe geson-dert fördern will, dass eigentlich kein Mädchen darunter ist. Wir haben uns also zusammen mit einigen Lehrern entschlossen, Mädchen speziell zu fördern, um ihnen einen besseren Schulabschluss zu ermöglichen.

Schröder: Es geht auch darum, das Selbstbewusstsein der Mädchen zu stärken. Ich war selber ganz erschrocken, als wir mal die Zensuren durchgesehen haben, um festzu-stellen, wer sich wo verbessert hat. Und es kamen immer nur Jungennamen. Obwohl die Jungs mehr oder weniger alle verhaltensauffällig sind. Und die Mädchen sind dabei einfach untergegangen. Das ist eine Sache, die mir in der Oberstufe früher so nie bewusst geworden war, was in der Grundschule schon passieren kann. Und das gefällt uns als zwei Frauen natürlich überhaupt nicht, dass die Mädchen in der Hinsicht vernachlässigt werden. Und was noch dazu kommt: ich habe an der Grundschule einen einzigen Mann als Lehrer, das ist ein Musiker, der fast immer krank ist.

Monteiro: Wir haben bei uns im Nachbarschaftshaus noch ein Medien- Projekt, ein Teil davon ist ‚Medienbil-dung für Lehrer’. Ich habe im Konzept des Paritätischen zu Bürgerschulen gelesen, dass in Deutschland die Leh-rer die längste Ausbildung im europäischen Vergleich haben, aber die geringste Stundenzahl an Fortbildung. Wir sehen die Bedeutung des Projekts auch daran, wie sehr es angenommen wird. Wir sind technisch ganz gut ausgestattet. Jetzt suchen wir nur noch jemand, der die technische Betreuung des Projekts übernimmt.

Schröder: Was nicht einfach ist, ist folgendes: ich habe immer ein bisschen das Gefühl, dass ich das Nachbar-schaftshaus ausnutze. Mir ist immer noch nicht ganz klar, was ich geben kann. Ich habe festgestellt, dass sich ganz viele Bürger in der Kiezspinne freuen, wenn eine Schülergruppe aus unserer Schule kommt und bei ihnen arbeitet. In der Werkstatt vielleicht oder auch zu einer Weihnachtsfeier dort beiträgt. Aber trotzdem habe ich das Gefühl, dass die Schule eigentlich nur der Nutznie-ßer ist bei dieser Kooperation. Ich wollte von uns Kinder zur Mathe-Olympiade bringen und hatte keinen, der sie begleiten konnte. Als ich in der Kiezspinne nachfragte, ob sie mir eine Wegbegleitung stellen könnten, ging das völlig problemlos. Es kamen zwei junge Menschen, die die Kinder abholten und zurück brachten. Bei mir sind

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die Eltern dankbar gewesen dafür. Und ich hatte das Gefühl, dass den Jugendlichen das richtig Spaß gemacht hatte. Sie haben sich dann noch die Aufgaben mit den Kindern angeguckt und mit ihnen gesprochen. Die Kolle-gen, die bei der Olympiade waren, waren ganz begeistert von den beiden Jugendlichen, weil sie da noch mitgehol-fen haben. Aber das sind alles Dinge, bei denen ich mich frage, was kann die Schule leisten, um etwas davon zurück zu geben?

Godulla: Eine Frage ist, wie es den anderen Kollegen an der Schule damit geht.

Schröder: Bei Aktivitäten, die unabhängig von Unterricht sind, da sind die Kollegen sehr offen und dankbar für Unterstützung. Wo sie unruhig werden, das ist, wenn es an Bereiche geht, von denen sie denken, dass es ihr Job ist und dass auch nur sie das können. Wir hatten voriges Jahr diese Hilfen im Unterricht dabei. Nachdem die Kolle-gen ewig gesagt hatten, sie schaffen es nicht mit diesen Kindern. Wir nennen ihn mal Hugo, Hugo kann einfach nicht lesen, er braucht jemanden, der neben ihm sitzt und ihm das vorliest. Kümmern Sie sich doch bitte darum, Frau Schröder, ich brauche unbedingt die Erzieherin Frau Meier, damit sie ihm vorliest. Da habe ich gesagt, das geht nicht, der Plan von Frau Meier ist so, dass sie da nicht kommen kann. Aber wir können ja mal in der Kiezspinne fragen, ob eine ehrenamtliche Mutter zu uns kommen kann und vor-lesen. Nein, Fremde? Das wollte sie überhaupt nicht. Dann haben wir es aber ausprobiert, und dann war die Lehrerin richtig dankbar. Also, man muss an manchen Stellen ein-fach durch Inhalte überzeugen, damit sie sich öffnen. Es gibt auch Ängste bei der Beratung von Eltern. Die Lehrer sagen, sie wissen nicht mehr weiter, sie können nicht noch mit den Eltern zum Jugendamt gehen, sie können nicht noch für Jugendschutz sorgen und für Hilfen sorgen, das können sie zeitlich nicht. Dann sage ich: es gibt die Bera-tung in der Kiezspinne, die Sozialberatung. Wir brauchen die Eltern also nur bis zur Kiezspinne zu schicken, und dann geht das alles von selber seinen Gang. Die Lehrer spüren langsam, dass das an verschiedenen Stellen eine Hilfe ist.

Hübner: Habe ich das richtig verstanden: das ist eine lose Kooperation, und das hat nichts mit dem Konzept der offenen Ganztagsschule zu tun und mit der Einbindung von Erziehern im Unterricht und in der nachschulischen Betreuung?

Schröder: Ja, wir sind eine rein staatliche Schule mit offenem Ganztagsbetrieb, der vom Bezirksamt organi-siert wird, wie man es im Osten so kennt. Aus der Tradition erwachsen, gibt es für die Kinder der 5. und 6. Klassen den Schüler-Club, den die Kiezspinne bei uns in einem zweiten Gebäude betreibt. Der Ausdruck ‚lockere Koo-peration’ gefällt mir nicht so richtig. Die Kooperation ist ganz fest. Die Inhalte sind projektbezogen. Es gibt also Projekte über längere oder kürzere Dauer, wo bestimmte Verbindlichkeiten festgelegt sind. Das ist alles zusätzlich zu dem, was Land und Stadt macht. Die Erzieherinnen des Schüler-Clubs machen gerade mit Schülergruppen in dem Lücke-Projekt der Kiezspinne den Computer-Führer-schein. Und sie gehen in die Kiezspinne, um bei der Weih-nachtsfeier der Senioren zu tanzen und zu singen.

Monteiro: Unsere Erzieher nehmen in der Schule an der Dienstberatung teil. Und wenn wir Projekte vorbereiten, gibt es immer temporäre Arbeitsgruppen von Lehrern und Erziehern, die sie gemeinsam vorbereiten. Die Zusam-menarbeit ist nicht über einen Kooperationsvertrag insti-tutionalisiert. Zu dem Gewinn für das Nachbarschaftshaus durch unsere Kooperation möchte ich was sagen: bei uns sind ja auch ganz viele Ältere, das Haus arbeitet generationsübergrei-fend. Mir ist wichtig, dass die Kinder und die Älteren aus dem Wohngebiet uns annehmen. Ich habe gestern in einer dritten Klasse die Kinder gefragt: wer von euch kennt denn die Kiezspinne? Und da haben sich ganz viele gemeldet, die im Haus Angebote wahrnehmen. Die andere wichtige Zielgruppe sind für uns die Eltern, die oftmals schwer zu erreichen sind. Und auch die können wir darüber erreichen, dass wir uns in Schulkonferenzen und bei Elternabenden einbringen. Davon profi tieren wir, weil die Eltern dann auch bei uns eine ganze Menge an Fähigkeiten einbringen.

Schröder: Wovon wir noch gar nicht gesprochen haben ist, dass wir mit einer Konzertreihe angefangen haben. Die haben wir gemeinsam ins Leben gerufen, und wir füh-ren beide in das Konzert ein. Auch dadurch bekommen wir Kontakt mit Eltern. Wir wollten gerne auch mal was Schönes zusammen machen und nicht immer nur zusam-men arbeiten.

TN: Ist denn eine weitere Kooperation im Vormittagsbe-reich überhaupt wünschenswert? Und ist das fi nanziell machbar?

Workshop │ Der Widerspenstigen Annäherung

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Nicht für die Schule, sondern für das Leben ...│ Bildung im Stadtteil 87

Schröder: Der fi nanzielle Aspekt ist das größte Problem. Als wir uns als Gemeinschaftsschule in den Klassen 1 bis 10 beworben hatten, war eines meiner wichtigsten Anlie-gen, dass die Schule eine Schulstation kriegt. Ich könnte mir gut vorstellen, dass der Schüler-Club expandiert und im Vormittagsbereich eine Schulstation führt, um beson-dere Kinder zu betreuen.

TN: Die Frage ist auch, wie die Schule strukturiert ist, um solche Angebote noch wahrnehmen zu können. Habt ihr eher geschlossenen Unterricht, wo jeder Kollege seine Klasse hat und die Tür zu macht? Oder gibt es auch offene Formen?

Schröder: Wir hatten in der Schulanfangsphase sehr offene Formen des Unterrichts. Das hat aber nicht funk-tioniert. Wir haben in den Jahrgängen 3 bis 6 für einen Jahrgang angefangen, Türen zu öffnen. Das macht der eine Lehrer mehr, der andere weniger. In bestimmten Fächern gibt es mehr Öffnung als in anderen, wie etwa in Geschichte, wo gerade ein großes jahrgangsübergrei-fendes Projekt gemacht wird. Da geht es darum, die Mög-lichkeiten und Straßennamen des Kiezes zu erkunden. Da sind die Kinder aus den Klassen 5 und 6 mit Menschen aus der Kiezspinne unterwegs. Hinterher machen sie aus dem, was sie rausgefunden haben, eine Ausstellung.

- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - Vorstellung eines Schülerclubs: Outreach - Mobile Jugendarbeit (ein Projekt im Verband für sozial-kulturelle Arbeit e.V.) in Schöneweide (Berlin Treptow-Köpenick)

Madenli: Den Schülerclub an der Amelia-Earhart-Ober-schule gibt es seit fast zwei Jahren. Die Schule ist an Outreach herangetreten, weil sie unsere Streetworker in Oberschöneweide schon kannte und Outreach an der Schule schon größere Projekte gemacht hatte, wie Klet-tern an Projekttagen. Für den Schülerclub gibt es einen Raum an der Schule, und ich habe gemerkt, dass das mit Räumen an der Schule nicht ganz einfach ist. Ich arbeite alleine im Schülerclub und meine Arbeit bezieht sich im Wesentlichen auf die Freizeitgestaltung. Der Schülerclub ist täglich von 10 bis 15 Uhr geöffnet. Wir haben Billard, zwei Kickertische, zwei Computerplätze, wo man recherchieren oder ein Spiel machen kann. Ich biete

Workshops mit HipHop, Breakdance oder Graffi ti an, es gibt Billard- und Kicker-Turniere.Ein wichtiger Schwerpunkt meiner Arbeit ist die Partizipa-tion.Wir haben einen Club-Rat, der sich jeden Mittwoch zu einer Sitzung zusammen fi ndet und in dem die Club-Mit-glieder mit entscheiden, welche Wünsche und Interessen die Schüler haben und ich versuche das umzusetzen, auch zusammen mit den Lehrern.Die Hilfe, die die Lehrer sich von mir erhoffen, ist, die Pro-bleme der Schüler wie Schwänzen in den Griff zu bekom-men und dass ich den Kontakt mit dem Jugendamt halte. Sie wollen an Unterstützung eher die institutionellen Aspekte, weniger die Freizeitgestaltung. Die Schulsozialarbeit ist separat von einem anderen Träger aufgebaut worden. Die Schulsozialarbeiter bilden Schüler zu Mediatoren aus und nutzen ihren Raum vor allem, um in Gesprächen Konfl ikte zu klären.An der Schule gibt es auch eine Schulstation, die von den Lehrern betrieben wird. Schüler, die den Unterricht stören, müssen den Klassenraum verlassen und in die Schulsta-tion gehen und werden dort irgendwie unterrichtet. Das klappt aber nicht immer. Denn durch den hohen Kran-kenstand unter den Lehrern sind die anwesenden Lehrer statt in der Schulstation ständig in Vertretungs-stunden. Dann landen die Schü-ler bei mir, wo sie viel lieber sind als in der Schulstation der Lehrer. Outreach hat natürlich Abmachungen bezüglich unserer Arbeit, und wir haben auch Vereinba-rungen mit der Schulstation und der Sozialarbeiterin der Schulstation. Das heißt, dass die Schüler nur zu mir kom-men dürfen, wenn die Schulstation geschlossen ist. Und sie dürfen auch nicht alle auf einmal kommen, was schon mal passieren kann, dass ich da mit einer halben Klasse stehe. Ich mache aber keinen Unterricht. Sie müssen aber normalerweise mit einem Laufzettel und mit einem Arbeitszettel kommen. Deshalb ist der offene Bereich mit den Freizeitangeboten erst ab 12 Uhr geöffnet. Ansonsten ist mein Raum eigentlich nur Auffangbecken für zu spät Gekommene oder Rausgeschmissene. Oft ist

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es so, dass ich mich nur mit ihnen unterhalte. Wenn sie in Mathe rausgefl ogen sind, können sie mit mir Mathe machen. Oder auch Biologie. Im offenen Bereich können sie Dart spielen oder sonst was machen. Die Jugendlichen kommen erst mal nicht, um mit mir zu sprechen. Trotzdem reden sie ganz viel mit mir über ihre Schwierigkeiten im Elternhaus, mit dem Freund oder mit wem und wo auch immer. Das ist natürlich eine ganz gute Basis, um Gewaltvorfälle an der Schule nicht nur mitzukriegen, sondern da eventuell auch einzugreifen. Die Jugendlichen, die da Probleme haben,

werden in den Schülerclub eingela-den, damit man sich mit mehreren zusammen setzen und Lösungen überlegen kann. Hilfreich ist dabei die Zusammen-arbeit mit meinen Outreach-Kolle-ginnen und Kollegen, die sehr viele von den Jugendlichen aus dem Kiez kennen. Mit ihrer Unterstützung kann ich dann bei Schwierigkeiten mit einem Jugendlichen den Leh-rern den Vorschlag machen, ihn zu mir runter zu schicken, anstatt ihn z.B. 3 Tage von der Schule zu sus-pendieren. Das ist ja sowieso eine Maßnahme, die ich unmöglich fi nde, weil sie überhaupt nichts bewirkt.

Die Schüler sind ja nur froh, wenn sie mal drei Tage frei haben. Ich spiele mit dem eine Runde, damit der wieder zu sich kommt.

TN: Wie ist denn in dem Fall die Kooperation mit den Leh-rern?

Madenli: Das ist eine gute Frage. Eigentlich bin ich immer diejenige, die die Lehrer anspricht, weil ich es gewöhnt bin im Team zu arbeiten und weil ich natürlich gerne ein Feedback haben will. Das ist bei Lehrern aber nicht so. Ich habe oft eher den Eindruck, dass sie Angst haben, dass ich ihnen in die Karten gucke. Sie denken, dass in meiner Person jemand kommt, der meint, er hätte eine pädago-gische Ausbildung und will ihnen sagen: ‚Das was Sie da machen, ist nicht richtig’. Sie verstehen gar nicht, dass es mir wichtig ist, den Austausch mit ihnen zu haben. Die Lehrer kennen aber die Schüler viel länger als ich, und sie kennen auch die Eltern und vielleicht auch den Kontext.

Wenn mir ein Jugendlicher was erzählt, würde ich gerne noch von anderer Seite hören, wie es mit den Bezie-hungen zu anderen Schülern aussieht usw. Meine Bemü-hungen sind im Sande verlaufen. Die ersten 1 1/2 Jahre war ich noch sehr motiviert und habe versucht, den Aus-tausch herzustellen. Aber ich habe dann gemerkt, dass ich da gegen Wände renne. Insgesamt sieht die Zusam-menarbeit mit den Lehrern so aus: es gibt einige Lehrer, mit denen ich sehr gut zusammen arbeite, die täglich bei mir unten sind, mit denen ich mich auch mal außerhalb der Schule auf einen Kaffee treffe. Und mit denen kann ich auch über bestimmte Schüler reden und gemeinsame Projekte planen. Aber das ist nicht die Mehrheit der Leh-rer.Jetzt fange ich an, mit Jugendlichen in den Kiez zu gehen und gemeinnützige Arbeit zu machen. Ich hoffe, dass ich dafür noch mehr Lehrer gewinnen kann. Wir haben ein Altenheim in der Nachbarschaft, wo ich jetzt Kontakte auf-baue, und die Schüler vorlesen oder etwas zu einer Feier beitragen können.

TN: Ich kenne Schülerclubs so, dass sie nach der Unter-richtszeit geöffnet sind.

Madenli: Ja, ich hatte schon gesagt, bei mir läuft das anders.

Hübner: Viele Schülerclubs haben ihren Schwerpunkt in Nachmittagsaktivitäten. Schulstationen sind ein anderes Modell. Sie sind stärker in die Schule eingebunden und auf jeden Fall während der Schulzeiten geöffnet. Schülerclubs richten sich mit ihren Angeboten eher an Gruppen, Schul-stationen an einzelne Kinder. Eine wesentliche Aufgabe der Kollegen, die in den Schulstationen arbeiten, ist es, Verbindung zu den Eltern herzustellen. Zunächst waren in Berlin 30 Schulstationen vorgesehen, vor allem in Grund-schulen. Dann hat es Bezirke gegeben, die die Schulsta-tionen mit zwei Erzieherstellen ausgestattet haben, um Kinder am Vormittag speziell zu fördern. Dann haben die Bezirke die Schulstationen ausgebaut, es waren daran Lehrer beteiligt und engagierte Eltern, die das Konzept gut fanden. Der Bezirk, aus dem wir kommen, Steglitz-Zehlen-dorf, hat das sehr gut gemacht. Hier wurden Gelder aus den Hilfen zur Erziehung umgeschichtet, um damit Schul-stationen zu fördern. Dazu kommt jetzt noch das neue Grundschulkonzept. Das bezieht sich auf die verlässliche Halbtagsgrundschule (VHG). Kinder haben bis 13.30 Uhr

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Unterricht, dann gibt es Mittagessen und danach die Mög-lichkeiten zur Teilnahme an Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe. Das ist dann die nachschulische Betreuung am Nachmittag. Das wesentlich Neue an diesem Konzept besteht darin, dass Lernen anders organisiert werden soll als bisher. Das Lernen wird über den Tag verteilt bis in den Nachmittag hinein, mit Freizeiten. Und das im Zusammen-wirken mit Vertretern der Jugendhilfe und mit Erziehern. Das Konzept sieht vor, dass auch im Unterricht Erzieher zur Unterstützung eingebunden werden. Ich glaube, an dieser Stelle hat Berlin eine führende Rolle. Aber anson-sten hat sich direkt im Bereich Schule in den letzten 10 Jahren relativ wenig geändert.

Monteiro: In meinen Augen gibt es das Problem, dass die Finanzierung sowohl für Schülerclubs als auch für Schul-stationen nicht wirklich an den Bedarf gekoppelt ist. Wir versuchen jetzt, als Träger noch projektbezogen zusätz-liche Mittel zu akquirieren. Und meine Hoffnung ist, dass die Schulen sich punktuell das besorgen können, was sie gerade brauchen. Wir vom Nachbarschaftshaus stopfen irgendwelche Lücken mit Ehrenamtlichen, die aber nicht fi nanziert werden.

Schröder: Egal ob der Unterricht offen oder geschlossen ist, aber es ist einfach so, dass die Kinder viel schwie-riger werden im Umgang. Wovon Anna Madenli von der Oberschule eben auch sprach. Die Kinder haben ganz häufi g einen erhöhten Förderbedarf im Bereich sozialer und emotionaler Entwicklung. Diese Förderung, die ja von der Stadt Berlin bezahlt wird, kann den Kindern im regulären Unterricht nicht gegeben werden. Vor gut 10 Jahren hat man sich in Berlin dazu entschlossen, Inte-gration statt Ausgrenzung zu betreiben. Das heißt, dass in der Grundschule gefördert werden sollte, statt Sonder-schulen auszubauen. Dabei wurde aber vergessen, dass zur Integration ein großes Netz zum Auffangen der Kinder mit Schwierigkeiten gehört. Dann wurden an Modellschu-len Schulstationen eingerichtet, die eben genau diese notwendige Einzelförderung bewerkstelligen sollten. Das wurde also in einigen Schulen bezahlt und in anderen nicht. Die Schulen aber, die sich weiterentwickelt hatten, haben dann aus irgendwelchen Mitteln, statt Förderun-terricht, Teilungsunterricht, Arbeitsgemeinschaften oder Deutsch als Zweitsprache anzubieten, eine Schulstation mit Lehrern als Personal angeboten. Das kann so aber nicht laufen, weil man die Lehrer schließlich auch noch

zum Unterrichten braucht. Weil wir einfach zu knapp aus-gestattet sind. Als Schule, die sich zu einer guten Arbeit auf den Weg macht, versucht man überall Mittel aufzutun, schreibt Anträge ohne Ende, um ein bisschen Spielraum zu haben. Inzwischen ist in Berlin beschlossen, dass jede Schule einen Schul-Sozialarbeiter kriegt, der die Lehrer unterstützt. Einige wenige Schulen haben im Kampf um Projektmittel Glück und können dann etwas aufbauen. Ich brauche einfach für die besonderen Kinder eine Betreu-ung, wenn die während des Unterrichts eine Auszeit brau-chen. Es gibt eben Kinder, die müssen manchmal erst zur Besinnung kommen, bevor sie weitermachen können. Und meine Hoffnung ist, dass es durch die Entwicklung Richtung Gemeinschaftsschule oder Stadtteilschule wie-der mehr Mittel geben wird, die pädagogisch ausgegeben werden können. Und dass wir dann auch die Möglichkeit haben, eine Schulstation zu machen. Auch in Lichtenberg gibt es Schulstationen, aber unsere Schule hat keine, weil wir vor 7 Jahren nicht dabei waren. Dann muss ich eben sehen, wo ich die Mittel hernehme. Es gibt ja jetzt die Möglichkeit in Berlin, Kooperationsverträge und Zielver-einbarungen abzuschließen. Es gibt bei uns in der Gegend ganz viele Senioren, die in der Lage sind, sich mit Kindern zu beschäftigen. Das ist vielleicht nicht so schön wie ein ausgebildeter Pädagoge, aber es ist eine Möglichkeit, den Kindern zu helfen.

Godulla: Um die Unterschiede in verschiedenen Schulen greifbar zu machen, möchte ich jetzt Heike Schmidt bit-ten, aus ihrer Arbeit zu berichten.

- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - Verlässliche Halbtagsgrundschule und nachschulische Betreuung im Zusammenwirken von: Nachbarschaftsheim Mittelhof und Grundschule am Karpfenteich in Berlin-Zehlendorf

Schmidt: Seit Oktober 2005 gibt es einen Kooperations-vertrag zwischen der Grundschule und dem Nachbar-schaftsheim Mittelhof. Das Nachbarschaftsheim hat die pädagogischen Aufgaben in der ‚verlässlichen Halbtags-grundschule’ und in der nachschulischen Betreuung über-nommen. Da sind wir im Moment insgesamt 8 Mitarbei-ter/innen. Wir öffnen unseren offenen Bereich um 7.30 Uhr für die Kinder. Wir haben 440 Kinder an der Schule, und wir wissen nie, wie viele kommen werden. Um 8.20 Uhr beginnt der Unterricht mit einem Morgenblock. Um

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13.30 Uhr öffnet die Ganztagsbetreuung bis 18 Uhr. Die Erzieherinnen sind in der Schulanfangsphase eingesetzt. In diesem Bereich gibt es vielfältige Aufgaben. Zum einen führen sie Projekte im Unterricht durch. Sie gestalten zu zweit 1 bis 2 Schulstunden selbstständig. Die Lehrerin entscheidet darüber, was sie an dem Tag macht, wozu sie die Erzieherinnen braucht und wie sie sie einsetzt. Im Mittelpunkt stehen naturwissenschaftliche Erfahrungen, Erlebnisse umsetzen in Handeln, das Durchführen von Experimenten Z.B. Wasser, was kann man mit Wasser machen, wie wird eine weiße Blume blau? Indem Kin-der durch Experimente Erfahrungen machen, lernen sie die Dinge anders begreifen, das ist eine neue Form des Unterrichts. Ein weiterer großer Bereich der unterstüt-zenden Arbeit ist, dass wir Erzieherinnen im Unterricht als Begleitung eingesetzt sind. Wir können unter Umständen Kinder aus dem Unterricht herausnehmen, um Leistungs-förderung anzubieten und damit Kinder zu unterstützen, die es besonders schwer haben.

Godulla: War das gleich am Anfang so?

Schmidt: Das war von Anfang an so geplant. Natürlich waren die Lehrerinnen erst skeptisch, sie waren gewöhnt, ihren Unterricht alleine zu machen und wunderten sich, dass da jetzt noch jemand in ihrer Klasse war. Aber nach zwei Jahren der gewachsenen Zusammenarbeit haben wir zeigen können, dass wir tatsächlich eine Förderung der Kinder erreichen können, wenn wir als Hilfe angenom-men werden. Der dritte große Bereich, in dem Erzieherinnen tätig sind, ist der Einsatz in Förder- und Lerngruppen. Alle Kin-der in der ersten Klasse werden von den Erzieherinnen angesehen, in Bezug auf Sprache, auf Mathematik, auf Grob- und Feinmotorik, in Bezug auf Wahrnehmung. Sie schauen, welchen aktuellen Lernstand haben die Kin-der, und welche Kinder brauchen eine Förderung, um den Anschluss an den Unterricht bewältigen zu können. Danach wird mit den Lehrern besprochen, welche Kin-der wann und in welchem Bereich gefördert werden. Und dann gibt es Lerngruppen, die zwei- bis dreimal die Woche stattfi nden. Das ist nicht in den Unterrichtsstun-den, in denen ein neuer Input kommt, sondern in Wie-derholungsstunden. Danach wird dann wieder geguckt, was die Kinder jetzt können und wo es einen neuen Bedarf gibt. Dann wird wieder neu gefördert, in mögli-cherweise neuer Zusammensetzung. Hier erleben wir

Kinder, die sich freiwillig zum Förderunterricht melden und sich freuen, wenn sie daran teilnehmen dürfen. Wir schaffen einen ‚Gast-Platz’, wo ein anderes Kind, das gut ist und normalerweise keine Förderung braucht, sich melden kann und sagen: heute darf ich mal mit. Und so erleben die anderen Kinder, dass Förderunterricht keine Stigmatisierung mit sich bringt. Das ist ein insgesamt förderlicher Umgang der Kinder untereinander. Und die Erzieherinnen zeigen auch den Kindern, die besser sind, was wir machen. Das sind die drei Bereiche: Mitarbeit im Unterricht, Lern-gruppen und Projektarbeit. Im Tagesverlauf bemühen wir uns, einen regelmäßigen Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung zu realisieren, also Lernen und Spiel im Wechsel. Damit unterscheiden wir uns vom Rhythmus der klassischen Grundschule. Nach dem Morgenblock kommt die Kernstunde. Danach gibt es im Essensge-bäude eine Essensstunde. Beim Essen werden die Kin-der wieder von den Erziehern betreut. Alle Kinder essen zusammen. Danach gehen sie in den Unterricht zurück und werden da weiterhin von Erzieherinnen betreut. Danach ist unsere große Aufgabe, dass die Projekte, die am Vormittag mit den Kindern besprochen wurden und auch im Unterricht irgendwo wieder auftauchen, umge-setzt werden. Die Personaldecke und die Raumplanung ist noch nicht ausreichend nachgesteuert vom Senat. Für diese Planung müssen wirklich alle Mitarbeiter zur Verfügung stehen, und wir sind auf jeden Fall noch auf ehrenamtliche Hilfe angewiesen. Wir haben eine pensio-nierte Lehrerin, die auch Gruppen macht.

TN: Die Kinder bekommen im Essenshaus also ein rich-tiges Mittagessen?

Schmidt: Ja. Neu daran ist eben, dass die Kinder nicht bei Regen auf dem Hof stehen und ihr Brot kauen. Sondern sie sitzen mit einer Erzieherin am Tisch, werden gefragt: wie geht es dir, ist alles in Ordnung? Es gibt eine richtige Essenssituation mit Gesprächen. Die Kinder können danach noch in den Garten gehen, denn sie haben ja eine Stunde Pause. Sie können noch toben und spielen oder auch was malen.

Godulla: Wie ist die Kooperation mit den Lehrern außer-halb des Unterrichts? Sind die auch mal beim Essen dabei oder am Nachmittag?

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Schmidt: Eher nicht. Aber mir war klar, als wir antraten, dass wir fünf bis 10 Jahre brauchen, bis wir uns alle rich-tig kennen. Wir müssen wirklich kleine Brötchen backen. Schön ist, dass es mittlerweile Freitags eine institutionali-sierte Team-Sitzung gibt. Da sitzen alle Erzieherinnen und alle Lehrerinnen, die in der Schulanfangsphase tätig sind. Diese Teamsitzung ist ein Novum. Weil es dem Lehrerbe-reich nicht vertraut ist, eine Teamsitzung zu machen, wie es die Erzieher kennen. Die Lehrer haben das Fachwissen, während die Erzieher eher das pädagogische Methodenwis-sen haben. Da stoßen zwei Bereiche aufeinander, die sehr unterschiedliche Bedingungen haben. Die Lehrer unterrich-ten, ich sage das mal deutlich, 28 Stunden mit 45 Minuten, der Rest ist Vorbereitungszeit. Und die Erzieher haben das nicht. Es sind einfach sehr unterschiedliche Bedingungen, die sie haben. Und damit muss man ganz vorsichtig arbei-ten, fi nde ich, um eine Annäherung zu schaffen. Und jetzt haben wir also eine Team-Sitzung. Das haben wir schon erreicht. Es war schon einmal eine Lehrerin bei uns und hat mit uns gegessen. Und sie hat gestaunt, wie laut es ist, wie unruhig, wie sehr wir doch die Zügel in der Hand behalten müssen, um mit 30 Kindern in einem Raum zu essen. Aber sie sehen dann auch deutlicher, wie wir arbeiten. Und es gibt tatsächlich auch Lehrer, die arbeiten jeden Tag von 8-16 Uhr an der Schule und kommen dann auch mal vorbei, auch wenn das doch noch selten ist.

Godulla: Gestaltet ihr die Elternabende auch gemein-sam?

Schmidt: Wir würden sie gerne mehr zusammen gestal-ten. Aber im Hort und im Grundschulbereich sind sie doch unterschiedlicher. Auch von der Wertigkeit her, die die Eltern diesen Bereichen geben. Wir Erzieher sind bei den Elternabenden in der Schule dabei und wir sind auch Ansprechpartner für Fragen der Eltern. Aber die Eltern genießen die Elternabende im Hort, weil sie in einem anderen Kontext stattfi nden. Sie sind zwar in der Schule, aber es geht nicht um Schule, es ist etwas entlasteter. Insofern ist die Trennung der Arbeit zwischen Kinderhaus und Schule an diesem Punkt schon gut.

TN: Wir haben ein ähnliches Konzept. Und wir würden uns auch viel mehr Gespräche mit den Lehrern wün-schen. Wie schafft ihr diesen Freitag, wenn ihr die gemeinsame Teamsitzung macht? Da sind ja dann auch noch die Schüler.

Schmidt: Die werden dann von anderen Lehrern unter-richtet. Das muss man nur wollen. Ich bin dankbar, dass wir eine Schulleiterin haben, die eine klare Weisungssi-cherheit hat. Die Lehrer müssen das natürlich auch wol-len. Aber wir haben Strukturen geschaffen, in denen das strukturell notwendig und möglich ist, nicht nur auf per-sönlicher Ebene.

Schröder: Wie viele Stunden ist eine Erzieherin etwa in einer Lerngruppe? Ich habe sieben jahrgangsübergrei-fende Gruppen in der Schulanfangsphase und habe pro Gruppe 8 Stunden Erzieherinnen da drin. Und dann ent-scheiden die Gruppen, ob die gemeinsame Arbeit mit Erzieherinnen temporär sein soll. Der Senat empfi ehlt bis zu 10 Stunden. Es gibt eine große Beratung, bei der alle aus der gesamten Schulanfangsphase zusammen sind. Und dann gibt es noch die einzelnen Team-Sitzungen, das sind die zwei Gruppen, die zusammen arbeiten plus die Erzieherinnen.Die zweite Frage bezieht sich auf das, was ihr alles leistet im Rahmen des Unterrichts: Schafft ihr das alles in eurer Arbeitszeit? Mir schien es so, als wäre das eigentlich nicht leistbar.

Schmidt: Wir haben 4 Stunden im VHG-Bereich, also zwischen 7.30 und 13.30 Uhr. Da sind wir in den Unter-richt mit einbezogen. Das ist nur in den Klassen 1 und 2. Das sind insgesamt 6 Klassen. Da haben wir 4 Stunden in Kontroll- und Lerngruppen, 6 Stunden Unterrichtsbe-gleitung, eine Stunde Projekt und 5 Stunden Essen pro Woche. Es gibt einen Hort-Schlüssel für das nachschu-lische Betreuungspersonal. Da sind die gleichen Erziehe-rinnen gewissermaßen in Personalunion eingesetzt, die auch im VHG-Bereich arbeiten. Trotzdem trennen wir die Bereiche in der Planung stundenmäßig, um den Anforde-rungen der unterschiedlichen Bereiche gleichermaßen gerecht zu werden.

Hübner: Als wir angefangen haben, gab es viel Konkurrenz von der Seite der Schulkonferenzen, also, die Entschei-dung ist da sehr spät gefallen. Und auch die Schulleitung war sehr kritisch und sehr distanziert. Es wurden erst mal bei der Auswahl der Mitarbeiter eine Menge Anforde-rungen formuliert, was die Erzieher alles können müssen und was sie auf keinen Fall machen dürfen. Ich fi nde, was dieses Team in 2 Jahren geleistet hat, ist enorm. Weil die Schüler mit ihnen wirklich froh und glücklich sind. Es

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gibt aber auch Dinge, die nach wie vor schwierig sind. Wir haben ein Beschwerde-Management mit Mitarbei-tern gemeinsam entwickelt, das wir versuchen, dort zu propagieren. Es gibt manchmal etwas brüske Umgangs-formen von Seiten der Lehrer. Und da muss man manch-mal sagen: darüber hättet ihr vorher sprechen müssen, so bitte nicht.“, so bitte nicht. Wir haben in der Region zwei große Kin-dertagesstätten. Das heißt, die Kinder und die Eltern ler-nen uns schon kennen, bevor sie an die Schule kommen. Und wir sind auch Träger des Nachbarschaftshauses in der Region, in dem es Kinder-, Jugend- und Familienarbeit gibt. Das greift alles ineinander. Das funktioniert natürlich anders, als wenn Frau Schmidt mutterseelenallein dort arbeiten müsste.

TN: Ich möchte als Nicht-Berliner noch mal nachfragen. Der Senat hat beschlossen, dass es Erzieherstunden an Grundschulen gibt. Und darüber kriegt ihr jetzt die Mittel für dieses Projekt?

Hübner: Wir haben ein neues Schulgesetz. Das hat meh-rere Bausteine. Kinder werden mit 5 ½ Jahren eingeschult. Es gibt die sogenannte ‚verlässliche Halbtagsschule’, das gilt für alle Kinder. Kinder in der Schule von 7.30 Uhr bis 13.30 Uhr. Mit Mittagessen. Schule wird anders verstan-den, nämlich in unterschiedlichen Formen zu lernen. Und an dieser Stelle ist die Funktion der Erzieher verankert. Danach gibt es in der Schule die nachschulische Betreu-ung, wodurch perspektivisch die Horte abgeschafft wer-den. Der Sinn der Nachmittagsbetreuung ist, dass das, was morgens in der Schule passiert, nicht losgelöst ist, sondern bei Bedarf und Interesse am Nachmittag ver-stärkt, wiederholt, aufgebaut werden kann. Da haben wir als Freie Träger uns dafür stark gemacht, dass unsere Erfahrungen, die wir seit 50 Jahren in der Schülerbetreu-ung haben, nicht einfach weggeworfen werden, sondern von der Jugendhilfe dadurch mit in die Schule eingebracht werden können, dass die bis dahin außerschulischen Trä-ger Aufgaben in der Schule mit übernehmen. Es bedurfte langer harter Verhandlungen, um durchzusetzen, dass das neue Schulkonzept nicht nur in staatlicher Regie umgesetzt wurde. Die konkrete Umsetzung hängt natür-lich dann auch an räumlichen und personellen Möglich-keiten der Schulen. Das ist jetzt also in der Entwicklung. Man schließt mit den Schulen einen Jahresvertrag als Kooperationsvertrag. Die Entscheidung darüber trifft die

Schulkonferenz von Eltern, Lehrern und Schulleitung. Schröder: Das ist aber doch noch viel komplizierter. Das ist jetzt ein Beispiel aus dem alten Westen. Und Berlin ist ja bunt gemischt. Und im alten Osten war das Problem, dass unsere Schulen Horte hatten von 6 -18 Uhr. Anfang der 90er Jahre haben wir uns dann untergeordnet, so dass die Horte in die Kindertagesstätten integriert wurden, ein-schließlich der Erzieherinnen. Jetzt wird dieser Prozess wieder rückgängig gemacht. In den östlichen Bezirken ist jetzt ganz oft das Bezirksamt der Träger dieser Horte in den Schulen. Bei uns ist für das Personal der Senat zuständig, während für das Gebäude und die Finanzen der Bezirk zuständig ist. Wir gucken, was die Verfahrens-weisen angeht, viel ab von guten Gesamtschulen. Und wir gucken auch viel ab von Montessori-Schulen, die einen Teil des Unterrichts jahrgangsübergreifend machen.

- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - Kooperation zwischen außerschulischer mobiler Jugendarbeit und Schule im Beispiel von Outreach-Mariendorf

Emirli: Ich bin kein Schulsozialarbeiter. Wir sind meistens draußen auf der Straße und gucken auf Höfen und in Park-anlagen nach Jugendlichen. Wenn wir Jugendliche noch nicht kennen, versuchen wir Kontakt aufzunehmen. Wir kümmern uns um Jugendliche, die in keine der Einrich-tungen im Sozialraum gehen und die sich benachteiligt fühlen, benachteiligt werden, die gewalttätig sind und mit Drogen zu tun haben. Und die dann meistens auch Schul-schwänzer oder Schulverweigerer sind. Ich arbeite seit 5 Jahren mit einer Haupt- und Realschule, ganz eng sogar, seit 5 Jahren, da haben wir den Kontakt zu dieser Schule in Mariendorf aufgebaut, weil unsere Jugendlichen nicht sehr oft in der Schule waren. Wenn wir Projekte mit ihnen machen wie Reisen, kriegen wir ja mit, was in der Schule los ist oder auch zu Hause. Einige gehen nicht gerne in die Schule, und da haben wir gefragt: wieso? Es gab also Diskussionen. Sie haben sich über die Lehrer beschwert, über die Schule. Aber auch über die Eltern. Einige Eltern kannten die Schule nicht, haben wir mitgekriegt. Wir sahen es als unsere Aufgabe an, diese Situation zu verbessern und wollten, dass sie auch in der Schule gut sind. Des-halb haben wir mit Erlaubnis der Jugendlichen mehrere Lehrer kontaktiert. Wir haben gesagt, wir übernehmen es, diese Jugendlichen zu betreuen, weil Schule und Eltern das nicht leisten können. 80 Prozent der Schüler an die-

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Nicht für die Schule, sondern für das Leben ...│ Bildung im Stadtteil 93

ser Schule haben einen Migrationshintergrund. Oder sie haben vielleicht deutsche Eltern, die sich nicht kümmern. Innerhalb von einem Jahr hat es so eklatante Fortschritte bei den Jugendlichen gegeben, dass die Lehrer uns mit Anfragen für andere schwierige Jugendliche bombardiert haben, ob wir denen auch weiterhelfen können. Obwohl die Schule eine Schulstation hat, in der zwei Kollegen arbeiten. Neben vielen anderen Aufgaben haben sie auch das Schmieren und Verkaufen von Brötchen über-nommen. Diejenigen Schüler, die den Unterricht gestört haben, wurden in den Schülerclub runtergeschickt. Es waren sehr viele Einzelfälle, die Erzieher sollten die Eltern kontaktieren, nur telefonisch, weil sie sich da nicht weg-bewegen konnten. Wir als Streetworker von Outreach haben dann spä-ter auch diesen Part übernommen. Diese Einzelfälle, in denen die Eltern sich nicht gemeldet hatten und die Schü-ler seit drei Monaten nicht in der Schule waren, häuften sich schließlich und waren halt über das Telefon nicht zu lösen. Wir waren dagegen mobil und konnten Hausbe-suche machen. Vieles haben wir dabei entdeckt. Dadurch haben wir natürlich sehr viele Erfahrungen gemacht. Z.B. war da ein Junge, der gleich am Anfang der 7. Klasse nur zweimal in der Schule war. Warum? Weil da Jungs waren, die ihm an der Tür seine Sachen wegnahmen. Er hatte einfach Angst. Dann war er den ganzen Tag unterwegs. Der Vater wusste nichts davon, die Mutter hat sich in der Schule nicht gemeldet. Sie hatte ein Alkoholproblem. Und der Junge war drei Monate lang draußen. Meine Aufgabe war es, ihn zu fi nden, im Jugendfreizeitheim zu fragen, ob sie ihn kennen usw. Gut, wir haben ihn gefunden. Wir wussten, zu welcher Gruppe er gehört. Dann haben wir die Mutter besucht, er kam auch dazu, die Großeltern auch. Danach war die Sache erledigt. Er kam jeden Tag zufrieden in die Schule, wo wir für ihn eine Jugendgruppe gefunden haben. Wir sind in 5 Jahren so weit gekommen, dass wir jederzeit in die Schule reinkönnen. Wir können die Räume benutzen und betreuen die Schüler in außer-schulischen Zeiten. Wir haben Tanzgruppen aufgebaut, Theatergruppe, in der Schule geübt und trainiert. Aber auch draußen im Jugendfreizeitheim. Dieser Kontakt bestand dann weiter, so dass wir auch dort Räume benut-zen durften. Das ist gut für uns, denn mit der Schule gibt es immer irgendwelche Probleme. In diesem Fall ist es der Hausmeister, der die Schule nur bis 17 Uhr geöffnet hält. Und Jugendliche haben ja meistens erst danach Zeit. Wir sind in den U-Bahnhöfen drin, weil Schüler, die aus

der Schule kommen, manchmal zwei bis drei Stunden imU-Bahnhof bleiben. Und da Freizeitheime erst ab 15 Uhr aufmachen, haben sie keine Räume, wo sie sich treffen können. Oder sie haben auch kein Interesse, dort hin-zugehen, weil sie andere Regeln haben, die denen nicht gefallen. Sie dürfen da nicht rauchen. Im U-Bahn-hof rauchen sie. Sie dürfen da nicht spucken. Im U-Bahnhof spucken sie. Und auch in der Schulstation dürfen sie das nicht, obwohl die nachmit-tags für sie geöffnet ist. Auch im U-Bahnhof dürfen sie nicht laut wer-den. Aber sie sind da, sie laufen hin und her, sie knüpfen Kontakte und unterhalten sich. Die meisten Mäd-chen, wenn sie erst mal nach Hause gehen, dürfen dann nicht wieder raus. Sie halten sich also noch im U-Bahnhof auf und sagen, sie waren in der Schule. Das ist ein Treffpunkt für sie, und deshalb sind wir auch da. Unsere Kooperation mit der Schule geht dann gut, wenn wir den Lehrern helfen. Die Schüler werden besser in der Schule, weil sie mit uns lernen, einige Regeln zu akzep-tieren. Aber – ich weiß nicht, ob alle Schulen so sind. Die Frage habe ich mir damals gestellt, und die stelle ich mir immer noch: sind die Sozialarbeiter und Erzieher dafür da, den Lehrern zu helfen?

Godulla: Du hast gesagt, die Lehrer kommen zu euch und sagen: wir haben Probleme, könnt ihr uns mal helfen? Das ist ja gut. Aber was kommt jetzt nach 5 Jahren von den Lehrern? Habt ihr auch was von der Zusammenar-beit? Und die andere Frage ist: Wie ist der Kontakt zur Schulstation?

Emirl: Mit den Sozialarbeitern der Schulstation haben wir einen ganz guten Kontakt. Wir übernehmen die extremen Fälle. Deshalb werden wir auch Feuerlöscher genannt. Wenn es brennt, dann ist Outreach da. Wir verstehen, dass es so einen Teil der Arbeit gibt, wir übernehmen den auch. Aber wir wollen nicht nach dem Löschen gehen, son-dern die Kooperation geht mit den Kolleginnen der Schul-station weiter. Und wir machen gemeinsame Projekte mit denen, aber nicht nur in der Schule, sondern auch außer-halb der Schule. Mit den Lehrern leider nicht. Das war

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immer unser Wunsch. Aber was wir machen ist, dass wir uns einmal im Monat treffen: Schulleitung, Schulsozialar-beiter, Jugendamt und Outreach. Und dann reden wir über extremere Einzelfälle, wenn Jugendliche überhaupt nicht mehr wollen und wirklich aus der Schule rausgeschmis-

sen werden sollen. Wir halten uns am U-Bahnhof zu den Zeiten auf, wenn dort besonders viele Jugendliche sind. Wenn sie Blödsinn machen, mischen wir uns nicht ständig ein, sondern ver-suchen uns anzunähern, Vertrauen aufzubauen und sie zu motivieren, bei

bestimmten Projekten mitzumachen. Dadurch haben wir sehr viele Jugendliche in der „Lernschule U-Bahnhof“, die in der Schule keine Lust haben was mitzumachen, aber draußen doch dafür ansprechbar sind. Diese Jugend-lichen organisieren z.B. jetzt schon seit zwei Jahren Feten und interkulturelle Feste für Grundschüler und Oberschü-ler in diesem Sozialraum. Gestern gab es zum zweiten Mal eine Kinder- und Jugend-Versammlung. Ein Lehrer von der Schule war sehr erstaunt. Zwei seiner Schüler, wovon einer sehr aggressiv ist und vor kurzem von der Schule verwiesen wurde, während der andere zwar noch an der Schule ist, aber endlos Probleme macht, diese Schüler übernehmen in unseren Projekten im Freizeitbereich eine ‚Lehrerfunktion’. Sie sind selber Rapper und haben 50 Kinder und Jugendliche betreut, ihnen Beats nahege-bracht. Sie haben ihnen gezeigt, wie sie Texte im richtigen Takt schreiben können. Sie machen das sehr erfolgreich. Schon nach zwei Stunden waren die Lernenden in der Lage, mit ihren neu entstandenen Raps aufzutreten. Der Lehrer war baff, sein Kommentar war: Scheißschule. Unser System ist ganz anders. Wir sind keine Schule. Wir lassen sie gehen. Und wir lassen sie auch spucken. In der Schule dürfen sie das natürlich nicht. Wie können wir mit den Schulen am besten kooperie-ren? Inhaltliche Arbeit, Austausch mit den Lehrern fehlt. Die Lehrer kommen auf uns zu, wenn sie mit einzelnen Jugendlichen Schwierigkeiten haben. Wir arbeiten mit den Jugendlichen draußen. Die Lehrer sind in der Schule, wir sind im U-Bahnhof, das ist unser Arbeitsplatz. Wenn da mal Lehrer hinkommen, spielen sie ihre Lehrerrolle weiter.

Schmidt: Ich kenne dieses Verhalten bei uns auch, wenn Lehrer in das Essenshaus kommen. Da sind üblicherweise zwei Erzieherinnen, die die Essenssituation gestalten und ein bisschen für Ruhe sorgen. Die Lehrerin, die uns dort besuchte, kam rein, hat sofort an ihre Teetasse geklopft und gesagt: jetzt ist aber Ruhe! Sie hat sich sofort verant-wortlich gefühlt, dass sie da gestalten muss.

Schmidt: Das ist eben das, was sie jeden Tag macht. Sie unterrichtet jeden Tag sieben Mal ihr Fachgebiet, muss vielleicht dazu mal den Raum wechseln. Sie baut dabei aber keine wirkliche Beziehung zu jeweils 30 Kindern auf, und darum sieht sie gar nicht, worin eigentlich unsere Arbeit besteht. Die jeweiligen Kinder sehen diese Leh-rerin vielleicht einmal in der Woche, da kann man nicht davon ausgehen, dass sie eine Beziehung zu ihr haben, die vertrauensvoll gestaltet ist. Davon kann man einfach nicht ausgehen. Ich habe mehrfach gehört, dass es heißt: wir bauen einen Kontakt zu den Jugendlichen auf, damit Vertrauen entsteht. Diesen Vorlauf haben Lehrerinnen gar nicht. Ich fi nde, an Erziehung muss gearbeitet werden, gerade in der Schule. Und die Lehrer müssen in der Hin-sicht auch ihrerseits bestimmte Schritte machen.

Emirli: Ja, aber das müssen wir gemeinsam lernen. Wir müssen uns gegenseitig warnen oder aufmerksam machen.

Schmidt: Jedenfalls entstehen auf diese Art Situationen wie im U-Bahnhof, wo ein Lehrer vorbeikommt und sofort sieht: ‚Wie, ihr lasst die hier rauchen?’

Godulla: Aber Verbote durchsetzen, das ist doch das, was sie jeden Tag machen müssen!

Monteiro: Ich sehe es gerade anders rum, dass nämlich Lehrer viel zu oft über Dinge wegsehen und ihre Aufgabe der Bildung und Erziehung gar nicht wahrnehmen. Die haben oft einfach Feierabend und reagieren eben nicht.

Emirli: Ich sehe da aber einen kleinen Unterschied. Wenn die Polizei da ist, weil es eine Auseinandersetzung mit Schlägerei gibt, dann mische ich mich nicht ein, weil dann die Regeln der Polizei gelten. Ich muss ihre Arbeit akzeptieren und mich zurückziehen. Wenn ich als Sozi-alarbeiter da hingeschickt wurde, um diese Gruppe zu betreuen, und wenn dann ein Lehrer kommt und sagt,

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was diese Jugendlichen zu tun haben, obwohl ich da bin, dann bedeutet das, dass er oder sie mein Verhalten und meine Methode nicht akzeptiert.

Schmidt: Ich habe das Problem auch oft in der Arbeit, dass wir weder akzeptiert noch anerkannt werden von den Lehrern. Sie tauchen auf und meinen, sie dürfen dann mal eben kommandieren. Z.B. sitzen sie manchmal im Schülerclub und befehlen einem Kind, seine Kappe abzunehmen. Und ich denke dann: Moment mal, das ist hier der Schülerclub, das ist der Raum der Jugendlichen. Hier ist kein Unterricht, und wenn sie drei Kappen aufha-ben wollen, dann sollen sie das eben. Wenn ich mit dem Lehrer dann rede, sieht er das aber nicht so. Und irgend-wie fi nde ich das respektlos. Ich empfi nde es so, weil das mein Metier, meine Methode ist und meine Regeln sind. Und so ist eben der U-Bahnhof der Raum der Jugend-lichen, wo sie in bestimmtem Maße ihren Regeln folgen.

Emirli: Die Kooperationsmöglichkeit, die ich da sehe, ist, dass wir uns ab und zu mit den Lehrern hinsetzen, um darüber zu sprechen. Und wir sollten uns regelmäßig tref-fen. Um uns über unsere pädagogischen Ansätze, Ziele und das jeweilige Rollenverständnis auszutauschen.

- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - Kooperation des Horthauses ‚Schulburg’ des Nachbar-schafts- und Selbsthilfezentrums in der ufafabrik (NUSZ) mit der Grundschule auf dem Tempelhofer Feld

Wagner: Ich arbeite in der Schulburg, das ist ein Hort-haus, das mit einer Grundschule zusammen arbeitet. In der Schulanfangsphase sind Erzieher mit in den Klassen. Eine jahrgangsübergreifende Arbeit gibt es dort noch nicht, weil es da räumliche Probleme gibt. Ich arbeite auch am Nachmittag. Der Kontakt zwischen Lehrern und Erzie-hern ist am Vormittag ganz gut. Am Nachmittag ist das allerdings nicht so, weil die Lehrer dann nicht mehr da sind. Ich bin in der zweiten Klasse, und wenn ich mit den Lehrern spreche, ist das immer in der Pause zwischen Tür und Angel. Wir haben auch mal Elterngespräche zusam-men geführt oder sind gemeinsam über den Hof gegan-gen. Wir nehmen auch an der Schulkonferenz teil, da sind dann alle Lehrer und Erzieher zusammen. Da geht es immer um Kleinigkeiten wie das Spucken oder darum, was die Schüler auf dem Schulhof dürfen. Vormittags ist es der Pausenhof, aber nachmittags ist es der Lebens-

raum. Dann erhebt sich die Frage: dürfen die Kinder z.B. in die Büsche? Nachmittags, wenn ich Aufsicht habe, dür-fen sie das. Ich hätte auch gerne, dass sie auf die Bäume klettern, ich hätte auch gerne, dass sie mit den Stöcken spielen dürfen. Morgens dürfen sie das nicht. Wo wird die Grenze gezogen? Ich stehe auf dem Schulhof, dann kommt eine Lehrerin und jagt die Kinder von der Tischten-nisplatte. Und ich stehe daneben. Es gibt zwar schon eine Annäherung zwischen Lehrern und Erziehern, es ist schon viel passiert. Ich habe mit Kol-legen gesprochen, die schon vor zwei Jahren da waren, und die sagten, es gab eine ganz starke Ablehnung von Seiten der Lehrer oder auch eine geforderte Anpassung auf der Seite der Erzieher, unter dem Motto: ihr dürft hier sein, aber die Lehrer-Regeln bleiben. Was natürlich ganz schwierig ist.

Jetzt soll ja das neue Grundschul-Konzept umgesetzt wer-den. Unser Hort fi ndet in separaten Häusern statt. Wir betreuen am Nachmittag 220 Kinder, davon sind 60 aus-gegliedert in der Kindertagesstätte. Die haben also andere Bedingungen, kleine Räume. Das ist so der Kuschel-Hort. Die Eltern der Kita wollten gerne, dass die Kinder dort in den Hort gehen, nicht in unseren großen Hort, wo 185 Kinder in drei Räumen sind. Das Essen ist im Haupthaus mit den drei großen Räumen. Um da hinzugehen, gehen die Kinder durch die Schulräume durch. Und da gehen sie dann eben auch nicht nur so durch, sondern kicken den Fußball bis zum Schulhof. In unserer Zeit können die Kinder eigentlich überall sein, sie dürfen überall rein. Es gibt Arbeitsgruppen, an denen sie teilnehmen können, aber die Kinder können sich frei entscheiden, was sie am Nachmittag machen. Dann kommen die Eltern, um ihre Kinder abzuholen und fragen: wo ist mein Kind? Und wir konnten ja gar nicht überblicken, wohin es gegangen war. Jetzt gibt es ein Brett, auf dem die verschiedenen Orte bezeichnet sind. Wenn ein Kind auf den Sportplatz geht, klammert es seinen Namen da fest. Und wenn es zurück kommt, nimmt es seine Klammer da ab. Dann haben wir uns Funkgeräte besorgt, um uns gegenseitig zu informie-ren. Und beim Essen gibt es eine Liste, da muss man ein Kreuz machen, um sich abzumelden. Gerade wenn man an der Anmeldung sitzt, muss man schon ein Multi-Talent sein. Man hat die Liste und die Kin-der vor sich, das Telefon klingelt, tausend Eltern kommen auf einen zu. Und wir suchen immer noch nach einem Weg, wie man das am besten organisieren kann.

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Schmidt: Wir leisten uns jetzt einen Listendienst, also eine pädagogische Kraft, die auf die Einzelheiten guckt: bist du gut angekommen? Ist dein Ranzen im Fach? Hast du die Hausschuhe an? Geh bitte zum Essen. Und im Nachmittagsbereich, wo die Kinder anfangen nach Hause zu gehen, geht dieses Kind zum Logopäden, ein anderes zum Zahnarzt, zur Musik-AG. Die Erzieher können diese Dinge nicht alle nebenbei im Auge haben. Darum gibt es eine Kraft, die auf alles achtet und die Kinder rechtzeitig losschickt.

Wagner: Ja, es ist ein großer organisatorischer Aufwand, im Auge zu haben, wo welches Kind wann hingeht und ob es alleine gehen darf. Wir haben einen Kalender, in den die Eltern das eintragen. Wir haben jetzt eine ABM-Kraft, die immer die Kinder zusammen sammelt. Die Eltern sind an dieser organisatorischen Arbeit von uns sehr interessiert. Aber manches können wir einfach gar nicht leisten. Wir versuchen sehr, die Selbstständigkeit der Kinder zu entwi-ckeln. Klar, am Anfang, wenn die ersten Klassen kommen, begleiten wir sie natürlich auch. Zu der Situation mit den Lehrern: Wir haben jetzt ganz gute Erfahrungen mit einem Studientag gemacht, den wir gemeinsam gemacht haben. So etwas hätte vielleicht schon früher stattfi nden müs-sen. Zusammen sind wir jetzt 17 Erzieherinnen und zwei Vorschullehrerinnen. Die bilden praktisch unsere Eintritts-karte ins Lehrerzimmer, weil sie noch Kontakt von früher haben. Wir vom Hort-Team hatten uns gewünscht, dass jemand von außen kommt, damit wir darüber sprechen können, wie man die Zusammenarbeit mit der Schule verbessern kann. Dazu haben die Lehrer sofort nein gesagt, sie wollten nicht, dass jemand von außen dabei ist. Wir haben dann aber gemeinsam einen Studientag im Wald verbracht, Spiele gemacht, die die Lehrer sich aus-gedacht haben, und zusammen gegessen. Da sind sich Erzieher und Lehrer etwas näher gekommen und wir wer-den eher wahrgenommen. So was sollte vielleicht eher an den Anfang gestellt sein. Wenn es etwas mit den Lehrern zu klären gibt, ergreifen meistens wir die Initiative, weil uns irgendwas aufgefal-len ist. Immer wieder laden wir sie zu unseren Veranstal-tungen ein – manchmal kommen sie.

Schmidt: Bei uns kommen regelmäßig Anfragen, welche Kinder in den Hort gehen. Wir sind immer ganz erstaunt, dass die Kinder jahrelang bei uns in den Hort gehen und die Lehrer das gar nicht wissen. Wir kämpfen ständig in

der Hausaufgabenhilfe, und die Lehrer wollen das gar nicht wissen. Ich gebe regelmäßig Informationen darüber, und manche Lehrer nehmen die in Anspruch.

Godulla: Das ist das, was ich nicht so ganz nachvollziehen kann, dass diese Neugierde nicht vorhanden ist. Lehrer könnten doch mittags einfach mal gucken, welche Kinder sind da und was machen sie da? Sie wissen ja, wenn ein Kind Probleme hat.

Schmidt: Ja, oder auch mal zu sehen, was für einen Tag eine Erzieherin durchläuft: wo ist sie, was muss sie machen. Dass eine Lehrerin mal mit einer Erzieherin mit-geht und deren Tagesablauf mitmacht. Nur so können wir eine gegenseitige Wertschätzung unserer Arbeit errei-chen, wenn wir wissen, was die anderen machen. Es geht ständig nur auf der Ebene: ihr kriegt mehr Geld als wir, ihr habt bessere Arbeitszeiten, ihr arbeitet von 8-12 Uhr und wir von 6-18 Uhr. Und wenn es ständig nur so geht, werden wir es nicht schaffen. Wenn bei Weihnachtsfeiern hier das Lehrerinnen-Team und da das Erzieherinnen-Team sitzt und dazwischen ist gar nichts, dann stimmt da etwas nicht. Man muss sich mischen, anders kommt man nicht ins Gespräch. Wir müssen diese Kontakte schaffen. Wir könnten auch ins Lehrerzimmer gehen. Aber da gibt es gar keinen Stuhl für uns.

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Scherer: Wir haben hier zwei Modelle für die Zukunft der Schule: Entweder das Nachbarschaftszentrum macht die Schule, wird also Schulträger – oder die Schule entwickelt sich zum Stadtteilzentrum. Zwei ganz unterschiedliche Wege, die vielleicht zum gleichen Ziel führen können. Ein mutiger Schritt, vielleicht in Berlin so etwas zu starten. Torsten Wischnewski von der Stiftung Pfefferwerk wird uns dazu einen Input geben.

Wischnewski: Ich will kurz die Geschichte von zwei Schulen, die wir im Moment betreiben, erzählen. Dabei wird es einen Einblick in die Kooperation mit den Eltern geben, die bei uns eine wesentliche Rolle spielt. Wir werden dann einen kurzen Ausfl ug in die Konzeption machen und uns die konkrete Umsetzung ansehen, insbesondere, was das Lernen im Stadtteil angeht. Ich werde darüber sprechen, was das für die Schulen bedeu-tet, Perspektiven aufzeigen und Probleme benennen, die das Ganze mit sich bringt.

Zur Geschichte: Die freie Grundschule ist die erste Schule, die wir 2002 auf den Weg gebracht haben. Was war die Motivation? Die Motivation der Familien, die sich damit beschäftigt haben, war: dass sie kurze Wege haben, dass die Schule im Stadtteil eingebunden ist, dass sie die päda-

gogischen Ansprüche der Eltern mit berücksichtigt und dass für die Eltern Mitwirkung und Mitgestaltung in der Schule möglich sein würde. Das waren die wesentlichen Punkte. Und wichtig war auch, dass es eine Kerngruppe von Personen gab, die sich relativ gut verstanden haben und die das für sich umsetzen wollten. Das hat auch was mit Gemeinschaftserfahrung zu tun, weil das nämlich ein langer Weg ist, das durchzustehen. Der Vorlauf erstreckte sich über etwa 1 1/2 Jahre. Vor der Gründung der Schule gab es diese Gruppe von Eltern, die auf uns zugekommen sind und uns sagten: wir wollen gerne eine Grundschule entstehen lassen, wäret ihr bereit, uns dabei als Träger zu unterstützen? Diese Gruppe hatte auch andere Träger angesprochen, die in der Jugendhilfe tätig waren. Und sie haben auch andere Freie Schulen angesprochen. Dieser Auslotungsprozess, welcher Träger für sie der geeignete Kooperationspartner sein könnte, hat etwas über ein Jahr gedauert. In der Zeit sind konzeptionelle Ideen in ein Kon-zept umgesetzt worden. Es wurde auch darüber diskutiert, wie so eine Schule organisiert und strukturiert werden soll. Und zwar in der Zusammenarbeit zwischen Eltern, Pädagogen und Pfefferwerk. Wichtig ist: die Schülerinnen und Schüler spielen immer nur vermittelt über die Eltern eine Rolle. Dazu sage ich später noch was.

Es ist dann dazu gekommen, dass die Freie Grundschule 2002 gegründet wurde. Die Genehmigung dazu wurde bei der Schulverwaltung beantragt. Der Unterricht wurde im Februar 2003 mit 12 Kindern begonnen. Heute hat die Schule 60 Schülerinnen und Schüler. Das ist das Volu-men, das dort erhalten bleiben soll. Das sind vier Lern-gruppen mit 15 Kindern. Dann kam die Anerkennung als staatliche Schule im Sommer 2007. In Berlin ist die Situ-ation so, wenn man neuer Schulträger ist, dann wird man in die Warteschleife geschickt. In dieser Zeit wird erprobt, ob man in der Lage ist, Schulträger zu sein: Man steht unter besonderer Beobachtung der Senatsverwaltung. Während dieser Wartezeit bekommt man keine Finanzie-rung. In dieser Zeit muss man sich darauf verlassen, mit den Eltern diese 5 Jahre durchzustehen, alles aus Eigen-leistung, aus Schulbeiträgen zu erbringen.

Ein kurzer Rückblick noch auf die Geschichte der ‚Ber-lin Kids International School’: Da war der Vorlauf ganz anders, er war 7 Jahre. Und zwar deswegen, weil wir vor etwa 8 Jahren mit Eltern zusammen eine bilinguale Kin-dertagesstätte entwickelt und aufgebaut hatten. Und in

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Das Stadtteilzentrum als Schulträger oder die Schule als Stadtteilzentrum - Freie Schulen

in Berlin / das Projekt Zukunftsschule

Inputs: Torsten Wischnewski und Monika Schaal(Pfefferwerk Berlin)

Moderation: Herbert Scherer

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dieser Elternschaft gab es von Anfang an die Idee, dass sie auf jeden Fall die Kinder in eine von ihnen nach ähn-lichen Prinzipien geführte Schule schicken wollten. Die Idee bestand also ganz lange, aber es war trotzdem rela-tiv ungewiss, ob die Eltern dann tatsächlich mit uns eine Schule machen würden, weil das dann doch eine noch größere Herausforderung für die Eltern bedeutete. Ähnlich wie ich das für die Freie Grundschule beschrieben habe: die Konzeptentwicklung durchzustehen bis zur Gründung und zum Betrieb. Die Gründung war dann im Frühjahr 2007, Unterrichtsbeginn war im September 2007. Und es stand im August noch auf Messers Schneide, ob die Schule bereits an den Start gehen konnte. Eltern sagen leicht, dass sie die Idee gut fi nden und sie unterstützen wollen. Wenn es dann aber ernst wird, sieht man, dass die Kerngruppe ständig weiter abschmilzt. Es hätte durchaus passieren können, dass wir mit einer sehr kleinen Eltern-gruppe diese Schule nicht hätten beginnen können. Das wäre dann aber unsere Entscheidung gewesen. Vorteil bei dieser Schule ist, dass wir als Schulträger nicht wieder in die Warteschleife müssen, weil ja schon eine Grundschule von uns betrieben wird. Dadurch ist die Finanzierungssituation eine andere. Wir haben jetzt die Möglichkeit, das Modell der Grundschule zu multi-plizieren und dafür auch die fi nanziellen Ressourcen zu bekommen.

Scherer: Das heißt, obwohl die Anerkennung erst 2012 zu erwarten ist, gibt es schon eine Finanzierung?

Schaal: Eine um 15% reduzierte Schulfi nanzierung, ja. Die bekommen Träger, die eine bereits staatlich anerkannte Schule diesen Typs betreiben.

Wischnewski: Das macht natürlich den Aufbau und die Weiterführung einfacher.

TN: Wenn man eine weiterführende Schule machen will, geht es also wieder mit der Warteschleife los?

Wischnewski: Ja, das geht dann wieder von vorne los. Wenn wir also die Sekundarstufe I anschließen würden, hätten wir dieselbe Situation wie ganz am Anfang. Die Wartefrist würde dann drei Jahre betragen, erst danach gäbe es eine staatliche Finanzierung. Das ist ein Hemm-nis in Berlin, um zu vermeiden, dass es eine größere Anzahl Privatschulen gibt.

TN: Und die Wartefrist habt ihr dann tatsächlich nur mit privaten Geldern überbrückt?

Wischnewski: Ja, aber da gibt es natürlich noch einen Trick: Diejenigen, die in diesem Metier in Berlin unterwegs sind, kennen den – das sind Ganztagsschulen. Das heißt, sie werden von zwei Seiten fi nanziert. Es gibt die Senats-fi nanzierung, die bisherige Hort-Finanzierung und das dritte Element ist die Finanzierung durch die Eltern. Wir als Pfefferwerk haben da auch Mittel reingegeben. Dazu kommt, dass für die Absicherung der verlässlichen Halb-tags-Grundschule Mittel auch in der Wartezeit zur Verfü-gung stehen. Ich möchte aber gerne weg von der Finan-zierung und mehr über die inhaltliche Struktur und über die Kooperation mit den Eltern sprechen. Denn das ist das eigentlich Tragfähige an der ganzen Angelegenheit. Es gibt einen Elternverein, der den Hort betreibt. Das Pfef-ferwerk ist Schulträger, aber beide betreiben die Schule gemeinsam. Laufende Geschäfte werden durch Koopera-tion zwischen Elternverein, Pfefferwerk und Schulleitung geführt. Das sind die wichtigsten Elemente, warum das so auch stabil funktioniert und warum wir das jetzt multipli-ziert haben mit der bilingualen Schule. Alle wichtigen Ent-scheidungen werden im Konsens zwischen Elternverein, Pfefferwerk und Schulleitung getroffen.

Ich habe mir noch die Frage notiert: was ist mit der Schü-lerschaft? Das müssen wir hier tatsächlich mal disku-tieren, weil das in den ersten Jahren nicht im Zentrum gestanden hat. Finanzen, Personal, Konzeption, Verant-wortung liegen beim Elternverein. Und das ist glaube ich auch ein entscheidender Punkt für die Motivation der Eltern, in der Schule mitzuwirken. Im Schulgesetz steht für die staatlichen Schulen, dass das Schulprogramm im Schulgremium erstellt und dann umgesetzt werden muss. Das haben wir auf einer anderen Ebene, auf einem anderen Niveau. Es kann keine konzeptionelle Änderung geben im pädagogischen Bereich, ohne dass die Eltern dem zustimmen und das mitmachen. Das ist immer auch eine zweischneidige Sache, aber die Gründungseltern sind maßgeblich dafür verantwortlich gewesen, welche pädagogischen Konzepte umgesetzt werden sollten. Und damit waren sie ganz eng beteiligt an dem, was in der Schule passiert. Und dadurch konnten sie sich damit natürlich auch identifi zieren. Die Weiterentwicklung des Ganzen fi ndet in regelmäßigen Tagungen und Sitzungen statt. Das ist ein unheimlich

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hoher Aufwand, auch für uns als Träger, diese Koordinati-onsleistung immer wieder aufrecht zu erhalten. Und auch die manchmal gegensätzlichen Anforderungen, die es gibt, auszugleichen. Etwa darauf zu achten, dass nicht die Pädagogen die Oberhand haben, andererseits aber auch nicht die Eltern den Pädagogen ständig sagen, wie sie zu arbeiten haben. Das kostet viel Mühe.

Scherer: Ich möchte doch gerne noch mal zu dem Aus-gleich zwischen Eltern und Pädagogen zurückgehen. Das ist nämlich eine sehr spannende Frage. Ich habe von einer sehr reformorientierten Pädagogin, einer Schul-leiterin aus Potsdam, gesagt bekommen: Lasst uns mit den Eltern in Ruhe! Wir Pädagogen sind in der Lage, das umzusetzen, was aus unserer Sicht für die Kinder richtig ist. Denn die Eltern kommen mit Vorstellungen aus ihrer eigenen Schulzeit und haben Erwartungen an die Schule, die sehr konservativ sind. Woher haben denn die Eltern in euren Schulen diese Kompetenz?

Wischnewski: Die Eltern kriegen die Kompetenz nur darü-ber, dass sie sich mit dem Thema beschäftigen. Bei uns sind jetzt in der ersten Grundschule nur Eltern gewesen, die reformpädagogische Ansätze immer schon in Schule umgesetzt wissen wollten. Aber auch da gab es immer einen Teil, der sich über das Thema Eliteförderung Gedan-ken gemacht hat. Im Bezirk Prenzlauer Berg, welche Elternschaft ist denn das, die motiviert ist, sich auf den Weg zu machen? Das sind natürlich im Wesentlichen Intel-lektuelle, die natürlich von ihrer Position her das Beste für ihre Kinder verwirklichen wollten. Und in dem Spannungs-verhältnis, das muss man ehrlich sagen, stehen auch die professionellen Pädagogen. Denn sie müssen eine hohe Vermittlungsleistung liefern, den Eltern auch ihre Grenzen aufzuzeigen und ihnen zu sagen: an der Stelle sind wir die Profi s, und wir können das einschätzen.

Schaal: Wir sind an der Freien Schule dabei, aus der Auf-bauphase heraus zu kommen, weil jetzt die Gründungs-eltern nach und nach weggehen. Wir müssen jetzt neue Formen der Mitdiskussion von Eltern fi nden. Zum einen, weil die Schule größer geworden ist, als sie in den ersten Jahren war, zum anderen weil es nicht mehr die Eltern sind, die mit der Schulleiterin gemeinsam das Konzept geschrieben haben. Die heutigen Eltern besitzen einen anderen Hintergrund. Die Suche nach neuen Formen ist ein schwieriger Prozess, den wir ständig ausbalancieren.

Rasfeld: Wir können nicht von Demokratie in der Schule reden und uns gleichzeitig über die Eltern hinwegsetzen. Meine Position ist, dass Erziehung die gemeinsame Ver-antwortung von Schule und Elternhaus ist. Ziel muss sein, auf eine Linie zu kommen, alles auszudiskutieren. Und die Kinder gehören natürlich mit an den Tisch. Ich war 30 Jahre an einer staatlichen Schule, bin jetzt an der Freien Schule, aber nicht unbedingt, weil ich an eine freie Schule wollte. Ich komme auch aus einer Schule mit Brennpunkt Stadtteil, und ich fi nde, man kann auch staatliche Schu-len in Kooperation mit Eltern und anderen Partnern betrei-ben. Wenn wir die Eltern ausgrenzen oder die Eltern nicht ernst nehmen, dann ist das nicht zum Wohl der Kinder. Das ist natürlich schwierig. Aber ich habe damit eigentlich keine schlechten Erfahrungen gemacht.

Wischnewski: Noch mal zu den Konzepten: Lernen aus Freude und aus Eigenverantwortung. Individuelle Förde-rung. Das war wichtig in den anfänglichen Diskussionen, dass man nicht nur defi zitorientiert hinsehen wollte, sondern eher auf die Stärken gucken wollte. Was kann da gefördert werden und was soll individuell gefördert werden? Das war einer der wesentlichen Punkte bei der Erstellung der Konzeption. Vielfalt der Lernmethoden, fachübergreifend sowie stadtteilbezogen. Wechsel zwi-schen freien und geleiteten Lernmethoden, ganz wich-tig. Das wird in der Freien Grundschule wirklich sehr gut umgesetzt. Es wird Morgens um 8.30 Uhr mit einem gemeinsamen Frühstück begonnen. Um 9.00 Uhr gibt es einen von Lehrern geleiteten Unterricht, mit den Erziehe-rinnen zusammen, in einer Lerngruppe von 15 Kindern. Danach gibt es eine Pause. Danach gibt es freies Ler-nen, das heißt, die Kinder suchen sich eigene Themen, die sie bearbeiten wollen. Dafür haben sie methodische Rahmenbedingungen. Das sind Bücher, Materialien, ein Turm mit konzeptionellen Foldern, aus denen sie was rausnehmen können. Es gibt einen Material-Pool, aus dem sie schöpfen können. In dieser Zeit haben sie die Möglichkeit, mit den Pädagogen gemeinsam einzelne Themen zu bearbeiten. Nach dem gemeinsamen Mit-tagessen gibt es dann eine projektbezogene Einheit bis etwa 15.30 Uhr. Und das ist eben etwas, was die staat-lichen Grundschulen im Ganztagsbetrieb überhaupt nicht hinkriegen, sie bekommen keine Rhythmisierung im Schulalltag hin, weil sie sehr starr an ihren Lehrplä-nen und Stundenplänen hängen. Sie können sich keine Freiräume organisieren. Und diese Freiräume sind in der

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Freien Grundschule von Anfang an organisiert worden. Wichtig bei den projektorientierten sowie bei den stadtteilbezogenen Methoden ist, dass die Eltern in der Schule auch als Experten teilnehmen. Sie brin-gen selber etwas in den projektbe-zogenen Unterricht ein. Dadurch wird auch die Erfahrungswelt der Eltern in die Schule eingebracht. Und die Schüler sollen mit den Pädagogen in den Stadtteil gehen und sich dort andere Institutionen angucken – die Bäckerei, die Feu-erwehr, das Jugendamt, den Lam-penladen, den Elektromeister. Sie sollen sich ansehen, welche Erfah-

rungswelten es außerhalb der Schule gibt. Und das brin-gen sie dann wieder mit in den Unterricht.

Es gibt auch Jahrgangs übergreifende Lerngruppen. Als wir anfi ngen, gingen wir davon aus, dass es sinnvoll wäre, die ersten drei Jahrgänge und die anschließenden drei Jahrgänge jeweils zusammen zu fassen. Inzwischen sind wir dazu übergegangen, die ersten beiden Jahrgänge in einer Lerngruppe zu haben und daran anschließend immer jeweils zwei Jahrgänge in einer Lerngruppe. Das hat sich jetzt konzeptionell verändert. Die Gruppen sind also altersgemischt und bieten so den Zugang zu den Erfahrungswelten älterer oder jüngerer Kinder. Die Älteren können also von den Jüngeren als Experten in Anspruch genommen werden. Das ist ein wichtiges Element beim Lernen: sich zu fragen, was haben wir verstanden, wie können wir das anderen vermitteln. Damit wird Lernen gefestigt. Die Schulen haben unterschiedliche Schwerpunkte. Die zweite Schule hat die Zweisprachigkeit, Deutsch und Eng-lisch, als Schwerpunkt. Konkrete Umsetzung: Geteilte Trägerschaft, die Eltern-schaft betreibt den Hort, Pfefferwerk ist der Schulträger, aktive Teilnahme der Eltern am Unterricht und bei der Wei-terentwicklung des Schulkonzepts. Der Unterricht fi ndet in Räumen statt, die dem Träger gegen Entgelt überlas-sen werden, das sind zwei alte Schulen. Als wir dort rein-gingen, waren sie in einem katastrophalen Zustand. Man muss sich wirklich dafür schämen, dass eine doch reiche Stadt so liederlich mit ihren Flächen umgeht. Die Schulen

waren einfach verwahrlost. Die Eltern haben in der Hin-sicht eine unheimliche Eigeninitiative an den Tag gelegt, mit dem Träger zusammen diese Räume überhaupt für einen Schulbetrieb wieder nutzbar zu machen.

TN: Was heißt in dem Fall Entgelt?

Wischnewski: Betriebskosten und geringes Entgelt.

Schaal: Es ist in beiden Schulen unterschiedlich. Die eine Schule wird durch den Träger verwaltet und kostet eine geringe Miete plus Betriebskosten. Und für die andere Schule handeln wir gerade einen Erbbau-Pachtvertrag aus. Die Bezirke unterstützen fi nanziell den Betrieb der Schulen, indem sie sie für uns bezahlbar halten. Wir inve-stieren natürlich auch und dafür kriegen wir Mieten, die wir uns leisten können.

Wischnewski: Die Bezirksämter haben beide Schulgrün-dungen tatsächlich unterstützt, aber nicht so sehr von der fachlichen Seite als vielmehr von der baulichen und infrastrukturellen Seite. Den zuständigen Stadträten für Schule ist das alles nicht geheuer, weil die Gründung von Privatschulen bei SPD und Linken als suspekt angese-hen wird, weil sie den Aspekt von Eliteförderung zu sehr im Vordergrund sehen. Sie haben dann das Gefühl, sie müssten die ‚Restschule’ betreiben. Den Unterhalt der Schulen bestreitet der Schulträger, die Finanzierung erfolgt durch das Land Berlin. Ich habe da durchschnittlich 5% angesetzt, bei der bilingualen Schule ist es etwas weniger. Die Elternbeiträge liegen bei rund 100,-€ pro Monat. Und die Eltern mussten bei der Inve-stierung in die Räume einen Anfangsbetrag einzahlen, weil wir die Schule nicht aus eigenen Mitteln sanieren konnten.

TN: Euer Schulsystem schließt ja wohl die Hartz-IV-Emp-fänger und ihre Kinder aus. Oder gibt es da Möglich-keiten, dass sie sich das Schulgeld von woanders holen können?

Schaal: Im Moment haben wir ganz vereinzelt Hartz-IV-Empfänger, die aber familiäre Unterstützung haben. Das sind Eltern, denen das so wichtig ist, ihre Kinder in diese Schulen zu schicken, dass sie das irgendwie organisie-ren. Das ist für uns ein großes Dilemma. Wir handeln im Moment aus, wie wir Freiplätze oder ermäßigte Plätze

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organisieren können. Es gibt ja erst seit dem Sommer 2007 die staatliche Finanzierung. Vorher hatten wir da gar keinen Spielraum. Wir werden aber auf jeden Fall Modelle fi nden, um genau solche Plätze zu ermöglichen.

Wischnewski: In der Elternschaft wird das auch intensiv diskutiert, etwa die Frage, ob ein niedriger fi nanzieller Beitrag kompensiert werden kann durch eine stärkere Mitarbeit in der Schule, durch Renovierungsleistungen beispielsweise. Bei den Eltern besteht jedenfalls die Bereitschaft zu einem guten Kompromiss. Das ist bei diesen Eltern des Bildungsbürgertums Konsens, dass es nicht zu einer weiteren Spaltung der Gesellschaft in Rich-tung Eliteförderung führen soll. Und von daher sind sie auch bereit, sich darüber Gedanken zu machen, wie sie die Teilnahme von ärmeren Eltern gewährleisten können.

Lernen wird als ganzheitlicher Prozess gesehen. Er soll durch praktisches und generationsübergreifendes Ler-nen ergänzt werden, dass also auch die ältere Generation mit einbezogen wird. Lernen soll an Alltagserfahrungen anknüpfen. Das fand ich gestern in dem Film ziemlich interessant, welche Folgen es hat, wenn an die Alltagser-fahrungen der Kinder nicht angeknüpft wird. Das ist ein Fehler, denn es ist ja in der Pädagogik bekannt, dass wir die Leute dort abholen müssen, wo sie gerade sind. In der Schule wird das zu selten gemacht. An sogenannten Stadttagen suchen die Kinder außerschulische Lernorte auf, auch Museen, Galerien, Bibliotheken. Auch darüber fi ndet eine Erweiterung des Blickfeldes statt. Öffnung der Schule heißt für uns zum einen Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern und Institutionen, zum ande-ren heißt es aber auch: es wird Einblick in das innerschu-lische Leben gewährt. Die Familien können direkt mit in die Schule gehen, sie können auch am Unterricht teilneh-men, und sie haben die Möglichkeit, Einfl uss zu nehmen. Stichwort Perspektive: Ich fi nde, Schulen unterschied-licher Konzeptionen sollten für alle Kinder zugänglich wer-den. Und zwar Schule als Integrationsort, nicht nur für die Bildungseliten. Ich glaube, das könnte in der Perspektive tatsächlich entstehen. Die methodische Vernetzung im Stadtteil: Schule als Ort der Zusammenarbeit von Eltern, Pädagoginnen und Institutionen, das ist eine wichtige Perspektive, die stark ausgeprägt werden sollte. Und es ist auch wichtig, dass die Schule die Mitgestaltung der Familien ernst nimmt. Träger der Selbstorganisation sol-len durch ihre Ressourcen und ihr fachliches Wissen sol-

che Konzepte unterstützen. Da wo Initiativen sind, haben wir als Träger der Stadtteilarbeit in all den vergangenen Jahren die Verantwortung gehabt, sie zu unterstützen und unsere Möglichkeiten nutzbar zu machen, um Initiativen zu verbreitern. Und aus meiner Sicht können wir an der einen oder anderen Stelle sicherlich als Vorbild für die staatlichen Schulen gelten. Das gilt in umgekehrter Rich-tung aber genauso.

Stichwort Probleme: Die Benachteiligtenförderung fehlt. Wir dürfen nicht nur an den Familien orientiert bleiben, die sich das im Moment leisten können. In staatlichen Schulen gibt es Sonderprogramme, mit denen Benachtei-ligtenförderung ermöglicht wird. Diese Programme kom-men uns nicht zu Gute, das müssen wir noch irgendwie anders organisieren. In Richtung auf unsere Einbindung in die staatliche Schulweiterbildung und Förderprogramme. Die staatlichen Schulen, das merke ich zunehmend, gren-zen sich stärker ab. Die Privatschulen haben aber in den vergangenen Jahrzehnten nicht viel dafür getan, sich mit den staatlichen Schulen konzeptionell zusammen zu set-zen. Sondern sie haben sich eher als Privatschulen orga-nisiert, in der Meinung, dass staatliche Schulen in vieler Hinsicht da ein Defi zit haben. Also, da fehlt der Dialog. Es gibt einen Mangel an ausreichend qualifi zierten Pädago-gen für Reformansätze und Unterrichtsmethoden. Es gibt natürlich in der Ausbildung an den Universitäten Teile von Pädagoginnen, die diese Ansätze suchen. Aber es sind zu wenige. Und diejenigen, die bei uns als Lehrer anfangen, die können nicht so bezahlt werden wie in der staatlichen Schule. Wir bezahlen untertarifl ich. Wir müssen also ver-langen, dass sie den konzeptionellen Ansatz mit tragen und auf Grund ihrer Fachlichkeit bei uns sind. Die Folge ist, dass Einzelne, die bei uns angefangen haben, dann später in die staatlichen Schulen wechseln.

Scherer: Gilt der Unterschied in der Bezahlung nur für die Pionierphase oder auch für später?

Wischnewski: Ich denke, das gilt auch für später, und der Druck wird sich vergrößern. Es werden in den nächsten Jahren in der Bundesrepublik rund 350.000 Pädagogen aus Altersgründen ausscheiden. Es wird also einen grö-ßeren Bedarf an Lehrerinnen und Lehrern an den staatli-chen Schulen geben. Das wird auf uns drücken, weil die staatlichen Schulen mehr Finanzierung bieten können. Wir sind darauf angewiesen, dass wir die staatlichen

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Regeln strikt einhalten. Es gibt Vorschriften darüber, welche Fächer mit welchen Materialien und Inhalten bis zu einem bestimmten Zeitpunkt erfüllt werden müssen. Das ist in der Grundstufe noch etwas einfacher als in der Sekundarstufe I und II. Aber die staatlichen Regelungen bedeuten für die Pädagoginnen in der Schule natürlich eine zusätzliche Anforderung, sie müssen das im reform-pädagogischen Ansatz unterbringen.

Schaal: In der zweisprachigen Schule ist es fast unmög-lich, Lehrer, die nicht Deutsch als Muttersprache haben und nicht in Deutschland studiert haben, als Lehrer unter-zubringen. Da sind die Anforderungen sehr eng. Da gab es schon Prozesse und große Schwierigkeiten. Das ist ähn-lich auch bei englischen Erzieherinnen.

Wischnewski: Und auch der immense Zeitaufwand bei der Zusammenarbeit mit Eltern und anderen Kooperations-partnern kann sich für uns als Nachteil auswirken. Diesen Aufwand halte ich aber für wichtig, weil wir nur dann nach-haltig wirken können, wenn wir es hinbekommen, dass es einen guten Übergang von der Pioniergeneration zu den nachfolgenden Familien gibt. An dem Punkt stehen wir jetzt, und die spannende Frage wird sein, wie wir die konzeptio-nellen Grundlagen mit den nachfolgenden Generationen weiterführen werden. Unser Anliegen ist natürlich, dass wir sagen können, der ganze Aufwand hat sich gelohnt, weil die Ergebnisse gut weitergegeben werden.

Rasfeld: Auch wenn ich jetzt an einer freien Schule tätig bin, spreche ich jetzt von meinen Erfahrungen als Leite-rin einer staatlichen Schule. Die Zukunftsschule in Mühl-heim ist ja auch nicht als private, sondern als staatliche Schule gegründet worden. Und ich hatte ja vorher schon gesagt, dass ich 30 Jahre reformpädagogisch im staatli-chen Schuldienst gearbeitet habe. Ich bin jetzt Schullei-terin einer von Eltern gegründeten Schule, aber ich habe diesen Job nur angenommen, weil ich hier etwas erpro-ben will, das meiner Meinung nach auch von staatlichen Schulen übernommen werden kann. Es geht mir nicht um ein exotisches Modell, sondern um etwas, das auch in die Breite wirken kann. Ob sich schließlich die Schule in die Bürgerhäuser und Stadtteilzentren verlagert oder ob die Schule der Ort ist, an dem man gemeinsam arbeitet, das müssen wir mal sehen. Ich komme ja aus dem Ruhrgebiet, wo es ja auch sehr viele Migranten gibt. 1983 hat die Freudenberg-Stiftung

erkannt, dass die Kinder von Migranten, die schon in der zweiten Generation da waren, nicht gefördert werden. Also der Punkt, an dem der Staat jetzt angelangt ist, gehörte schon 1983 zum Selbstverständnis der Stiftung. Wir haben uns dann in anderen Ländern umgeguckt. Und Herr Herz, der am Anfang gesprochen hat, war auch einer der Gründungs-Menschen. Wir haben einen Verein gegründet, der sich ‚Verein zur Förderung der Comunity Education’, Comed e.V., nennt. Das heißt, alles was aus der Sicht der sozial-kulturellen Zentren heute vertreten wird, haben wir damals für die Schulen vertreten, nach dem englischen Sprichwort: It takes a whole village to educate a child. Also auf der Basis, dass Schule und Gemeinwesen zusammen-arbeiten, zum Wohle der Kinder. Damals waren Ganztags-schulen auch schon mal im Gespräch. Letztlich hat die Caritas die verhindert, weil sie nicht wollten, dass Mütter arbeiten gehen. Die Ganztagsschule ermöglicht ja Frauen einen größeren Spielraum. Auch damals gab es schon die gleichen Debatten über Jugendarbeit und Schule, die Schule sei viel zu mächtig, kann man überhaupt so was machen mit Pfl ichtprogramm oder freiwilligem Programm – also die ganze Palette an Fragen, die heute diskutiert werden, gab es schon vor 30 Jahren. Ein Schrittchen sind wir ja auch schon weiter gekommen. Ich habe damals den Verein mitgegründet und habe 1986 als ganz junge Lehrerin an einem Gymnasium ein Stadtteilprojekt entwi-ckelt, habe meinen Unterricht verändert. Zwischendurch musste ich mit dem Projekt immer mal aufhören, weil ich gezwungen war, etwas zu machen, das ich benoten konnte. Und die Schüler sagten: Können wir nicht privat weitermachen? Dann habe ich so eine Art Selbsterfah-rungsgruppe und politische Arbeit gemacht. Und dann gab es immer mehr Nachfrage nach solchen Gruppen. Ich habe den Stadtteil abgeklappert, kam in Jugendein-richtungen und habe dabei eine interessante Erfahrung gemacht. Nämlich dass in den Jugendeinrichtungen, genau wie in den Schulen, sich nur ganz wenige Mitarbei-ter so qualifi ziert hatten, dass sie sich in der Lage sahen, bestimmte Dinge zu tun. Ich hatte damals die Idee, mal die AOK in den Unterricht zu holen und dachte mir, die werden dann schon eine tolle Stunde machen, was weiß ich, zu gesunder Ernährung oder so. Und die standen dann ganz hilfl os da, denn sie sind ja auch nicht dafür ausgebildet. Wir hatten gute Ideen. Aber Mittel hatten wir nicht. Ich habe dann auf meinem Weg entdeckt, dass die AWO, die evangelische und die katholische Kirche alle Gruppen

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hatten für alleinerziehende Mütter. Und ich dachte mir, die können wir alle zusammen legen, dann haben wir wieder Kapazitäten frei. Und so haben wir 1987 die erste Stadtteilgruppe gegründet. Und daraus hat sich ganz viel entwickelt, über den ganzen Stadtteil, mit über 30 Part-nern am Tisch. Es entstanden große Netzwerke, die dann auch bundesweit vom Familienministerium gefördert wur-den. Und auch das Kultusministerium hat sie gefördert. Etwa 1990 hat es eine große Bewegung gegeben. Viel-leicht haben Sie schon mal von ‚GÖS’ gehört, Gestaltung und Öffnung von Schule. Der damalige Kultusminister hat das an alle Schulen geschickt, es gab von vielen Schulen Unterstützungsbriefe. Ziel war eben das, was wir heute soziokulturelle Zentren nennen, dass sich so etwas ent-wickelt. Dass der Unterricht sich verändert, nicht dass die sozialkulturelle Arbeit noch obendrauf gesetzt wird. Z.B. Schüler planen ihren Stadtteil im Leistungskurs Erdkunde zusammen mit dem Stadtplanungsamt, machen Befra-gungen, werten die aus und solche Sachen. Was hat sich daraus ergeben? Man sagt, das war und ist das größte Schulreformprogramm in Deutschland. Aber daraus hat sich nicht die große Vision ergeben wie wir dachten, dass sich nämlich wirklich substanziell viel verändern würde. Aber es haben sehr viele Schulen mitgemacht, es gab immerhin für die Projekte 2000 bis 5000,-€ Förderung. Veränderungen gab es vor allem in Grundschulen, die schulferne Orte für den Unterricht auf-suchen, in Museen oder Bibliotheken gehen. Sie sind in die Breite entwickelt worden.

Ich habe vor 10 Jahren eine Schule gegründet, eine Gesamtschule. Die Stadt Essen hatte so viel Überhang, dass diese Schule gegründet werden musste. Das war also keine Elterninitiative. Es gab ein Gebäude, das leer stand. Und in der Schule habe ich etwas gemacht, was ich vorher noch nicht so explizit gemacht hatte, was ich jetzt in der Evangelischen Schule auch wieder propagiere. Diese Schule vertritt ein Ethos. Ich glaube, man braucht eine geistige Mitte, etwas Sinngebendes, worauf man hinarbeitet. Und das ist für mich die Agenda 21. Sie eig-net sich gut, weil sie einen umfassenden Ansatz hat. Sie setzt auch auf gesellschaftliches Engagement, da haben wir das Kapitel Bildung und das Kapitel Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Also ganz klar die Rechte der Kinder mit einbezogen. Mit der Agenda 21 haben wir ganz klar den Auftrag, bildungspolitische Arbeit zu leisten. Schulen sagen oft, sie dürften nicht politisch arbeiten.

Nein, parteipolitisch darf man nicht arbeiten. Aber die Agenda 21 gibt es in 182 Staaten der Welt, das ist also ein Welt-Programm, wo wir jetzt wirklich mal rangehen müssen. Gerade durch die Klima-Diskussion sind wir ja an einem Punkt, wo man auch mal an die Öffentlichkeit kommt. Ja, und damit habe ich ganz tolle Erfahrungen gemacht. Und zwar haben wir uns an der Gesamtschule in Essen ein Jahr lang überlegt, ob wir gemäß der Agenda an der Schule lernen und wie das aussehen kann. Wir haben dabei mit sehr vielen Gruppen zusammen gear-beitet, mit entwicklungspolitischen Gruppen, Umweltgrup-pen, Bürgerinitiativen und so weiter, und haben uns dann entschlossen, mehr Wissen zu erwerben, denn ohne Wis-sen kann ich ja nicht mitreden. Lernbereiche zusammen zu legen und die verschiedenen Säulen gleichberechtigt zu behandeln. Gelernt wird durch Handeln, und nicht, indem ich in einem Raum sitze und ein Buch aufschlage. Die große Herausforderung für das 21. Jahrhundert sind Verständigung und Verantwortung, und daran müssen wir alle arbeiten.

Ich bin jetzt an der Evangelischen Schule, wo wir auch Kin-der aus anderen Ethnien haben. Ich möchte sehr gerne Projekte machen, damit unsere Kinder mit Kindern aus anderen Ländern zusammen kommen. Denn das Zusam-menleben zu lernen, ist die große Herausforderung und dafür braucht Schule Partner, die können uns ja nur berei-chern. Ich habe hier ein Heftchen mitgebracht, in dem alle Projekte, die in den ersten 5 Jahren in Zusammenarbeit gemacht werden, aufgeführt sind. Und zwar nur die Pro-jekte in Bezug auf die Agenda 21. Die Projekte sind in dem Heft ausführlicher beschrieben. Die Kinder haben auch an der Entwicklung der lokalen Agenda mitgearbeitet. Es gab eine Wanderausstellung. Eine alternative Deutschar-beit zum Thema ‚Zivilcourage’ und zur Gewaltsituation. Die ist sehr eindrucksvoll, von der 7. Klasse gemacht. Ein paar Zitate zum Thema ‚Mut’:

■ „Mut ist ein Gefühl, das nicht jeder hat.“■ „Eigentlich haben alle Leute mehr Angst als Mut“■ “Wer Mut hat, traut sich selbst. Wer Angst hat, hat kein Vertrauen zu sich“■ „Doch manchmal, wenn man sich verändert, ändern sich auch die Gefühle“.

Der Kollege hat gerade schon gesagt: die Struktur der Schule verändert oft Reformen. Aber eigentlich könnten

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alle Schulen Reformschulen sein. Dafür brauchen wir kein Gesetz zu verändern. Weil im Grunde alle aufgefordert sind, anders zu arbeiten. Wir wollten damals Projektunter-richt machen. Und wenn schulische Strukturen das ver-hindern, müssen wir eben Strukturen schaffen, die Projek-tunterricht ermöglichen. Wir haben ein Fach geschaffen, das heißt ‚Vorhaben orientiertes Lernen’. Dafür hat man drei Stunden am Stück, vorher und hinterher Unterricht beim Klassenlehrer, so dass man von einem ganzen Tag ausgehen konnte, ohne dass davon ein anderer Lehrer betroffen war. Dabei sind sehr viele schöne Projekte ent-standen. Z.B. eins ist eine Spielplatz-Patenschaft. In Essen gibt es 250 Spielplatz-Patenschaften, das ist ein bundes-weit angesehenes Projekt. Paten sind der Kinderschutz-bund, das Jugendamt, das Grünfl ächenamt, das Kinder-büro, 349 Erwachsene und eine Schule. Die Kinder haben sich ein Jahr lang mit dem Problem auseinander gesetzt, sie übernehmen ja damit viel Verantwortung. Diese Paten-schaft haben sie seit 1998, also fast 10 Jahre. Die Kinder betreuen den Spielplatz. Wenn was kaputt ist, melden sie das. Sie kriegen jedes Jahr 1000,-€ für neue Geräte. Sie sind einmal die Woche präsent und spielen da auch. Und einmal im Jahr organisieren sie ein ganz großes Spiel-platzfest. Die Kinder fast alleine, 5. Klasse, wo alle mög-lichen Partner eingeladen werden. Deshalb gibt es immer ganz große Attraktionen, weil ja dann die Sportjugend und wer weiß nicht alles kommt. Aber auch ganz kleine und vielleicht neue Initiativen im Stadtteil haben da mal die Möglichkeit sich vorzustellen. Das Fest wird ein bisschen begleitet durch die Sozialpädagogen, aber im Grunde machen die Kinder das alles selbst.

Scherer: Frau Rasfeld, bevor Sie weitermachen, vielleicht können wir erst mal ein paar Fragen anbringen, weil Sie ja doch aus einer Welt kommen, die uns eher unbekannt ist. Was Sie zuletzt erzählt haben, ist uns aus unseren Tätig-keitsfeldern eher bekannt. Ich würde gerne noch etwas über die Strukturen wissen. Zukunftsschule Mühlheim, und Sie haben da noch eine Broschüre über Zukunfts-schulen – also irgendwie scheint das ein Netzwerk zu sein, in dessen Zusammenhang an verschiedenen Schu-len etwas entsteht, oder?.

Rasfeld: Es gibt ja die Stadtteile mit besonderem Erneue-rungsbedarf. In Berlin heißen die Quartiersmanagement-Gebiete. Es gibt da eine Gabi Grimm. die kommt aus der Sozialarbeit und hat sehr viel bei zwei Professoren in

Essen studiert. Und die haben auch vor 20 Jahren schon versucht, in die Stadtteile zu gehen. Und dieses Quar-tiersmanagement ist ja ein gutes Programm, stößt aber eben oft auch an Grenzen. Ich kann nicht eine Schule öffnen, wenn ich da kein Telefon habe. Und ich kann nicht Partner in die Schule holen wollen, wenn die gar keinen Raum haben. Dann ist das kein Umgang auf glei-cher Augenhöhe. Und wenn viele Eltern in der Schule mit-arbeiten, dann müssen die einen guten Raum haben, die müssen einen Schlüssel haben und Zugang. Und wenn ich eine Schule zum soziokulturellen Zentrum machen will, brauche ich eine bestimmte Architektur. Und auch wenn ich Unterricht verändern will, brauche ich entspre-chende Räume und keine Kaninchenställe. Die Firma Hoch-Tief hat sich zum Ziel gesetzt, eine Zukunftsschule architektonisch zu entwickeln. Dahinter steckt ein Mark-tinteresse von Hoch-Tief, die in Offenbach schon einige Schulen entworfen haben. Sie haben sich Gabi Grimm eingekauft, und sie hat da mehr draus gemacht als nur einen architektonischen Entwurf. Sie hat daraus ein Zwei-Jahres-Programm gemacht und die Zukunfts-schule aus allen Richtungen beleuchtet und unterlegt. Sie hat ein wunderbares Buch daraus gemacht. Und sie hat auch gesagt: diesen Entwurf wollen wir jetzt auch verwirklichen. So war das eigentlich nicht geplant, es war zunächst nur an einen Entwurf gedacht. Ja, und was hätte sich mehr angeboten als das zu einem Kultur-hauptstadt-Projekt zu machen. Essen ist ja im Grunde ein bisschen hinterwäldlerisch. In ersten Ansätzen wird die Zukunftsschule jetzt in Mühlheim verwirklicht, da wird eine Hauptschule mit einer Realschule zusammen-gelegt nach dem Modell der Zukunftsschule.

Scherer: Also die Zukunftsschulen, die sind bisher nur ein Buch. Aber die Zukunftsschule in Mühlheim, die gibt es schon?

Rasfeld: Die Zukunftsschule ist eine Zukunftsvision. Auch wenn es da und dort praktizierte Reformansätze gibt, ist das noch ein weiter Weg. Man wird mit seinen Ideen eigentlich ständig abgewimmelt, auch schon vom Schulamt. Eine andere Erfahrung vieler mit den Schulen ist: wir dürfen dann mal kommen, ein Highlight machen und denen die Arbeit abnehmen. Also eine Projektwoche wird dort immer gerne gesehen, das fi ndet durchaus eine gewisse Unterstützung. Aber bei der konzeptionellen Pla-nung der Projektwoche hört es dann meistens schon wie-

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der auf. Aber uns geht es ja um eine ganz andere Kultur der gegenseitigen Bereicherung, um eine Kultur auf glei-cher Augenhöhe. Ich glaube, dass Kinder herausfordernde Aufgaben brau-chen. Das ist auch durch die Gehirnforschung belegt. Und das gilt auch schon für Kinder an der Grundschule. Sie müssen von sich aus tätig werden, die Erfahrung von Wirksamkeit machen. Mit Grundschule meine ich jetzt immer 5. und 6. Klasse. Wir haben ihnen sehr viel Ver-antwortung gegeben. Wir hatten diese Woche Klassenrat und Schulversammlung. Eine ganze Jahrgangsstufe ver-sammelte sich, mit 150 Kindern. Die Kinder haben mode-riert. Denn das öffentliche Sprechen zu lernen, ist eine der wichtigsten Kompetenzen für eine demokratische Zivilge-sellschaft. Und wir hatten ein Projekt, das will ich Ihnen noch kurz vorstellen, denn ich bin im Moment auch dabei, diese Ideen in Berlin zu verbreiten. Das Projekt heißt ‚Ver-antwortung’ und bedeutet, dass es in der 7. Klasse ein halbes Jahr das Fach Verantwortung gibt, in dem alles Weitere vorbereitet wird. Es geht um Fragen wie:

■ Was ist Verantwortung?■ Kenne ich jemand, den das interessiert?■ Habe ich schon mal Verantwortung übernommen? Während die 7. Klassen in der Vorbereitung sind, sind die 8. Klassen im Projekt. Also 150 Kinder schwirren im Kiez rum und übernehmen Aufgaben mit Kiez-Charakter. Sie bringen Kompetenzen ein, und sie erwerben Kompetenzen. Dann müssen sie überlegen:■ Welche Kompetenzen sind da gefragt?■ Was kann ich noch tun, um so weit zu kommen?■ Was stelle ich mir überhaupt vor?

Und dann gehen sie sich bewerben. Dabei lernen sie natür-lich sich zu informieren, Adressen rauszukriegen. Sie kriegen zwei Stunden Schulzeit geschenkt und gehen in der Zeit in ihr Projekt. Und das ist ganz unglaublich, welche Erfahrungen sie machen, wie sie sich entwickeln. Sie sagen: endlich mal nicht der Lehrer hinter mir! Auch in der Freien Schule steht ja doch immer der Lehrer oder der Erwachsene da, vor dem sie meinen sich bewähren zu müssen. Im Projekt Verantwortung sehen sie: da kommt es auf mich an, da warten welche auf mich. Oder: im Kindergarten sind immer noch welche, die sagen: ich kann das nicht. Denen möchte ich noch den Mut geben, dass sie an sich glauben. Ich habe 800 Briefe, wenn man die liest, da fl ießt einem das Herz über.

Die Kinder machen alles, querbeet: Kindergärten, alte Menschen, Flüchtlingsheim, der ganze soziale Bereich. Dann im ökologischen Bereich: es werden Patenschaften oder Teilhabe übernommen für 10 Jahre. Ich habe einen Jungen, der ist offenbar hochbegabt, der macht einen Park sauber. Er hat auch schon Fotos mitgebracht, was er alles so fi ndet in dem Park. Daraus ließe sich sicher auch mal ein kleines Unterrichtsprojekt entwickeln. Ich erzähle noch eine Erfahrung mit dem Jugendamt: Das Jugendamt wollte einen Reitkurs für Jungs aus der 2. Klasse, die schon richtig heavy drauf sind, anbieten. Und dann haben wir uns gedacht, das könnten doch auch unsere Jungs machen. Dann haben wir in den 5. und 6. Klassen gefragt, wer Lust hat, so einen Kurs zu machen. Und dann haben sich Jungs gemeldet, die das in ihrer Freizeit ein halbes Jahr machen wollten. Und 5 Jungs wollten das in ihrem Verantwortungs-Projekt machen. Das war genial. Ich habe mir das zweimal ange-guckt, 20 Jungs. Der vom Jugendamt war natürlich dabei als Erwachsener, aber der hatte eine Nebenrolle. Das ist jetzt ein Projekt, das immer weitergegeben wird. Einige Jungs sagten: da können auch mal Mädchen rein. Oder ein paar meinten, sie könnten auch mal einen Compu-ter-Kurs für Senioren anbieten. Ein halbes Jahr später kamen auf einmal Leute zu uns in die Schule, die sagten, sie wollten zum Computer-Kurs. Ich wusste von keinem Computer-Kurs, ich hatte das gar nicht mitbekommen. Dann kamen die Jungs, 6. Klasse. Die hatten das alles selber organisiert. Sie hatten sich überlegt: wo sind alte Menschen und wo haben die Zeit. Also haben sie Zettel in Arzt-Praxen ausgelegt. Dann haben sie richtig indivi-duelle Kurse durchgeführt, mit viel Geduld, die Leute waren hochzufrieden. Manche hatten Angst, einen Com-puter anzumachen, hatten noch nie auf so einen Knopf gedrückt. Andere wollten Excel lernen oder E-mails schreiben. Manche sind ein halbes Jahr lang gekommen, manche nur dreimal. Dieser Kurs wird auch weitergege-ben, dafür werben die 6. Klassen schon. Das ist etwas, was ich auch ganz toll in Jugendeinrichtungen fi nden würde. Oft hängen da Jugendliche rum, in der Jugend-arbeit. Meine Erfahrung ist, dass es dort ähnlich ist wie in den Schulen, dass nämlich manche ganz tolle Arbeit machen, auch politische Arbeit. Und andere empfi nden das als Demokratie, wenn da die Leiter im Raum sitzen, ihre Zigaretten rauchen, und die Kinder dürfen sich den Schlüssel holen und aufschließen.

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Das sind sinnvolle Aufgaben, die wir brauchen. Eigent-lich müsste eine Stadt solche Aufgaben vergeben, das müssten uns doch die Kinder wert sein. Das sind jetzt einige Beispiele. ‚Ungewöhnliche Begeg-nungen mit Fremdem’. Oder ‚So stelle ich mir das Alter vor’, das sind andere Projekte, die wir mal mit 15 Jugend-lichen der 10. Klasse gemacht haben. Sie haben sich mit dem Alter beschäftigt und haben erst mal ihre Vorstel-lungen davon erzählt. Dann haben sie alte Menschen aufgesucht, und zwar ganz unterschiedliche. Einerseits waren das Alzheimer- und Demenz-Kranke, sie waren auch in einem Altenheim. Dort haben sie sehr viel foto-grafi ert und auch selber entwickelt. Sie haben aber auch Menschen kennen gelernt, die noch total fi t waren und sich überall einbringen. Danach haben sie eine Ausstel-lung gemacht, die dann zu öffentlichen Diskussionen geführt hat. Oder das Projekt ‚Straßen-Zeile’, das von der Schule ausging und zusammen mit dem Jugendamt durchgeführt wurde. Es wurden eine Literatur-Werkstatt und andere Schulen einbezogen. Wer wollte, konnte Geschichten schreiben, etwa aus dem Stadtteil, wenn es ging mit einem Migrations-Zusammenhang. Dieses Pro-jekt hat dann alle möglichen Leute angesteckt: den Stra-ßenbahnfahrer, Leute eben, mit denen die Kinder gespro-chen haben. Daraus haben wir tolle Hefte gemacht, die nicht teuer waren. Die Kinder waren natürlich mit in der Jury. Und die Hefte liegen jetzt in der Stadtbücherei aus als Lesebuch. Und dann wird natürlich der Schreibwett-bewerb wieder eröffnet. Dann tritt aus der Sonderschule die Beatband auf, da kann man ja alles Mögliche vernet-zen und Gelegenheiten schaffen, bei denen Kinder mit ihrem Können geachtet werden. Zugang zu anderen Kulturen: In Deutschland wird in den Schulen fast keine interkulturelle Literatur gelesen. Was meines Erachtens daran liegt, dass es dazu keine Map-pen gibt beim Verlag an der Ruhr. Und deswegen habe ich mal eine Reihe ‚Zwischen den Kulturen’ gestartet. Es gibt in München die größte europäische Kinder- und Jugendbibliothek. Die haben einen Koffer mit 50 interkul-turellen Kinder- und Jugendbüchern, den man für wenig Geld ausleihen kann. Dann haben wir mit einer Buch-handlung zusammen Bildung organisiert. Eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern, die sich mit Literatur befasst haben, hat eine öffentliche Lesung gemacht. Da konnten dann auch andere Schulen hinkommen. Und besonders hat mich gefreut, dass die letzte Lesung eine Hauptschule organisiert hat.

Das sind alles Herausforderungen, die über Schulbuch-Unterricht hinaus gehen. Damit kann man individuelle Förderung machen, und man kann das mit anderen zusammen machen. Wir hatten einen Raum, der hieß Agenda-Treff. Das war ein Raum, wo immer Ungewöhn-liches passierte, den auch andere Schulen und Gruppen haben konnten und wo alles Mögliche zustande gekom-men ist. Der Raum ist an einer Seite 5 Meter hoch, und da wollten die Schüler ein Wandbild dran machen. Mit den Besenstilen sind sie dann bis 4 Meter hoch gekommen. Und sie dürfen ja nicht auf ein Gerüst gehen. So haben wir uns Unterstützung von 30 Behinderten geholt, die Maler sind. Die haben dann eine Woche lang mit 12 von unseren Schülern in der Schule zusammen gearbeitet. Und was da passiert ist, das habe ich in zehn Jahren Unterricht nicht erreicht. Ein anderes Projekt war das Senioren-Café, das wir Jahr für Jahr mit den 5. Klassen durchgeführt haben: Jede 5. Klasse hat sich ein paar Mal mit Senioren getroffen, die ihnen dann Geschichten aus ihrem Leben erzählt haben. Die Senioren hätten nie gedacht, dass sie denen so wich-tig sind und umgekehrt auch. Dann haben sie mal einen Gottesdienst gemacht zwischen den Generationen. Und noch alles Mögliche. Weil die Kinder ja clever sind. Wenn wir ihnen die ‚Macht’ geben und sie machen lassen, dann kommt dabei Erstaunliches zu Stande.Dann gab es ein Märchen-Projekt, ganz toll. Märchen ist Pfl icht-Thema in Klasse 5. Was machen wir? Wir lesen Märchen, und dann werden daran die Kriterien von Mär-chen rausgearbeitet. Dann haben sie in Gruppen jeweils ein Märchen aus einem anderen Land bearbeitet und davon eine CD gebrannt. Und dann haben sie jemanden aus dem Land aufgesucht, der ihnen aus seinem Land Märchen erzählte. Da war ein polnischer Laden, eine ira-nische Buchhandlung, wir hatten eine ganze Palette. Die CD wurde dann öffentlich vorgestellt, den anderen Schü-lern, den Eltern und auch dem Stadtteil. Das war ganz toll. Das war ein Projekt, wo man normalen Unterricht mit interkulturellen Inhalten verknüpfen kann.Und noch dieses als Letztes: Ich war mal mit Schülern im Welt-Café, das von ein paar Kirchengemeinden in Essen gemacht wurde. Einmal im Monat war da Treff, da stellte sich eine Kultur vor. Und an dem Tag waren da gerade, ganz ungewöhnlich, Flüchtlinge. Worüber ja die meisten gar nichts wissen. Es wird ja nur immer gesagt, die liegen uns auf der Tasche. Da sprachen Jugendliche, die jetzt 14 Jahre in Deutschland sind und immer vier Wochen

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Aufenthalts-Verlängerung bekommen und jeden Tag Angst vor Abschiebung haben. Die hatten sehr gute Schulab-schlüsse, hätten auch einen Arbeitsvertrag bekommen, durften aber nicht arbeiten. Dann haben meine Schüler gefragt: warum erfahren wir so was nicht in der Schule? Wir haben dann daraus eine Reihe gemacht, die heißt ‚Flüchtlingsgespräche’, das ist jetzt Pfl ichtprogramm in Klasse 8. Dafür habe ich über eine Stiftung auch ein paar Gelder bekommen. Weil ja Flüchtlinge auch vorbereitet werden müssen, wenn sie mit Jugendlichen zusammen kommen. Da gibt es dann eine Palette von Ländern, es sucht sich jede Klasse ein Land aus. Sie arbeiten die Geo-graphie und Geschichte und Politik auf. Daraus entstehen eine Menge Fragen. Und dann verbringen sie 6 Stunden mit einem Flüchtling. Und da gibt es dann auch Dinge, emotionale Dinge, Werte, Einstellungen, die kann man sonst kaum vermitteln. So kann man ja letztlich mit allen Institutionen zusammenarbeiten.

Und dafür braucht es einfach den Willen, die Schule zu öffnen und von der anderen Seite den Abbau des Vorur-teils, dass man mit Schule nicht zusammen arbeiten kann. Das hat oft mit schlechten Erfahrungen zu tun. Aber man braucht diese breite Zusammenarbeit, wenn man all die Probleme, die wir haben, bedenkt. Die strukturelle Verän-derung der Schule ist unter diesem Aspekt auch im öffent-lichen Interesse. Wir brauchen dafür richtige Stellen, es muss in der Schule jemand dafür mit Stunden freigestellt sein, der diese ganze Vernetzung koordiniert. Es muss auch im Schulamt jemand geben, der dafür zuständig ist, der über die Breite der Angebote informiert ist und Informationen weitergibt. Diese Angebote werden laufend ausgebaut, und jeder guckt in seinem Kiez. So einen koor-dinierenden Menschen gab es mal in Solingen, das war eine Frau, die sehr gut gearbeitet hat. Weil das dort von politischer Seite gewollt war. Wenn man die Veränderung der Schule richtig will und ernst nimmt, dann braucht das Orte, Zeit und Räume. Deshalb sage ich ja auch: das Schulprogramm braucht die ‚Versammlung’, das öffent-liche Lob, und die Zeit ,Zivilgesellschaft zu lernen. Wenn man so etwas will, muss man das nach außen ganz klar machen, dass das so wichtig ist, dass man das nicht mal eben so nebenbei machen kann.

Scherer: Ich glaube, jetzt gibt es eine Menge Fragen, auch nach den Details. Mich interessiert, wie das mit den Zen-suren ist für diese Engagement-Stunden.

Rasfeld: Statt der klassischen Zen-suren haben wir uns andere Feed-Back-Systeme ausgedacht, z.B. ein öffentliches Lob für gute Arbeit. Wer gelobt werden sollte, war von den Schülern im Klassenrat bespro-chen worden. Manchmal hatten wir 10 Minuten Lob. Und zu den Zeug-nissen gab es immer für besonders Engagierte Zertifi kate. Dazu gab es noch besondere Auszeichnungen, z.B. für den ‚Besten des Jahrgangs’, anders ausgedrückt den ‚Aufstei-ger des Jahres’, das musste nicht unbedingt der Noten-Beste sein, sondern der, der sich am meisten verbessert hatte, das konnte auch eine Verbesserung im sozialen Bereich sein. Und darüber hinaus haben wir Zertifi kate verteilt und alle Partner und die Eltern zu einem ‚Verantwortungs-Fest’ eingeladen. Das Fest fällt jedes Mal anders aus, weil die Klassen das sel-ber machen. Die Zertifi kate waren am Anfang nicht so toll. Jeder hat eins gekriegt, und die Hälfte wurde öffentlich vorgelesen. Die waren am Anfang nur allgemein gehalten. In den letzten zwei Jahren haben sie angefangen, richtig Kompetenzen auszuweisen. Das ist sehr sinnvoll, damit sie ein richtig gutes Dokument haben für ihre Mappe, die sie auch einem Arbeitgeber vorweisen können. Denn diese Sachen zählen ja inzwischen manchmal mehr als ein Zeugnis. Die Evangelische Schule, an der ich jetzt bin, ist eine Gemeinschaftsschule mit einer Grundschule zusammen. Wir werden Jahrgangs übergreifend arbeiten in der 7., 8. und 9. Klasse. Ein Drittel des Unterrichts fi ndet außer-halb der Schule statt. Und das Ganze mit der Agenda 21. Wir haben einen riesigen Zulauf. Am Tag der offenen Tür hatten wir 400 Leute. Ich habe einige Info-Veranstal-tungen gemacht, da waren auch viele aus den staatli-chen Schulen, die zeigten ein sehr großes Interesse und Bedürfnis nach dem Inhalt, wie der Agenda 21. Ich bin davon ganz überrascht, denn die ist ja noch gar nicht so bekannt. Ich will auch so ein Agenda-Netzwerk gründen. Es gibt schon eine Agenda 21 Berlin, aber noch keine Bildungsabteilung. Das will ich gerne angehen, weil die Kinder dermaßen engagiert sind. Und Zukunftsängste haben sie sowieso alle, auch wenn sie nicht darüber sprechen.

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Wenn ich noch mal auf das Projekt ‚Verantwortung’ oder andere Erfahrungen von Selbstwirksamkeit und Demokra-tie zurückkomme: an Demokratie glaubt nur, wer selbst erlebt hat, dass sie funktioniert. Und dafür ist die Schule der Ort, solange wir noch keine verpfl ichtenden Kinder-gärten haben. Aber natürlich ist auch der Kindergarten der Ort, wo sie ja wirklich alle gemeinsam leben. Und je mehr Gemeinsamkeiten es gibt, desto besser kann das Zusammenleben gelernt werden. Deswegen ist das, was wir in unserer gespaltenen Schullandschaft machen, die Verhinderung von Verständigung. Deswegen bin ich Ver-fechterin der Gemeinschaftsschule. Ich habe natürlich in meiner Schule auch eher das Bildungsbürgertum, aber es gibt jetzt auch schon andere. Dafür dass die Kinder die Vielfältigkeit der Lebenswelten erfahren können, muss man alles tun.

TN: Wie haben Sie denn Ihre Kollegen für solche Projekte gewinnen können?

Rasfeld: Ich bin als frisch ausgebildete Lehrerin zuerst an ein Gymnasium gekommen. Es war ein ehemaliges Jun-gengymnasium, im Kollegium 60% Männer, davon 30% Kriegsveteranen. Ich habe da angefangen, meine Sachen zu machen, Projektarbeit mit den Schülern, den Stadtteil einbezogen. Die meisten Kollegen fanden das ein biss-chen exotisch. Ich hatte aber auch Kollegen, die verschie-dene Zusatzausbildungen gemacht hatten, und die haben bei meinen Projekten mitgemacht. Das waren ungefähr 12. Ich konnte das damals nicht so richtig würdigen, aber ich sehe heute, dass das total viele waren. Aber es war mir nicht genug.Dann bin ich an eine Gesamtschule gegangen, weil ich dachte, da sei alles anders. Das war natürlich überhaupt nicht der Fall. Das war eine Gesamtschule im Aufbau, und als didaktische Leiterin hatte ich da ziemlich viel Einfl uss. Aber da konnte ich die ‚Versammlung’ z.B. nicht etablie-ren, weil viele Kollegen Angst hatten, dass sie dafür ver-antwortlich wären, wenn dann nichts auf dem Programm ist. Später in Holzhausen war die ‚Versammlung’ von Anfang an als Vorhaben gesetzt. Da habe ich mit einer Kollegin zusammen alles geplant, das Institut für Team-Entwicklung dazu genommen, die haben mit uns zwei Jahre Team-Entwicklung gemacht. In Nordrhein-Westfah-len werden Bewerber für neue Stellen von der Schule aus-gesucht. Wenn ich einen haben will, der an 19. Stelle auf der Bewerberliste steht, weil er zusätzlich Artist ist, dann

muss ich die anderen 18 Bewerber auch alle einladen. Aber ich kann trotzdem einen nehmen mit einer schlech-ten Note oder was auch immer. Ich habe in die Auswahl von Bewerbern immer sehr viel Zeit investiert, sie konnten einen Tag in der Schule verbringen, und ich hatte an sie bestimmte Fragen gestellt. Es gibt viele Kollegen, die wol-len Anderes. Meine Schüler waren oft in Uni-Seminaren bei den Erziehungswissenschaftlern. Und die Studenten haben immer gedacht: So was gibt’s doch gar nicht, doch nicht in der Schule! Weil man ja immer von seiner eigenen Schulzeit her denkt. Aber eigentlich geht alles, was man wirklich will.

Teilnehmerin: Ich frage mich, warum Sie von der Schule in Essen weggegangen sind.

Rasfeld: In unseren Lernzielen steht: Risikobereitschaft, Unternehmungsgeist und so was drin. Und deswegen habe ich gedacht: mache ich mal was ganz Neues. Ich hatte mich auch noch für Hamburg und Leipzig interes-siert. Und hier in Berlin haben mir die Eltern sehr gut gefallen. Die Herausforderung hier ist, dass wir ohne Lei-stungsdifferenzierung arbeiten und jahrgangsübergrei-fend, und zwar von Behinderten bis Hochbegabten in der Jahrgangsmischung, gleichzeitig mit Bezug zum Stadtteil. Ich hätte auch in einer staatlichen Schule gearbeitet, aber es war dieses Angebot, das mir über den Weg lief. Und ich habe einen Super-Partner, das Kreativhaus, nur 5 Minu-ten entfernt. Da gibt es z.B. einen Medienpädagogen, mit dem unsere Kinder jetzt Trickfi lme gemacht haben. Für den richten wir bei uns Medien-Labor ein und wahrschein-lich putzen wir die Schule selber, damit wir den bezahlen können. Und dann ist der einfach da. Und wenn man was macht, z.B. in Deutsch ein Reise-Feature oder man will politisch aktiv werden, dann kann man seine Mittel nut-zen.

TN: Wir haben gestern in einer Arbeitsgruppe darüber gesprochen, wie schwierig die Öffnung der Schule ist. Und da war eine der Fragen: liegt diese Schwierigkeit an den Personen oder an der Institution Schule? Meine Meinung ist, dass es die Personen sind, die einen Öffnungsprozess vorantreiben. Sie sind für mich dafür ein gutes Beispiel, weil Sie Ihre Überzeugung auch leben und es mit Ihnen an verschiedenen Schulen ja auch geklappt hat. Was würden Sie uns sagen, wie Schule motiviert werden kann, sich zu verändern?

Workshop │ Und bist Du nicht willig, dann mach‘ ich es selbst ...W

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Nicht für die Schule, sondern für das Leben ...│ Bildung im Stadtteil 109

Rasfeld: Es sind sicher die Personen, die müsste man aufschließen. Da fängt man normalerweise mit der Schul-leitung an. Wenn ich Partner wäre, würde ich die Schul-leitung ansprechen, um ein Gespräch bitten, das Thema und dessen Wichtigkeit darstellen und fragen, wer sich im Kollegium dafür interessieren könnte. Vielleicht würde ich auch eine kleine Versammlung einberufen. Ich würde aber nicht telefonieren. Ich würde einen Termin machen und hingehen. Wissen Sie, Schulleiter haben immer ihre Pakete, wo eine Anfrage auf der anderen liegt. Dann legen sie die vielleicht bei einem Fachleiter für Politische Bildung ins Fach. Und je nachdem, was der dann für ein Mensch ist, lässt der das liegen oder wirft es weg. Ich bin davon überzeugt, dass es in jeder Schule Menschen gibt, die an besonderen Projekten gerne arbeiten. Die muss man erreichen. Ich würde damit auch ruhig offen-siv umgehen, in der Form: ... die Erfahrung hat ja gezeigt ... und uns wäre es wichtig, jemand mit Engagement zu fi nden, der das gerne macht ... Können wir uns gleich mal vorstellen bei demjenigen oder würden Sie (der Schulleiter) das zu Ihrer Chefsache machen ...

Scherer: Also, wir sind ja in Berlin, und in Berlin scheint es so zu sein, dass Schulleiter keine Macht haben. Und Sie haben ja beschrieben, dass Sie sich die Lehrer einstellen konnten. In Berlin können sie das nicht.

Rasfeld: Noch nicht, aber das werden sie wahrschein-lich bald machen. In Nordrhein-Westfalen gehen jetzt auch die Fortbildungsgelder an die Schule. Das wird hier wahrscheinlich auch kommen. Ich meine, Schulleiter haben sehr viel Macht. Ich bin aber nicht der Auffassung, neue Lehrer wären motivierter als alte. Es gibt eben wel-che, die sowieso engagierter sind, wie es auch bei den Kindern ist. Dann gibt es die eher Gleichgültigen, die in meinen Augen eigentlich ihren Beruf verfehlt haben. Und dann gibt es aber wahrscheinlich eine breite Mitte, die man so oder so sozialisieren kann. Und bei denen kommt es schon sehr stark auf den Schulleiter an und wie er das haben will. Ich habe die Neuen immer zu ganz bestimmten Lehrern geschickt, bei denen sie genau das lernen konnten, was ich gut fand. Aber es ist schon eine Herausforderung, mit 30 Kindern in der Klasse zu sit-zen. Also die Lehrer arbeiten eigentlich fast alle bis an ihre Grenze. Und dann noch die blöden Klassenarbeiten. Also an meiner Schule gibt es keine Klassenarbeiten. Da melden sich die Kinder zum Test an. Aber die Zusam-

menarbeit mit Partnern muss die Schule als Entlastung erleben. Und die Projekte, die ich vorgestellt habe, die sind ja auch alle sehr gut implementiert. Da war diese Künstlerin, die hatte ich über die Bosch-Stiftung. Die hat nun kein Projekt-Management gemacht. Aber die Lehrer haben gefragt: Kannst du nicht zu uns auch mal kom-men? Sie haben sich viel abgeguckt, und solche beson-deren Sachen kann man sich natürlich mit Partnern sehr gut organisieren. Und wenn wir von Ganztagsschule sprechen, können diese Sachen natürlich auch sehr gut am Nachmittag gemacht werden, mit Partnern.

TN: Es gibt aber auch das andere Extrem, dass zwei Erzie-herinnen mit 200 Schülern den Nachmittag gestalten sollen. Das ist ja zum Teil die Realität in der staatlichen Schule. Wenn ich nicht ein guter Animateur bin, der mit 200 Kindern agieren kann, und das jeden Tag, dann weiß ich, da passiert nichts. Was machen die Erzieherinnen also? Sie machen das Sportfeld auf und machen eine Außenbeaufsichtigung. Und das war’s.

TN: Also ich fi nde, so was gehört verboten, muss ich ganz ehrlich sagen. Ich weiß nicht, wo so was passiert, aber ich höre auch ab und zu davon.

TN: In den Brennpunkten.

TN: Ja, schon. Über das System der Personalbesetzung frage ich mich, wie können denn so unterschiedliche Sachen zustande kommen? Man kriegt doch in der Schule ein bestimmtes Personal für die Arbeit, und da wundert es mich, nach welchem System da Entschei-dungen fallen. Ich verstehe es nicht so ganz. Wenn ich da Elternteil wäre an so einer Schule, da wäre aber was los! Aber was über die Schulen vom Pfefferwerk erzählt wurde und auch was Sie erzählt haben, das ist genau mein Traum von Schule. Während ich zuhöre, denke ich, was man alles machen könnte. Und dann denke ich an Montag. Und dann denke ich an die Diskrepanz in der Schule, an der ich arbeite. Dass das eine offene Ganz-tagsschule ist, wo die Lehrer um 13.30 Uhr die Schule verlassen. Aber es gibt natürlich auch einige, die regel-mäßig Projekte anbieten. Trotzdem ist es einfach so, dass so vieles nicht zusammen passt. So dass man rich-tig ins Stocken gerät und sich fragt:: Herr im Himmel, wie denn jetzt? Ich fand auch deine Frage gut: wie kriegt man denn die Lehrer dazu? Und es nützt eben nicht so

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sehr viel, wenn man von 52 Lehrern 10 hat, die gut sind. Dann haben die Kinder in den Klassen es gut, und die anderen sind in die Schulter gekniffen.

Zinner: Wenn man in Berlin die Zeitung verfolgt, sieht man, es gibt seit 10 Jahren Diskussionen über Erziehung, mit immer wieder den gleichen Themen. Trotzdem gibt es auch sehr gute Schulen. Das darf man nicht vergessen. Schulen, die unter den widrigsten Umständen arbeiten. Es gibt einen Investitionsrückstau von 80 Millionen, die zur Verfügung stehen. Die Strukturen, in denen Schulen heute arbeiten, die kommen aus dem Preußischen Land-recht. Sie sind 200 Jahre alt und älter, und sie sind so, dass jeder moderne Betrieb, der wie eine Schule geführt würde, sofort am Ende wäre. In Berlin wird ja viel über die Schulleiter hergezogen. Aber die Schüler werden Anforde-rungen ausgesetzt, die sie nie erfüllen können. Schullei-tern wird eine Macht unterstellt, die sie gar nicht haben. Sie können in Berlin keine Lehrer entlassen. Sie können keinen Erzieher wegschicken. Sie können ihr Geld, sofern sie überhaupt welches haben, nicht so oder anders einset-zen. Wie soll ich einen Betrieb leiten, wenn ich die Mittel dafür nicht in die Hand bekomme? Das ist das Dilemma der Schulleitung. Und das wird nicht diskutiert, sondern man bleibt immer an der Oberfl äche. Und es kann in mei-nen Augen nur so gehen, dass Schulen wie Unternehmen geführt werden, die gute Ergebnisse bringen müssen. Und das bedeutet, ich gebe ihnen einen Etat, ich gebe ihnen die Personalhoheit. Jemand hat mal gesagt: Schule ist so wichtig, dass man sie nicht dem Staat überlassen kann. Schulen müssten, genau wie Kindertagesstätten, von staatlicher Trägerschaft befreit werden. Meine Vorstellung ist, dass wir nicht nur kleine private Schulen gründen, son-dern dass wir fordern: wir wollen, dass die Schulen den Bürgern zurück gegeben werden, dass sie aus der staatli-chen Bürokratie und Bevormundung rausgenommen wer-den. Und dass sie agieren wie ein ganz normaler Betrieb, der sich seine Ressourcen verschafft. Die Eltern kriegen einen Erziehungsgutschein, mit dem sie sich die Schulen ihrer Wahl aussuchen können. Damit sich die Schulen so entwickeln, wie wir sie brauchen. Wie die Kinder, die Eltern, der Stadtteil, die Bürger sie brauchen. Und dass sie frei zusammen arbeiten können, mit wem immer sie wollen. Und wenn die Bürger das brauchen, können sie auch Stadtteilzentrum werden. Ich habe das deswegen so ausführlich gesagt, weil die unendliche Diskussion ein-fach fruchtlos ist. Wir werden nie weiterkommen, wenn wir

in Deutschland nicht die Grundsatzfrage stellen. In vielen europäischen Ländern fi ndet Bildung ganz anders statt. Und bei uns heißt es gleich: das ist aber eine staatliche Pfl icht, für Bildung zu sorgen.

Wischnewski: Ich fi nde, das sollte man noch weiter den-ken, und zwar sollte es einen Bildungsgutschein für das ganze Leben geben. Wenn ich es tatsächlich hinkriege, den Kindergarten oder auch die Schule als Lernort für die Familie zu entwickeln, dann kann Schule denjenigen, die sich da einbringen, auch etwas zur Verfügung stellen. So wie du es von den Projekten mit der älteren Generation z.B. erzählt hast. Das ist mir wichtig, einen Bildungsgut-schein visionär für das ganze Leben zu wollen. Und ein Teil davon ist Kindergarten und Schule.

TN: Ich möchte den Schwerpunkt gerne woanders hinle-gen, nämlich auf Stadtteile mit Schwierigkeiten, wo viele sozial schwache Menschen leben, in Brennpunkten. Weil, wir haben hier schöne Sachen gehört, aber die haben zur Voraussetzung eine starke Elternschaft, die dahinter steht. Ich merke das bei uns, die Eltern sind teilweise ein-fach desinteressiert an dem, wie es ihren Kindern geht. Und das ist sehr schwierig. Und die Lehrer hängen sehr stark in dem alten System, kommen nicht raus, und Ver-änderung hängt sehr stark an Personen, meiner Meinung nach. Und bei uns ist es so, dass die Schule sich sogar massiv dagegen gewehrt hat, den Hort bei sich aufzuneh-men. Die Lehrer gehen um 13.30 Uhr nach Hause, und es passiert von ihrer Seite aus nichts. Sie wollen sich nicht öffnen. Sie wollen wirklich nur Arbeit abgenommen krie-gen. Aber sie sehen es nicht als Ganzes.

Workshop │ Und bist Du nicht willig, dann mach‘ ich es selbst ...

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Nicht für die Schule, sondern für das Leben ...│ Bildung im Stadtteil 111

Drei große ErziehungsmächteWenn man es ganz einfach betrachtet, dann gibt es drei große Erziehungsmächte, dann gab es in der Vergangen-heit und gibt es in der Zukunft drei große Erziehungs-mächte, die über das Leben junger Menschen weitgehend entscheiden, von denen es abhängt, ob junge Menschen ein gelingendes, ein erfolgreiches Leben vor sich haben.

Familie, Schule, JugendhilfeDas sind einmal Familien, das ist zum anderen Schule und das ist zum Dritten die Jugendhilfe. Und wenn man diese drei Erziehungsmächte betrachtet, so ist ganz eindeutig, dass sie konzeptionell, in der Vergangenheit, scharf gegen einander abgeschottet waren. Die Familie hat sich um die Erziehung gekümmert, die Schule hat sich um die Bildung gekümmert und die Jugendhilfe ist in der Regel dann ein-getreten, wenn in beiden Bereichen irgendetwas schief gelaufen ist, wenn in beiden Bereichen die Entwicklung von der Normalität abgewichen ist. Also haben wir Erzie-hungsmächte, jede mit ihrer eigenen Aufgabe, gegenein-ander abgeschottet und auch intern mit einer gewissen Hierarchie versehen.

Hierarchie und AbgrenzungMit einer Hierarchie versehen dergestalt, dass die Fami-lie das erste und das vornehmste und das wichtigste war, dann kam die Schule, auch herausgenommen durch staat-liche Schulpfl icht, und dann kam die Jugendhilfe, von der man in der Vergangenheit, nicht zu Unrecht, eine gewisse Randständigkeit oder Marginalität festgestellt hat.

Trennung von Bildung und SozialemUnd meine These ist nun, dass in Deutschland - und nur in Deutschland - in dieser Weise, das Soziale und die Bildung massiv voneinander abgegrenzt wurden. Der Bildungsstaat gehört in Deutschland seit Bismarck nicht zum Sozialstaat. Wir haben uns doch bei PISA außeror-dentlich schwer damit getan, eine einfache Erkenntnis von PISA öffentlich wirklich zu debattieren, nämlich die sozialen Voraussetzungen und die sozialen Folgen einer nicht gelingenden Bildungs- und Schulkarriere.

Paradigmenwechsel KooperationDer Paradigmenwechsel ist, dass wir eine Integration schaffen von Bildung und Sozialem, dass wir aufhören mit dieser deutschen Trennung, dass Bildung höhere Bildung ist, herkommend vom deutschen Idealismus, und dass das Soziale irgendwo in den dunklen Ecken der Gesellschaft nistet, gewissermaßen etwas Unordent-liches ist und die edle Bildung und Schule durch soziale Intervention nicht kontaminiert werden darf. Man kann es auch ganz konkret sagen - Sie kennen es, wenn Sie nicht nur in Baden-Württemberg mit Schulleuten reden - dass die Schulsozialarbeit nicht ex post kommen muss, sondern ex ante, von Anfang an. Hier zieren sie sich auf eine merkwürdig irrationale Weise. Das hat mit dem Dualismus zwischen sozialem Denken und Bildungsden-ken, zwischen Sozialstaat und Bildungsstaat zu tun. Der Paradigmenwechsel besteht, was die drei Erziehungs-mächte angeht, darin, dass sie, jede für sich, nicht mehr die Voraussetzungen schaffen können, damit Menschen ein erfolgreiches Leben vor sich haben, sondern dass sie kooperieren müssen, und dass sie sich konzeptio-nell integrieren müssen, dass also in allen Teilbereichen etwas geschieht, was man Bildung, Erziehung, soziale Kompetenzen usw. nennen darf: von Anfang an, eine konzeptionelle Integration dieser drei Bereiche, die sich dann, aber auch erst dann, auf Augenhöhe begegnen können. Also Paradigmenwechsel, keine Trennung von Bildung und Sozialem und zum anderen keine hierar-

Nachbarschaft, Stadtteilzentren, Schulen - von der Kooperation zur Integration. Wie kann eine bürgerfreundliche und vielfältige Bildungs-

landschaft gestaltet werden?

Abschlussbeitrag: Dr. Warmfried Dettling

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chische Abstufung zwischen diesen drei Erziehungs-mächten, die nur gemeinsam ein gelingendes Leben für junge Menschen schaffen können.

Das Gemeinsame zwischen Schule, Familie und JugendhilfeWenn Sie nun fragen: „Was war den drei Erziehungs-mächten gemeinsam, Schule, Familie und Jugendhilfe?“ So sehr sie sich abgeschottet haben, so waren ihnen drei Dinge durchgängig gemeinsam, die in Zukunft so nicht mehr gehen werden.

NormalitätsannahmeDas eine ist die Normalitätsannahme, das ist die Annahme, dass das Leben der Menschen in normalen Bahnen verläuft, und wenn man davon abweicht, dann gibt es Sonderschulen, dann gibt es Fremdunterbringung von Familien, dann gibt es Jugendhilfe insgesamt. Also Normalitätsannahme, dass man trennen kann zwischen normalen und zwischen abweichenden Entwicklungen.

Trennung zwischen Institution und sozialer UmweltDas zweite ist die Trennung zwischen Institution und sozi-aler Umwelt, ein ganz entscheidender Gesichtspunkt. Also plakativ formuliert können Sie sagen, dass sowohl Familien wie Schulen wie Jugendhilfe Mauern um sich herum gebaut haben und nichts mit der sie umgebenden sozialen Umwelt zu tun haben wollen. Das können Sie bei der Familie ganz eindeutig sehen, worüber immer geredet wurde, Familie oder Staat, gewissermaßen Familie gegen Staat und die Erziehung in der Familie das vornehmste Recht. Also Mau-ern zwischen Institution und sozialer Umwelt.

Trennung zwischen Wissenden und UnwissendenDas Dritte war, dass man in den Institutionen eine scharfe Trennung zwischen den Wissenden und den Unwissenden gemacht hat, zwischen den Experten und den Laien. Man hatte in der Bildung und auch in der Schule, diese Trich-termethode. Aufgabe der Schule ist es, in die jungen Men-schen wie mit einem Trichter Wissen hinein zu geben. Es ist nicht die Annahme – und das ist der konzeptionell andere Ansatz -, dass Kinder, auch wenn sie klein sind, neugierig sind, Talente haben, sich entfalten wollen.

Die AlternativeAlso die Alternative zu dieser Trichtermethode, die sorgfältig unterscheidet zwischen den Wissenden und

Nichtwissenden, den Experten und den Laien, ist die Annahme der Entfaltung der Persönlichkeit, ist die sokratische Methodik, dass der ganze Sinn der Päda-gogik, sei es in der Familie, sei es in der Schule, sei es in der Jugendhilfe, darin besteht, die Fähigkeiten, die im Menschen da sind, zu ihrer Entfaltung zu brin-gen. Und das hat weit reichende Folgen für die Instituti-onen natürlich, wenn sie diese Trichtermethode haben mit der scharfen Unterscheidung, haben sie natürlich eine Angstschule, wo die Leute Angst haben, dass sie immer die richtigen Antworten geben. Dann haben sie eine Antwortschule, wo Wert darauf gelegt wird, dass die Kinder das nachbeten, was der Lehrer vorgebetet hat und so weiter und so fort.

Drei Dinge, die den Institutionen gemeinsam waren, überwinden.Also das ist der entscheidende Punkt, dass man diese drei Dinge, die den Institutionen gemeinsam waren, überwindet. Integration bedeutet also nicht nur Koope-ration zwischen den Institutionen, sondern dass man in den drei Bereichen ähnliche Konzepte, ähnliche Bildungsansätze hat, offen zur sozialen Umgebung, Respekt vor dem einzelnen Kompetenzansatz, von den Kompetenzen ausgehend und schließlich, dass man nicht mehr Normalitätsannahmen macht, die so nicht mehr zu halten sind. Es kommt also darauf an - und das ist das Neue und da haben die Nachbarschaftsheime und viele andere sehr früh Pionierarbeit geleistet -, dass man grundsätzlich und radikal fragt: „Welche soziale Umwelt brauchen Kinder und junge Menschen, um sich optimal entfalten zu können?“

Soziale Ökologie, Bildungs- und SoziallandschaftenDer Ansatz wird also gelegt auf eine soziale Ökologie, auf Bildungslandschaften, auf Soziallandschaften, die insgesamt dazu beitragen, dass Kinder und Jugendliche sich optimal entfalten und optimal ins Leben hineinge-hen können. Und wenn Sie nun fragen und das ist mein zweiter Punkt: „Warum funktioniert denn das eigentlich nicht mehr so, wie es bisher gegangen ist?“ Man kann ja sagen, dass es irgendwann in früheren Zeiten einmal leidlich gut gegangen ist, aber dass es jetzt nicht mehr funktioniert. Die Antwort ist, dass sich die Lebensver-läufe der heutigen jungen Menschen massiv geändert haben und massiv von den Lebensverläufen meiner Generation unterscheiden.

Abschlussbeitrag │ Nachbarschaft, Stadtteilzentren, SchulenA

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Nicht für die Schule, sondern für das Leben ...│ Bildung im Stadtteil 113

Ansatz des LebensverlaufesDas ist der Ansatz des Lebensverlaufes, der in die Sozi-ologie schon vor 10 Jahren von Bertram und anderen gebracht worden ist, und der Gedanke ist ganz einfach und ganz simpel. Der Gedanke ist der, dass früher, in meiner Generation, sich die Lebensverläufe nach dem Modell der Lebenstreppe vollzogen haben: Kind, Jugend, Erwachsene, Alter. Und jede dieser Etappen war aufei-nander aufgebaut. In der Jugend lernt man für das Leben und bereitet sich auf das Leben vor. Als Erwachsener ist man verheiratet und erwerbstätig oder nur erwerbstätig. Monogame Ehe, monogamer Beruf, wie das Peter Groth von St. Galen mal genannt hat. Normalitätsbiographien. Und im Alter ruht man sich von den Mühen des Lebens aus. Ich kann es jetzt nicht im Einzelnen darlegen. Nur ist eines ganz klar: Wer nur in der Jugend lernt für sein Leben und später nicht mehr, wird es schwer haben im Leben. D.h. man muss in der Jugend gleichzeitig weniger und mehr lernen im umfassenden Sinne, um ein erfolg-reiches Leben zu haben.

Riskantes Leben, Riskante FreiheitenErwachsene, Jugendliche gehen hinein in ein riskantes Leben mit riskanten Freiheiten und normalen Risiken, d.h. sie werden im Leben möglicherweise davor stehen, dass ihre Partnerschaft gescheitert ist, sie werden davor ste-hen, dass sie im Beruf umsteigen müssen. Sie haben ein unsicheres, riskantes, offenes Leben vor sich und brau-chen ganz andere Strategien, um ihr Leben erfolgreich zu bewältigen. Diese Umstiege können zu Abstürzen führen und es kommt darauf an, dass man ihnen in diesen Situ-ationen dann immer wieder hilft.

Das Alter Das Alter, das liegt klar auf der Hand, wenn, das ist die Daumenregel, ein Drittel der Gesellschaft, ein Drittel des individuellen Lebens, jenseits der Erwerbsarbeit, leben, dann kann man nicht mehr davon reden, dass das Alter eine Phase ist, wo man sich ausruht, Das Alter gewinnt einen positiven sozialen Status. Das ist der entscheidende Punkt. So wie die Jugendforschung einmal erkannt hat, dass die Jugend nicht nur ein Transi-torium ist sondern ein eigenständiges Stadium, so ist es jetzt mit dem Altern: das Alter als eine soziale Ressource für die Gesellschaft erkennen. Noch nie zuvor hat es so viele Alte mit so vielen Ressourcen gegeben, was Bildung angeht, was Gesundheit angeht, was materielle Ressour-

cen angeht. Wir werden alle immer älter und wir werden gleichzeitig immer jünger, was Sie sehr leicht erkennen können, wenn Sie 70jährige heute, 50jährige heute und 50jährige vor 50 Jahren usw. hier als Galerie an die Wand malen. Also das ist ein ganz entscheidender Punkt.

Normale RisikenUnd diese veränderten Lebensläufe führen dazu, das bestimmte Risiken normaler werden und nicht mehr als Anormalität gewissermaßen in Sondereinrichtungen abgeschoben werden können. Oder anders herum for-muliert: die Veränderungen in der Arbeitswelt und in der Familienwelt, Armut, Arbeitslosigkeit, allein erziehend und viele andere Dinge, belasten Schulen und Familien mit Aufgaben, die sie aus eigener Kraft so nicht mehr wie früher erfüllen können. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, dass die veränderten Lebensläufe veränderte Risiken mit sich bringen, und dass es gesellschaftlich verursachte Problemlagen gibt, die auf die Familien, auf die Schulen gewissermaßen einstürmen, die diese nicht mehr aus eigener Kraft bewältigen können.

Reagieren auf veränderte LebensläufeD.h. die Institutionen, die früher getrennt waren, brau-chen einander, sie müssen einander unterstützen und gemeinsam überlegen, wie man für diese veränderten Lebensverläufe dann die optimalen Voraussetzungen für Kinder und Jugendliche schafft. Und wenn Sie nun konkreter fragen: „was brauchen eigentlich junge Men-schen, um in ein gelingendes Leben hineinzugehen?“ „Welche Kompetenzen müssen sie haben?“ Dann kom-men Sie sehr schnell zu einem bunten Strauß von Kom-petenzen, der es völlig offensichtlich macht, dass diese Kompetenzen, die für ein erfolgreiches Leben notwendig sind, nicht mehr in der Familie allein und nicht mehr in der Schule allein gelernt werden können. Ich will das ganz einfach mal auseinanderlegen, was ich damit meine: Was brauchen Kinder und Jugendliche, welche Kompetenzen? Sie merken, ich gehe von dem Kompetenzbegriff aus, weil der Kompetenzbegriff mir sehr viel tauglicher erscheint als der allgemeine Bildungsbegriff. Das ist in Deutsch-land eine große ideologische Debatte. Wenn ich durchs Land fahre, da wird mir immer vorgeworfen: Sie geben die Bildung auf und Sie reden nicht mehr von Bildung und Sie reden schon gar nicht mehr von Erziehung usw. Mein Punkt ist der: Was muss geschehen, damit Jugendliche Kompetenzen erwerben, die sie als Persönlichkeiten stark

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und in ihrem Leben erfolgreich machen? Da sind ganz einfach zuerst einmal die Grundelemente, also Lesen, Rechnen, Schreiben usw. Jugendliche brauchen natürlich kognitive Fähigkeiten. Das ist selbstverständlich. Das ist quasi abgehakt.

Lernen lernenDer zweite Punkt ist aber schon sehr viel schwieriger. Jugendliche müssen nicht nur dieses und jenes lernen, sondern Jugendliche müssen das Lernen lernen. Sie müs-sen lernen, dass sie gewissermaßen immer wieder neue Fähigkeiten, neue Kenntnisse in sich aufnehmen. Das ist nun gar nicht selbstverständlich. Es gibt den Begriff des lebenslangen Lernens, das ist Weiterbildung. Lebens-langes Lernen ist ein schrecklicher Begriff. Das erinnert die Leute regelmäßig irgendwie an „lebenslänglich“. Sie erinnern sich noch an die letzte Schule, an die Prüfungen, die sie gemacht haben. Also es käme darauf an, dass man einen positiv besetzten Begriff für das bringt, was gemeint ist. Dass man immer wieder neue Fähigkeiten und irgendein Wissen erwerben muss.

Soziale KompetenzenDann der nächste Punkt, was in der Vergangenheit so nicht sichtbar war: Jugendliche müssen in ihrer Jugend soziale Kompetenzen erwerben, die sie brauchen, um erfolgreich im Leben zu sein. Soziale Kompe-tenzen wurden früher auf eine quasi natürliche Weise in der Mehrkinder-familie, aber auch außerhalb der Familie, auf Bolzplätzen, im Fußball-verein usw. erworben. Soziale Kompetenzen heißt: die Fähigkeit, mit anderen zusammen zu arbeiten und trotzdem individu-elle Leistungen bringen zu wollen. Soziale Kompetenzen heißt verlie-

ren zu können, aber auch siegen zu wollen. Soziale Kom-petenzen heißt nach Niederlagen immer wieder aufzuste-hen … immer wieder durchzuhalten.

SelbstwirksamkeitSoziale Kompetenzen heißt, zu erfahren, dass man etwas bewirken kann, wenn man sich anstrengt, also Selbst-wirksamkeit. Eine ganz wichtige Sache. Und die Frage ist

einfach die, und das kann jeder für sich ausmachen: Wo lernt man eigentlich in unserer Gesellschaft heute solche Kompetenzen? Wo sind die sozialen Orte, wo Menschen einigermaßen systematisch und einigermaßen verlässlich soziale Kompetenzen erwerben?

Daseinskompetenzen, Management des eigenen LebensDann der nächste Punkt: Daseinskompetenzen. Das ist ein Begriff des Soziologen Franz Xaver Kaufmann. Und mit Daseinskompetenzen meint er z.B. ganz einfache Dinge, z.B. Lernen, dass ein Monat 30 Tage hat oder 31 oder 28. Das ist ganz wichtig für Schuldnerberatung und, und, und. Für die Verschuldung, da ist nicht unwesentlich, dass eine Woche sieben und ein Monat 30 oder 31 Tage hat. Daseinskompetenzen heißt, dass man Bedürfnisse aufschieben muss, um dann andere zu erreichen und so weiter und so fort. Der Unterschied zu früher ist einfach der, dass junge Leute heute gewissermaßen nicht mehr in fertige Bahnen eintreten können, sondern ihr Leben selber organisieren, managen müssen und das ist viel voraussetzungsreicher, als das in meiner Jugend der Fall war, wo klar war, was man wird, was der Vater war und wenn man studiert hat, wo man dann hin geht.

Sozial-kreativ neue Orte schaffenDer Punkt ist nur der: was man für ein erfolgreiches Leben braucht, kann man heute nicht mehr allein in der Schule lernen, schon gar nicht in den Schulen, so wie sie sind, und auch nicht mehr alleine in den Familien lernen. Die quasi natürlichen Orte, wo soziale Kompetenzen erworben worden sind, sind durch die Modernisierung und durch die Lebensumstände, Auto, Städteplanung usw. sehr in Mitlei-denschaft gezogen worden, so dass es darauf ankommt, gewissermaßen sozial kreativ neue Orte zu schaffen, wo Menschen diese Erfahrungen machen können.

BeispieleIch möchte Ihnen jetzt zum dritten Punkt, einfach einige Beispiele nennen, wie eine solche neue Konzeption in die Tat umgesetzt werden kann, wie man Landschaften schaffen kann und wie man Mauern einreißen kann.

Defi zitäre FamilienNehmen Sie ganz einfach mal das Problem der defi zi-tären Familien. Ich rede nie von verwahrlosten Familien, einfach deshalb, weil verwahrlost immer auch eine mora-lische Schuld beinhaltet, ein moralisches Versagen, was

Abschlussbeitrag │ Nachbarschaft, Stadtteilzentren, SchulenA

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Nicht für die Schule, sondern für das Leben ...│ Bildung im Stadtteil 115

die Sache nicht weiter bringt. Defi zitäre Familien sind ein-fach Familien, die ihre Leistungen nicht erbringen so wie es Staaten gibt, die defi zitär sind, weil sie ihre Leistungen nicht erbringen. Was kann man bei defi zitären Familien machen? Man kann natürlich überlegen, wie kommt man ran, an die Mütter, an die Eltern in solchen defi zitären Familien? Und da kann man Überlegungen anstellen, wie Herr Menninger und Herr Zinner es getan haben, in einem Artikel der Zeitschrift „Blätter der Wohlfahrtspfl ege“, dass man sagt, man kann sich überlegen, ob man einen Teil der Familientransfers, Kinderzuschläge, nicht als Sach-leistungen ausbezahlt, sondern nur ausbezahlt, wenn bestimmte Hilfen in Anspruch genommen werden. Man kann überlegen, wie man gewissermaßen an defi zi-täre Familien gleich bei der Geburt eines Kindes heran kommt. Es gibt in Hamburg diese Initiative, die aus Ame-rika kommt: ‚Wellcome‘, wo einfach ein freiwilliges Netz von Ehrenamtlichen, mit einem Professionellen natürlich dazwischen, Familien, die Kinder bekommen, besucht, von denen man weiß, dass es Schwierigkeiten geben könnte, um niedrig schwellig Hilfe anzubieten.

Freiwillige (soziale) FeuerwehrWir haben in Deutschland, das ist eine große Leistung, die nehmen wir immer so selbstverständlich hin oder belä-cheln sie auch mal, wie ich es auch tue - die freiwillige Feuerwehr. Die freiwillige Feuerwehr rückt aus, wenn es brennt. Aber die Leistung der freiwilligen Feuerwehren besteht natürlich nicht nur darin, dass sie ausrückt wenn es brennt, sondern, dass sie auch Orte für soziales Leben in den Dörfern darstellen. Und meine Frage ist nun, ob wir nicht so etwas wie eine freiwillige soziale Feuerwehr in den Städten und Gemeinden ins Leben rufen könnten, eine freiwillige soziale Feuerwehr, die dann dort hin geht, wo es voraussichtlich Schwierigkeiten geben wird, wo junge Eltern nicht alleine klar kommen.

Kindertagesbetreuung (auch) für Kinder von ArbeitslosenNehmen Sie das Beispiel, dass Sie langzeitarbeitslose Mütter haben, die zu Hause sitzen: Couch-Potatoes, Fern-sehen, Bier usw. Und wo manche Jugendämter sagen, na ja, langzeitarbeitslose Mütter sind ja zu Hause, die kön-nen auf ihre Kinder aufpassen, die brauchen nicht unbe-dingt Betreuungsplätze. Da ist einmal die konzeptionelle Antwort natürlich die, dass man sagen muss, was das wichtigste für Kinder aus defi zitären Familien ist, näm-lich, dass sie raus kommen aus diesen defi zitären Fami-

lien, nicht im Sinne von Fremdunterbringung, sondern im Sinne von Hineinfi nden in anregende Milieus. Das ist der ganz entscheidende Punkt. Also Kinder wer-den fertig mit einer Phase defi zitärer Umgebungen, aber sie werden nicht damit fertig, wenn sie nie etwas anderes erleben. Also hinein in Kindertagesstätten, wo sie anderes erleben. Und nun kann man sagen: „Was hilft das, wenn ich die Kinder ein paar Stunden in den Kindertagesstät-ten habe, wunderbare Umgebung, die ganze Armada der Sozialpädagogik, und die Eltern ändern sich nicht. Also kann man überlegen und, soweit ich gehört habe, sind in Potsdam Versuche im Gange, dass man überlegt, ob man die Kinder nicht in Kindertagesstätten tut, ihnen dort auch Mittagessen gibt, kostenlos, keine Gebühren und dann aber sagt, dass die Mütter, das was sie können, ein-bringen müssen in das Leben von Kindertagesstätten.

Mütter einbeziehenAlso, dass man versucht, die Mütter einzubeziehen in die Arbeit und die Tätigkeit von Kindertagesstätten. Da wird man sagen: „Es geht nicht“. Es gibt Beispiele, wo es ver-sucht worden ist und wo da ganz interessante Sachen passieren, weil nämlich die Kinder zum ersten Mal ihre Mutter erleben in einer sozialen Umgebung, wo sie aner-kannt wird, den Tisch deckt usw. Es ändern sich also die Beziehungen möglicherweise zwischen Kindern und ihren Eltern. Es kommen soziale Prozesse in Gang. Mauern werden eingerissen zwischen Familien und Kindertages-stätten, auch dort, wo es gewissermaßen scheinbar nicht funktioniert.

Schule (von staatlichen Anstalten zu Institutionen der Nachbarschaft)Und dann natürlich das große Thema, das Herr Zinner angesprochen hat, Schule. Wir haben Schule bei uns in Deutschland organisiert als staatliche Anstalt. In der Folge haben wir Schulen, in die niemand gerne hineingeht. Die Lehrer beklagen sich und schimpfen, die Eltern beklagen sich und schimpfen. Von den Schülern wissen wir, dass es die einzigen sind, die ab und zu gerne hingehen, aber nicht weil es die Schule ist, sondern weil sie Gleichaltrige treffen. Die Frage ist: „Wie kommt es dazu und was kann man tun, damit Schule von staatlichen Anstalten zu Insti-tutionen der Nachbarschaft, der Gesellschaft werden?“ Das ist der ganz entscheidende Punkt dabei. Es geht nicht darum, dass man die öffentliche Verantwortung des Staates preisgibt. Der Staat behält seine öffentliche

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Verantwortung, indem er Rahmenbedingungen setzt. Der Staat behält seine öffentliche Verantwortung, dass nie-mand aus sozialen Gründen vom Bildungsaufstieg ausge-schlossen werden kann. Aber es geht darum, dass man Schulen dezentralisiert, dass man autonome Schulen schafft, die Orte der Gesellschaft, ein gemeinsames Werk von Lehrern, von Eltern, der Nachbarschaft und der loka-len Verantwortlichen werden, dezentrale und autonome Schulen.

GutachtenDazu haben wir ein Gutachten für den Paritätischen Wohlfahrtsverband Berlin gemacht. Das will ich hier nicht im Einzelnen wiederholen. Der Grundgedanke ist der, dass die Schulen selbstständig bestimmen können über ihr Personal und über ihre Inhalte, und dass die Aufgabe des Staates, neben der Finanzierung, sich auf zwei Dinge konzentriert: einmal auf die Vorgabe der Bil-dungsstandards, zentraler Bildungsstandards, und dann auf die öffentliche Evaluierung, ob eine Schule die Ziele erreicht hat oder nicht, so dass sie dann auch Rechen-schaft abgeben muss, wenn sie versagt hat. Bei dieser Veränderung der Schulen geht es nicht vorrangig um die Frage „staatlich“ oder „privat“. Es können sich auch staatliche Schulen zur Nachbarschaft öffnen und in den Wettbewerb eintreten.

Schule öffnenEs geht darum, dass die Schule in die Nachbarschaft hinein geöffnet wird und dass da Leute kommen von den Vereinen, Handwerker, die sich die Schule zu ihrem Anliegen machen usw. usf. Also das ist der entscheidende Punkt. Bildungslandschaften zu organisieren, von der Kindertagesstätte bis hin zu Schulen und später mögli-cherweise auch zu weiterbildenden Veranstaltungen. Das Stichwort ist: Schule als Teil von Bildungslandschaften, so wie man soziale Institutionen als Teil von Lebensräumen konzipieren kann.

Stiftung Liebenau am BodenseIch habe einmal ein schönes Beispiel für solche sozi-alen Lebensräume erlebt, in der Stiftung Liebenau am Bodensee, wo von der Behindertentagesstätte bis zu Altenpfl egeeinrichtungen alles auf einem Gelände war, wo es zur Nachbarschaft hin offen war, wo den Pfl ege-bedürftigen, die kamen, gesagt wurde, wenn ihr hier her kommt, müsst ihr für euch selber sorgen, so viel ihr

es könnt. Selbstwirksamkeit, und ihr müsst den ande-ren helfen, wenn ihr es könnt. Darum herum haben die Bürgermeister Ehrenamt organisiert in den Gemeinden, Soziallandschaften und hier Bildungslandschaften. Der Weg geht auf jeden Fall in diese Richtung, der Paritä-tische Berlin ist hier ein Vorreiter, ich denke aber, dass auch alle anderen sozial aktiven Sozialarbeiter und Sozi-alverbände sich auf diese Entwicklung einstellen müs-sen, weil das die Voraussetzung ist, dass gewisserma-ßen dieses Bouquet an Fähigkeiten und Kompetenzen auch wirklich vermittelt werden kann.

MehrgenerationenhäuserDann schließlich der letzte Punkt, den ich noch erwäh-nen will, das sind die Mehrgenerationenhäuser, das ist im Grunde die Verallgemeinerung, die Aufnahme der Idee auch der Nachbarschaftsheime. Die Idee ist, sozi-ale Orte zu schaffen, wo Menschen zusammen kommen, die sonst nicht so ohne weiteres zusammen kommen: Generationen, unterschiedliche soziale Schichten. Es wird immer wichtiger in unserer Gesellschaft, dass man auch Orte hat, wo Leute zusammen kommen, die nicht unbedingt a priori etwas gemeinsam haben, also erwerbstätige Mütter und nicht erwerbstätige Väter mög-licherweise, wo niedrig schwellige Angebote gemacht werden, offener Mittagstisch usw. Also das sind ganz entscheidende, ganz wichtige Dinge und ich denke, dass Sie mit den Nachbarschaftshäusern diese Entwicklung aufnehmen.

Haupt- und EhrenamtUnd wenn man noch eine Querschnittsbemerkung am Schluss machen will, dann ist es die: Die sechziger und siebziger Jahre haben sich ausgezeichnet in der sozialen und Bildungslandschaft durch eine hohe Professionali-sierung und Spezialisierung und Verrechtlichung. Und das war alles irgendwie notwendig. Ich glaube aber, dass jetzt eine Phase gekommen ist, wo zusätzlich zur Pro-fessionalisierung völlig neu die Aufgabe und die Chance angegangen werden muss, ehrenamtliches Potential, soziale Ressourcen in der Gesellschaft zu mobilisieren für soziale Aufgaben. Man kann geradezu sagen, dass all die großen Probleme, unter denen wir leiden und um deren Bearbeitung sich die Politiker abmühen, nicht ohne Mobilisierung von bürgerschaftlichem und sozi-alem freiwilligen Engagement, bewältigt werden können. Und damit kommt auf die professionellen Sozialarbeiter

Abschlussbeitrag │ Nachbarschaft, Stadtteilzentren, SchulenA

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Nicht für die Schule, sondern für das Leben ...│ Bildung im Stadtteil 117

natürlich eine doppelte Aufgabe zu: Sie müssen einmal wie bisher in der Einzelfallbearbeitung gewissermaßen Profi sein und sie müssen zum anderen so etwas wer-den wie soziale Hebammen, soziale Manager, die die Ressourcen in der Gesellschaft mobilisieren. Und dafür ist es ganz notwendig, dass man neue Wege in der Koo-peration zwischen Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen beschreitet. Die Kooperation zwischen Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen ist selber wieder eine professio-nelle Aufgabe. Man denkt immer, es ist alles so einfach. In Wirklichkeit haben die Hauptamtlichen Sorge damit, dass da nicht ausgebildete Leute plötzlich herum ren-nen oder sie haben Angst um ihre Arbeitsplätze und die Ehrenamtlichen und Freiwilligen fühlen sich zusätzlich als Lückenbüßer oder sie fühlen sich überfordert. D.h. ich plädiere dafür, dass man systematisch durch Medi-ation und Moderation den Hauptamtlichen und Ehren-amtlichen den wechselseitigen Perspektivenwechsel ermöglicht, dass man Hauptamtlichen die Perspektive von Ehrenamtlichen und Ehrenamtlichen die Perspektive von Hauptamtlichen nahe bringt, damit die Kooperation besser gelingen kann.

Kein Abschied von ProfessionalitätEs ist nicht ein Abschied von der Professionalität. Es ist eine Ausweitung des Konzeptes der Professionalität, dass man gewissermaßen sagt: „Ihr als Hauptamtliche habt unterschiedliche Aufgaben und unsere Arbeit wird nicht nur billiger, das ist nicht das zentrale Moment, sondern sie wird vor allem besser.“ Ob es um die Verwahrlosung von Stadtvierteln geht oder die Verlebendigung von Schu-len oder um eine menschliche Pfl ege, überall braucht man hier den Dreiklang von Professionellen, Institutionen und freiwilligem Engagement, wenn es wirklich gelingen soll.

Mein PlädoyerMein Plädoyer ist, wahrscheinlich trage ich hier Eulen nach Athen, dass Sie als Professionelle gewissermaßen diesen Perspektivenwechsel durchdenken und in die Gesellschaft hinein tragen. Ehrenamt und Freiwilligenen-gagement ist kein Ornament in den Rissen unseres beto-nierten Sozialsystems, sondern ein Lebenselixier für unser Gemeinwesen. Eine gelingende Kooperation aller Beteili-gten bringt soziale Qualität in die Lebensbedingungen der Menschen.

Schon einmal vormerkenJahrestagung Stadtteilarbeit 2008 Familien-Netze(Arbeitstitel)

vom 7. - 8. November 2008im Bürgerhaus am Schlaatz in Potsdam

Informationen werden aktualisiert auf

www.stadtteilzentren.de

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Ingrid Alberding NBH Mittelhof ▪ Berlin ▪ [email protected]

Karin Bastian Generationengärten, Planwerkstatt Berlin ▪ Berlin ▪ [email protected]

Martin Beck Fabrik Osloer Str. ▪ Berlin ▪ [email protected]

Susanne Besch Nachbarschaftshaus Pfefferberg ▪ Berlin ▪ [email protected]

Eva Bittner Theater der Erfahrungen, NBH Schöneberg ▪ Berlin ▪ theater-der-erfahrungen@nachbarschaftsheim-schoeneberg

Daniela Bolscho STZ Amtshaus Buchholz ▪ Berlin ▪ [email protected]

Jens Clausen Generationengärten, Planwerkstatt Berlin ▪ Berlin ▪ [email protected]

Claudia Cremer OGB d. Scharmützelsee GS ( Träger: NBH Schöneberg) ▪ Berlin ▪ [email protected]

Dr. Warnfried Dettling Berlin ▪ [email protected]

Ruth Ditschkowski Fabrik Osloer Str. ▪ Berlin ▪ [email protected]

Enver Sen Verein Stadtteil VHS ▪ Berlin ▪ [email protected]

Kathrin Feldmann Stadtkontor, Gesell. für behutsame Stadtentwicklung ▪ Potsdam ▪ [email protected]

Hans Ferenz Projekt Go Areas ▪ Berlin ▪ [email protected]

Gabriele Fichtner BALL e.V. ▪ Berlin ▪ gabriele.fi [email protected]

Andris Fischer Berlin ▪ andrisfi [email protected]

Theo Fontana Verband für sozial-kulturelle Arbeit, Zentrum demkr. Kultur ▪ Berlin ▪ [email protected]

Jana Friedemann Humanistische Schule (HVD Berlin) ▪ Berlin ▪ [email protected]

Bernd Giesecke BGH Bocklemünd-Mengenich, Köln ▪ Köln ▪ [email protected]

Annekatrin Goderich Hechavarría VSP Dresden e.V. ▪ Dresden ▪ [email protected]

Reinhilde Godulla Verband für sozial-kulturelle Arbeit ▪ Berlin ▪ [email protected]

Sven Gramstadt Verein für ambulante Versorgung Hohenschönhausen ▪ Berlin ▪ [email protected]

Christiane Grunau Woltersdorf

Otto Herz COMED e.V., Stiftung Civil-Courage ▪ Bielefeld ▪ [email protected]

Karin Höhne Ganztagsbetreuung NBH Schöneberg, ▪ Berlin ▪ [email protected]

Gisela Hübner NBH Mittelhof ▪ Berlin ▪ [email protected]

Ilhan Emirli Outreach Mariendorf ▪ Berlin ▪ [email protected]

Tove Ivers Kita Sigmaringer Str. ▪ Berlin

Stefan Jensen Juxirkus Schöneberg ▪ Berlin ▪ [email protected]

Ralf Jonas Bürgerhaus Oslebshausen ▪ Bremen ▪ [email protected]

Andreas Kaminski Villa Folke Bernadotte ▪ Berlin ▪ [email protected]

Inge Kersten Juxirkus Schöneberg ▪ Berlin ▪ [email protected]

Petra Kindermann NBH Prinzenallee ▪ Berlin ▪ [email protected]

Siegfried Kleimeier STATTBAU Stadtentwicklungsgesellschaft m.b.H ▪ Berlin ▪ [email protected]

Andreas Knöbel Kinderbauernhof NUSZ Ufafabrik ▪ Berlin ▪ [email protected]

Ilona Kolm Nachbarschaftsheim Mittelhof ▪ Berlin ▪ [email protected]

Jörg Lampe Stadtteilzentrum Hellersdorf - Klub 74 NBZ ▪ Berlin ▪ [email protected]

Rainer Laudan Offenes Kinder- und Jugendhaus Labyrinth ▪ Greifswald ▪ [email protected]

Tim Lehmann Berlin ▪ [email protected]

Christoph Lewek Frei-Zeit-Haus e.V. ▪ Berlin ▪ [email protected]

Sascha Lieneweg Mehrgenerationenhaus Heidelberg ▪ Heidelberg ▪ [email protected]

Christina Lückenga Ganztagsbereich NBH Schöneberg, 39.Grundschule ▪ Berlin ▪ [email protected]

Petra Lüdemann Frei-Zeit-Haus e.V. ▪ Berlin ▪ [email protected]

Anna Madenli Outreach-Schülerclub-AEO Schöneberg ▪ Berlin ▪ [email protected]

Annett Maurer-Kartal Verein Stadtteil VHS, Berlin ▪ Berlin ▪ [email protected]

Melanie Meier Ganztagsbereich 39.Grundschule, NBH Schöneberg ▪ Berlin ▪ [email protected]

Oswald Meninger DPW LV Berlin ▪ Berlin ▪ [email protected]

Teilnehmerliste│ Name Einrichtung Stadt Mail

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Nicht für die Schule, sondern für das Leben ...│ Bildung im Stadtteil 119

Hannah-Ruth Metzger NBH Prinzenallee Projekt Social Learning ▪ Berlin ▪ [email protected]

Christoph Mitrega Juxirkus Schöneberg ▪ Berlin ▪ [email protected]

Birgit Monteiro Kiezspinne FAS e.V. ▪ Berlin ▪ [email protected]

Lars Müller AWO Stadtteil- und Begegnungszentrum Börgerhus ▪ Rostock ▪ [email protected]

Karin Müller Nachbarschaftshaus Wiesbaden ▪ Wiesbaden ▪ [email protected]

Waldemar Palmowski NBH Schöneberg ▪ Berlin ▪ [email protected]

Angelika Pleger Katholische Hochschule Berlin ▪ Berlin ▪ [email protected]

Christina Putze KREATIVHAUS e.V. ▪ Berlin ▪ [email protected]

Kristin Radix Planwerkstatt, Generationengärten ▪ Berlin ▪ [email protected]

Margret Rasfeld Evangelische Schule Berlin-Mitte ▪ Berlin ▪ [email protected]

Barbara Rehbehn Bürgerhaus am Schlaatz gGmbH ▪ Potsdam ▪ [email protected]

Albert Reinhardt PSI-21 /Gattel-Stiftung i.G. ▪ Berlin ▪ [email protected]

Susanne Rinck Kotti e.V. ▪ Berlin ▪ [email protected]

Roland Rockwitz Begegnungsstätte Fontanetreff ▪ Königs Wusterhausen ▪ [email protected]

Kristina Ropenus AWO Jugendzentrum 224 ▪ Rostock ▪ [email protected]

Markus Runge Nachbarschaftshaus Urbanstraße e.V. ▪ Berlin ▪ [email protected]

Gerald Saathoff NBH Mittelhof, Berlin ▪ Berlin ▪ [email protected]

Monika Schaal Pfefferwerk Stadtkultur gGmbH / Nachbarschaftshaus ▪ Berlin ▪ [email protected]

Enrico Scharsach AWO KV Rügen e.V.-Nachbarschaftszentrum Bergen ▪ Bergen auf Rügen ▪ [email protected]

Elena Scherer Verband für sozial-kulturelle Arbeit ▪ Berlin ▪ [email protected]

Herbert Scherer Verband für sozial-kulturelle Arbeit ▪ Berlin ▪ [email protected]

Heike Schmidt NBH Mittelhof, Kinderhaus am Karpfenteich ▪ Berlin ▪ [email protected]

Gerd Schmitt Kiezoase Schöneberg / PFH ▪ Berlin ▪ [email protected]

Viola Scholz Thies Gemeinwesenverein Heerstraße Nord e.V. ▪ Berlin ▪ [email protected]

Elke Schönrock Gemeinwesenverein Haselhorst e.V. ▪ Berlin ▪ [email protected]

Uta Schröder Gmeiner Grundschule ▪ Berlin ▪ [email protected]

Renate Schulz Frankfurt am Main ▪ [email protected]

Stefan Schützler Gangway ▪ Berlin ▪ [email protected]

Astrid Schwauna Patchwork - Verein zur Förd. von Bildung und Begegnung ▪ Berlin ▪ [email protected]

Jörg Schwauna Patchwork - Verein zur Förd. von Bildung und Begegnung ▪ Berlin ▪ [email protected]

Petra Sperling Gemeinwesenverein Heerstraße Nord e.V. ▪ Berlin ▪ [email protected]

Theo Teucher Medienwerkstatt Berlin ▪ Berlin ▪ [email protected]

Viola Wagner NUSZ in der Ufa Fabrik ▪ Berlin ▪ [email protected]

Birgit Weber Büro Birgit Weber ▪ Berlin ▪ [email protected]

Katrin Wegner TÄKS e.V. / Kiezinseln ▪ Berlin ▪ [email protected]

Max Wegricht Verband für sozial-kulturelle Arbeit ▪ Berlin ▪ [email protected]

Sabine Weskott SOS-Familienzentrum Berlin ▪ Berlin ▪ [email protected]

Torsten Wischnewski Stiftung Pfefferwerk ▪ Berlin ▪ [email protected]

Torsten Wlock Berlin ▪ [email protected]

Ricarda Wolter NBH Prinzenallee, Projekt social learning ▪ Berlin ▪ [email protected]

Dijana Zadro KREATIVHAUS e.V. Berlin ▪ Berlin ▪ [email protected]

Georg Zinner Nachbarschaftshaus Schöneberg e.V ▪ Berlin ▪ [email protected]

Alexandra Zinati Kotti e.V. ▪ Berlin ▪ [email protected]

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Impressum

Der Rundbrief wird herausgegeben vomVerband für sozial-kulturelle Arbeit e.V.Tucholskystraße 11, 10117 Berlin

Telefon: 030 280 961 03Fax: 030 862 11 55Email: [email protected]: www.vska.de

Redaktion: Herbert SchererGestaltung: Hulitschke MediengestaltungDruck: Agit-Druck Berlin

Der Rundbrief erscheint halbjährlichEinzelheft: 5 Euro inkl. Versand

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