RUNDSCHAU - Suhrkamp Verlag · 2016. 3. 24. · Rundschau auf die vollendete Stimmung eine...

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RUNDSCHAU Daß einer nach zweihundert Jahren unter den Menschen noch lebendig sein kann, das ist doch zum Ver- dem; einer, der nicht Goethe war und nicht espeare, auch nicht Cäsar oder Napoleon, er ein Michelangelo noch ein Rernbrandt, Co- us oder Franklin ;der zu seiner Zeit in unserem de nicht einmal an einem Orte einer großen ollen Herrschaft, in Weimar, Königsberg, oder Berlin, lebte, sondern in dem kleinen .,1US ~R BOTE Dorfe Wandsbek, das bis dahin als Domizil von Bankerotteuren einen sonderlichen Ruf hatte; einer, der weder mächtigen noch tüchtigen noch streb- samen Geistes war, sondern durch Untüchtigkeit und selbst Faulheit die Gunst mächtiger Freunde verlor und von allen Geistern jener Zeit verlassen wurde, da er sich immer entschiedener auf sein evangelisches Christentum beschränkte. Auf der Suche nach etwas Rühmlichem kann man einzig entdecken, daß er ein außergewöhnlicher Familien-

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  • Carl Haensel, Die Großmut des Soldaten

    .t werden, die Waffe zu senken und auf denergebenden Feind nicht mehr abzudrucken.Seelenregung im Soldaten, auf Grund deren

    ...eIn Gegner das Leben schenkt, ist nicht Mit-sondern ein ganz anderes seelisches Ver-

    ""n. Der Besiegte hat während des KampfesRecht auf Gnade: "Wer das Schwert er-

    • , soll mit dem Schwert umkommen." Aberieger hat ein Recht zur GROSSMUT. Dieehe hat diese Seelenregung mit einem be-ers schönen Worte: Groß-Mut bezeichnet,Steigerung der Grundtugend des Soldaten,

    Mutes, geprägt und dem neuen Begriff dasIiche Geschlecht gegeben, das allen Tugendenmmt. Von der Rache aber sagt sie, sie seiinlich", Der Großmütige versenkt sich nichtder Mitleidige in die Seele des Besiegten, ernicht zu seiner Niederlage hinab, um sich

    ihm eins-zusetzen und für ihn einzusetzen,ern er bleibt auf seiner Höhe, betont sogarden Abstand, der ihn vom Besiegten trennt,er seine Stellung als so unangreifbar er-

    en läßt, daß der Unterliegende ihm über-t nicht mehr gefährlich werden kann. Darin

    ;t kein Übermut, keine "Hybris" in dem vonGriechen gefürchteten Sinn, sondern eine sitt-erlaubte und begriffsmäßig sogar geforderte.tellung völliger Herrschaft und überlegen-

    • über Mitmenschen, da allein diese SicherheitSchonung des Feindeslebens überhaupt er-

    -glicht.Diese stolze Empfindung ist in ihrem vollen...mzenur dem Soldaten verliehen. Denn selbst

    liebende Mensch, das ethische Ideal dern Religionen, gerät durch die Liebe in Ab-igkeit von seinem Gegenstand. Die Tendenz

    der Liebe ist stets auf Wertsteigerung für unddurch das Geliebte gerichtet, Liebe heischt auchimmer Gegenliebe. Großmut dagegen ist ohneGegenseitigkeit, Begehr und Dankbarkeit. Sie istnach Überwindung des Feindeshasses die im Sol-daten wieder freiwerdende allgemeine Menschen-liebe in einer einmaligen, völlig selbstlosen Form .Und damit ist Großmut für beide Teile schöpfe-risch. Der Feind, der bis dahin ein Unwert warund durch seine Besiegung auch für sich den Wertverlor, wird nun wieder in einen Wert gesetzt.Großmut ist ein Gnadenrecht. das allein dem Sol-daten in seinem vollen Gewicht verliehen ist. Esist der ewig gerechte Ausgleich dafür, daß vonihm vorher das größte Opfer verlangt wurde:Preisgabe des eigenen und Vernichtung fremdenLebens. Daß der scheinbar unlösbare Konfliktzwischen Feindeshaß und allgemeiner Menschen-liebe in dieser edlen und stolzen Empfindung aus-klingt, gibt wie kaum eine andere sittliche Tat-sache die Gewißheit, daß die Welt nicht dieschlechteste aller denkbaren ist, kein dem Teufelüberantworteter sinnloser Mechanismus, sonderndie Stätte göttlichen Waltens mit dem Endzielmöglicher Harmonie. Die Großmut ist es, dieaus dem Kriege trotz der Vernichtung lebendigerund materieller Werte die Wiege einer neuenbesseren Ordnung erstehen lassen kann. Da allesLebendige im Urgrund miteinander verbundenund daher auch füreinander verantwortlich ist, istes die unbewußte Segenswirkung der Großmut,die vom Kriege heimgesuchten Völker in einerneuen Gemeinschaft wieder zu einen, gemäß derWeisheit des alten Delphischen Orakelspruches,daß "die Wunden der gleiche Speer heilt, dersie schlug".

    RUNDSCHAUDaß einer nach zweihundert Jahrenunter den Menschen noch lebendigsein kann, das ist doch zum Ver-

    dem; einer, der nicht Goethe war und nichtespeare, auch nicht Cäsar oder Napoleon,er ein Michelangelo noch ein Rernbrandt, Co-us oder Franklin ; der zu seiner Zeit in unseremde nicht einmal an einem Orte einer großenollen Herrschaft, in Weimar, Königsberg,oder Berlin, lebte, sondern in dem kleinen

    .,1US~R BOTE

    Dorfe Wandsbek, das bis dahin als Domizil vonBankerotteuren einen sonderlichen Ruf hatte; einer,der weder mächtigen noch tüchtigen noch streb-samen Geistes war, sondern durch Untüchtigkeitund selbst Faulheit die Gunst mächtiger Freundeverlor und von allen Geistern jener Zeit verlassenwurde, da er sich immer entschiedener auf seinevangelisches Christentum beschränkte. Auf derSuche nach etwas Rühmlichem kann man einzigentdecken, daß er ein außergewöhnlicher Familien-

    40S

  • vater war; schon um seine Hausvatertüchtigkeitstand es wiederum schlecht. Er war so untüchtig,wie nur noch Pestalozzi, mit dem übrigens auchsein Porträt im Ausdruck Verwandtschaft verrät.In Pestalozzis Einleitungsgespräch zum "Schwei-zer Blatt von 1782" wirft der Leser dem Autor vor,er sei "ein wenig Kind", und der Autor antwortet:"Will's bleiben bis ans Grab"; das könnte so wort-wörtlich auch im Wandsbecker Boten stehen. AberVater Pestalozzi nahm eine Sendung wahr, die ihmein titanisches Schicksal bereitete, in das auchHumor nicht den geringsten Lichtschimmer wirft;dagegen ist das ereignislose und idyllische Lebendes Wandsbeker Zeitungsmannes Claudius vontausend Lichtern des Humors scheckig. Er istAsmus, er ist der Bote, er ist Matthias Claudius -aber ein Mann ohne jedes Verdienst. Seine Schwär-merei kann man ihm weder gutbringen noch an-kreiden, sie entsprach der zeitüblichen Gemüts-lage. - Aber nach zweihundert Jahren ist erlebendig gegenwärtig.Seine lebendige Gegenwart beruht nicht etwa

    auf dem vollkommenen Gedicht, das in aller Ge-dächtnis lebt: "Der Mond ist aufgegangen". Seites dieses Gedicht gibt, haben es alle Menschenseitdem einmal und manche sogar viele, viele Malefür sich aufgesagt, ohne daß sie dabei an den MannMatthias Claudius auch nur dachten; viele wußtengar nicht den Namen des Dichters. "Befiehl dudeine Wege" ist auch von allen Menschen ge-sungen worden, aber Paul Gerhardt ist damit nichtlebendig geblieben. Anderthalb Jahrhunderte hin-durch haben alle Schulkinder "War einst ein RieseGoliath" gelernt, und Menschen, denen das"Abendlied" ein Herzensstück deutscher Dich-tung war, haben später nicht geglaubt, daß es auchsein Dichter war, der die Geschichte von Davidund Goliath in launische Verse brachte. Essollte einmal jemand folgendes Wagnis begehenund auf einem Abendspaziergang, nachdem das"Abendlied" mit:

    Verschon uns, Gott! mit Strafen,Und laß uns ruhig schlafen!Und unsern kranken Nachbar auch!

    beendet wurde, anschließend rezitieren:

    Nun mag ich auch nicht länger leben,Verhaßt ist mir des Tages Licht;Denn sie hat Franze Kuchen gegeben,Mir aber nicht . . .

    und hinzufügen, das sei so die Art und Weise desMatthias Claudius. Tatsächlich ist dies seine Art,

    Rundschau

    auf die vollendete Stimmung eine Trivialität odereinen Witz zu setzen.Die lebendige Gegenwart des Matthias Clau-

    dius beruht auf den "Sämtlichen Werken desWandsbecker Boten", wie er sie herausgegebenhat. Es gab seitdem manche Ausgaben in andererOrdnung, in diesen ist der Bote so wenig leben-dig geblieben, wie andere, größere Klassiker inden ihren.Nehmen wir als Beispiel den vierten Teil d

    Wandsbecker Boten. Er beginnt in der ursprüng-lichen Ausgabe nach der Vorrede mit der Motette:

    Der Mensch lebt und bestehetNur eine kleine Zeit;Und alle Welt vergehetMit ihrer Herrlichkeit.Es ist nur Einer ewig und an allen EndenUnd wir in seinen Händen.

    Darauf folgt eine Betrachtung über das Sprich-wort: Man soll auf einem Grabe nicht schlafenDarauf: "Ein Lied vom Reifen", darin, um dCharakter nur anzudeuten, folgende Strophe:

    Viel schön, viel schön ist unser Wald!Dort Nebel überall,Hier eine weiße BaumgestaltIm vollen Sonnenstrahl

    Lichthell, still, edel, rein und frei,Und über alles fein! -

    Anschließend ein kleiner Essay "Von der Freund-schaft" mit einem Postskriptum: "Es gibt einigFreundschaften, die im Himmel beschlossen si -und auf Erden vollzogen werden. " Dann eidramatische Festszene für einen Bauern, derErbe fünfzig Jahre bewohnt hat: "Paul Erdm -Fest", darin in einer Ansprache Pauls: "Es .heute fünfzig Jahr, als ich dies Erbe sehr WÜ5und verfallen antrat. Ich habe mit Gott angefund ihn oft hinterm Pflug um seinen Segenbeten - und er hat mich gesegnet! Da stehtVieh und wiederkäut und wiehert, und in allenfünfzig jahren hat mir nie nichts gemangelt ..Es folgt eine Vorrede zu einem Übersetzungs-

    werk: "Des erreurs et de la verite de Louis Cldes St. Martin, 1775", und auf diese folgt,Mond ist aufgegangen" und weiter "Einnach dem Frieden":

    Die Kaiserin und FriederichNach manchem Kampf und Siege,Entzweiten endlich aber sich,Und rüsteten zum Kriege; -

    d weiterdrin :

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    Gut sein, gut sein, großmütig sein,Vollherzig zum Erbarmen,Ein Vater alles, Groß und Klein,Der Reichen und der Armen!

    d die Schlußzeilen :

    Gott segne jeden Ehrenmann,Und straf' die Schmeichler! Amen!

    .. ach einem tapferen Gedicht "An die FrauB ... r", das ganz unbekannt geblieben ist, einem

    herz über zwei Erfindungen: des Herbstling under Eiszäpfl, und allerlei "Ernst und Kurzweil",

    auf den Tod der Maria Theresia zu lesen:

    Sie machte Frieden! Das ist mein Gedicht.War ihres Volkes Lust und ihres Volkes Segen,Und ging getrost und voller ZuversichtDem Tod als ihrem Freund entgegen.Ein Welt-Erobrer kann das nicht.Sie machte Frieden! Das ist mein Gedicht.

    Nach so viel mag jeder für sich weiter blättern.Xur damit er auch die Anordnung der Kupferbeachtet, wird darauf aufmerksam gemacht, daßdem Gedicht "Der Mensch" :

    Empfangen und genähretVom Weibe wunderbarKömmt er und sieht und höret,Und nimmt des Trugs nicht wahr; ...

    ein Kupfer vorangestellt ist, auf dem ein Blindereinen zweiten Blinden in einer waldigen Gegendin eine Grube führt; und zwei weitere Kupfer vonChodowiecki sind der Schilderung des, ,Besuchs im

    r, Hio b" eingefügt. In dem Auftrags brief an Chodo-wiecki vom 3. Oktober 1782 beschreibt der Dichterdem Zeichner sein Verlangen für die Kupfer:

    "Das zwote stellt vor eine große Krankenstubevoll Betten und Patienten, an dem einen Betteteht eine Gesellschaft von sieben bis acht Manns-

    personen, einer davon ein langer magerer Mann,der äußerst blaß und elend, aber kühn aussieht undkräftig redet zu den übrigen. Die Patientin imBette ist eben gestorben.

    Das dritte stellt vor zwei Blinde, davon einerdem andern den Weg weisen will und ihn nebstsich selbst zu Fall bringt. Dies mag so komischwerden als Sie nur wollen.

    Das vierte stellt vor: Vier Wahnsinnige, die zweiund zwei gegeneinander über ganz stille sitzen ineiner Stube eines großen Hospitals. NB. DieStube geht in den Hof, nicht Garten des Hospitalsnahe am Eingang. z. E."

    Rundschau 4°7Mit dem Aufgezählten soll angedeutet werden,

    daß der Wandsbecker Bote ein einzigartiger Fallin unserer Dichtung ist, wie es keinen andern gibt.Das Einzigartige betrifft Tieferes als nur diepublizistische Anordnung und das Spielerischeund die intimen Gebärden in der Form. Claudiuslegt Wert darauf, dem Leser stets persönlich undmenschlich lebendig gegenwärtig zu sein. Dazuunterstreicht er seine natürlichen und mensch-lichen Schwächen, die andere Schriftsteller ängst-lich zu verbergen trachten; dazu wählt er für sichVerkleidungen in Rollen, in denen er dem Leserbegegnet: als Vetter, bekümmerter Freund, seinnächster Nachbar; immer auf dem gemeinsamenBoden des täglich zu lebenden Lebens, im Mit-einander des Lebens hier und heute. Mit einerGebärde von spontaner Herzlichkeit wendet ersich dem Mitmenschen zu. Die private Gestewürde in der Darstellung nicht wirken, deshalbwählte Claudius dafür Rollen des Privaten;Humor, auch Ironie und selbst kleine Affektiert-heiten sind die Mittel, mit denen er die verschie-denen Figurationen zuwege bringt. So ist esmöglich geworden, ihn in seinem Werk zu ver-folgen, wie er weste und lebte. Und auf dieseWeise sind die vielen kleinen Gelegenheitsstückedes Zeitungsmannes zu etwas Organischem ge-worden: er wirkt durch seine Existenz, durch seinpersönliches Dasein; wie ein wirklicher Freund.

    Das Besondere an dem Werk des WandsbeckerBoten ist danach nicht, daß es Kunstwerk ist.Claudius war primär ein religiöser Mensch, undihm lag an einer Wirkung, die allerdings Stifterdem Kunstwerk zuschrieb: an der Erhebung zumGöttlichen. Unzählige menschliche Erscheinun-gen: Ergebung, Pflichttreue, Reinheit des Wan-dels, Einfalt des Herzens, das Gebet - wirken alsErhebungen zum Göttlichen, sie bedürfen dazunicht des Kunstausdrucks ; sie erregen den höch-sten Genuß und die reinste Freude; die derarterregten Gefühle sind aber keine ästhetischen, son-dern sittliche, wenn nicht religiöse. In der "Vor-rede des Übersetzers" zu "Des erreurs et de laverite" schrieb Claudius:

    "Ich verstehe dies Buch auch nicht; aber, außerdem Eindruck von Superiorität und Sicherheit,finde ich darin einen reinen Willen, eine un-gewöhnliche Milde und Hoheit der Gesinnung, undRuhe und ein Wohlsein in sich. Und das geht einemzu Herzen; wir wollen doch alle gerne wohlsein,suchen doch alle Ruhe und finden sie nicht! Auchgibt es keine Reinheit, keine Ruhe, und kein Wohl-sein außer dem Guten."

    Peter Suhrkamp

  • die sogenannten Tanka, die den ausgerundetenSieben-Silben-Rhythmus des chinesischen Ge-dichts in einem S-'7-S-'7-'7-Rhythmus variiertenund schließlich in einer äußersten Beschränkungauf den S-7-s-Zeiler des berühmten Haiku ver-minderten.

    In dieser geringfügigen Zerrung der Symmetrieliegt indes der ganze Unterschied zweier Welten.Im japanischen Gedicht ruht der Sinn des Ganzennicht mehr in sich selbst, er fliegt vom Bogenauf wie der Pfeil, der gleich dem Lichtstrahl anuns vorbei ins Unbekannte, Unaussprechlichezielt. Alles ist hier Verwehen, Übergang, Sug-gestion einer Stimmung, die als "ewige Heimat-losigkeit" (fuga) bezeichnet wird, aber niemalsmit Stimmungs lyrik in unserem Sinn verwechseltwerden darf. Wunschlos und über Nacht wandeltsich die Knospe zur Blüte, die Blüte zur Frucht;wunschlos und wie von selbst soll auch der Menschdie Wandlungen des Daseins an sich vollziehen,im Durchgang von Tat zu Tat, von Verzicht zuVerzicht, vom Leben zum Tode. Das ist es, wasin Japan Blume und Schwert, Zärtlichkeit undHeroismus auf so einmalige Weise zu Geschwisternwerden ließ - - und seine schönste Verkörperungaus jüngerer Zeit in den allabendlichen Spruch-versen des Kaisers Meiji fand, des kriegsgewohntenGründers des modernen Japan, der in einer neuenkleinen Sammlung "Kaiserliche Verse" (Herbig-Verlag, Berlin) zu uns spricht. Leider hat dieÜbertragung dem deutschen Geschmack die Kon-zession gemacht, statt der unregelmäßigen 31-Silbenform des Tanka den 30-silbigen Regelreimzu wählen, so die geheimste Wesensfarbe derganzen Stimmung überdeckend: ihr sous-entendu,ihr Durch-die-Blume-sprechen. Denn eben darumist das japanische Kurzgedicht eine Krone derlyrischen Poesie, die immer neu den Traum vonder Süße und Verlorenheit des Daseins träumtund ihn doch nie genau umschreiben darf, willsie den Traum nicht stören. Also sang Basho, derZen-Priester und Begründer der Haiku-Dichtung,wenn er die Stille eines Sommermittags in einereinzigen Andeutung beschwören wollte:

    Auf einer KirchenglockeSitzt und schläft -Oh, dieser Schmetterling.

    Und welcher hauchzarte Zauber gar in seinen be-rühmten Versen über die Nichtigkeit des Daseins:

    Auf einem GrashalmEin Glühwurm -Vergebens leuchtet er.

    Hans Paeschke

    Rundschau

    Lieber Johann. Grad Klock achtist es, und ich habe jetzt meinenTisch dicht vors Fenster gerückt,

    ins Glosen vom Abend. Eben sind die Enten vor-beigestrichen, sie sind nun immer viele. Der Pirolist schon fort, alle Zeit hab ich auf ihn aufgepaßt,heute und gestern nachrnittag, er ist nimmer ge-kommen. Nun bist Du wohl überm Wasser nachEngland hin, und ich bin hier ganz allein unddenke an Euch, meine jungs. Von Gert haben siejetzt geschrieben, wo sein Grab ist bei Roulers,und das Bild von seinem Grab hab ich nun auch,die Gegend ist wohl schön, und es sollen auchgute Leute sein dort. Vorm Mond sind Wolken,da bist Du denn unterwegs. Du hast wohl so vielLust als ein Vogel beim Fliegen. Ich bitte Dichinständigst, vergiß nicht das Land und vergißnicht unser Haus und vergiß nicht die lütje Wiegeauf unserm Hausboden. Ich darf gar nicht darandenken, was Du mit hast, ganz durcheinander binich dann, mein Kopf ist dafür nicht mehr starkgenug. Gert soll'n Satz gemacht haben, als er ge-troffen wurde. Gert war doch ein Spaßvogel, undich meine, er hat eine Kappe übergetan. SolcheDinge konnte er doch machen. Als Vater tot war,hatte er sein Gesicht fest zu, so, als wollte er par-tout bloß nicht anders. Vater war ja auch'n Eulen-spiegel. Ich alte Frau weiß immer noch nichtsdavon, wie das ist, der Tod. Langsam ist mir dieZeit nun auch lang genug. Und, Johann, siehst Dudenn immer, was Du triffst, von da oben? unist es ganz dunkel, und Du bist wohl schon übersWasser und fliegst über Land. Noch nie sah ichDich fliegen, ich kenn Dich auch schon gar nichtmehr. Wenn Dir auch was passiert -: dann hab'ich Euch doch alle wieder, Vater und Gert undDich, Johann,

    EINE ALTEFRAU

    Eure Mutter Catherine

    DER APFEL- Man ging aus dem großen Haus-GARTEN tor über den Hofplatz, und an

    seinem Ende war rechter Handder Apfelgarten. dahinter geradeaus die Kälber-wiese, nach rechts, gegen Westen, der Bohnen-garten, weiter das Feld für Frühkartoffeln undKohl, und dahinter, im gewellten Auf und Ab desGeländes, mit eingestreuten kleinen Waldstückenvon Buche und Eiche, Feld an Feld. Das ist mirsoeben hier wieder eingefallen auf dem Balkoneiner Berliner Wohnung. Beim Hinaustreten, ge-blendet von der großen Wölbung des Himmelsüber der Dächerebene der Großstadt, auf derKamine, Türme, Kuppeln und Stangen wie

    eingegraben auf einer WüsteGeruch von reifendem Obstbrüstung steht ein Brett unund Birnen zum Reifen an drdem grünen Obst in der SoReifens schwach aufgestiegenkeit hat den Apfelgarten zugeweckt. Eben zuckt lautlosBlitz ein Pirol an der Balkoer taucht, ein goldener Ball,einer Pappel im Park untenmit Pappel reihen auf den GIWind schäumenden WeidenkiGärten, gleichsam auf derlange dauert diese Reise doda man nie wieder zurückko

    Der Apfelgarten zu Haus iniederen Weißdornhecke. diegeschnitten wird und dadurist, daß man gerade noch zschaut, und so dicht gestauhühner nicht einschlüpfen kHecke wuchern Wildnisse vonesseln, Mauerlattich, Barbmilch und Männertreu; songanz mit Gras bestanden, d3.1Monat gemäht wird. Im F --teppich unter den Bäumenfür die Vespermahlzeit geGrasmahd und erst recht,schnitten wurde, saß man gRasen im schrägen Lichtdengelte die Sensen, die deines Birnbaumes gehängtso daß auch im Dunkeln keinkonnte. Denn selbstverstänBirnbäume im Apfelgarten ;hingegen standen außerhaitoffel- und Kohlfeldern endaErntezeit war im SchattenPlatz für die Mittagsruhe,zu Hause einkehrte. Die Bdie Alten schliefen, zu diedie Äpfel, grün und sauergerade gut; nur konnten heZähne das feste SchwarzbSchon im Juli kam auf dieMittag aus den Kronen derherab. Dazu kam an einigvon Ameisen aus dem Gras,Ameisen hausen gern zwider Apfelbäume. Selten jeddicht am Baumstamm, soRande der Krone; näher

  • rad Klock achbe jetzt meinenenster gerückt,die Enten vor-

    viele. Der Pirolihn aufgepaßt,

    ist nimmer ge-Wasser nach

    anz allein undGert haben sie

    ist bei Roulers,Ib ich nun auch,

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    die lütje Wiegegar nicht daraneheinander bin

    icht mehr starkben, als er ge-paßvogel, undrgetan. SolcheVater tot war,wollte er par-

    a auch'n Eulen-er noch nich

    ist mir die

  • Anblick einer Schlange, Schauder vor den ver-deckten Abgründen der Welt bebt darin. Manch-mal entdeckt man an einem Apfel einen klarenTropfen wie eine wächserne Träne.

    Zur Apfelernte durften wir Buben barfuß indie Bäume klettern. Oben wurde eine blaueSchürze vorgebunden und zu einer Tasche vordem Bauch aufgesteckt. So hockte man in einerAstgabel im Blätterversteck und drehte vorsichtigdie Äpfel vom Stenge!. Niemand ahnte, daß wirdie Zeit vorher schon oft heimlich in dem grünenVersteck "grasten". Bei der Apfelernte ist uns dieLust zum Essen rasch vergangen, die Hände vollrunde Äpfel haben uns satt gemacht. Wir warennicht sonderlich eifrig beim Pflücken, denn dasHausen in den luftigen Laubhütten gefiel unsnicht schlecht; ob bei Sonne oder Wind, immer-trieben wir in der Phantasie auf merkwürdigenFahrzeugen durch fremde Weiten. Nicht alleÄpfel wurden beim Ernten erreicht oder entdeckt,die letzten kamen erst an den Tag, wenn dieOktoberstürme die Blätter aus den Bäumen streif-ten. Fremde Apfelgärten reizen Buben immermehr als die eigenen, besonders der Garten beimPfarrhaus und der Küstergarten. Lange vorherwählten wir die Stelle zum Durchschlupf in derHecke oder zum Übersteigen am Staket. Voreinem Raubzug wird zuerst ein Holzkloben oderein Stein in den Baum geworfen und danach nochlange gewartet. Im Garten drin rüttelten wir auchan den Stangen, welche aufgestellt sind, zumBrechen schwere Äste zu stützen. Die Hosen-taschen sind nie groß genug und der Gummi-verschluß am Kittel nie stramm genug; beimraschen Rückzug gehen immer Äpfel verloren.

    Außerhalb des Dorfes gab es in einem Wald-stück einen verwilderten Apfelgarten. Die Bäumewaren vermoost und verwuchert und trugen nurkleines Obst. Durch die Pforte im Wall kam manaus der Gartenwildnis auf einen von Gras undUnkraut verwucherten Hausplatz. Brombeer-gestrüpp rankte arn Hausviereck über Mauerreste.Hohes Gras wuchs in den Kuten der Tenne einerehemaligen Lehmdiele. Der Walnußbaum auf demHofplatz war zur Hälfte abgestorben, die andereHälfte glänzte in saftigem Grün. Aus den Ritzen

    Rundschau

    im Brett überm Brunnenschacht kam fauligerDunst. Wenn die Wohnhäuser verfallen, ver-kommen die Apfelgärten. Zuerst sind immer dieHäuser gebaut worden, und später hat man dieGärten bei den Häusern angelegt; ohne den Gartenwirken die schönsten Häuser noch roh und kultur-los. Der Gartenbau ist eine höhere Kulturstufe.In einem Kulturland sollte keiner etwas gelten,der nicht einen Apfelgarten angepflanzt hat.Früher galt zuzeiten ein Mann nicht als heirats-fähig, der nicht ein Haus gebaut hatte; die Kulturdes Hausvaters wird erst durch einen Garten beimHaus bezeugt, und nur ein Garten mit Obst-bäumen ist ein fertiger Garten. Wenn Vater anWinterabenden, bevor es auf die Nacht ging, denFamilienmitgliedern und Gästen einen Apfelreichte, brachte der Duft der gelagerten Äpfeleinen festlichen Abend auf seine Höhe; er ist diegrößte Erfrischung für den Geist des Menschenund die reinste aller menschlichen Freuden. Auf-gebrochen schmeckte der Apfel köstlicher als zer-schnitten. Im Ofenrohr gebratene Äpfel konntendie Luft im Raum mit paradiesischen Geistern er-füllen. Als Nachtisch zur Mahlzeit sind Äpfellängst nicht ein so hoher Genuß als ein Apfelmitten im Abend; nach der Mahlzeit hat derMund nicht die nötige Unberührtheit, um diekühle Keuschheit des Apfelfleisches zu kosten.Dicke feste Apfelscheiben auf einer Schnitteschwarzen Roggenbrotes - als Knaben bekamenwir das manchmal zur Vesper - ergeben eine köst-liche Mahlzeit; am besten schmeckt sie im frischenStroh auf der Diele genossen.

    Und von alledem ist in der Stadt nur das Brettmit Äpfeln. auf der Balkonbrüstung übrig, und derDuft in dem Zimmer arn Morgen, in das sie zuNacht gestellt werden. Und endlich die Bilderdieser Erinnerung. Aber indem ich vom Balkon indie Räume zurückgehe, scheinen mir die Zimmerverwandelt durch die Bilder, die aus mir heraus-traten: Nicht die ländliche Natur, sondern dieOrdnungen und Bilder, mit denen sie die Räumeunseres Geistes prägte, bilden die Maße unsereLebens. Und "das Seine" trägt jeder überall undunter allen Umständen mit.

    Peter Suhrkamp

    NOTIZEN

    Den Aufsatz von Richard Euringer entnehmen wir einem demnächst in der Hanseatischen Verlags-anstalt erscheinenden Buch "Reise zu den Demokraten".

    Der Beitrag von Helene von Nostitz ist aus einem demnächst im Hans von Hugo-Verlag erscheinendenDresden-Buch ausgewählt.

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  • RUNDSCHAUIn Ina Seidels sehr schö-nem Buch" Unser FreundPeregrin" (Deutsche Ver-

    lagsanstalt, Stuttgart und Berlin 1940) vollbringtein Knabe eine Liebesleistung, vor der man be-schämt steht. Nur das jugendliche Herz in seinerVerfassung, die junge weiche Offenheit wäre dieserLeistung fähig, meint man zur eigenen Entschul-digung, und ist dann wieder von der Reife dieserLiebeswerbung betroffen; von der Klugheit, derPhantasie und der Geduld. Und schließlich ist dieletzte Reaktion auf dieses jugendliche Beispiel, dieeinen zutiefst durchschauert, die Feststellung: wiedoch die Zeit ein Herz so hart zuschließen kann,so daß der eigenbrötlerische Sonderling im Lebendas Ergebnis ist.

    In den "Aufzeichnungen des jürgen Brook", alswelche die Erzählung "Unser Freund Peregrin"gefaßt ist, wachsen zwei Geschwister von sehrzarter Konstitution, Tanja und Gregor, als Zieh-kinder in Schloß Herbsthausen auf, das in einerHeidelandschaft des westlichen Deutschland liegtund von einem Onkel und einer Tante der Kinderbewohnt wird. Vor fast hundert Jahren lebte undstarb jung auf diesem Schloß der Dichter VitusPeregrinus; in der Bibliothek im Turmzimmerstehen in fünf schmalen Bänden seine GesammeltenSchriften, und an dem Wandpfeiler zwischen denFenstern hängt sein Bild unter Glas. Die abgeschie-dene Seele dieses Dichters ist mit den beiden Kin-dern. - vor allem mit Tanja - durch ihre Sinne inVerbindung; sie sehen ihn, er spricht zu ihnen, ergreift lenkend in ihr Leben ein, ist recht eigent-lich ihr Führer im frühen gefährdeten Dasein.Selbstverständlich bewahren die Geschwister vorOnkel und Tante diese Seite ihres Lebens als einGeheimnis, indem sie ihnen als wohlerzogene, zu-weilen auch unerzogene, oft unaufmerksame undzerstreute Kinder begegnen, kurz mit all der Mi-mikry, die Kindern zu ihrem Schutz zur Ver-fügung steht. Man sieht, das Geheimnis der Kin-der ist von einer Art, die den alltäglichen Verstandund ein normales Gefühl wohl erschrecken kann.Da kommt als Knabe, einige Jahre älter als Tanjaund Gregor, jürgen Brook, eben verwaist, alsdrittes Ziehkind nach Schloß Herbsthausen. Erbemerkt bald, daß Tanja und Gregor ein Geheim-nis miteinander haben; und in seiner Art, wie erdarum wirbt, in den Bund aufgenommen zu wer-den, in dem ganz eigenen Weg, auf dem er sich zu

    HERZENS-VERBUNDENHEIT

    dem Geheimnis vortastet, es, als er das Auße -gewöhnliche ahnt, hinnimmt und nun in d -Werbung einen Weg geht, der immer tiefer untiefer nach innen führt - darin besteht die unwöhnliche Liebesleistung des Knaben, von der Iam Anfang schrieb. Seiner steten Bereitschaft unHingabe, seiner Ausdauer und Geduld erschlie •sich das Geheimnis nach und nach; Herzensklu -heit, Behutsamkeit, aufnahme bereite WeichherrZärtlichkeit, Unablässigkeit und sanfte Gedulsind die Äußerungen seiner Liebe. Und sein -Liebe gelingt denn auch das Wunder der Liebe-.dadurch, daß er das äußerst Merkwürdige als Lie-bender auf seine Weise aufnimmt, es mit seinenFähigkeiten nachschafft und als ein Heiligtum d t:Geschwister begreift, wird er befähigt, Tanjadem Augenblick aus dem Bann, den man, wennman will, "krankhaft" nennen mag, zu erlösen,dieser sie gefährdet.

    Ina Seidel, die das nachgeschaffen hat, miHerzensklugheit, Zärtlichkeit und Geduld, ist imweiteren Verlauf der Erzählung etwas gelungein dem das Wunder der Dichtung ihre Darstellungesegnet hat: der Gang zu den Erinnerungsstätten,den die Kinder einen späten Verehrer des DichterPeregrinus führen; in der Schilderung des Obeliskenam Weiher im Park, des chinesischen Pavillons under Gruft ist ihre Sprache durchscheinend, trans-parent, und die Bilder stehen unvergeßlich ineinem unirdischen Licht. Ina Seidel hat in diErzählung durchweg ein Können ausgebreitet, umdas ich sie offen beneide, und das ich auch woeinmal erreichen möchte. Es gibt heute einiAutoren von so rangvoller Kunst, die wiederstande sind, in der Magie der Sprache Wirklichkentstehen zu lassen, die unirdisch-irdisch ist; unwenn nicht Planeten, so doch Länder in einer \ rder Kunst zu beschwören: ich nenne nur H r-mann Hesse, Ernst Jünger und Hans Caros a;ich glaube, daß das Dasein und die Bemühdes einen von ihnen den andern antreibt. 0Wetteifern ist ein stolzer Besitz unserer Zeit.

    Die Erzählung Ina Seidels ist gefaßt, wie scerwähnt, als Aufzeichnungen des jürgen BrIm Augenblick der Niederschrift seiner Aufzenungen ist Jürgen Brook von den drei Geschallein übrig; nachdem Tanja schon vor Lä-lng?n~Zeit als seine Frau starb, ist Gregor soeben -haft und spurlos verschwunden - man ahner hinüberging auf die "andere Seite", die den

    GeschwisternSolche Verealen Leben'Einsamkeit,Einsamkeit,Diese Einsin Ina Seidelsdes Sonder'wie es in vieund dessen ischreckvoll g

    Es ist einzufriedenhei twendigkeit zstellt, welcheDiese Art äkeit und AufDickköpfigkelieh für alle .aus Liebe, Fstehen kann ;keit gewonnnicht von desie bei versLiebhaberCicero sie nvielfach MeHerzensanlawenn noch aein unabseschillerndhineinstürztvon dem \was an Wiangelegt wihre reicheund mit dekraft einzunutz oder,den großenSpielraumTeilnahme,und Täti -loren; sie eandere dieund in ihrewelchebegabungeund jederaber mit dbarkeit ihrmit Sehreschon imlange zu I

  • Geschwistern seit ihrer Jugend so vertraut ist.Solche Vertrautheit kann heimatlos machen imrealen Leben; sie schafft leicht eine unerfüllbareEinsamkeit, wenn die Gefährten dahin sind, eineEinsamkeit, welche von den Dichtern geahnt wird,Diese Einsamkeit lebt und webt unausgesprochenin Ina Seidels Erzählung. Sie ist das Gegenstückdes Sonderlingswesens aus verstocktem Herzen,wie es in vielen Spielarten im Leben vorkommtund dessen ich beim Bild des jungen Menschenschreckvoll gedachte.Es ist eine gewisse Art von eigenwilliger Selbst-

    zufriedenheit, die sich im Leben und mit der Not-wendigkeit zur Selbstbehauptung nur zu leicht ein-stellt, welche für Herzen die größte Gefahr bildet.Diese Art äußert sich nicht als Anmaßung, Eitel-keit und Aufdringlichkeit, aber wohl als sogenannteDickköpfigkeit; solche Menschen sind unzugäng-lich für alles, was im Leben zwischen Menschen,aus Liebe, Freundschaft oder Kameradschaft,ent-stehen kann; sie folgen einer in gewählter Einsam-keit gewonnenen Moral; ihre Erkenntnis ist ihnennicht von der Erde geschenkt, sondern sie habensie bei verschlossenem Herzen ergrübelt. DieseLiebhaber ihrer Selbst ohne Nebenbuhler, wieCicero sie nennt, sind häufig unglücklich. Sie sindvielfach Menschen von sehr guten und weichen.Herzensanlagen, aber irgendwann in ihrer Jugend,wenn noch alle Herzen aufgetan sind und die Weltein unabsehbares Feld ist und das Leben einschillernd Ding und so schön, daß man sich gernhineinstürzt, sind sie infolge eines Mißgeschicksvon dem Wege abgegangen, auf dem sich alles,was an Wissen, Sehnsucht und Zukunft in ihnenangelegt war, von selber entfaltet hatte. Sie habenihre reichen Herzensmöglichkeiten verschlossenund mit der Zeit sich gewöhnt, nur eine Lebens-kraft einzuspannen: Pflichtgefühl, Ehrgeiz, Eigen-nutz oder, nicht selten, Angst; statt allen Kräften,den großen und kleinen, recht und gleichmäßigSpielraum zu gewinnen. Daß Mitgefühl, Güte,Teilnahme, Hingabe auch Kräfte sind, die in Arbeitund Tätigkeit gesetzt werden wollen, ist ihnen ver-loren; sie erfuhren nicht, daß in der Hingabe anandere die Blume des eigenen Lebens aufspringt;und in ihrer Verstocktheit verderben sie leicht die,welche um sie sind. Bei genügenden Herzens-begabungen sind das noch vortreffliche Menschen,und jeder kann sie achten, sie selbst empfindenaber mit dem Alter ihr Unglück: in der Unfrucht-barkeit ihres Lebens. Man kann in frühem Altermit Schrecken gewahr werden, daß alles an einemschon im Sinken begriffen ist, während man nochlange zu leben hat. Peter Suhrkamp

    Rundschau 625JAPAN- Als Commodore Perry am 7·Juli 1853AMERIKA mit vier Schiffen und fünfhundert-

    undsechzig Mann die Bucht von Yedoanlief, setzte das Flaggschiff das Signal "Klar zumGefecht" . Die Stückpforten wurden geöffnet, Mu-nition wurde an Deck gebracht, die Mannschaftenbezogen die Gefechtsposten. Aber es fiel keinSchuß. Perry hatte nur die notwendigsten Siche-rungsmaßnahmen treffen wollen. Tatsächlich ge-dachte er die Öffnung der verschlossenen Insel mitdem friedlichen Mittel der Verhandlung von gleichzu gleich zu erzwingen. Er hatte aus niederländi-schen Schriften und den Berichten neuenglischerWalfanger einige Informationen über das Insel-reich erhalten und ihnen immerhin eine vage Vor-stellung vom hierarchischen Grundgehalt der ja-panischen Gesellschaftsstruktur entnommen. SeinPlan, an genialer Simplizität kaum zu überbieten,ging nun dahin, der japanischen eine amerika-nische Apparatur der hierarchisch gestuften Ord-nung entgegenzusetzen. Während der Reise, dieüber Madagaskar und Hongkong geführt hatte,war hinlänglich Gelegenheit gegeben, die Rollenzu üben, die jedem bei der Darstellung des sozialenPyramidenbaus zufiel, und wie die Generalprobe,so klappte endlich die Aufführung des groteskenStücks: Unnahbar verharrte der Commodore, ansunbekannte Ziel der beschwerlichen Fahrt gelangt,im Heiligtum seiner Kabine. Dem ersten japa-nischen Boten trat der jüngste Offizier, dem näch-sten ein ranghöherer, dem Vizegouverneur einOberleutnant, dem Gouverneur ein Kapitän ent-gegen. Erst als am zehnten Tag nach der Ankunftein Prinz mit kaiserlichen Vollmachten eingetrof-fen und für den Empfang der fremden Notabelnein prächtiger Pavillon hergerichtet war, ließ sichPerry herbei, an Land zu gehen und in feierlichemRitual das Handschreiben des im letzten Jahramtierenden Präsidenten Fillmore zu überreichen,das dem Kaiser in gewählter Form Freundschafts-und Handelsvertrag anbot.Der genialische Streich, der einzige, zu dem es

    der Commodore unseres Wissens gebracht hat, gabden Amerikanern für einige Jahrzehnte die Vor-hand in der Erziehung der japanischen Welt zurationalem Denken und abendländischem Ge-baren. Baron Masuda, einer der letzten in derFolge der großen Mitsui-Direktoren, der Organi-sator der Außenhandelsunternehmungen des Fa-milienkonzerns, berichtete darüber anläßlich einerFeier zum Gedächtnis an Townsend Harris, denersten Gesandten der Vereinigten Staaten inJapan. Masuda, Sohn eines Samurais, war 1861als Dreizehnjähriger dem im Zempuku-ji, einem

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