Russland HEUTE

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POINTIERT Gemeinsame Landschaften I mmer zogen sich Russen und Deutsche gegenseitig an – und stießen sich gleichzeitig ab. Und obwohl Russland und Deutschland historisch, politisch und wirtschaftlich eng verbun- den sind, kommt es in dieser guten Nachbarschaft ab und an zu Missverständnissen. Wie kürzlich auf der internationalen Sicherheitskonferenz in Moskau, als ein russischer General, sehr beunruhigt vom geplanten Ra- ketenschild in Osteuropa, die Fähigkeit Russlands zu einem Präventivschlag beteuerte. Die Rechnung für diese Aussage er- hielt das Land stellvertretend für den undiplomatischen Ge- neral: Russland sei ein Aggres- sor, der immer noch der Logik des Kalten Krieges folge. Dass man sich mit dieser Schlussfol- gerung der gleichen Logik be- diente, fiel dabei kaum ins Ge- wicht. Nur gut, dass es neben kalten Denkern auch jene gibt, die wissen, dass Russland und Deutschland trotz der tiefen Wunden, die sie sich im 20. Jahr- hundert zufügten, stets eine ge- meinsame Kulturlandschaft bil- deten. Das beginnende Jahr Russlands in Deutschland und das Jahr Deutschlands in Russ- land werden hoffentlich das In- teresse füreinander wecken. Ein Blick aus dem 21. Jahrhundert auf unsere 1000-jährige Ge- schichte kann helfen, sich sym- pathisch zu finden. Alexej Knelz CHEFREDAKTEUR „Westliche Firmen verkaufen ihre Autos hier zu denselben Preisen wie in Europa, also stehen uns auch dieselben Löhne zu“, sagt Alexej Nastin. Was eine unabhän- gige Gewerkschaft ist, hat der junge Mann erst vor Kurzem er- fahren. Und schon den ersten Streik organisiert: Anfang April standen beim Autozulieferer Ben- teler in Kaluga die Bänder still – was auch dem benachbarten VW- Werk zu schaffen machte. Mit Löhnen von 500 Euro wollen Nas- tin und seine Kollegen sich nicht mehr zufriedengeben. Jetzt wird bei Benteler verhandelt und auch bei VW. Ford in Sankt Petersburg droht im Juni der nächste Streik. – Warum die neue Gewerkschaft MPRA besonders bei westlichen Unternehmen greifen kann. Die „Sedow“ ist das zweitgrößte Segelschiff der Welt und mit ihren 90 Jahren Geschichte auf allen Meeren ein gern gesehener Gast. Jetzt ist der Viermaster in Sankt Petersburg zu einer Weltumrun- dung aufgebrochen – und wird im Juni in Kiel vor Anker gehen. Wer in Sankt Petersburg geblieben ist, muss sich nicht grämen: Dort sind nun Spaziergänge über den Dä- chern der Stadt angesagt. SEITEN 8 UND 9 SEITE 4 SEITEN 14 UND 15 Tschechien, Polen und Griechen- land heißen die Gegner, gegen die sich die russische Fußballnatio- nalmannschaft ab dem 8. Juni durchsetzen muss, wenn sie es zu- mindest ins Viertelfinale schaffen will. Von Russland als Europa- meister träumt derzeit kaum je- mand: Die meisten sind froh, dass Ein gutes Recht auf Streiks In 426 Tagen um die Welt Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond The Headlines, Moskau, verantwortlich. www.russland-heute.de Ein Projekt von RUSSIA BEYOND THE HEADLINES 1000 Jahre russisch- deutsche Geschichte SEITE 10 Gemeinsam Georgi Bowt erklärt, warum Medwedjews vier Jahre als Präsident seine junge Regierung alt aussehen lassen SEITE 13 Fußlahm Die Bubis von Pompeya machen soften Pop SEITE 16 Handzahm Mittwoch, 6. Juni 2012 Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Junge Gesichter präsentierte Premier Dmitri Medwedjew bei der Vorstellung seiner Minister: Der jüngste ist noch nicht einmal 30 Jahre alt. Und dennoch schimpften Kritiker das Kabinett sogleich ein „technisches“ – seine Mitglie- der seien Experten ohne politisches Gewicht, entschieden werde ohnehin im Kreml. Die Besonderheiten des russischen politischen Systems auf SEITE 3 WIRTSCHAFT SEITE 5 GESELLSCHAFT SEITE 7 FEUILLETON SEITE 12 POLITIK SEITE 2 Moskau Eine Stadt zeigt Herzchen Nato Warum fürchtet Moskau die Abwehr? Aralsee Einer gegen das Verschwinden Schliemann Reich machte ihn Russland INHALT REGIERUNG JUNGE EXPERTEN IM WEISSEN HAUS – EXMINISTER IM KREML Die neue russische Elf ist die alte POLITIK Kevin Kuranyi und junge Fans in einer Moskauer Schule. Zur EM fährt er nicht, fühlt sich aber in Russland pudelwohl. es die „Sbornaja“ unter Dick Advocaat überhaupt in die Qua- lifikationsrunde geschafft hat. Von der spielerischen Frische, mit der das Team um Andrej Arscha- win vor vier Jahren Europa über- raschte und die Holländer über- rannte, ist allerdings nur wenig geblieben. Geblieben sind aber die meisten Spieler – nur ist die Ge- neration Arschawin diesmal vier Jahre älter. „Aber nicht zu unter- schätzen“, warnt Kevin Kuranyi im Interview. Mit dem 21-jähri- gen Alexander Kokorin habe die Mannschaft eine wirkungsvolle Geheimwaffe. Kuranyi weiß, wo- von er spricht: Zusammen mit Ko- korin stürmt er seit zwei Jahren für Dynamo Moskau. Unabhän- gig vom Ausgang der EM steht der „Sbornaja“ aber ein Genera- tionswechsel bevor: 2018 wird Russland Gastgeber der Fußball- weltmeisterschaft sein. TINO KÜNZEL REUTERS/VOSTOCK-PHOTO ITAR-TASS

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die Ausgabe vom 6. Juni 2012

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POINTIERT

Gemeinsame Landschaften

Immer zogen sich Russen und Deutsche gegenseitig an – und stießen sich gleichzeitig ab. Und obwohl Russland und

Deutschland historisch, politisch und wirtschaftlich eng verbun-den sind, kommt es in dieser guten Nachbarschaft ab und an zu Missverständnissen. Wie kürzlich auf der internationalen Sicherheitskonferenz in Moskau, als ein russischer General, sehr beunruhigt vom geplanten Ra-ketenschild in Osteuropa, die Fähigkeit Russlands zu einem Präventivschlag beteuerte. Die Rechnung für diese Aussage er-hielt das Land stellvertretend für den undiplomatischen Ge-neral: Russland sei ein Aggres-sor, der immer noch der Logik des Kalten Krieges folge. Dass man sich mit dieser Schlussfol-gerung der gleichen Logik be-diente, � el dabei kaum ins Ge-wicht. Nur gut, dass es neben kalten Denkern auch jene gibt, die wissen, dass Russland und Deutschland trotz der tiefen Wunden, die sie sich im 20. Jahr-hundert zufügten, stets eine ge-meinsame Kulturlandschaft bil-deten. Das beginnende Jahr Russlands in Deutschland und das Jahr Deutschlands in Russ-land werden hoffentlich das In-teresse füreinander wecken. Ein Blick aus dem 21. Jahrhundert auf unsere 1000-jährige Ge-schichte kann helfen, sich sym-pathisch zu � nden.

Alexej Knelz

CHEFREDAKTEUR

„Westliche Firmen verkaufen ihre Autos hier zu denselben Preisen wie in Europa, also stehen uns auch dieselben Löhne zu“, sagt Alexej Nastin. Was eine unabhän-gige Gewerkschaft ist, hat der junge Mann erst vor Kurzem er-fahren. Und schon den ersten Streik organisiert: Anfang April standen beim Autozulieferer Ben-teler in Kaluga die Bänder still – was auch dem benachbarten VW-Werk zu schaffen machte. Mit Löhnen von 500 Euro wollen Nas-tin und seine Kollegen sich nicht mehr zufriedengeben. Jetzt wird bei Benteler verhandelt und auch bei VW. Ford in Sankt Petersburg droht im Juni der nächste Streik. – Warum die neue Gewerkschaft MPRA besonders bei westlichen Unternehmen greifen kann.

Die „Sedow“ ist das zweitgrößte Segelschiff der Welt und mit ihren 90 Jahren Geschichte auf allen Meeren ein gern gesehener Gast. Jetzt ist der Viermaster in Sankt Petersburg zu einer Weltumrun-dung aufgebrochen – und wird im Juni in Kiel vor Anker gehen. Wer in Sankt Petersburg geblieben ist, muss sich nicht grämen: Dort sind nun Spaziergänge über den Dä-chern der Stadt angesagt.

SEITEN 8 UND 9

SEITE 4 SEITEN 14 UND 15

Tschechien, Polen und Griechen-land heißen die Gegner, gegen die sich die russische Fußballnatio-nalmannschaft ab dem 8. Juni durchsetzen muss, wenn sie es zu-mindest ins Viertel� nale schaffen will. Von Russland als Europa-meister träumt derzeit kaum je-mand: Die meisten sind froh, dass

Ein gutes Recht auf Streiks

In 426 Tagen um die Welt

Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond The Headlines, Moskau, verantwortlich.

www.russland-heute.deEin Projekt vonRUSSIA BEYONDTHE HEADLINES

1000 Jahre russisch-deutsche Geschichte

SEITE 10

GemeinsamGeorgi Bowt erklärt, warum Medwedjews vier Jahre als Präsident seine junge Regierung alt aussehen lassen

SEITE 13

FußlahmDie Bubis von Pompeya machen soften Pop

SEITE 16

Handzahm

Mittwoch, 6. Juni 2012 Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in:

Junge Gesichter präsentierte Premier Dmitri Medwedjew bei der Vorstellung seiner Minister: Der jüngste ist noch nicht einmal 30 Jahre alt. Und dennoch schimpften Kritiker das Kabinett sogleich ein „technisches“ – seine Mitglie-der seien Experten ohne politisches Gewicht, entschieden werde ohnehin im Kreml. Die Besonderheiten des russischen politischen Systems auf SEITE 3

WIRTSCHAFT SEITE 5

GESELLSCHAFT SEITE 7

FEUILLETON SEITE 12

POLITIK SEITE 2

Moskau Eine Stadt zeigt Herzchen

Nato Warum fürchtet Moskau die Abwehr?

Aralsee Einer gegen das Verschwinden

Schliemann Reich machte ihn Russland

INHALT

REGIERUNGJUNGE EXPERTEN IM WEISSEN HAUS – EXMINISTER IM KREML

Die neue russische Elf ist die alte

POLITIK

Kevin Kuranyi und junge Fans in einer Moskauer Schule. Zur EM fährt er nicht, fühlt sich aber in Russland pudelwohl.

es die „Sbornaja“ unter Dick Advocaat überhaupt in die Qua-lifikationsrunde geschafft hat. Von der spielerischen Frische, mit der das Team um Andrej Arscha-win vor vier Jahren Europa über-raschte und die Holländer über-rannte, ist allerdings nur wenig geblieben. Geblieben sind aber die

meisten Spieler – nur ist die Ge-neration Arschawin diesmal vier Jahre älter. „Aber nicht zu unter-schätzen“, warnt Kevin Kuranyi im Interview. Mit dem 21-jähri-gen Alexander Kokorin habe die Mannschaft eine wirkungsvolle Geheimwaffe. Kuranyi weiß, wo-von er spricht: Zusammen mit Ko-

korin stürmt er seit zwei Jahren für Dynamo Moskau. Unabhän-gig vom Ausgang der EM steht der „Sbornaja“ aber ein Genera-tionswechsel bevor: 2018 wird Russland Gastgeber der Fußball-weltmeisterschaft sein.

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ITAR-TASS

2 www.russland-heute.de Russland Heute

eine Beilage des rossijskaja gaseta Verlags, MoskauPolitik

Fjodor lukjanow

Politologe

Vor Kurzem nahm ich an einem russisch-amerika-nischen Seminar teil.

Am zweiten Tag kam mir und einem US-Kollegen praktisch gleichzeitig dieselbe Idee. Dass es großartig wäre, sämtliche mit strategischer Stabilität und Rüs-tungskontrolle befassten Exper-ten der Welt auf eine komfor-table Insel irgendwo im Indi-schen Ozean zu verfrachten. Sie würden sich wohlfühlen und überhaupt nicht langweilen, könnten hingebungsvoll die Pro-bleme eines ersten und zweiten Atomschlags, die Dialektik der garantierten wechselseitigen Vernichtung und die gegensei-

tige Kontrolle durch Monitoring der Raketenstartgeschwindig-keiten erörtern. Da diese hoch-interessante Beschäftigung irgendwo auf Madagaskar statt-fände, störte sie nicht im Ge-ringsten die Weltpolitik, die sich längst in eine andere Richtung entwickeln würde …Ich will nicht sagen, dass die Be-schäftigung mit Rüstungsfragen sinnlos ist. Solange Russland und die USA noch gigantische Atomwaffenarsenale besitzen, mit denen sie einander und die ganze Welt vernichten könnten, lassen sich die in der Epoche der bipolaren nuklearen Konfron-tation entwickelten und verfes-tigten Prinzipien weder abschüt-teln noch umgehen. Doch mitt-lerweile wirken sie in einer anderen Dimension, einer Art Parallelwelt. Als der Generalstabschef der russischen Streitkräfte Nikolai Makarow erklärte, Russland könnte einen Schlag gegen Ob-jekte des amerikanischen Rake-tenabwehrsystems führen, also auch in Europa, hat das für enor-men Wirbel gesorgt. Es klingt bedrohlich. Aber was steckt dahinter?Wir haben es mit einem typi-schen Beispiel für eben jene Pa-rallelwelt zu tun. Allen ist klar, dass es keinerlei Krieg – weder einen atomaren noch einen konventionellen – zwischen Russland und der Nato oder Russland und den USA geben kann. Doch Militärs stehen nun einmal in der Pflicht, nicht nur vom gesunden Menschenver-stand auszugehen, sondern von berechneten und geschätzten Rüstungspotenzialen: Nunmehr seit 20 Jahren breitet sich die NATO im russlandnahen Raum aus, und seit zehn Jahren erör-tern die Vereinigten Staaten die Implementierung eines strate-gischen Raketenabwehrsystems unweit der russischen Grenze. Auch die Argumente für dieses

koMMentar

Schickt die Rüstungsexperten fort auf eine ferne inseldas gleichgewicht

einseitig aufgehoben

raketenabwehr Der Start des Systems verärgert Russland

reinhard löserfüR RuSSlanD heute

die usa nehmen ihren raketen-abwehrschirm in Betrieb, die russen testen als antwort eine neue rakete. worum geht es im streit zwischen russland, der nato und den usa?

Noch Ende der 60er-Jahre waren sich Amerikaner und Russen einig, dass zur Entspannung der atoma-ren Konfrontation zwei Dinge gehören: die Begrenzung des stra-tegischen Atomwaffenarsenals sowie der Raketenabwehrsys-teme.Ausgleichende Sicherheit, so die Überlegung, kann es nur bei Ver-kürzung der Speere und gleich-zeitiger Verkleinerung der Schil-de geben. Wer eine der beiden Ar-senale einseitig für sich behalten oder ausbauen würde, gewänne die strategische Überlegenheit. Unter Ronald Reagan hinterfrag-ten die USA diesen Zusammen-hang. Sie koppelten 1983 den Verteidigungsaspekt von der Re-duzierung der Angriffsraketen ab und entwickelten die Idee der Stra-tegic Defense Initiative (SDI). Das ging gegen alle Abmachungen, seit-her schwelt der Streit. Mit dem Zerfall der Sowjetunion legten die Amerikaner das Projekt auf Eis, das Wettrüsten war been-det. Doch mit dem 11. September griffen die USA das Thema wie-der auf. George W. Bush kündigte im Dezember 2001 einseitig den ABM-Abrüstungsvertrag und drängte auf eine Entwicklung des Raketenschutzschilds, Nachfolger der SDI. Formell war dies kein Vertragsbruch.Fernab des amerikanischen Ter-ritoriums soll SDI feindliche Atom-raketen orten und zerstören. Wer könnte die abfeuern? Terroristen und Schurkenstaaten wie der Iran oder Nordkorea, lautet die offizi-elle Version der USA. Weil die aber dazu technisch kaum in der Lage

sind, scheint es um etwas anderes zu gehen – die Verwirklichung des militärischen Hegemoniean-spruchs. Russland und China, viel-leicht auch Indien und Pakistan wird damit signalisiert, wo ihre Grenzen sind. Die USA beteuern, das System richte sich nicht gegen Russland.Entkräften können sie den Vor-wurf nicht. Amerika müsse sich auch vor einem versehentlichen Abschuss atomarer Raketen schüt-zen, wenn aufgrund mangelnder politischer Stabilität Atomwaffen staatlicher Kontrolle entglitten.Ursprünglich sollte die US-Ab-wehr durch Radarstationen und bodengestützte Abfangraketen in Polen und Tschechien ausgebaut werden. Als Kompromiss brachte Russland 2007 Aserbaidschan als akzeptablen Alternativstandort ins Spiel – ein Nachbarland des Iran. Dagegen liefen Polen und Tsche-chien Sturm, und als Obama 2009 die Raketenabwehr der NATO

überantwortete, war Aserbaid-schan vom Tisch. Heute soll der Schirm nicht nur die militärische Unverletzlichkeit der territorialen Integrität der USA garantieren, sondern ganz (West-)Europa und die Nato abdecken und in vier Phasen flexibel aufgebaut werden. Dazu sind Systeme von Satelliten, Radarstationen und mo-bilen Abfangraketen zu Lande und zu Wasser geplant. 2020 soll das System einsatzfähig sein. Die NATO gab auf ihrem Gipfel in Chicago im Mai bekannt, dass Subsysteme der ersten Phase be-reits einsatzbereit seien: In der südöstlichen Türkei wurde eine hochmoderne Radaranlage in Betrieb genommen. Die USA ha- ben Überwachungssatelliten im Orbit und atomwaffentragende Kreuzer im Mittelmeer stationiert. Die Bundesrepublik beherbergt im rheinland-pfälzischen Ram- stein die Kommandozentrale der Raketenabwehr.Moskau reagierte postwendend auf die Nachrichten aus Chicago: We-nige Tage später testete es eine neue Interkontinentalrakete mit schnel-lem Antrieb und aktiven atoma-ren Mehrfachsprengköpfen. Vom Raketenschild soll diese nur schwer zu entdecken sein.

Patriot-raketen im einsatz, hier während des irak-krieges in der saudi-arabischen wüste

Raketenschild scheinen aus einer anderen Welt zu kommen: Euro-pa müsse vor der Bedrohung durch iranische Raketen geschützt wer-den. Dabei existieren diese Rake-ten noch gar nicht, und es ist un-klar, weshalb der Iran, der mit seinen Nachbarstaaten – Israel, Saudi-Arabien u. a. – um den Ein-fluss in der Region konkurriert, seine Raketen, wenn sie denn ir-gendwann zur Verfügung stün-den, ausgerechnet gegen Europa richten sollte. „Ist der Raketen-schutzschirm gegen Russland ge-richtet?“, fragt Moskau. „Nein“, wehrt Washington ab. „Soll die-ser Abwehrschild Amerika vor jeglicher Bedrohung schützen?“ – „Ja!“ – „Wendet er sich damit nicht gegen andere Länder, auch Russland?“ Natürlich tut er das. Das Prinzip der wechselseitigen Vernichtung hat weiterhin seine Gültigkeit, ein anderer Weg zur Ausbalancierung der gewaltigen Rüstungsarsenale ist noch nicht gefunden, also besteht hypothe-tisch die Möglichkeit, durch einen Schutzschild die Gefahr eines geg-nerischen Schlags abzuwehren.Tatsächlich ist die Situation noch vertrackter. Die Amerikaner ver-sichern, die ersten drei Phasen des Raketenabwehrsystems könnten dem Militärarsenal Russlands kei-nen Schaden zufügen, erst bei der vierten Phase entstünde eine the-oretische Gefahr. Aber bis dahin sei es noch weit und es gebe heute keine Garantie, dass sich diese Endstufe technologisch realisie-ren lasse. Wenn eine solche Mög-lichkeit nun aber doch bestünde, wie sollen die russischen Gene-räle heute darauf reagieren? Sol-len sie der Entwicklung des Ab-wehrsystems tatenlos zuschauen, bis es tatsächlich eine Gefahr dar-stellt, und erst dann Maßnahmen ergreifen? Zu diesem Zeitpunkt wird es bereits zu spät sein. Die amerikanische Seite wird auf

sämtliche späteren Einwände Russlands erwidern: „Warum wart ihr denn vorher einverstanden, wir haben euch doch in Kenntnis gesetzt?“Ein gegen eine nicht existierende Bedrohung gerichtetes nicht exis-tierendes Abwehrsystem, das eine in der Praxis nicht realisierbare Gegenreaktion und endlose af-fektgeladene Debatten nach sich zieht, ist ein Symbol der Hilflo-sigkeit der internationalen poli-tischen Elite angesichts tatsäch-licher Herausforderungen. Es diskutiert sich leichter über Alt-bekanntes als über Neues und Unbekanntes. Doch die Realität fordert in jedem Fall ihren Tri-but, und die Rüstungsexperten werden am Ende vielleicht doch noch auf eine Insel verfrachtet.

Fjodor Lukjanow ist Chef-redakteur der Zeitschrift Russia in Global Affairs.

Militärs stehen in der Pflicht, von berechne-ten und geschätzten Rüstungspotenzialen auszugehen.

es diskutiert sich immer leichter über altbekanntes und Vertrautes als über neues und unbekanntes.

Russland schlug 2007 als alternativstandort aserbaidschan vor, aber Polen und tschechien liefen dagegen Sturm.

Mai 2012, Chicago: auf ihrem gipfel gibt die nato bekannt, dass sie die erste stufe des raketenabwehrsystems in Betrieb nimmt.

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3Russland Heute www.russland-heute.de

eine Beilage des rossijskaja gaseta Verlags, Moskau Politik

regierung Premier Medwedjew erneuert sein Kabinett – aber wichtige Entscheidungen werden woanders getroffen

Moritz gathMannRussland hEutE

drei Viertel von Medwedjews Ministern sind neu. doch russische experten bezeichnen die regierung als „technisch“: das eigentliche zentrum der Macht liegt bei Putin im kreml.

Wladimir Putin: „Wie viele neue Gesichter haben wir? Ich denke, die Zusammensetzung hat sich zu 75 Prozent geändert ...“Dmitri Medwedjew: „Ich habe mal überschlagen, dass drei Viertel der Regierung aus neuen Leuten be-steht, die erst seit Kurzem in der Politik sind oder zum ersten Mal der Regierung angehören.“Diese Bälle warfen sich Präsident Putin und Premierminister Med-wedjew Mitte Mai im russischen Fernsehen zu. Ihre Botschaft: alles neu. Wer genauer hinschaut, er-kennt allerdings: Die Regierung ist zwar außerordentlich jung, der jüngste Minister (für Telekommu-

nikation) Nikolaj Nikiforow ist gerade einmal 29 Jahre alt, aber nur bedingt neu – sechs der Mi-nister waren zuvor Vizeminister. Hinzu kommt, dass die neuen Mi-nister ausgewiesene Fachleute sind, aber über wenig politische Erfahrung verfügen: Medwedjew hat eine Regierung der Manager um sich versammelt.Russische Experten betonen des-halb das geringe politische Ge-wicht des neuen Kabinetts: „Das ist keine Regierung für einen Durchbruch, sondern eine tech-nische. Und ich habe große Zwei-fel, dass sie adäquat auf jene He-rausforderungen antworten kann, vor denen Russland heute steht“, ätzte Alexej Kudrin, langjähriger Finanzminister, der im letzten Herbst zurücktreten musste. Als „technisch“ wurden jene Regie-rungen bezeichnet, die Putin wäh-rend seiner beiden ersten Amts-zeiten dazu dienten, seine strate-gischen Pläne durchzusetzen.

Umgeben wird Premierminister Medwedjew von sechs Vizepremi-ers, darunter mehrere Vertraute aus seiner Zeit im Kreml wie der liberale Arkadi Dworkowitsch oder der „Chefideologe“ Wladis-law Surkow. Dass es ihm gelun-gen ist, einige Positionen mit „sei-nen“ Leuten zu besetzen, wird als Beleg dafür gewertet, dass Med-wedjew immerhin ein gewisses politisches Gewicht hat.

Putin behält die kontrolleDie vielleicht wichtigste Aus-wechslung in der Regierung ist die von Raschid Nurgalijew. Der Innenminister stand mehr als alle anderen in der Kritik, weil immer wieder Korruptionsskandale und Übergriffe von Polizisten öffent-lich wurden. Da auch die groß an-gekündigte Polizeireform nichts Substanzielles geändert hat, wird Nurgalijews Posten nun Wladi-mir Kolokolzew übernehmen. Die-ser war bis dato Polizeichef von

Moskau und hat es über die letz-ten Jahre geschafft, selbst unter Oppositionellen ein gewisses Maß an Vertrauen aufzubauen.Einige politische Schwergewich-te sind auf ihren Posten geblie-ben, darunter Außenminister Sergej Lawrow. Dass die Minis-ter für Finanzen und Rüstung nicht ausgewechselt wurden, stärkt Beobachtern zufolge die Position Putins. „Er hat damit die Kontrolle über die machtaus-übenden Strukturen und den finanziellen Block der Regierung behalten“, erklärt Politologe Igor Bunin. „Diese Leute erlauben es ihm, von innen heraus die wichtigen Regierungsentscheidun-

gen zu beeinflussen, besonders die wirtschaftlichen.“Der einzige neue Minister, dessen Ernennung Unverständnis, bei manchen sogar Ärger hervorruft, ist jener für Kultur. Wladimir Me-dinskij ist eine der wichtigsten Figuren der Kremlpartei Einiges Russland. Er verdiente in den letz-ten Jahren Millionen mit popu-lärwissenschaftlichen und patri-otischen Büchern über russische Geschichte. Das Magazin Russkij Reporter sieht in seiner Ernen-nung gar einen „Racheakt“ Pu-tins an der künstlerisch-intellek-tuellen Elite des Landes: Beson-ders die war in den vergangenen Monaten gegen ihn auf die Stra-ße gegangen.

jeder bekommt sein PöstchenEine Besonderheit des politischen Systems in Russland ist es, dass der Präsident mit der Kremlver-waltung über eine Struktur ver-fügt, die sich formell zwar nur aus Beratern und Assistenten zusam-mensetzt, aber aufgrund ihrer Nähe zum Präsidenten ein größe-res politisches Gewicht als die Mi-nister hat. Putin hat beim Umzug in den Kreml seine engsten Ver-trauten mitgenommen: sieben ehe-malige Minister, darunter Elwira Nabiullina, vormals Ministerin für wirtschaftliche Entwicklung. Lediglich den unbeliebten Innen-minister Nurgalijew hat Putin in den Sicherheitsrat abgeschoben, seine politische Karriere ist damit wohl beendet. Der ehemalige Ge-heimdienstler Sergej Iwanow, erst vor Kurzem vom Vizepremier zum Leiter der Präsidialverwaltung ernannt, wird hingegen seinen Posten behalten. Nur einige wenige wie der Ener-gieminister Sergej Schmatko sind beim Stühletausch ganz aus dem politischen System ausgeschieden. Dazu gehört auch der ehemalige Vizepremier Igor Setschin. Aller-dings ist der enge Putin-Vertrau-te und graue Eminenz des russi-schen Öl- und Gassektors nun zum Präsident des staatlichen Ölrie-sen Rosneft ernannt worden. Ros-neft ist zuständig für eines der wichtigsten Projekte der nächs-ten Jahrzehnte: die Erschließung der Rohstoffe auf dem arktischen Schelf.

die Macht im kreml,die experten im kabinett

die neue Machtkonstellation zwischen kreml und weißem haus

Einige politische schwergewichte wie außenminister sergej lawrow sind auf ihren Posten geblieben.

itaR

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4 www.russland-heute.de Russland Heute

eine Beilage des rossijskaja gaseta Verlags, Moskauwirtschaft

wirtschafts- kalender

lunchBreakwelche chancen hat der Mittelstand in russland? 8. Juni, Hamburg, gescHäftstelle des Ost- und mitteleurOpa vereins

Hellmut Vollmers, Geschäftsführer des Logistik-Unternehmens Emons Multi-transport, spricht über seine Erfahrun-gen auf dem russischen Markt. Auf-grund der Räumlichkeiten ist die Teil-nehmerzahl begrenzt.

o-m-v.org ›

foruMrussian econoMic and financial foruM in gerMany17./18. Juni, müncHen, marriOtt HOtel

Mehrere russische Gouverneure und andere hochrangige Vertreter aus Po-litik und Wirtschaft erläutern deut-schen Interessenten die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in ihrem Land – und wo Chancen zur Zu-sammenarbeit bestehen.

finas.info ›

konferenz2. deutsch-russische logistikkonferenz 18./19. Juni, mOskau, ritz-carltOn HOtel

Russland ist riesig – und bietet für Lo-gistiker nahezu unbegrenzte Möglich-keiten. Russische und deutsche Exper-ten von DHL, der Deutschen Bahn und der Knauf-Gruppe erklären, welche Probleme sich in der Praxis ergeben – und wie sie zu lösen sind.

bvl.de/13875_1 ›

seMinarVertragsrecht iM russlandgeschäft21. Juni, düsseldOrf, iHk

Wer mit russischen Geschäftspartnern Verträge schließt, muss die besonde-ren Regeln der Vertragsgestaltung in Russland kennen. Die Veranstaltung richtet sich an Geschäftsführer, Leiter von Rechtsabteilungen, Vertriebsleiter sowie Exportsachbearbeiter.

duesseldorf.ihk.de ›

lesen sie meHr über die russiscHe WirtscHaft aufrussland-heute.de

aktuell

Russland sagt dem Rauchen den Kampf an: Ab 2013 müssen Zi-garettenhersteller auf Packun-gen Bilder abdrucken, die die Folgen des Rauchens zeigen. Der-zeit rauchen 44 Millionen, also 39 Prozent aller Russen. Zudem soll die Zigarettensteuer ange-hoben werden. Heute kostet eine Packung etwa einen Euro.

Täglich werden in Russland über Internetplattformen Hunderttau-sende Gigabytes illegal ausge-tauscht. Allein die Filmindus-trie verliert jährlich 350 Millio-nen Euro. Die Softwarefirma Internet Content aus Perm schlug mit „Pirate Pay“ eine effiziente Lösung vor. Anstatt Piraten post factum zu verfolgen, blockiert die Software automatisch ver-dächtige Uploads über Torrent Tracker. Allerdings ist das Pro-gramm nicht eben billig: Bis zu 40 000 Euro kostet die Überwa-chung eines Films. Dennoch un-terstützt Microsoft Pirate Pay mit 75 000 Euro. Internet Con-tent zieht demnächst in den Technologiepark Skolkowo ein.

schockbilder für raucher geplant

Piraterie an der wurzel gepackt

Eine neue Welle der Wirtschafts-krise träfe Russland härter als 2008. Die Moscow Higher School of Economics hat berechnet, dass das Land heute stärker abhän-gig von Rohstoffpreisen ist: War das Budget 2008 bei einem Öl-preis von 60 Dollar ausgeglichen, muss das Barrel Öl 2012 mindes-tens 105 Dollar kosten.

Die Beilage Russia Beyond the Headlines erscheint nun in 16 Ländern und elf Sprachen. Das sagte Herausgeber Eugene Abov auf dem Partner’s Meeting, zu dem Vertreter der Süddeutschen Zeitung, der Washington Post und weiterer führender Medien im Mai nach Moskau kamen.

abhängigkeit vom Ölpreis steigt

russia Beyond the headlines wächst

Moritz gathMannrussland Heute

erst ford, dann Volkswagen, jetzt Benteler: eine neue, unabhängige gewerkschaft macht westlichen auto-konzernen zu schaffen, mit lohnforderungen – und streiks.

Im Gewerkschaftsbüro in der Stadt Kaluga geht es ruppig zu an die-sem Tag im Mai: Eine sechsköpfi-ge Einsatzgruppe aus Polizei und Kreiswehramt steht in dem 20 Qua-dratmeter kleinen Raum einer Gruppe von Gewerkschaftern ge-genüber: Die Ordnungshüter wol-len ein Mitglied zum Armeedienst abholen. „Zum Teufel mit euch“, schimpft Dmitrij Koschnjew, als sie versuchen, die Männer mit Gewalt fortzudrängen. Der Versuch schei-tert, Minuten später erscheint die Anwältin des jungen Mannes und erklärt den Staatsvertretern, dass sie keine rechtliche Handhabe hät-ten, weil vor Gericht ein Verfahren über die Wehrfähigkeit des Man-nes laufe.

erster streik bei fordBüroleiter Koschnjew bringt die Attacke mit dem jüngsten Streik in Verbindung: „Die regionalen Eliten fürchten sich davor, dass die Arbeiter sich organisieren.“Die Geburtsstunde der MPRA,

Mehr als nur 500 euro am fließband

gewerkschaften russische automobilarbeiter wollen keine billiglöhner mehr sein

streik beim autozulieferer Benteler in kaluga – zwei tage später begannen die Verhandlungen.

jener Gewerkschaft, die für so viel Wirbel sorgt, liegt sechs Jahre zu-rück: In der Nähe von Sankt Petersburg bestreikte die neu ge-bildete „Überregionale Gewerk-schaft der Beschäftigten in der Automobilindustrie“ damals das Werk des US-Autobauers Ford und erreichte eine Anhebung der Löhne um bis zu 21 Prozent. Es war der erste bedeutende Streik in der neueren russischen Ge-schichte. Denn die aus der UdSSR übrig gebliebenen Gewerkschaf-ten haben zwar zum Teil mehre-re Millionen Mitglieder, gehen aber – wie zu Sowjetzeiten – vor allem sozialen Aufgaben nach.Die MPRA hat sich seitdem aus-gebreitet, insbesondere bei west-lichen Autobauern. In Kaluga, wo über die letzten Jahre VW, Volvo, Peugeot und Zulieferer wie Ben-teler Fabriken aufbauten, hat sie über 1300 Mitglieder. Aber warum ist die MPRA vor allem bei westlichen Konzernen aktiv? Nach Meinung von Boris Titow, Chef des Unternehmerver-bandes Delowaja Rossija, finden Streiks gerade in transparenten, sozial verantwortungsvollen Un-ternehmen statt, die um ihr Image besorgt sind: „Die Arbeitsbedin-gungen sind eigentlich annehm-bar, aber man kann sie leichter zu Zugeständnissen bewegen.“

„In neuen Unternehmen ist der Zulauf zu den Gewerkschaften größer, weil die Belegschaft aus jungen, motivierten Mitarbeitern besteht“, erklärt MPRA-Vertreter Koschnjew. Er hat, damals noch Dreher, versucht, in seiner Fa- brik in Twer die MPRA zu etab-lieren. Und erlebte Repressionen, die sich ein westlicher Konzern nicht leisten könnte. Am Ende wurde er entlassen.Beim VW-Zulieferer Benteler läuft es anders: Im November traten die ersten Beschäftigten der MPRA bei, Ende März forderten die Ge-werkschafter die Geschäftsfüh-rung auf, einen neuen Tarifver-trag auszuhandeln. Benteler ig-norierte den Aufruf – und erntete

einen Streik. Zwei Tage lang legte MPRA die Produktion lahm, dann knickte das Unternehmen ein.Nun wird verhandelt, über einen Forderungskatalog von 100 Punk-ten, darunter Lohnerhöhungen um 40 Prozent. Derzeit beträgt das Einstiegsgehalt 400 Euro, die höchste Gehaltsstufe für einfache Arbeiter liegt bei 550 Euro. „Die verkaufen ihre Autos hier zu den-selben Preisen wie in Europa, also stehen uns auch dieselben Löhne zu“, erklärt der 22-jährige Alexej Nastin, der bei Benteler die Ge-werkschaftsgruppe leitet.

kein Bonus für die streikendenBenteler will sich zum Streik nicht äußern. Von Mitarbeitern vor Ort hört man allerdings, dass die Fir-menleitung den Gegner wohl un-terschätzt habe. VW dagegen hat Konsequenzen aus dem Streik bei seinem Zulieferer gezogen: Hier wird seit einigen Wochen mit der MPRA über einen Tarifvertrag verhandelt.Allerdings stehen die Gewerk-schafter unter Druck: Benteler strich erst der gesamten Beleg-schaft den Bonus für März – und zahlte dann jenen, die nicht am Streik teilgenommen hatten, eine doppelte Prämie. Die MPRA hat dagegen Klage eingereicht. Und Benteler-Mitarbeiter Nastin be-richtet von Versuchen, einen Keil zwischen Arbeiter und MPRA zu treiben: „Den Arbeitern werden bessere Karriereaussichten ver-sprochen, wenn sie aus der Ge-werkschaft austreten.“Das große Problem von boomen-den, aber dünn besiedelten Regi-onen wie Kaluga ist der Fachkräf-temangel. Schon jetzt bringen jeden Tag firmeneigene Kleinbus-se Hunderte Mitarbeiter aus wei-ter entfernt gelegenen Dörfern zum VW-Werk.Die Situation wird sich in den nächsten Jahren noch verschär-fen: Der Reifenhersteller Conti-nental etwa baut gerade nahe Ka-luga ein neues Werk, in dem 400 neue Stellen geschaffen werden. Denn die Nachfrage nach Autos steigt in Russland weiterhin, und zwar zweistellig. Dieser Trend spielt der MPRA in die Hände: An-fang Juni soll wieder gestreikt werden – und wieder bei Ford.

Viele Mitglieder, wenig VertrauenEtwa 30 Millionen Russen sind Ge-werkschaftsmitglieder. Die meisten Organisationen sind allerdings staats-nahe Überbleibsel aus der Sowjet- union und spielen eine ähnliche Rolle wie damals: Sie verteilen Urlaubsrei-sen an die Arbeiter und organisieren zu jedem 1. Mai eine Demonstration. Zu Konfrontationen mit den Arbeitge-bern sind sie nur selten bereit und spielten auch während der jüngsten

Wirtschaftskrise keine Rolle. Zu Kon-flikten kam es erst durch spontane Proteste von Arbeitern. Entsprechend gering ist das Vertrauen der Russen in die Gewerkschaften. Neue, unabhän-gige Organisationen wie die MPRA kämpfen mit gesetzlichen Einschrän-kungen: Eine Gewerkschaft wird nur dann als Verhandlungspartner akzep-tiert, wenn sie mindestens 50 Prozent der Belegschaft hinter sich hat.

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eine Beilage des rossijskaja gaseta Verlags, Moskau wirtschaft

herzchengrüße aus Moskau City Branding Junge Moskauer verpassen ihrer Heimatstadt ein nettes Gesicht – und ein schönes Markenzeichen

neuer sommertrend: Fahrradfahren in Moskau – hier vorbei an der Basilius-kathedrale, ...

... deren rot-weiß gestreifte Zwiebelkuppel das herzchen Moskaus ist.

kathrin aldenhoFFfür russland Heute

Moskau ist teuer, laut und schmutzig? stimmt – aber wahre Moskauer lieben ihre stadt trotzdem. Manche so sehr, dass sie mit kreativen souvenirs gegen das image ankämpfen.

Knapp drei Viertel aller Russen leben in Städten, und immer mehr von ihnen machen sich Gedan-ken, wie sie diese attraktiver gestalten können. Der Blogger Ilja Warlamow alias „zyalt“ entwickelte zum Beispiel ein Zehn-Schritte-Programm für ein „menschliches Moskau“: Der verkehrsüberlasteten Stadt ver-ordnet er Fahrradwege, Bänke zum Ausruhen und eine Innen-stadtmaut für Autofahrer – mo-dern und europäisch. Der bekannte Designer Artemij Lebedjew träumt im Livejournal von beleuchteten Fußgängerüber-wegen, restaurierten Holzhäusern und Orten, an denen sich die kre-ative Szene austoben kann – das würde die russischen Städte in seinen Augen viel lebenswerter machen.

die stadt wird zur MarkeLebenswert und nach außen sym-pathisch wirken – darum geht es beim City Branding. Die Stadt selbst wird zur Marke, sie be-kommt ein Image, und das lässt sich verkaufen, zum Beispiel als Souvenir an Touristen. In Zeiten der Globalisierung treten Städte in einen weltweiten Konkurrenzkampf um zahlungs-kräftige Reisende, Firmennie- derlassungen und pendelnde Geschäftsleute. Eine attraktive, lebendige Stadt zieht junge, in-telligente und gut ausgebildete Menschen an, die sie in ihrer Ent-wicklung voranbringen. Berlin mit seinem Ampelmann, dem Fernsehturm und dem Berliner Bären als Symbol sowie dem lo-ckeren Spruch „Arm, aber sexy“ ist nur ein Beispiel dafür, wie gelungenes Stadtmarketing aus-sehen kann. München ist die Welt-stadt mit Herz, Paris unangefoch-ten die Stadt der Liebe.Moskau dagegen hat noch kein Image und keine eigene Marke, dafür aber einen ziemlich schlech-ten Ruf: teuer, laut und hektisch. Die Basilius-Kathedrale ist zwar sein Wahrzeichen, aber viele an-dere Sehenswürdigkeiten, die für Touristen interessant sein könn-ten, sind weitgehend unbekannt und zu wenig zugänglich gemacht. Von Privatpersonen initiiert, ent-stehen deshalb gerade verschie-dene Marken, die das ändern und Moskau ein positives Image ver-passen sollen.

das herzchen MoskausAlexander Elzesser hat mit sei-ner Firma Babushkov die Marke „Heart of Moscow“ entwickelt. Moskau hat ein Herz, und das will der junge Moskowiter an Russen wie Touristen weitergeben. Er ist gern in seiner Stadt und möchte, dass auch andere die russische Hauptstadt in ihr Herz schließen. Seine Produktpalette zeichnet das Bild eines idealen Moskaus. Das Herz ist rot-weiß gestreift, die Form der Streifen ahmt das Mus-

ter der Basilius-Zwiebelkuppel nach. Das Symbol ist auch für Touristen einzuordnen, Elzesser kombiniert es mit Produkten, die traditionell mit Russland in Ver-bindung gebracht werden. Er bietet dicke Wollsocken und Fäustlinge für den Winter an, aber auch T-Shirts, iPhone-Hüllen und sowjetische Modellautos im Zwie-belkuppel-Herzchendesign, die Stil, Qualität und die Liebe zu Moskau in sich vereinen. Elzesser wohnt seit seiner Geburt mitten im Zentrum, ächzt wie alle unter den täglichen Staus, genießt aber im Gegenzug die abendliche

Ruhe und Schönheit der Straßen und Parks. „Hier gibt es einige Probleme, aber ich liebe Moskau. Es kommt auf die innere Einstel-lung an. Teilten viele Moskowi-ter meine Sicht, lebten auch sie wie meine Frau und ich in der schönsten Stadt der Welt.“

Mitbringsel vom roten PlatzDass Souvenirs aus Moskau ori-ginell und zugleich funktional sein können, hat auch das Stadt-komitee für Tourismus bewiesen: Für rund 120 000 Euro ließ es mo-derne Andenken entwickeln und produzieren, insgesamt 30 000 Stück: USB-Sticks, umhüllt von Holzmatrjoschkas oder einem Kremlturm in Plastik, Mousepads mit Panoramablick und Kugel-schreiber, die sich in Holzlöffeln verstecken. In Geschäften gibt es diese Souvenirs aber nicht zu kau-fen – sie sollen auf internationa-len Tourismusmessen verteilt werden. Andenken der anderen Art bietet auch die Internetseite Wow Moscow. Das Symbol, das unter anderem auf Tassen, Bettlaken und Base-ballkappen gedruckt ist: ein Lä-cheln. Dass es in Russland nicht immer kalt ist, spricht sich lang-sam herum – und wenn es gelingt, ein Herz und ein Lächeln als Image der russischen Hauptstadt durch-zusetzen, gehören negative Asso-ziationen vielleicht schon bald der Vergangenheit an.

Kathrin Aldenhoff schreibt für die Moskauer Deutsche Zeitung.

roger williaMsfür russland Heute

ein staatliches Förderprogramm soll helfen, abgelegenere regionen russlands in attrak-tive reiseziele zu verwandeln – durch Marketing und den ausbau der infrastruktur.

Von Elchfarmen und Hundeschlit-tenrennen bis zum Land von Dschingis Khan – die Tourismus-agentur Rosturism rückte mit einer Roadshow in Berlin, Lon-don und Paris die Regionen Russ-lands ins Scheinwerferlicht.Während Moskau und Sankt Pe-tersburg sich vor Touristen nicht retten können, sollen nun abge-legene Regionen mit besonderem Lokalkolorit über die nächsten sieben Jahre mit 9,3 Milliarden Euro unterstützt werden. Die Gel-der fließen überwiegend in Bau-projekte und Infrastruktur.Eine der acht geförderten Regio-nen ist Iwanowo mit seiner gleich-namigen Hauptstadt: Etwa 300 Kilometer von Moskau gelegen, ist sie insbesondere all jenen zu empfehlen, die Wassersport be-treiben und sich für Ikonen und Kunsthandwerk interessieren. In der Kleinstadt Pljos derselben Region existiert scheinbar noch

uferpromenade in kostroma am gleichnahmigen Fluss

abseits der bekannten Wege: auf nach Kostroma, Pljos und ins fischerdorf turka

die Traumwelt des alten Russ-lands. Ein neuer Wolgahafen und sechs neue Hotels, ein Ferienkom-plex und Freizeitzentren werden hier errichtet.Zu den Attraktionen in der länd-lichen Region Kostroma, eine wei-tere Flussschiffsreise von Moskau entfernt, gehören eine Elchfarm und Hundeschlittenrennen. Kos-troma ist zudem für sein Leinen und Filigranarbeiten bekannt – die Hälfte des russischen Schmucks wird hier hergestellt. Weit im Osten, an der Grenze zur Mongolei, liegt die Republik Bur-

jatien am Ostufer des wenig be-suchten Baikalsees. Es gibt tou-ristische Bauvorhaben für das Fi-scherdorf Turka, den Badeort Peski, zwei Kurorte und ein Ski-gebiet. Bislang wurden rund 100 Millionen Euro investiert, und an-gesichts der mangelnden Infra-struktur sind Investoren gefor-dert, sich staatlichen Projekten anzuschließen. Zehn Stunden von London ent-fernt liegt der Flughafen der Hauptstadt Ulan-Ude. Von hier aus eröffnet sich dem Reisenden eine Vielfalt an Landschaften: die

Taiga, trockene Wüsten und die einsamen Ufer des Baikalsees. Das Tuninskaja-Tal, auch „sibirische Alpen“ genannt, bietet Möglich-keiten zum Wintersport. Burjati-en besitzt ein reiches spirituelles Erbe: Schamanen, Buddhisten und Altgläubige finden hier ihre Inspiration.Das Bild der bedeutenden Indus-trieregion Tatarstan hat sich stark gewandelt, seit verkündet wurde, dass Kasan einer der Gastgeber bei der Fußballweltmeisterschaft im Jahre 2018 sein wird. Russlands „Sporthauptstadt“ liegt 75 Flug-minuten von Moskau entfernt.Tatarstan ist das Land von Dschin-gis Khan, und der Kreml von Kasan mit dem Status UNESCO-Weltkulturerbe ist die einzige noch existierende Tatarenfestung Russ-lands. Die antike Stadt Bolgar, 30 Kilometer entfernt von Kasan, wird von dem Tourismuspro-gramm ebenso gefördert wie das orthodoxe Kloster der Wolga- inselstadt Swijaschsk.Kasan hat auch musikalisch ei-niges zu bieten: mit einem dem berühmten Sänger gewidmeten Schaljapin-Musikfestival im Fe-bruar und dem nach dem großen Tänzer Rudolf Nurejew benann-ten Ballettfestival im Mai.

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eine Beilage des rossijskaja gaseta Verlags, Moskaugesellschaft

schöner wohnen – nicht nur fürrubelmillionäre

architektur In dem Innovationsstädtchen bei Moskau soll eine moderne Siedlung für die Wissenschaftler entstehen

Projekt des internationalen architekurbüros saltans + jaeger

so lebt man in skolkowo nach den Plänen des Büros ginsburg.

architektur wie Felsen: der entwurf von dmitri Busch

grigori rewsinKoMMerSant-WlaSt

es verging kaum ein tag, dass dmitri Medwedjew nicht von skolkowo schwärmte, das dem land neue impulse geben soll. in seiner architektur scheint es diese hoffnung zu erfüllen.

Im August 2010, als das Vorzeige-modernisierungsprojekt Skolkowo noch in seinen Anfängen steckte, erfolgte die erste Ausschreibung für den Generalplan des Innova-tionszentrums. Das Besondere daran: Es wurden keine russischen Architekten zugelassen. Die hochgestellten Auftraggeber, besonders die aus Regierungs-kreisen, waren offenbar nicht der Meinung, dass russische Archi-tekten in der Lage wären, irgend-etwas qualitativ Hochwertiges abzuliefern. Ganz offensichtlich glaubten sie, dass das Antlitz russischer Städte und Häuser al-lein von Architekten geprägt sei – und nicht etwa von Politikern wie Jurij Luschkow, dem ehe- maligen Bürgermeister Moskaus, der das Stadtbild nachhaltig verschandelte. Die Ausschreibung für den Ge-neralplan gewann die französi-sche Firma AREP, die Stadt Skol-kowo wurde zwischen sieben westlichen Kuratoren aufgeteilt.

russen können’s nicht?Der russische Architektenverband legte Beschwerde ein – mit Er-folg. Skolkowos City-Manager Wiktor Maslakow schlug vor, für die Bebauung des Innovations-zentrums eine Ausschreibung unter Beteiligung russischer Ar-chitekten durchzuführen. Und obwohl der Bau des Städtchens eigentlich ein Standardprojekt ist, geschah Merkwürdiges: Aus dem ganzen Land gingen 600 Anträ-ge ein. Das Auswahlverfahren trennte jene, die bereit sind, die russische Architektur zu verändern, sehr schnell von denen, die es als höchs-te Stufe der Professionalität an-sehen, sich in den russischen Bau-normen auszukennen – und diese dann als Waffe gegen westliche Architekten einzusetzen. Schritt für Schritt wurden diese Altmeis-ter der Baukunst aussortiert. Ihre Vorschläge unterlagen. Stattdes-sen drängten selbstbewusste Jung-architekten vor, deren Entwürfe sich ganz einfach als die besseren erwiesen.

Chance für die jungen wildenMir persönlich gefällt das Pro-jekt der Gruppe DNK: ein run-des Gebäude, in dessen riesigem Innenhof ein ganzer Park ver-sprengelt angeordnet ist – ein la-konischer und gleichzeitig äußerst erlesener Ansatz. Der Architekt Dmitri Busch dagegen legte einen sehr expressiven Vorschlag vor: Seine Gebäude stoßen aneinan-

der wie Felsen und ergeben da-durch eine recht romantische, ja fast schon gotische Komposition. Sehr charmant ist die Cottage-Siedlung des Franzosen Antoine Bigou: Die Cottages sind wie eine Schafherde auf der Wiese ange-ordnet und unterscheiden sich wohltuend von den in Russland üblichen quadratischen Vorort-siedlungen gleicher Couleur. Der-art sympathische Vorschläge gibt es viele. Doch das ist nicht des Pudels Kern. Diese geplanten Häuser sehen aus wie die Immobilien von Millionären, sind aber für Wis-senschaftler gedacht, also für Menschen, die sich mit einem eher geringen Einkommen begnügen müssen. Die russische Architek-tur ist aber auf den Bau von avant-gardistischen Prachtvillen für jene fünf Prozent der Bevölkerung aus-gerichtet, die mehr als 500 000 Dollar im Jahr verdient. Der Rest muss sich mit den Produkten postsowjetischer Bauwirtschaft zufriedengeben, deren Immobili-enentwickler in allen Millionen-städten des Landes hässliche Tra-bantensiedlungen klonen. Skolkowo stellt in diesem Sinne ein einmaliges Experiment dar. Es ist der Versuch, einen neuen Standard für demokratischen Wohnraum zu schaffen – sowohl was die Häuser als auch was die städtebaulichen Normen betrifft. Deshalb hat das Innovationszen-trum den Status eines experimen-tellen städtebaulichen Areals für das Projekt Großmoskau. Es wird also in Zukunft Wirkung im gan-zen Land entfalten können – auch wenn heute noch viele Menschen nicht begreifen, welchen Nutzen das Innovationsstädchen bringt und was genau hier eigentlich pro-

duziert werden soll. Aber wenn man sich ansieht, was dort gera-de geschieht, kommt weniger Zweifel als die Befürchtung auf, dass dies alles plötzlich wieder be-endet wird. Ich weiß nicht, wie es in der Wissenschaft aussieht, in der Bauwirtschaft ist die russi-sche Verwaltungsreform sehr deutlich zu spüren.

Grigori Rewsin, Journalist und Architekturexperte, gilt als ei-ner der schärfsten Kritiker der russischen Baukultur. Die unge-kürzte Version des Artikels er-schien im Magazin Wlast.

sergei tchoban

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die wir zusammen mit dem Pla-nungsbüro Jewgeni Gerassimow den Wettbewerb gewonnen haben, insgesamt elf ausländische Archi-tekten beteiligt.Skolkowo steht für einen in Russ-land sehr aktuellen Trend: preis-günstiger Wohnungsbau bei einer gleichzeitig würdigen und zu- friedenstellenden Gestaltung – also keine uniformen Wohnsilos, aber auch keine unbezahlbaren Elitewohnungen.Dafür ist Skolkowo sicher ein Pa-radebeispiel, aber nicht das ein-zige: Unser Büro nps tchoban voss baut momentan vor den Toren Moskaus Wohnhäuser nach dem gleichen Prinzip. Und das spani-sche Büro EDDEA hat den Wett-bewerb für einen neuen Stadtteil für 150 000 Einwohner im Süden der Stadt gewonnen.

Grundsätzlich unterscheidet sich der Städtebau in Russ-land und Deutschland nicht:

Es gibt einen Masterplan, dann einen Bebauungsplan, und es gibt eine Öffentlichkeit, die beteiligt werden möchte – das hat zuletzt der Streit um die als „Gazprom-Turm“ bekannt gewordene Un- ternehmenszentrale des Groß- konzerns in Sankt Petersburg bewiesen.Ähnlich wie in Deutschland zieht heute auch jenes Büro, das den Wettbewerb gewonnen hat, ande-re Architekten hinzu, um den Masterplan umsetzen. So haben wir bei der Bebauung des Euro-paufers in Sankt Petersburg, für

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Die Käufer sind bewusster gewordenDie meisten Mietshäuser, die heute „von der Stange“ gebaut werden, wurden noch vor der Finanzkri-se geplant. Inzwischen hat sich die Lage auf dem Markt geändert: Die Käufer sind bewusster gewor-den. Sie können wählen und for-dern größere Vielfalt, gerade im Wohnungsbau. Gleichzeitig haben auch die Ar-chitekten bemerkt, dass sie in der Oberklasse nicht mehr so viel um-setzen können – und orientieren sich seitdem an anderen Bevöl-kerungsschichten. Nur eines hat sich nicht geändert: Russen haben gerne ihre eigene Wohnung – und wohnen äußerst ungern zur Miete.

Sergei Tchoban, geboren 1962 in Leningrad, arbeitet seit 1992 als Architekt in Deutschland.

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Christopher palafür russland heute

Vom riesigen aralsee ist kaum etwas übrig: das wasser aus seinen Zuflüssen wird für die Baumwollfelder benötigt. doch nikolaj aladin glaubt an die regeneration des salzsees.

Nikolaj Aladin nähert sich einem rostigen Kutter. Unter dem Rost ist noch der Name des Schiffes zu erkennen: „Otto Schmidt“. Das Brachland ringsum war früher einmal der Boden des Aralsees. Ironischerweise wurde das For-schungsschiff nach dem berühm-ten russischen Nordpolforscher benannt. Die letzte Fahrt der „Otto Schmidt“ endete 1996 – es war das letzte Schiff, das auf dem See fuhr. „Auf diesem Schiff habe ich an 25 Expeditionen teilgenom-men“, erinnert sich der braunge-brannte Aladin mit seiner dröh-nenden Stimme. Er, Professor am Zoologischen Institut der Russi-schen Akademie der Wissenschaf-ten in Sankt Petersburg, der den austrocknenden Salzsee wie seine Westentasche kennt, half dabei, seinen nördlichen Teil wieder nutzbar zu machen.

Verschwiegene katastropheDen Aralsee erblickt er erstmals 1978, als er Urlaub macht in Aralsk, der nördlichsten Hafen-stadt. „Als ich ankam“, erinnert sich Aladin, „war der Hafen tro-cken, das Wasser hatte sich be-reits über 30 Kilometer zurück-gezogen.“ Der Salzgehalt hatte sich binnen 20 Jahren auf zwei Prozent verdoppelt. Aladin nimmt Proben, führt Messungen durch und beobachtet fortan, wie sich die Fauna an die hereinbrechen-de Umweltkatastrophe anpasst.Seine Warnrufe und Vorschläge zur Regenerierung des Sees nimmt man in Sankt Petersburg kaum wahr: Die Bewässerung der Baum-wollfelder in der Umgebung ist den Sowjetbeamten wichtiger als der zurückgehende Fischfang. Aladins Studien über die entsetz-lichen Folgen für die Ökologie und

ein leben gegen das Verschwindenumwelt seit Jahrzehnten kämpft ein russischer Wissenschaftler für das überleben des aralsees

das Leben der Bevölkerung wer-den nicht beachtet, die Ökokatas-trophe wird nach innen wie außen totgeschwiegen: „Im Westen gab es hin und wieder Hinweise, dass der Wasserspiegel des Arals zurückgeht und der Salzgehalt steigt. Dass aber der See austrock-net, darüber hatten wir keine Informationen“, erinnert sich Philip Micklin, Professor für Geografie an der Western Michi-gan University und führender Aralexperte.

ein institut für den aralseeAladin finanziert seine Untersu-chungen teils aus eigener Tasche. Sein Vater, ein Marineoffizier, steht ihm zur Seite. Auf wissen-schaftlichen Konferenzen darf er seine Arbeitsergebnisse zwar ab und zu vortragen – aber nicht ver-öffentlichen. Erst mit Perestrojka und Glasnost werden sie publik. Und die Akademie der Wissen-

schaften richtet für Aladin ein ei-genes Forschungszentrum mit einem Labor für Brackwasser-Hy-drobiologie ein.Gerade als Moskau beginnt, nach Wegen zu suchen, um die Katas-trophe abzuwenden, bricht die So-wjetunion zusammen. Der Aral, inzwischen auf drei kleinere Seen zusammengeschrumpft, wird durch die usbekisch-kasachische Grenze halbiert. Die russischen Behörden halten sich mit der Fi-nanzierung von Expeditionen ins neue Ausland zurück, auch weil das Geld fehlt. „Beschäftige dich doch mit dem Kaspischen Meer“, wird Aladin erklärt. Er hat keine Wahl – aber den Aral gibt er nicht auf. Als sein Vater stirbt, bleibt ihm nichts anderes übrig, als seine Forschungsvorhaben selbst zu stemmen, indem er zahlungskräf-tige Touristen auf die Expeditio-nen mitnimmt. Auf seiner jüngs-ten Exkursion muss er sich von

einigen Gästen 200 Euro leihen, damit er seinen Sohn und Assis-tenten auszahlen und mit der Bahn nach Hause fahren kann.1993 bringt er einen kasachischen Gouverneur dazu, einen proviso-rischen Deich zu bauen, der das Wasser aus dem Syrdarja-Fluss im nördlichen Teil des Arals zu-rückhält. Der Salzgehalt sinkt, ei-nige Fische kehren zurück, aber der Deich bricht immer wieder ein, sobald das Wasser steigt.Schließlich finanziert die Welt-bank den Bau eines stabilen, 17 Kilometer langen Erddeichs mit Betonschleusen, der 2005 fertig-gestellt wird. Das Projekt soll das Wasser im See speichern und die Feuchtgebiete regenerieren.

retten, was zu retten istHeute, fast sieben Jahre später, ist der Fischbestand im kasachischen Teil des Sees von 3500 auf 18 000 Tonnen gestiegen, sagt der Direk-tor einer örtlichen Fischerei. Seine Fischer ziehen 6000 Tonnen pro Jahr an Land. In den Dörfern ent-stehen neue Häuser und eine Schu-le, kürzlich eröffnete ein Fisch-verarbeitungsbetrieb in Aralsk, 41 neue Arbeitsplätze wurden geschaffen. „Der erste Staudamm war ein Ex-periment“, meint Aladin. „Wir wollten beweisen, dass Katastro-phen, die durch Menschenhand entstanden sind, auch wieder neu-tralisiert werden können. Ich bin sehr stolz darauf, dass alles zum

richtigen Zeitpunkt gebaut wor-den ist.“Die kasachische Regierung erwägt die weitere Sanierung des Arals. Zwei Vorgehensweisen werden in Betracht gezogen: eine Erhöhung des Kokaraldeichs, sodass der Wasserpegel um weitere 20 Meter steigt und der See sich von 5900 auf 8590 Quadratkilometer aus-dehnt. Oder der Bau eines Kanals im Norden, um mit dem Wasser des Syrdarja Aralsk zurück ans Meer zu bringen.Aladin, der weiterhin jedes Jahr an den Aral reist, fordert die Um-setzung beider Schritte – einen nach dem anderen.

die Fische sind zurück: dank des steigenden wassers und sinkenden salzgehalts.

der aralsee – eine katastrophe in Bildern

Der Aral, ehemals viertgrößter Bin-nensee der Welt, liegt in der Wüste östlich des Kaspischen Meeres. Er wird von den zentralasiatischen Flüs-sen Syrdarja und Amudarja gespeist.Bis in die 60er-Jahre werden jährlich 50 000 Tonnen Fisch gefangen. Da-mals begannen die sowjetischen Be-hörden, das Wasser aus den Flüssen umzuleiten, um Baumwolle für Unifor-men und Schießpulver anzubauen. Ihr Kalkül war, der Wert der Baumwolle werde die Einnahmen aus der Fische-

rei um das Hundertfache übertreffen. 1987 ist der Aralsee auf ein Drittel seiner ursprünglichen Größe ge-schrumpft, sein Salzgehalt hat sich verdreifacht. Es gibt kaum noch Fi-sche, Darmerkrankungen und Kehl-kopfkrebs nehmen zu. Heute ist der Aral geteilt. Der nördliche Teil, 3600 Quadratkilometer groß, wurde durch den Bau eines Deiches wieder zum Leben erweckt: Der Salzgehalt ist ge-sunken, 20 Fischarten weisen wieder eine normale Population auf.

der einsame retter des arals: nikolaj aladin vor der „otto schmidt“

Quadratkilometer betrug die Fläche der verschiedenen Teile des Aralsees im Jahr 2010. Vor 50 Jahren waren es 68 000 Quadratkilometer.

Millionen Tonnen Baumwolle produ-zierte Usbekistan 2009. Nach China, Indien und den USA ist es der viert-größte Baumwollproduzent der Welt.

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letzter soMMer der generation arschawin

Nach dem 3. Platz 2008 stürzte die „sborNaja“ ab.

dick advocaat richtete das team wieder auf

FussBall eM 2012

tino künzelfür russlaNd heute

Bei der eM 2008 sorgte russland mit schnellem, leichtfüßigem Fußball für Furore: nach Polen und in die ukraine fährt fast dasselbe team – nur vier jahre älter.

Es sind ja nur fünf Spiele bis zum Finale. Warum sollte die russische Nationalmannschaft nicht einfach mal fünf Spiele in Folge gewin-nen? Oder zumindest drei bis vier, was auch reichen könnte? Das muss sich Trainer Dick Advocaat gedacht haben, als er Mitte Mai in Moskau vor die Presse trat und verkündete: „Russlands Ziel bei der EM ist das Finale.“Daran war eigentlich nichts Sen-sationelles: Was soll sich der EM-Dritte von 2008 auch anderes vornehmen, als sein damaliges Re-sultat zu übertreffen? Russland, Elfter der FIFA-Weltrangliste, müsste dazu nicht nur seiner Fa-voritenrolle in einer Gruppe mit Polen, Griechenland und Tsche-chien gerecht werden, sondern auch Titelanwärtern wie Deutsch-land und Spanien auf Augenhöhe begegnen. Dagegen spricht aller-

dings, dass praktisch nichts dafür spricht. Auch nicht der Trainer, der den Russen systematisch das Träumen abgewöhnt hat.

der nüchterne advocaatDer Holländer übernahm den Trainerjob vor zwei Jahren von seinem Landsmann Guus Hid-dink. Unter Hiddink hatte Russ-land ansehnlichen, an guten Tagen gar herzerfrischenden Offensiv-fußball gespielt. Mit Andrej Ar-schawin von Zenit St. Petersburg im Mittelfeld wäre die spürbar verjüngte Mannschaft in der letz-ten EM-2008-Qualifikation zwar fast gescheitert, doch dann schoss Gruppensieger Kroatien am letz-ten Spieltag England aus der Qua-lifikation – Russland war dabei. Ein Wunder, jubelten die Russen, die sonst so oft mit dem Schick-sal hadern und denen Hiddink fortan als Glücksbringer galt.Bei der EM 2008 steigerte sich die „Sbornaja“ von Spiel zu Spiel und warf im Viertelfinale die hoch ge-handelten Holländer aus dem Wettbewerb. Mehr noch: Russland war das bessere Holland – leicht-füßig, trickreich, druckvoll. Die Experten rieben sich die Augen,

Europa feierte die Entdeckung des Turniers. In der Heimat berausch-te sich die geschundene postsow-jetische Seele an diesem Triumph. Hunderttausende zogen mitten in der Nacht freudetrunken durch die Straßen, in den Großstädten sowieso, aber auch in der tiefsten Provinz. Kommentatoren suchten lange nach historischen Paralle-len, viel mehr als Gagarins Welt-raumflug fiel ihnen nicht ein.Ein paar Tage später ging das Halbfinale gegen den späteren Eu-ropameister Spanien mit 0:3 ver-loren. Das war ernüchternd, aber nach so viel Glanz und Glorie ver-zeihlich. Die Mannschaft rappel-te sich wieder auf und knüpfte in der WM-Qualifikation an ihre starke Leistung an.

in der abwärtsspiraleDer Wendepunkt war eine 0:1-Heimniederlage gegen Deutschland im Herbst 2009. Russland verspielte erst den Grup-pensieg und in der Relegation gegen Slowenien die WM-Fahr-karte. Die Euphorie war inner-halb weniger Wochen verflogen. Und plötzlich wurde darüber dis-kutiert, dass dieser hochbezahlte

kaum einer kennt den russi-schen Fußball so gut wie der stürmer von dynamo Moskau. im interview erklärt kuranyi, wer zur geheimwaffe der russen werden könnte.

deutschland gewechselt. keiner hat sich dauerhaft bei seinem klub durchgesetzt. warum?Ich vermute, dass sie Schwierig-keiten hatten, sich einzuleben. Da kann die Mentalität eine Rolle ge-spielt haben, die Sprache. Und alle waren es gewohnt, Führungsspie-ler zu sein, mussten sich dann aber einer ganz anderen Konkurrenz stellen, Tag für Tag.

es fällt auf, dass die legionäre gerade am anfang ihre beste zeit hatten, dann aber den an-schluss verloren. sind russische spieler zu schnell mit sich zufrieden?Wenn es so war, dann gibt das al-lerdings zu denken. Bei Dynamo Moskau habe ich eher die Erfah-rung gemacht, dass die Spieler sehr professionell sind. Auch die Jungen wollen lernen, sich ver-bessern. Wobei sie ab und zu einen Schubs von den Älteren brauchen, weil sie zu locker sind und nach ein, zwei guten Spielen denken: Jetzt läuft es von allein.

herr kuranyi, was ist den rus-sen bei der eM zuzutrauen?Eine ganze Menge. Ich erinnere mich noch gut an den Superauf-tritt von 2008. Da haben sie ge-zeigt, wie viel Qualität in der Mannschaft steckt.

es folgten eine verpasste wM, ein trainerwechsel und eine wenig berauschende leistung bei der eM-Qualifikation, auch wenn man letztlich ungefährdet gruppen-erster wurde.Die können besser spielen und mit diesem Kader auch diesmal wie-der für Furore sorgen. Man kennt das ja: Du gewinnst ein Spiel, und plötzlich läuft es rund.

nach der letzten eM sind fünf nationalspieler nach england und

einer der jüngsten spieler der „sbornaja“ ist ihr Mannschafts-kollege alexander kokorin, ein 21-jähriger stürmer, der bei dy-namo noch nicht zum stamm-aufgebot gehört. überrascht?Im Gegenteil, ich hätte mich ge-wundert, wenn er nicht dabei wäre. Kokorin hat bewiesen, wie agil er ist, welche Präsenz er auf dem Platz hat. Er könnte eine Art Geheimwaffe für die russische Sbornaja werden.

sie werben wo immer möglich für den russischen Fußball. sehen sie eine positive entwicklung?Auf jeden Fall. In dieser Saison haben mit Zenit St. Petersburg und ZSKA Moskau erstmals zwei russische Mannschaften die Grup-penphase der Champions League überstanden. Und wenn man sich die Spieler anschaut, die aus dem Ausland zurück sind: Die haben es nicht leicht, hier auf die Beine zu kommen. Es herrscht große Konkurrenz in der Liga, das soll-te man nicht unterschätzen.

„die russische elf könnte für furore sorgen!“interView keviN kuraNyi

Kevin Kuranyi spielt seit 2010 bei Dynamo Moskau, einem Klub mit Meisterschaftsambitionen, der diese Saison Vierter wurde und sich damit für die Europa League qualifiziert hat. Der frühere Stuttgarter und Schalker hat in Moskau einen Vertrag bis 2015.

BiograFie

BeruF: FuSSballSpieler

alter: 30

Position: Stürmer

Sympathieträger Hiddink mehr Zeit in Holland verbrachte als in Russland. Hiddink ging, es kam Advocaat, der 2007 mit Zenit St. Petersburg die russische Meister-schaft und den UEFA-Cup gewon-nen hatte. Advocaat versachlich-te den Fußball der Russen: Maß-stab aller Dinge sei der Einzug in die EM-Endrunde. Diese Mission hat er erfüllt, Russland wurde Gruppenerster vor Irland, Arme-nien und der Slowakei, ohne frei-lich zu überzeugen oder zu be-geistern. Mit 17 Toren in zehn Spielen schossen die Russen halb so viele Tore wie Deutschland in seiner Gruppe.

Auf Kritik reagierten Trainer und Mannschaft zunehmend dünn-häutig – und verwiesen auf den Erfolg ihres Minimalismus. Wur-den die Vorwürfe besonders def-tig, wie nach den Testspielpleiten gegen Belgien (0:2) und den Iran (0:1), revanchierten sich die Spie-ler, indem sie die Medien einfach ignorierten. Statt Optimismus und Enthusiasmus macht sich so vor der Europameisterschaft Kater-stimmung breit. „Advocaat er-zeugt schon mit seinem Charak-ter keine positiven Emotionen“, maulte die Nachrichtenagentur RIA Nowosti. Dabei habe die rus-sische Mannschaft einen „emoti-

würde dynamo Moskau in der Bundesliga spielen – wo würden sie die Mannschaft in etwa ansiedeln?Auf Platz fünf bis sieben, in einem guten Jahr auch weiter oben. Als ich hier angefangen habe, waren wir taktisch längst nicht so weit wie heute. Es sind alle dauernd nach vorn gerannt. Für mich war das ein Traum, ich habe unglaub-lich viele Bälle von überall her zu-gespielt bekommen und musste kaum nach hinten arbeiten. Aber das ging alles auf Kosten der Ab-wehr. Inzwischen sind wir einen großen Schritt weiter, was das betrifft.

ihre Quote war allerdings mit 13 toren in 40 saisoneinsätzen nur mittelprächtig.Stimmt, so wenige Tore habe ich lange nicht mehr gemacht. Aber dafür hatten wir als Mannschaft Erfolg.

Das interview führte tino künzel.

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Heimspiel 2018 – neue Stadien von Moskau bis Kasan

Kickschuhe – Jugendkult um die „Bootsy“

ilja loktjuschinruSSland Heute

tino künzelfür ruSSland Heute

in sechs jahren ist russland erstmals gastgeber der Fußball-weltmeisterschaft. Fast 16 Milliarden euro will das land in stadien, straßen, schienen und Flughäfen investieren.

Vor zehn jahren fehlte vielen russischen jugendlichen das geld fürs richtige schuhwerk. heute kaufen selbst die elf-jährigen nur noch schuhe, die von Messi empfohlen werden.

„Russland wird 2018 Weltmeis-ter“, war das Erste, was die Rus-sen über die Fußball-WM 2018 hörten. So sprach Sergej Fursen-ko, als er vor zweieinhalb Jahren Präsident des Russischen Fußball-verbands werden wollte. Die Mannschaft hatte gerade die Teil-nahme an der WM 2010 verpasst, und Bewerber für das Amt gab es genau einen: ihn selbst. Sich so weit aus dem Fenster zu lehnen, wäre also gar nicht nötig gewesen. Der ehemalige Ge-schäftsführer einer Gazprom-Tochter und Expräsident des ak-tuellen Fußballmeisters Zenit St. Petersburg führte trotzdem so etwas wie Wahlkampf und schreckte die Öffentlichkeit mit gewagten Thesen auf. Er sagte nicht „wir wollen“, sondern „wir werden“, und hielt Skeptikern ent-gegen, wer sich keine unmöglichen Ziele setze, der werde selbst die möglichen nicht erreichen. Dass Fursenko für sein Mantra vom Weltmeistertitel 2018 eher belä-chelt wird, ist ihm egal – er wie-derholt den Satz regelmäßig.

zwischen wollen und werdenRein sportlich liegt das Turnier noch in weiter Ferne, doch Ende 2010 setzten sich die Russen gegen die Kandidaturen von England, Spanien/Portugal und Belgien/den Niederlanden durch. Russland hatte gelernt: Die schwache Be-werbung für die Fußball-EM 2008

Eine kleine Stadt in Nordrussland, ein kleiner Sportladen und ein kleiner Kunde vor dem Regal mit den Fußballschuhen. Iwan Gaj-kowitsch ist erst elf, deshalb hat er seine Eltern dabei, „die Brief-tasche“, wie er grinsend sagt. Be-ratung braucht er keine, Iwan weiß genau, was er will. Verkäufer Ale-xander, 21, kennt das schon: „Die Kinder sehen im Fernsehen, wel-cher Spieler welche Schuhe trägt. Danach entscheiden sie sich und sind nicht mehr umzustimmen.“Iwan lässt sich weiße Nockenschu-he von Adidas kaufen, Größe 37. Sie haben pinkfarbene Schnür-senkel und kosten umgerechnet 100 Euro. Sein Vater Alexej, von Beruf Kraftfahrer, sieht darin „kein Problem“. Einmal im Jahr sei ihm die Fußballbegeisterung seines Sohnes eine solche Inves-tition wert. Mitreden bei der Aus-

war gescheitert, Polen und die Uk-raine hatten es besser gemacht. In Moskau saß der Stachel tief, und es war nur eine Frage der Zeit zum nächsten Anlauf.

15,8 Milliarden für den FußballDas Sportministerium beziffert den Investitionsbedarf für die WM 2018 auf 15,8 Milliarden Euro. Sechs Milliarden fließen in den Straßenbau, drei Milliarden in die Stadien. Seit April inspiziert eine Kommission der FIFA alle poten-ziellen Spielorte. Deren Zahl wird im September wohl von 13 auf elf reduziert werden. Als gesetzt gel-ten können Moskau, Sankt Peters-burg, Kasan und Sotschi. Im Moskauer Luschniki-Stadion fand 2008 das Champions-League-Finale statt, es ist als Schauplatz des Eröffnungs- wie auch des End-spiels vorgesehen. Seine Zuschau-erkapazität wird dafür von 78 000

auf 89 000 erhöht, vermutlich durch eine Absenkung des Spiel-felds, was Platz schafft für zu-sätzliche Sitzreihen. 2015 soll der Stadionneubau von Spartak Mos-kau fertig sein, 2016 der Totalum-bau des Dynamo-Stadions. In Sankt Petersburg bekommt Zenit gerade eine neue, 69 000 Zuschau-er fassende Arena, in der nach vie-len Verzögerungen endlich ab 2014 der Ball rollen soll. Auch in Kasan und Sotschi wird gebaut, in Jekaterinburg könnte das jüngst rekonstruierte Zentralstadion mit mobilen Tribünen für die WM er-weitert werden. Alle anderen Sta-dien sind erst in der Planung.Vor 2018 erwarten Russland noch andere sportliche Großereignis-se: die Weltsportspiele der Studen-ten 2013 in Kasan, die Olympi-schen Winterspiele 2014 und die Eishockey-WM 2016 in Moskau und Sankt Petersburg.

das neue stadion in kasan für insgesamt 45 000 zuschauer soll 2013 fertiggestellt werden. 2018 werden hier die wM-spiele ausgetragen.

schwarz-weiß war gestern: die zwei nachwuchsfußballer iwan gajko-witsch und Pawel gretschichen mit ihren bunten Fußballtretern

wahl kann er nicht: „Da verste-hen die Jungs viel mehr davon, die informieren sich im Internet und tauschen sich aus.“Das russische soziale Netzwerk vk.com mit seinen 100 Millionen Usern ist der virtuelle Treffpunkt für diesen Austausch – und der Nährboden für einen bisher bei-spiellosen Kult um das Schuh-werk. Zwischen Schule und Trai-ning werden Fotos der angesag-

testen, farbenfrohesten Modelle gepostet und Grundsatzfragen er-örtert wie: F50, T90 oder doch lie-ber CTR360?Oft nehmen die „Bootsy“, wie Fuß-ballstiefel auf Anglorussisch hei-ßen, sogar die Stelle des eigenen Profilbildes ein. Aus dem Alter sei er mittlerweile raus, sagt der Elf-jährige Iwan lächelnd. Für ihn zählen die praktischen Eigen-schaften der Schuhe. „Leicht müs-

sen sie sein“ und von Leo Messi empfohlen, seinem Idol vom FC Barcelona. Dort würde der Fünft-klässler irgendwann gern spielen. Begabt sei er ja, führt den Ball eng am Fuß, schießt mit links wie rechts. In der Auswahl seines rus-sischen Oblast, größer als Deutsch-land, lobt man sein Talent.Aber Barcelona? Sosnogorsk, Iwans Provinzstadt mit ihren 28 000 Einwohnern, ist von Mos-kau eine Tagesreise mit dem Zug entfernt. Der Sport verringert zu-mindest die gefühlte Distanz ein wenig. In den letzten fünf Jahren wurden zwei Sporthallen, eine Eishalle und mehrere Kunstra-senplätze eröffnet. Auch die Kauf-kraft steigt. Nachwuchstrainer Denis Kulikow, 37, erzählt, dass ihm der Markenhunger allerdings schon wieder zu weit gehe: „Die lassen sich von der Werbung den Kopf verdrehen.“Die Sportartikelhersteller machen glänzende Geschäfte, allen voran Adidas. „Russland und die GUS ist unser drittgrößter Markt nach den USA und China“, sagt Fir-mensprecher Jan Runau. 2012 er-wartet Adidas dort erstmals mehr als eine Milliarde Euro Umsatz.

onalen Kick“ bitter nötig, sekun-dierte die Regierungszeitung Ros-sijskaja Gaseta.Advocaat leistete sich derweil eine neue Instinktlosigkeit: Sein EM-Aufgebot stellte er nicht selbst vor, sondern ließ es vom Fußballver-band veröffentlichen. Russischen Journalisten stand er an diesem Tag für Nachfragen nicht zur Ver-fügung, weil er in Holland erklär-te, warum er nach der EM Trai-ner beim PSV Eindhoven wird.Der Kader hat sich im Vergleich zu 2008 nur geringfügig verän-dert: Mit Ausnahme von Torjäger Alexander Kerschakow und Ab-räumer Igor Denisow (beide Zenit) setzt Advocaat auf dieselben Leis-tungsträger wie sein Vorgänger. Das hat auch damit zu tun, dass es trotz hoher Investitionen in Trainingszentren an geeignetem Nachwuchs fehlt.

das Finale des rentnerteamsRussland schickt also nicht nur eine Omi-Band zum Eurovision Song Contest, es fährt auch mit einer Mannschaft kurz vor der Verrentung zur EM. Das ist umso erstaunlicher, als keiner von den Helden der letzten EM seine Leis-tung gesteigert hat. Vier von fünf Spielern, die ins Ausland wech-selten, sind inzwischen nach Russ-land zurückgekehrt: Andrej Arschawin (31, Arsenal London), Roman Pawljutschenko (30, Tot-tenham Hotspur), Juri Schirkow (28, FC Chelsea) und Dinijar Bil-jaletdinow (27, FC Everton) saßen bei ihren englischen Klubs zuletzt nur noch auf der Bank. Pawel Pogrebnjak (28) versucht nach einem Intermezzo beim VfB Stutt-gart neuerdings beim FC Fulham sein Glück.Beim Testspiel in Dänemark Ende Februar lag das Durchschnitts-alter der russischen Elf bei stol-zen 28,8 Jahren (Deutschland: 24,4 Jahre). Vielleicht rafft sich die Ge-neration Arschawin, des Taktge-bers zwischen Genie und Wahn-sinn, ja doch noch einmal zu einem großen Finale auf. Zumindest zum Finale der eigenen Karriere.

8. Juni, 20.45: Russland-Tschechien (Breslau); 12. Juni, 20.45: Polen-Russland (Warschau); 16. Juni, 20.45: Griechenland-Russland (Warschau). Auf Deutschland könnte Russland im Viertelfinale treffen – oder aber im Finale.

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Spielplan der russischen elf

wie viel wird das russische team (hier 2010) bei der eM 2012 zu feiern haben?

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10 www.russland-heute.de Russland Heute

eine Beilage des rossijskaja gaseta Verlags, MoskauFeuilleton

spezial das russlandjahr in deutschlandjahrestagung der deutsch-russischen historikerkoMMission4.-8. Juli, Hamburg, Helmut-ScHmidt-univerSitätSeit 1997 versuchen führende deut-sche und russische Historiker in der „Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Ge-schichte der deutsch-russischen Beziehungen“ einen Zugang zu strittigen Themen der gemeinsa-men Geschichte zu finden. Dieses Mal geht es um die deutsch-russi-schen Kulturbeziehungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

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ural Youth sYMphonY orchestra 8. auguSt, berlin, konzertHauS am gendarmenmarkt, 20 uHrEines der besten russischen Jugend-orchester Russlands reist aus Jekate-rinburg nach Berlin und vertritt auf dem Festival „Young Euro Classic“ Russland. Unter der Leitung des Diri-genten Enkhbaatar Baatarjav präsen-tiert das Orchester Werke von Peter Tschaikowsky, Nikolai Rimsky-Korsa-kow, Dmitri Schostakowitsch und eine Uraufführung: In „Lux Aeterna“ von Olga Viktorowa wird das Phänomen des Lichts musikalisch umgesetzt.

young-euro-classic.de ›

internationales tanzFest: tanz iM august 10.-25. auguSt, berlin, tHeater Hebbel am uferIm Juli lädt das Moskauer Tanzstudio TsEKH (sprich: Zech) Tänzer und En-sembles aus ganz Russland zu einer „Sommerschule“ ein. TsEKH existiert seit zehn Jahren und gilt in Russland als wichtigste Institution für zeitge-nössischen Tanz. Im Anschluss an die „Sommerschule“ präsentiert sich eine Auswahl der Tänzer auf dem Berliner Festival „Tanz im August“ im Theater Hebbel am Ufer sowie Ende August im Tanzhaus NRW in Düsseldorf.

tanzimaugust.de ›

Von den wickingern bis zum Fall der Berliner Mauer

iM gespräch

peter BrinkMannfür ruSSland Heute

hermann parzinger, präsident der stiftung preußischer kultur-besitz, über die höhen und tiefen der deutsch-russischen geschichte: ein ausstellung in Moskau und Berlin.

was hat eine stiftung, die sich mit preußen beschäftigt, eigent-lich mit russland zu tun?Wir haben langjährige Kulturbe-ziehungen zu Russland. Und na-türlich verbinden uns auch die kriegsbedingt nach Russland ver-brachten Kulturgüter. Das Beu-tekunstproblem muss eines Tages politisch gelöst werden. Unab-hängig davon arbeiten wir auf der Fachebene zusammen, indem wir gemeinsame Ausstellun- gen oder Forschungsprojekte organisieren.

wie haben sich die Beziehungen zwischen russen und deutschen kunsthistorisch entwickelt?Die neue Ausstellung soll deut-lich machen, wie sich die Bezie-hungen zwischen Deutschen und Russen seit 1000 Jahren entwickelt haben. Unsere gemeinsame Ge-schichte beginnt im 10. Jahrhun-dert, als sich das Ottonische Reich aus dem Karolinger Reich gelöst hatte und im Osten die Herrschaft der Kiewer Rus als Grundlage des späteren Russlands entstanden war. Es beginnt also mit der He-rausbildung der europäischen Staatenwelt an der Schwelle zum Hochmittelalter.

Mit vielen gemeinsamkeiten oder mehr unterschieden?Es gibt viele Gemeinsamkeiten, obwohl Russland und Deutsch-land nicht immer direkte Nach-barn waren. Die Beziehungen waren auch konfliktgeladen, wobei sie mit dem Zweiten Weltkrieg ihren absoluten Tiefpunkt erreicht hatten. Aber das Interesse an Ge-schichte und Kultur des jeweils anderen ist seit jeher ausgeprägt und mischt sich mit einer gegen-seitigen Anziehung.

zum Beispiel?Nehmen Sie Peter den Großen. Für Russland war er in seiner Zeit

der große Türöffner nach Westen. Geopolitisch blickt Russland heute nach Westen wie nach Osten: Kulturell fühlt man sich als Teil Europas, dennoch ist Asien lebens-wichtig, ohne dass sich Russland dadurch aber von Europa abwen-den würde.

ist es dann eher eine kunst- als eine historische ausstellung?Es geht um einen riesigen Zeit-raum. Die Ausstellung soll im besten humboldtschen Sinne er-freuen und belehren und dabei russische Spuren in der deutschen Geschichte und deutsche Spuren in der russischen erklären. Es be-ginnt mit den Wikingern, dann folgen die Hanse und deren Han-delsbeziehungen bis Nowgorod, die deutsche Vorstadt in Moskau, deutsche Wissenschaftler im Sankt Petersburg Peters des Gro-ßen, die dynastischen Verbindun-gen des 19. Jahrhunderts oder der Beitrag russischer Künstler bei der Ausgestaltung der Moderne. Für jede Epoche haben wir Fall-beispiele. Aus den verheerenden Ereignissen im Zweiten Weltkrieg erwächst für uns die besondere Verpflichtung, eine friedliche Zu-kunft gemeinsam zu gestalten. Das empfinden die Deutschen ebenso wie die Russen. Es ist des-wegen keine Kunstausstellung im herkömmlichen Sinne und auch keine rein historische.Es ist bei-des, und das ist das Neue.

sie wollen also die geschichte zwischen russen und deutschen mit wichtigen ereignissen erklä-ren. welche wären das?Einige nenne ich gerne: den deutsch-russischen Handel im Hochmittelalter und in der Han-sezeit mit dem deutschen Kontor in Nowgorod; die Bronzetür im Dom zu Nowgorod, ein Werk Mag-deburger Bronzegießer; den Now-goroder Bischofspalast aus dem 14. Jahrhundert norddeutscher Baumeister; Deutsche in Moskau im 16. und 17. Jahrhundert – Buch-drucker, Handwerker und Kauf-leute; Katharina die Große, übri-gens eine Deutsche, ihren Erwerb deutscher Kunstsammlungen und die Anwerbung der ersten deut-schen Siedler. Nicht zu vergessen

die Russlandbegeisterung in Preußen, ausgedrückt durch die Kolonie Alexandrowka in Pots-dam und Russlandreminiszenzen in der Architektur jener Zeit. Und im Süden Baden-Baden und an-dere Kurorte als Zielpunkt rus-sischer Reisender.

aber dann kam der krieg.Ja. Der Zweite Weltkrieg war der große Konflikt. Wir gehen auch darauf ein, bearbeiten dieses bis heute prägende Ereignis dabei be-sonders eindrucksvoll. Die Aus-stellung endet dann mit dem Mau-erfall 1989 und dem Beginn einer neuen Epoche in den bilateralen Beziehungen.

wo und wann wird die ausstel-lung gezeigt?Ab dem 20. Juni im Historischen Museum in Moskau und ab dem 6. Oktober im Neuen Museum in Berlin. was ist ihr „liebstes kind“ in der ausstellung?Als Anhänger der Moderne gefal-len mir die russischen Künstler

des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts am bes-

ten. Das ist ja auch eine Zeit ganz besonders fruchtbarer Beziehun-gen zwischen Russland und Deutschland.

gibt es im rahmen des deutschlandjahres noch weitere projekte in russ-

land, an denen die stif-tung preußischer kulturbe-

sitz beteiligt ist?Ja, z. B. eine Ausstellung zu Jo-

seph Beuys in Moskau. Daran wirkt unser Museum für zeitge-nössische Kunst im Hamburger Bahnhof mit.

sie haben selbst länger in russ-land gelebt, wie kam es dazu? Ich bin Archäologe und seit nun 18 Jahren bei Ausgrabungen in Russland beteiligt, besonders in Sibirien. Ich lese und spreche ganz gut Russisch. Sonst ginge das auch nicht.

eine stiftung für preußens kultur

Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, gegründet 1957, gehört heute zu den größten Kultureinrichtungen weltweit. Sie wird zu 75 Prozent vom Bund, zu 25 Prozent von den Ländern getra-gen. Ihre Hauptaufgabe bestand zu-nächst darin, die Kulturgüter des ehe-maligen Staates Preußen zu erhalten und zu pflegen. Seit der Wende be-müht sich die Stiftung um die Zusam-menführung bislang getrennter Sammlungen. Zur Stiftung gehören unter anderem die Museumsinsel und die Staatsbibliothek in Berlin.Bei der jetzigen Ausstellung ist auf deutscher Seite das zur Stiftung ge-hörende Museum für Vor- und Früh-geschichte federführend, auf russi-scher Seite das Staatliche Historische

Museum in Moskau.

deutsche regentin: das Bild-nis katharinas ii. von Fedor rokotov (o.); goldarmband von andrej Bogoljubskij (r.)

im juni beginnt in deutschland das russlandjahr und in russland das deutschlandjahr. die organisation obliegt dem goethe-institut und dem Ministerium für kultur der russischen Föderation für jeweils das andere land. in russland wird der schwerpunkt 2012 in Moskau und sankt peters-burg liegen, ab 2013 in den regionen. was in deutschland los ist, lesen sie im Veranstaltungskalender und in den kommenden ausgaben.

inForMationen

zwei nationen tauschen sich aus

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11RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE

EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU Feuilleton

SPEZIAL DAS RUSSLANDJAHR IN DEUTSCHLAND „RUSSEN UND DEUTSCHE. 1000 JAHRE KUNST, GESCHICHTE UND KULTUR“6. OKTOBER-13. JANUAR, BERLIN, NEUES MUSEUMErstmals widmet sich eine Ausstellung der langen, wechselvollen gemeinsa-men Geschichte von Deutschen und Russen: von ersten Kontakten über den intensiven dynastischen Aus-tausch in der Neuzeit, die Katastro-phen im 20. Jahrhundert bis zum Neubeginn. Ab Juni ist die Ausstel-lung im Museum für Geschichte in Moskau zu sehen, dann kommt sie nach Berlin.

neues.museum.de ›

„ZWISCHEN ORIENT UND OKZIDENT. DIE KUNSTSCHÄTZE DES KREML VON IWAN DEM SCHRECKLICHEN BIS ZU PETER DEM GROSSEN“ AB 6. NOVEMBER, DRESDEN, RESIDENZSCHLOSSDie Rüstkammer des Moskauer Kreml bringt ihre Schätze für einige Monate ins Dresdener Residenzschloss: Mehr als 160 Meisterwerke aus den Kreml-Museen veranschaulichen, wie der Zarenhof mit Prunk seine Macht ins-zenierte. Im Mittelpunkt steht dabei die Bedeutung des Kreml als Schnitt-stelle westlicher und östlicher Kultur.

skd.museum.de ›

VÄTERCHEN FROST AUF DEUTSCHLANDTOURNEEDEZEMBER, PEINE„Väterchen Frost“, auf Russisch „Djed Maros“, ist die russische Version des Weihnachtsmannes. Meist tritt er rund um Neujahr in Begleitung einer be-zaubernden „Snegurotschka“ auf. Vor einigen Jahren erklärte sich die im russischen Norden gelegene Stadt Weliki Ustjug ganz selbstbewusst zur Heimat des Djed Maros – und eröffne-te im letzten Jahr gar eine Ständige Vertretung in der Stadt Peine. Dort wird er nun kurz vor Weihnachten sei-ne Deutschlandtournee starten.

peinemarketing.com ›

ARIANE MANNFÜR RUSSLAND HEUTE

Es gibt die französischen, die amerikanischen – und seit 2007 auch die Deutsch-Russischen Festtage. Drei Tage lang wird in Ostberlin auf „Druschba“ und „Freundschaft“ angestoßen.

Wenn auf der Trabrennbahn Karlshorst überwiegend russische Klänge zu hören sind, neben Cur-rywurst und Bier auch Pelmeni, Schaschlik, Kaviar, Kwas und Wodka angeboten werden, im nachgebauten Kreml deutsche und russische Autoren lesen, am „Arbat“ Bernsteinketten aus Ka-liningrad verkauft werden und russische Folklore und deutsche Rockmusik sich auf einer Bühne vereinen – dann ist man vermut-lich bei den Deutsch-Russischen Festtagen gelandet. Zum sechs-ten Mal begegnen sich vom 8. bis zum 10. Juni hier zwei Nationen, die viel miteinander verbindet.

Russen in LichtenbergDie Verbundenheit ist besonders im Berliner Bezirk Lichtenberg zu spüren, wo deutsch-russische Vergangenheit, aber auch die Ge-genwart eng ver� ochten sind.Das Deutsch-Russische Museum mit dem historischen Kapitulati-onssaal hat hier seinen Sitz eben-so wie die Russisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats. Von der Kita über Grundschule und Gymnasium bis zur Hoch-schule, überall kann man hier die russische Sprache lernen. Die Bil-dungseinrichtungen haben sich dazu in einem bilingualen Lich-tenberger Netzwerk zusammen-geschlossen und präsentieren ihre Erfolge auf dem Volksfest. Frü-her, als hier noch die sowjetischen Streitkräfte stationiert waren, gab es Freundschaftsfeste. Die heuti-gen Festtage sehen sich allerdings nicht als Fortsetzung. Und doch setzen sich manche Freundschaf-ten fort, andere entstehen neu.Das bestätigen auch Lisa und Ve-ronika. Sie kamen mit ihren El-tern vor 15 Jahren nach Deutsch-land, gingen in Berlin zur Schule und studierten Betriebswirtschaft und Modedesign. „Auf der Trab-rennbahn in Karlshorst konnten wir nicht nur populäre Rockmu-sik live erleben, wir haben auch andere Jugendliche mit ähnlicher Geschichte getroffen und fühlten

Russische Stimme: Pelageya begeistert mit ihrem kraftvollen Gesang.

Feiern auf der TrabrennbahnDeutsch-Russische Festtage Berliner Begegnungen bei Wodka und Currywurst

uns gleich heimisch.“ Die zweite Generation der Einwanderer hat einen deutschen Pass, fühlt sich aber mit der Heimat der Vorfah-ren nach wie vor sehr verbunden. Heute stehen die beiden jungen Frauen nicht nur hinter den Ver-kaufsständen, sondern gehören zu den aktiven Mitgestaltern. Mit ihren Ideen, ihrer Zweisprachig-keit und vor allem ihrem emoti-onalen Engagement bereichern sie die Festtage und sind wichtige und verlässliche Partner der Veran-stalter. Ohne sie gäbe es so man-

che Band nicht, die Gäste zu den Festtagen lockt. In diesem Jahr kommen mit BI-2 und Nogu Svelo zwei bekannte russische Rock-gruppen nach Berlin.

„Kalinka und „Katjuscha“Die Veranstalter sind russland-begeisterte Berliner. Im Jahr 2005 wurde die Idee zu einem derarti-gen Volksfest geboren. Denn ob-wohl Berlin als das Tor zu Osteu-ropa gilt, fehlte Vergleichbares zu den alljährlichen amerikanischen und französischen Festwochen. Aus der Idee wurde ein Konzept und im Dezember 2005 der ge-meinnützige Verein Deutsch-Rus-sische Festtage e.V., der seitdem in ehrenamtlichem Engagement und mit � nanzieller Unterstüt-zung von Gazprom Germania und anderen Unternehmen die Fest-tage organisiert. Kamen zu den ersten Festtagen im Juni 2007 50 000 Besucher, sind es inzwischen 150 000. Nicht nur viele Berliner und die hiesige russischsprachige Community haben das Fest angenommen. Die Gäste stammen aus verschiede-nen Teilen Deutschlands, manche planen ihre Berlinreise aus Mün-chen oder Stuttgart bewusst zu dem Event. In diesem Jahr sind die Festtage Bestandteil des Russ-

landjahres in Deutschland, das im Juni beginnt. „Wir zeigen, dass das heutige Russland ein interes-santer Markt ist, junge Menschen mit Russischkenntnissen gute Be-rufschancen haben, aber auch Kultur und Tourismus einiges zu bieten haben“, sagt Veranstalter Steffen Schwarz. Neben dem be-währten Literaturzelt, dem Jazz-festival und einem Boxturnier gibt es dieses Mal Theateraufführun-gen in deutscher und russischer Sprache und ein Filmfest. Und auch wenn das moderne Russ-land im Fokus steht – ohne Folk-lore würde die russische Seele feh-len. Wird auf der Bühne „Kalin-ka“ oder „Katjuscha“ angestimmt, singen die Zuhörer auf dem grü-nen Rasen und den Besuchertri-bünen mit, tanzen und klatschen – von den Großeltern bis zu den Enkeln, ob an Wolga, Moskwa oder Spree geboren. Und die rus-sischen Teenager mögen noch so cool sein – wenn „Podmoskow-nyje Wetschera“ gesungen wird, gehen sie versonnen oder leiden-schaftlich mit. Zum Eröffnungs-konzert am 8. Juni wird die stimm-gewaltige Folkrocksängerin Pelageya erwartet.

Weitere Informationen auf www.drf-berlin.de

LESENSWERT

Tschechow dramatisch

Eine Warnung vorweg: Wer sich für das Leben von Anton Tsche-chow interessiert, sollte lieber die 1997 auf Englisch erschie-nene Biogra� e von Donald Ray-� eld lesen. „Tschechow oder die Geburt des modernen Theaters“ dagegen ist ein Buch über die Anfangsjahre des Moskauer Künstlerischen Theaters unter Wladimir Nemirowitsch-Dant-schenko und Konstantin Stanis-lawski, über die Impulse und Handlungen, die 1897 zu seiner Gründung führten. Und doch ist es auch ein Buch über Tsche-chow, der diesem Theater mit seinen Stücken zum Durchbruch verhalf und es zum legendären Tschechow-Theater werden ließ.Der Stanislawski-Forscher und Übersetzer Dieter Hoffmeier stellte Erinnerungen der beiden Theatergründer zusammen, end-lich nun auf Deutsch. Man er-fährt viel über das damalige kul-turelle und soziale Leben Russ-lands, über das alte Theater mit seinen Schablonen, Grobheiten und Rührseligkeiten. Der Kampf gegen die staatliche Zensur und die orthodoxe Kirche, die Stü-cke von Wilde und Hauptmann verbot, entlarvt verknöchertes Denken, treibt das junge Thea-ter fast in den Bankrott. Er-staunlich modern erscheint vor diesem Hintergrund der ästhe-tische und wirtschaftliche Ent-wurf des neuen Theaters. Dann betritt Tschechow mit seiner Kunst der leisen Halbtöne die Bühne, zwei Jahre nach dem Skandal um sein Stück „Die Möwe“, als er tief verletzt nie mehr für das Theater schreiben wollte. Die Moskauer Premiere der „Möwe“ wird zu einer ner-venaufreibenden Zitterpartie. Stanislawski will vor Angst sei-nen Namen vom Plakat streichen lassen, Tschechows Schwester Maria will die Premiere verhin-dern … und es kommt zum um-jubelten Erfolg, später zur Aus-breitung eines tschechowschen Weltgefühls im Theater. Ge-bannt und oft amüsiert folgt man als Leser dem Geschehen.

Konstantin Stanislawski, Wladimir Nemirowitsch-Dantschenko: „Tschechow oder die Geburt des modernen Theaters“. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Dieter Hoffmeier, Alexander Verlag Berlin, 360 Seiten, 24,99 Euro

Ruth Wyneken

Eine Terminauswahl der Deutsch-Russischen Festtage:

MUSIK8. Juni, 19 Uhr, Eröffnungskonzert mit Pelageya, City, Dirk Zöllner und dem Trio BRAVO+

TANZ 9. Juni, 22 Uhr, Russendisko „Russkij Variant“ – russische Beats für junge Herzen

FILM10. Juni, 14-18 Uhr, 100 Jahre russi-sche Animation, Dokus, Kurzfilme

Die Höhepunkte

Früher, als hier die sowjetischen Streitkräfte stationiert waren, gab es auf der Trabrennbahn Freundschaftsfeste.

USEDOMER MUSIKFESTIVAL 15. SEPTEMBER-7. OKTOBER, USEDOMÜber die Ostsee sind Russland und Deutschland bis heute verbunden. Jahrhundertelang waren sie direkte Nachbarn, und die gemeinsame Ge-schichte ist das Thema des Musik-festivals 2012. Erstmals hat das Fes-tival ein „Orchestra in Residence“ eingeladen: das Akademische Sinfo-nieorchester Nowosibirsk unter der Leitung von Thomas Sanderling. Nach 19 Jahren kehrt auch Kurt Ma-sur zum Festival zurück und dirigiert unter anderem Modest Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“.

usedomer-musikfestival.de ›

ITAR

-TASS

12 www.russland-heute.de Russland Heute

eine Beilage des rossijskaja gaseta Verlags, MoskauFeuilleton

kultur-kalender

konzertMuMij troll15. Juni, Hamburg, Dock’s club

Die Band um Sänger Ilja Lagutenko landet mit dem Schiff „Sedow“ im Hamburger Hafen und rockt den Club: Mumij Troll aus Wladiwostok sind seit zwei Jahrzehnten die innovativste Rockband des Landes. 2009 versuch-ten sie den Durchbruch in den USA mit einem englischsprachigen Album.

docks.de ›

PreisVerleihung des n-ost-rePortagePreises 15. Juni, berlin, grüner salon

Das Journalistennetzwerk n-ost hat es sich zur Aufgabe gemacht, Europas Osten abseits der ausgetretenen Pfa-de zu erkunden. An diesem Abend werden die besten Reportagen des letzten Jahres in den drei Kategorien Text, Radio und Foto vergeben.

n-ost.org ›

konzertBriz/unty Murugana16. Juni, stuttgart, club Zentral

Zwei junge Bands präsentieren sich in Stuttgart: BriZ vereint vier Musiker aus Russland, Kirgistan, England und Syri-en mit russischem Funkrock. Unty Murugana umspielt mit Ethnojazz die Gesänge der stimmgewaltigen Marga-rita Kirchmeier, deren Songs teilweise auf russischen Volksliedern basieren.

club-zentral.de ›

literaturrussland-woche an der uniVersität regensBurg 25.-30. Juni, regensburg

Die Woche umfasst die Teile „Junge russische Literatur“ und „Deutsche in Moskau: 1812“. Dazu gibt es einen Übersetzerworkshop mit Christiane Körner und dem Erzähler Denis Oso-kin. Gezeigt wird der Film „Goldam-mern“ nach Osokins Drehbuch.

uni-regensburg.de ›

erfaHren sie meHr über russiscHe kultur aufrussland-heute.de

lebensläufe im Zarenreich legte Heinrich schliemann den grundstein für seinen reichtum

ManFred Flüggefür russlanD Heute

Vor 140 jahren entdeckte der deutsche abenteurer und archäologe heinrich schliemann das verloren geglaubte troja. seine ausgrabungen finanzierte er durch geschäfte in russland.

Andere träumten von ihrem Glück in Amerika, Heinrich Schliemann machte es in Russland. Sein Weg führte ihn über Amsterdam, wo der Mecklenburger mit 21 Jahren buchstäblich strandete. Angeblich war sein Schiff, das ihn nach Süd-amerika bringen sollte, vor der holländischen Küste zu Bruch ge-gangen. Aber vielleicht kam der Sohn eines protestantischen Pfar-rers auch ganz normal mit der Postkutsche an. Mit der Wahrheit nahm er es nie so genau. Nach drei Hungerjahren erhielt er 1844 eine Anstellung bei B. H. Schröder & Co., einer Firma, die mit Indigo handelte, jenem Farb-stoff, der zum Einfärben von Uni-formen diente und meist aus Asien importiert wurde. Schliemann lernte Englisch und durfte im Korrespondenzbüro arbeiten.

indigo für russlandAls B. H. Schröder & Co. auf dem russischen Markt Fuß fassen woll-te, sah Schliemann seine Chance: Nach eigener Methode lernte er in nur wenigen Wochen so gut Russisch, dass er im Januar 1846 als Firmenvertreter in die dama-lige Hauptstadt Sankt Petersburg geschickt wurde. Sogleich streck-te er seine Fühler aus: Er ver-schaffte sich einen Eindruck von Gesellschaft, politischer Situati-on und Geschäftsmöglichkeiten, sah sich in dem großen Land um und reiste mit dem Pferdeschlit-ten nach Moskau. Schon im Februar 1847 beantragte er die russische Staatsbürgerschaft, gründete seine eigene Firma, wurde als Kaufmann der Zwei-ten Gilde in Sankt Petersburg re-gistriert und eröffnete ein Kontor im großen Handelshof am News-ki-Prospekt. Ein Jahr später hatte er 6000 Silberrubel verdient und konnte sich eine große Wohnung mit Bediensteten leisten.

der weltmann aus dem dorfIndigo war ein vorzügliches Ge-schäft. Die Preise waren stabil, und bis dieser Farbstoff synthe-tisch hergestellt werden konnte, sollten noch Jahrzehnte vergehen. Kaum in Russland etabliert, mach-te Schliemann Reisen durch West-europa, besuchte Hamburg, Lübeck, Paris und London. Er in-formierte sich über technische Fortschritte, neue Maschinen und

Kommunikationsmittel und be-suchte stets die großen Museen der Städte. Diese rastlosen Reisen prägten sein Leben in einer Zeit, in der Eisenbahnstrecken erst ausgebaut wurden und die Dampf-schifffahrt noch in ihren Anfän-gen steckte. Bald handelte Schlie-mann auch mit Salpeter, Holz, Kaffee, Wein und Papier, infor-mierte sich über Goldfunde in Amerika und Australien und führte eine weltweite Korrespon-denz. Der Mann, der aus dem win-zigen Dorf Neubukow stammte, dachte und handelte weltmän-nisch, Basis all seiner Unterneh-mungen blieb Sankt Petersburg.Als Schliemann im Jahr 1864 all seine Geschäfte liquidierte, galt er als einer der reichsten Männer Europas, sein Vermögen betrug an die zehn Millionen Goldmark. Dabei hatte er vor allem vom

Krimkrieg zwischen 1853 und 1856 profitiert. Er lieferte ein Drit-tel des von der zaristischen Armee verschossenen Pulvers sowie das gesamte Indigo, mit dem die Uni-formen eingefärbt wurden. Er war ein erfolgreicher Spekulant, weil er unermüdlich und immer gut informiert war. Und er hatte Glück: Bei einem Brand im Hafen von Memel wurden allein seine Kaffeelieferungen verschont, was den Preis seiner Vorräte ins Un-ermessliche steigerte.

scheidung aus der FernePrivat sah sein Leben weniger glücklich aus. 1852 heiratete er die Kaufmannstochter Jekaterina Lyschina in der Petersburger Isaakskathedrale, die 15 Jahre lang seine Frau blieb und ihm drei Kinder schenkte. Schliemann war eine hektische, getriebene Persön-

lichkeit – seine Frau liebte Kom-fort und Ruhe. Vor allem wollte sie ihre geliebte Heimat nicht ver-lassen, während Schliemann er-wog, nach Dresden oder Paris umzusiedeln.Seit etwa 1860 ließ ihn der Ge-danke nicht mehr los, die Geschäf-te aufzugeben und sein Leben zu verändern. Zudem hatte er immer wieder Streit mit seiner Frau. Ab-lenkung fand er in ausgiebigen Reisen in seine Heimat, in die Ägäis und den Orient. 1861 wurde er auf drei Jahre zum Handels-richter in Sankt Petersburg er-

neubukow, sankt Petersburg, troja

nach nur einem Jahr in russland konnte sich schliemann eine große Wohnung mit bediensteten leisten.

ausgrabungen in troja: 1873 erklärte schliemann, die überreste der antiken stadt gefunden zu haben.

reicher abenteurer: schliemann liebte gold und ruhm. links eine von ihm ausgegrabene mykenische totenmaske, rechts schliemann mit seiner erstern Frau jekaterina aus sank Petersburg

nannt, wohnte jedoch meist in Paris, wo ihm mehrere Häuser ge-hörten. Gleichwohl wurde ihm und seiner Familie in Sankt Pe-tersburg die erbliche Ehrenbür-gerschaft zugestanden, der höchs-te Rang, den ein Nichtadliger in Russland erreichen konnte. Die Lektüre von Iwan Gontscha-rows Reisebuch „Die Fregatte Pal-las“ verstärkte sein Fernweh. Und so machte er 1865 eine Weltreise, die ihn nach China, Japan und Kalifornien führte. Im März 1869 erwarb er in New York die ame-rikanische Staatsbürgerschaft. Ge-kaufte Zeugen beschworen, dass er schon fünf Jahre im Lande lebe, dabei waren es nur wenige Wo-chen. Kurz darauf ließ er sich im Bundesstaat Indiana von seiner russischen Frau (die zu Hause ge-blieben war) scheiden. Wie die meisten seiner Probleme regelte er auch dies mit Geld. Bei seinem letz-ten Besuch in Sankt Petersburg hatte seine Frau ihn verhaften las-sen wollen, aber Schliemann konn-te auf abenteuerliche Weise aus seinem Haus und aus Russland flie-hen. Inzwischen hatte er eine neue Leidenschaft entdeckt: Troja.

deutscher, russe, amerikaner und griecheUm Ausgräber in Kleinasien zu werden, stellte der „Amerikaner“ Schliemann sein ganzes Leben auf den Kopf: Er heiratete die 17-jäh-rige Sophia Engastroménos in Athen, wo er eine fantastische Villa bewohnte. Und er grub den Hügel aus, auf dem vielleicht ein-mal das mythische Troja gelegen hatte (die entsprechenden Infor-mationen hatte er einem engli-schen Gelehrten abgekauft). In dem Maße, in dem er als Troja-Ausgräber weltweiten Ruhm er-warb, verklärte er sein eigenes Leben ins Legendenhafte – das war Schliemanns Paradoxon. Es gehört zu den Pointen dieses erstaunlichen Lebens, das 1890 in Neapel endete, dass die Schätze, die er dank seines in Russland er-worbenen Reichtums ausgraben und nach Deutschland bringen konnte, 1945 in das Puschkin- Museum in Moskau gelangten, was man aber erst seit wenigen Jahren weiß. Nun wird darüber verhandelt, ob und wie die Troja-Schätze wieder nach Berlin zu-rückkehren können. Aber das ist eine andere deutsch-russische Geschichte.

Manfred Flügge lebt als Schriftsteller in Berlin. Er schrieb mehrere Romane, Theaterstücke und Biografien, darunter eine über Heinrich Schliemann.

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13Russland Heute www.russland-heute.de

eine Beilage des rossijskaja gaseta Verlags, Moskau Meinung

Russland Heute: Die deutsche Ausgabe von Russland Heute erscheint als Beilage in der Süddeutschen Zeitung. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond the Headlines, Moskau, verantwortlich. Rossijskaja Gaseta Verlag, ul. Prawdy 24 Str. 4, 125993 Moskau, Russische Föderation tel. +7 495 775-3114 Fax +7 495 988-9213 e-mail [email protected]

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der ulenspiegel

ZeitZeuge

Auch wer den USA kritisch gegenübersteht: Irgend- etwas an Amerika liebt

jeder. Seien es Elvis oder Bruce Springsteen, Charlie Chaplin oder Raumschiff Enterprise. Wer Micky Maus verachtet, schätzt vielleicht Fritz the Cat. Die Po-pulärkultur war immer die beste Botschafterin der USA. Der Imagegewinn, den die Pop-industrie liefert, kann gar nicht hoch genug veranschlagt wer-den. Massenkultur erreicht viele, Hochkultur nur wenige. Natür-lich schmiedet kein Außenpoli-tiker seine Allianzen auf der Grundlage von Popsongs, aber die Sympathie, die ein Land ge-nießt, macht es ihm leichter, seine Meinung zu vertreten.Da hat es Russland schwer: Tols-toi, Dostojewski oder „Schwa-nensee“ sind so sehr Hochkul-tur, dass sich viele nicht heran-trauen. Leichtere Kost ist den meisten Deutschen unbekannt, abgesehen von Unterhaltungs-künstlern wie dem Clown Oleg Popow. Botschafterinnen des Pop waren auch die Gören von t.A.T.u. Nicht, weil ihre Musik so bemerkenswert wäre. Aber sie haben ein Klischee gebro-chen: Punkige Pseudolesben aus Moskau erwartet man nicht. Schon eher Kosakenchöre oder Operndiven. Apropos Operndi-ven: Auch Anna Netrebko wird man ohne Weiteres als eine Bot-schafterin des Pop bezeichnen können. Weitere Beispiele fallen mir lei-der nicht ein – dabei gibt es in Russland mehr Popkultur, als die meisten ahnen. Russische Bands touren durchs Land und spielen vor Emigranten. Sowje-tische Trickfilme brauchen den Vergleich mit Disney nicht zu scheuen, das DDR-Fernsehen hat vieles synchronisiert.Und umgekehrt? Welche Bot-schafter des Pop vertreten die deutsche Kultur in Russland? Goethe, Hegel und die „Gold-berg-Variationen“? Da wären auch noch die Wiedergänger von Trash-Kultbands wie Boney M. oder Dschingis Khan. Thomas Anders, in Deutschland zurecht vergessene Hälfte von Modern Talking, erlebt in Moskau sei-nen dritten oder vierten Früh-ling und singt ab und zu für Oli-garchen. Wohlmeinende Eltern Deutsch lernender Kinder emp-fehlen die Texte von Rammstein. Der Imagegewinn, den die Popindustrie liefert, kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden.

Der Autor ist Experte für rus-sisch-deutsche Spiegelungen.

reflektiert

Die Botschaft der Popkultur

medwedjews kArussell

wAs sich die wirtschAft vom deutschlAndjAhr erwArtet

wären wir im Jahr 2008 und nicht 2012 – und wäre Dmitri Medwedjew zum

Premierminister ernannt worden, ohne zuvor Präsident gewesen zu sein –, hätte seine neue Regierung vermutlich einen besseren Ein-druck hinterlassen. Man mag ein-wenden, dass die neue Regierung ohne das Putin-Gespann Igor Setschin und Wiktor Subkow zum Liberalen tendiert. Selbst Igor Schuwalow, der einzige Vizepre-mier aus der alten Regierung, der sich die Verbesserung des Inves-titionsklimas auf die Fahnen ge-schrieben hat, gilt als liberaler Vordenker.Medwedjews Präsidentenagenda machte den Bürgern Hoffnung, dass politische Veränderungen, Reformen, Modernisierung und das Ende der Korruption anstün-den – durch neue Gesichter in der Verwaltung. Diese Hoffnungen konnte er während seiner vier Jahre als Präsident nicht erfül-len. Deshalb gibt auch Medwed-jews von Putin genehmigte Re-gierung wenig Grund zur Hoff-nung: Wunder erwartet von dieser Regierung niemand, und selbst das Wörtchen Modernisierung ist aus der Mode gekommen.Als Medwedjew im Mai sein Ka-binett vorstellte, betonte er, dass drei Viertel der Posten neu be-setzt wurden. Formal hat er recht, inhaltlich sind alle Beamte, von drei Positionen einmal abgesehen, entweder frühere Vizeminister oder Leute vom Kreml.

unter dem Motto „Deutsch-land und Russland – ge-meinsam die Zukunft

gestalten“ findet von Juni 2012 bis Juni 2013 ein Deutschlandjahr in Russland statt, das die Bundes-republik mit ihrer internatio- nal renommierten Kultur und einer leistungsfähigen und zu-kunftsorientierten Wirtschaft präsentiert. Die deutsche Wirtschaft wird ihr Engagement insbesondere den ur-banen Herausforderungen wid-men und sich auf das Thema „Fu-ture Solutions“ konzentrieren: Zunehmende Herausforderungen durch Urbanisierung, Klima- und demografischen Wandel zwingen

georgi Bowt

Politologe

rainer lindnerost-ausschuss Der

Deutschen wirtschaft

Unter den Ministern, die unmit-telbar dem Präsidenten unterste-hen, gibt es nur wenige neue Gesichter. So ersetzte der Ex- polizeichef Moskaus Wladimir Kolokoltsew den in Ungnade ge-fallenen Innenminister Rasсhid Nurgalijew. Anatolij Serdjukow, der nicht weniger unbeliebte Ver-teidigungsminister, behielt jedoch seinen Posten, weil Putin ihn für den besten Kandidaten hält, um die Armee neu auszurüsten und zu modernisieren.

Viele Bürger sind begeistert, dass die neue Gesundheitsminis-terin Weronika Skwortsowa eine Medizinerin in fünfter Genera-tion ist – im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin Tatjana Golikowa. Skwortsowa war jedoch ihre Stell-vertreterin, und somit dürfte sie den eingeschlagenen Kurs beibe-halten. Die Ablösung der Land-wirtschaftsministerin Jelena Skrynnik erscheint ebenfalls sus-pekt: Sie hat gute Arbeit geleis-tet, die russische Landwirtschaft boomt. Skrynnik ist eine starke Persönlichkeit und scheute nicht vor offenen Worten zurück, selbst nicht gegenüber Putin. Offensicht- lich hatte Medwedjew für eine solche Person in seinem Kabinett keinen Platz. Professionalität hat in den Regierungen Russlands ge-genüber Gehorsam häufig das Nachsehen.

Putin bestand darauf, dass der Fi-nanzminister Anton Siluanow, der vor Kurzem Alexej Kudrin auf diesem Posten ersetzte, diese Po-sition auch beibehält. Somit wird dieses Ministerium unter stren-gen Staatsfittichen stehen. Der ehemalige Präsidentenberater für Wirtschaft, Arkadi Dworkowitsch, ist Vizepremier geworden. Doch wird er in dieser Rolle erreichen können, was er auf seinem frühe-ren Posten vergeblich versucht hat? Und hat sich das Investiti-onsklima in Russland in den letz-ten vier Jahren, in denen Schu-walow als Vizepremier im Amt war, tatsächlich verbessert?Der neue Minister für Wirtschafts-entwicklung Andrej Beloussow war auch schon vorher im Minis-terium und legte zum Teil pro-gressive Wirtschaftsideen vor. Sein Manko ist nur, dass keine von ihnen umgesetzt wurde.Vielleicht finden diese neuen Ideen ihren Ausdruck in Medwedjews „transparenter“ Innenpolitik. Falls nicht, würden sie das Volk bei Laune halten, jetzt, wo es ein eigenes Ministerium für transpa-rente Politik – offiziell „offene Re-gierung“ – gibt. Das heißt wohl, dass der Regierungs-PR nun deut-lich mehr Aufmerksamkeit ge-schenkt wird als vorher. PR hin oder her, am Ende ist klar, dass die wichtigen Entscheidungen wei-terhin von Putin und seiner Mann-schaft getroffen werden, und nicht in Medwedjews Kabinett.

Georgi Bowt ist Politologe und schreibt für The Moscow Times, wo die ungekürzte Fassung die-ses Beitrags erschien.

Metropolen dazu, ihre Infrastruk-turen leistungsfähiger zu machen. Wichtige Elemente sind hier nachhaltige Lösungen für Gebäu-de, Energie- und Wasserversor-gung, Verkehr, Sicherheit und Ge-sundheitswesen. Gefragt sind aber auch Lösungen sozialer Themen, wie die Folgen des demografischen Wandels oder soziale Transforma-tionsprozesse durch Migration und Mobilität.Gerade Russland steht hier vor enormen Herausforderungen, die nicht zuletzt dem innovativen deutschen Mittelstand neue Ge-schäftsfelder eröffnen. Geografische Schwerpunkte des Deutschlandjahres werden neben den beiden Zentren Moskau und Sankt Petersburg auch die auf-strebenden regionalen Wirt-schaftszentren Jekaterinburg und

Nowosibirsk sein. Darüber hin-aus finden in ganz Russland Ver-anstaltungen statt, die sich an alle Bevölkerungsschichten richten. Das Deutschlandjahr wird Mitte Juni eröffnet. Kulturelle Höhe-

punkte sind dabei die Installati-on eines aus 1023 Puzzleteilen bestehenden Selbstporträts von Albrecht Dürer auf dem Roten Platz und die Eröffnung der groß angelegten Ausstellung „1000

Jahre Deutsche und Russen ge-meinsam“ im Historischen Muse-um in Moskau. Die Ausstellung zeigt eindrucksvoll die lange ge-meinsame Geschichte beider Län-der, die von enger Zusammenar-beit, aber immer wieder auch von Zerwürfnissen geprägt ist. Heute nennen Russen, wenn man sie nach dem wichtigsten ausländischen Partner fragt, an erster Stelle Deutschland – trotz zweier Welt-kriege und eines Kalten Krieges, die die Beziehungen über Jahr-zehnte belasteten.Das im Juni mit deutscher Betei-ligung anstehende St. Petersburg International Economic Forum, das zeitgleich beginnende Deutsch-landjahr in Russland und das Russlandjahr in Deutschland sind gute Anlässe für vertiefte deutsch-russische Debatten und natürlich neue Freundschaften.

Prof. Dr. Rainer Lindner ist Geschäftsführer des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft.

letzten endes ist klar, dass die entscheidungen weiterhin von Putin und seiner Mannschaft getroffen werden.

schwerpunkte des Deutschlandjahres werden auch die aufstrebenden regionalen wirtschaftszentren sein.

gastBeitrag

14 www.russland-heute.de Russland Heute

eine Beilage des rossijskaja gaseta Verlags, Moskau

Mit vier Masten und hundert leichtmatrosen um die welt

reisen

geschichte Die „Sedow“ umrundet die Welt und verkündet dabei die gute Nachricht von der russischen Staatlichkeit

Pauline tillMannfür ruSSlaND Heute

einst hieß sie „Magdalene Vinnen ii“ und fuhr unter deutscher Flagge. dann kam der krieg. heute sind deutsche als aktive Passagiere auf der „sedow“ gern gesehen.

Es ist später Samstagabend, als die „Sedow“ an diesem 19. Mai lang-sam zwischen dem Englischen und dem Leutnant-Schmidt-Kai hin-ausmanövriert. Am Ufer stehen mehrere Hundert Petersburger und winken dem Schiff mit den mar-kanten vier roten Masten hinter-her: 14 Monate lang wird die „Sedow“, das mit 118 Metern Länge zweitgrößte Segelschiff, nun um die Welt segeln und dabei 45 000 Seemeilen, also etwa 83 000 Kilo-meter zurücklegen. Zum Auslau-fen spielt ein Orchester russische Märsche, der Petersburger Gou-verneur Georgi Poltawschenko wünscht den Seeleuten traditionell „Sieben Fuß unter dem Kiel!“.Die „Sedow“ wird weitgehend die Route wiederholen, die Adam Jo-hann Baron von Krusenstern 1803 bei der ersten Weltumrundung unter russischer Flagge einschlug: über Kiel und Casablanca nach Brasilien, dann ins chilenische Val-paraiso und von dort nach Wladi-wostok. Über Shanghai und Mau-ritius geht es um das Kap der guten Hoffnung wieder zurück nach Sankt Petersburg. Nur die ameri-kanischen Häfen darf das Schiff nicht anlaufen, weil es einen un-geklärten Eigentumsstreit mit den Amerikanern gibt – das Schiff könnte konfisziert werden.

disziplin statt heimwehDas würde gar nicht passen zum historischen Hintergrund, dem die Weltumseglung gewidmet ist: 1150 Jahre ist es her, dass die Kiewer Rus gegründet wurde, der Vorläu-ferstaat des heutigen Russlands. Die „Sedow“ soll also die Botschaft von der russischen Staatlichkeit in die Welt tragen.Einige Tage zuvor kann man die Matrosen dabei beobachten, wie sie den Boden schleifen, die Fassade streichen und die bronzefarbenen Haltegriffe schmirgeln. Einer von ihnen ist der 18-jährige Stepan Gre-kow. Er ist im zweiten Semester und mit einigen Studienkollegen insgesamt drei Monate an Bord. „Ich liebe das Meer“, sagt er. Ob-wohl ihn das Heimweh plagt, hat er immer davon geträumt, zur See

lich so weit sei, müsse man am Ball bleiben. Das halte einen fit. Genau-so wie die Studenten, die das Se-gelschiff bevölkern. An Bord ist neben 100 Matrosen dieses Mal auch eine bekannte rus-sische Rockgruppe: Mumij Troll haben ihren Spielplan für einige Wochen der Reiseroute angepasst und werden während der Fahrt ein neues Album aufnehmen. Schon im vergangenen Jahr hat die Band aus Wladiwostok Konzerte auf Schiffen gegeben und sieht die Ex-pedition nun als logische Fortset-zung. Die Vorliebe fürs Meer schlägt sich auch in vielen ihrer Lieder nie- der. „Dass diese Band mitkommt, ist ein besonderer Glücksfall“, sagt Kapitän Nikolai Soroschenko.

rocker an Bord!Die wechselhafte Geschichte der „Sedow“ zieht aber nicht nur Mumij Troll, sondern auch soge-nannte „Trainees“ an. Menschen, die ausprobieren wollen, wie es ist, mit so einem traditionsreichen Segelschiff in See zu stechen. Die meisten kommen aus Deutschland. „Einige haben daraus eine Tra-dition gemacht und fahren bei uns seit 20 Jahren mit“, erklärt der Kapitän. Sie genießen wohl vor allem die Gemeinschaft und nicht selten auch die Disziplin. „Es muss an Bord diszipliniert zu-gehen, ansonsten würde das to-tale Chaos ausbrechen“, meint der Student Stepan Grekow. Aber hart sei es auch. Vor allem, wenn er morgens um sechs Uhr aufstehen und die Wache am Steuerruder übernehmen soll. Sein Vater war Steuermann und hat ihn schon früh für das Meer begeistern kön-nen. Heute sagt Stepan: „Wasser ist mein Element. Im und auf dem Wasser fühle ich mich wohler als an Land.“ Nach drei intensiven Monaten auf der „Sedow“ geht es für ihn mit dem Flugzeug von Casablanca nach Moskau und dann weiter mit dem Zug Richtung Murmansk, zurück zur Familie.

117,5 Meterlang ist die „Sedow“ und damit weltweit die Nr. 2.

240 MannBesatzung finden Platz auf der „Sedow“.

18 knoten,etwa 33 km/h, fährt sie unter vollen Segeln.

zahlen

junge kadetten auf dem segelschulschiff „sedow“ 118 Meter misst die „sedow“ und ist damit ... ... das zweitlängste segelschiff der welt.

deutsches schiff unter russischer Flagge

Die „Sedow“ lief 1921 auf der Kieler Germaniawerft vom Stapel, damals unter dem Namen „Magdalene Vin-nen II“. In den folgenden Jahren war der Viermaster vor allem als Fracht-schiff unterwegs, ab 1936 unter dem Namen „Kommodore Johnsen“. 1937 entging sie in schwerer See vor den Azoren nur knapp dem Untergang. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging das Schiff als Teil der deutschen Reparati-onszahlungen an die Sowjetunion und wurde 1946 in Gedenken an den russi-schen Polarforscher Georgi Sedow umbenannt. Von 1967 bis 1982 fuhr die „Sedow“ nicht mehr aufs Meer

und verfiel. Erst Anfang der 1980er-Jahre wurde sie generalüberholt und konnte schon 1982 zum 793. Hambur-ger Hafengeburtstag in der Hanse-stadt einlaufen: Bei dieser Gelegen-heit besuchte der ehemalige Kapitän Gottfried Clausen das Schiff und wur-de trotz aller damaliger politischer Zerwürfnisse von Kapitän Prewozt-schikow herzlich empfangen. Heute gehört die „Sedow“ der Technischen Universität Murmansk und dient als Schulschiff, auf dem junge Matrosen und Kadetten ausgebildet werden. Interessierte können als aktiver Teil der Besatzung mitsegeln.

Das „schwimmende Museum“ ist auch in Deutschland zu Gast, unter ande-rem am 16. Juni bei der Kieler Woche. Und das Beste: Auch Touristen können auf der „Sedow“ mitsegeln – als akti-ve Mitglieder. Freie Plätze gibt es un-ter anderem noch für die Strecke Brest-Casablanca (920 Euro) und Val-paraiso-Callao (1010 Euro).Mehr Infor-mationen sind auf der deutschsprachi-gen Seite zu finden:www.sts-sedov.info

inFo

Dabei sein!

zu fahren: „Ich muss mich daran gewöhnen, damit es später nicht mehr so schlimm ist.“ Schließlich will er einmal Kapitän werden.

So wie Nikolai Sorschenko. Fast sein ganzes Leben ist er nun schon auf See – und seit einein-halb Jahren Kapitän der „Sedow“. Mit einem anderen

Schiff hat er bereits zwei-mal die Welt umrundet.

Diese Erfahrungen wird er in den nächsten 426 Tagen an Bord einbringen. Was nach einer langen Zeit

klingt, sieht Kapitän Soroschenko nüchtern.

„Emotionen habe ich schon seit 20 Jahren nicht mehr“, erklärt er. Wenn er auf See

sei, habe das wenig mit Ge-fühl, sondern eher mit Arbeit

zu tun. Man müsse jahrelang hart arbeiten, um Kapitän zu

werden. Und wenn es schließ-

wann war ihnen klar, dass sie kapitän werden wollen? Ich wusste schon als Jugendlicher, dass ich zur See fahren möchte. Aber ich wuchs in der Nähe von Nowosi-birsk auf, wo es kein Meer gibt. Also ging ich nach Wladiwostok und habe dort meinen Marineabschluss ge-macht. Danach war ich 20 Jahre lang Kapitän des Segelschiffs „Pallada“.

was ist für sie der emotionals-te Moment bei der seefahrt?Wenn man in einen Hafen einläuft und wenn man ausläuft. Wenn man

einläuft und die Familie auf einen wartet, dann dominiert Erleichterung. Ebenso freut man sich, wenn man ein neues Abenteuer vor sich hat.

gibt es auch seefrauen? Das Leben auf See ist nichts für Frau-en: Sie können das physisch nicht leis-ten, es ist ungeheuer anstrengend. In der Natur der Frau liegt es, sich um Kinder zu kümmern und das Haus zu hüten. Deshalb gibt es auf dem Schiff kaum Frauen. In der Küche stehen zwei Männer und eine Frau. Rund um die Uhr kochen sie, Tag für Tag.

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Kapitän Nikolai Sorschenko

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Verweile doch, du bist so schönSankt Petersburg Nicht ganz legal, aber sehr beeindruckend: eine Führung über den Dächern der Stadt

PAULINE TILLMANNFÜR RUSSLAND HEUTE

Während der Weißen Nächte im Juni bevölkern Scharen von Touristen die Straßen Sankt Petersburgs. Aber einige stehen drüber – und schauen sich die Stadt von den Dächern aus an.

Dima geht voraus. Leise führt er die Gruppe durch einen Hinter-hof. Vor der Tür angekommen, zieht er vorsichtig einen Schlüs-sel aus seiner rechten Hosenta-sche. Die sechs, die ihm folgen, werfen sich verschwörerische Bli-cke zu. Ein Fiepen, die Tür klickt auf, die Gruppe schleicht durchs Treppenhaus. Die Handytaschen-lampe beleuchtet den Weg über Holzbalken zu einer Fensterluke. Dann ist es geschafft: Es öffnet sich ein fantastischer Blick auf die Dächer von Sankt Petersburg.Offiziell gibt es die Dächertouren für Touristen nicht, geschweige denn, sie wären von der Stadt ge-

nehmigt. Man klettert auf eigene Gefahr und trägt damit auch das Risiko, falls etwas passieren soll-te. Bislang ist der Anführer der Gruppe, Dimitri Miroslawski – kurz Dima – aber immer davon-gekommen. Keine Verwarnung, kein Bußgeld, kein Unfall. In die-sem Jahr hat er schon mehr als 300 Menschen Sankt Petersburg von oben gezeigt.Damit angefangen hat Dima im Sommer 2011, Dächer haben schon seit seiner Kindheit eine große Faszination auf ihn ausgeübt. Zum Studium kam er aus Kasan nach Sankt Petersburg, weil er die Schönheit der Stadt bewunderte. Heute bekräftigt der 23-Jährige: „Von oben sieht alles sogar noch schöner aus!“ Auf den ersten Blick wirkt Dima wie ein schmächtiger Schuljunge, doch unter seiner be-scheidenen Erscheinung versteckt sich eine gute Portion Selbstbe-wusstsein. Kein Wunder, schließ-lich turnt Dima mit traumwand-

lerischer Sicherheit über die Dä-cher. Und fühlt sich frei.So geht es auch Anastasia Niki-tina. Die 21-Jährige studiert Me-dizintechnik in Moskau und reist mindestens einmal im Jahr in die „Stadt ihrer Träume“. Mit ihrer Freundin Olga hat sie sich Dima angeschlossen, den Kontakt zu ihm knüpfte sie auf Vkontakte, dem russischen Facebook-Pen-dant. Anastasia nutzt die unge-wohnte Aussicht für Fotos. Es stört sie gar nicht, dass fast alle Dächer mit Rost überzogen sind: „Das ist ein morbider Anblick, klar. Aber gleichzeitig sieht man die golde-nen Kuppeln der Kirchen. Die Gegensätze gefallen mir!“

Der zusätzliche KickDas erste Dach der Gruppe liegt im Stadtzentrum an der Fontan-ka. Direkt gegenüber be� ndet sich der Zirkus, in der Ferne erkennt man die Isaakskathedrale, rechts schweift der Blick über das apri-

cotfarbene Michael-Schloss. Es ist windig, deshalb trauen sich die beiden Moskauerinnen nicht an den Rand des Daches. Angst habe sie keine, aber man müsse aufpas-sen, nicht weggeweht zu werden, meint Anastasia lächelnd und fügt hinzu: „Dass wir hier heimlich sind, gibt einen zusätzlichen Kick.“ Am schönsten ist es – da sind sich alle einig –, wenn man einfach nur dasitzt und die At-mosphäre auf sich wirken lässt. „Während der Weißen Nächte strahlt die Stadt eine ganz beson-dere Ruhe aus“, erklärt Dima, „und dieses Gefühl, wenn man von hoch oben auf das glitzernde Wasser blickt, ist kaum in Worte zu fassen.“ Die Weißen Nächte, also Mitte Juni bis Mitte Juli, sind die beste Zeit für Dima – da hört sein Handy gar nicht mehr auf zu klingeln. Die größte Gruppe, die er je auf ein Dach geführt hat, bestand aus 30 Touristen, darunter Schüler,

Studenten und eine Familie mit Kindern. Normalerweise nehmen an einer Tour sechs bis acht teil. Heute ist eine junge Frau dabei, die Geburtstag hat und in ihrer Hand fünf bunte Luftballons hält. Der Wind zerrt an ihnen, als ver-suche er, sie ihr zu entreißen. Aber sie schlägt sich tapfer. Genauso wie Anastasia Nikitina und ihre Begleiterin: „Es ist kalt“, sagt sie, „und meine Finger schmerzen. Aber ich fühle mich frei, so frei wie ein Vogel. Das ist der Wahn-sinn! Und die Stadt sieht von hier oben völlig anders aus, der Blick ist unverstellt!“

Von Sushi zu DächertourenFrüher hatte Dima in einem Sushirestaurant einen Studenten-job und mixte Cocktails. Seit Mai widmet er sich ausschließlich den Dächertouren. Pro Person ver-langt er 500 Rubel, umgerechnet 13 Euro, da käme schon etwas zu-sammen, dabei verlange er weni-ger als andere. Tagsüber streift Dima zu Fuß durchs Zentrum und sucht nach neuen Objekten. Wenn er ein geeignetes Dach gefunden hat, versucht er, es irgendwie zu erklimmen. Und wenn ihm dann noch die Aussicht gefällt, lässt er sich den Eingangsschlüssel nach-machen. Schwarz natürlich. Bis-lang hat es immer geklappt. Auch dieses Mal ist er ohne Verwarnung davongekommen, ringsum strah-lende Gesichter. Zum Abschied sagt die 21-jährige Anastasia: „Ich komme ganz bestimmt wieder zu den Weißen Nächten im nächsten Jahr – und lasse die Stadt vom Dach aus auf mich wirken.“ Frei nach Goethes Faust: Augenblick verweile doch, du bist so schön!

Pauline Tillmann berichtet als freie Journalistin aus Sankt Petersburg.Sankt Petersburg von oben In Moskau wird ihnen das keiner glauben: Anastasia und Olga.

Anreise Direktflüge gibt es u. a. ab München, Stuttgart und Berlin – oder man nimmt die Fähre

ab Lübeck (www.finnlines.com).

UnterkunftMondän und zentral – Grand Hotel Europe (www.grandho-teleurope.com). Ansonsten

wimmelt es von günstigen Hostels.

Essen & Trinken Für Heimatverbundene – das Schwabski Domik (Schwäbi-sches Häuschen, www.

schwabski.ru), köstliche russische Pi-roggen bei „Stolle“ (www.stolle.ru).

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EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAUPorträt

Thema des Monats – Die Russlanddeutschen 4. Juli 2012Warum sie für Russen „Deutsche“ und für Deutsche „Russen“ sind

Süße Klänge aus dem Steak HouseMusik Vier Newcomer aus Moskau singen als Pompeya für die russische Generation Golf über Liebe

ALEXEJ KNELZRUSSLAND HEUTE

Ihre Lieder sind in englischer Sprache, ihre Videos geben Rätsel auf. Pompeya erobert damit ein junges, hippes Publikum, das auf der Suche nach sich selbst ist.

Es ist ziemlich kühl im Gorki-Park an diesem Tag im Mai: Newco-mer-Bands aus ganz Russland ste-hen auf der Bühne neben dem Fluss Moskwa, um auf dem Rock-festival im Herzen Moskaus end-lich mal vor einem breiteren Pub-likum zu spielen. Doch es ist zu kalt. Gerade einmal 300 Zuschau-er tummeln sich auf dem Rasen.Die vier jungen Musiker von Pom-peya sind als Letzte dran. Daniil Brod (Leadgitarre, Gesang), Denis Agafonow (Bass), Sascha Lipski (Keyboard) und Nairi Simonian (Drums), alle Mitte 20, betreten lässig die Bühne. Bei den 300 Zu-hörern kommt Jubel auf: Denn seit Pompeya im letzten Jahr ihr erstes Album „Tropical“ kosten-los ins Internet stellte‚ sind sie ei-gentlich keine wirklichen New-comer mehr, sondern landesweit bekannt.

Style: Hipster, Moskauer TypIhr Auftreten: cooles Laissez-fai-re. Der hagere Lipski schlendert gemächlich zum Keyboard, ohne sich groß umzuschauen, der kräf-tigere Simonian setzt sich gelas-sen an die Drums, der lange Aga-fonow taucht aus dem Backstage-Bereich mit umgehängtem Bass auf, der unrasierte Brod steht im Parka da, die blonden Haare hän-gen ihm ins Gesicht. „Könnte man mich vielleicht auf dem großen Fernseher da zeigen?“, bittet er höflich. Die gigantische LED-Wand hinter den Musikern leuch-tet auf – Brod in Großaufnahme. Die Musiker legen los mit „Slow“, einer basslastigen New-Wave-Nummer vom aktuellen Album „Foursome“.

Seele russisch, Texte englisch Ihre Musik ist so, wie man sie von einer russischen Band nicht er-warten würde: die Texte sind auf Englisch, der Sound lieblich, süß-lich, locker, mit viel Bass und ho-hem Ohrwurmpotenzial. „In unseren Liedern geht es um Liebe und Einsamkeit, um das Auf und Ab im Leben, um die Schön-heit und das Schreckliche in unserem Alltag und um die ge-fühlvolle Seele, die in dieser Welt leidet“, erklärt Daniil Brod, des-sen einfühlsamer Bariton unter die Haut geht. „Put the lights on / This is my home / Place, where I own / Memories of you, dear“, heißt es im Refrain des Ohrwurms „90“, in dem eine verlorene Liebe besungen wird und den die hip-pen Moskauer im Gorki-Park gleich mitsingen. Es ist die neue russische Genera-tion Golf, die in Pompeya endlich

Die Band

Pompeya – das sind (v. l. n. r.) Nairi Simonian (Drums), Denis Agafonow (Bass), Sascha Lipski (Keyboard) und Daniil Brod (Leadgitarre, Gesang).

PROFIL

NAME: POMPEYA

GEGRÜNDET: 2006

MUSIKSTIL: STEAK HOUSE

Die AlbenIhr erstes Machwerk „Tropical“ spiel-ten Pompeya in einem Moskauer Stu-dio ein. Für das neue Album „Four-some“ reisten sie für vier Wochen nach Los Angeles. Beide Platten stel-len die Musiker im Internet kostenlos zum Download zur Verfügung.

Hören und herunterladen aufwww.russland-heute.de

vom deutschen: enge, gern bunte Jeans, 80er-Jahre-Turnschuhe, dekadente Oberteile, modische Sonnenbrille. Doch es ist nicht das Hippe und auch nicht das Modische, was die vier Jungs ansprechen, sondern eher das Altbekannte: „Ihre Musik ist wie die Liebe“, heißt der Kom-mentar zu einem der immer ex-travaganten Pompeya-Musikvi-deos auf YouTube. „Ja, absolut zauberhaft, geht direkt unter die Haut“, stimmt ein anderer zu, „was ist das für Musik, was sind ihre Wurzeln?“

„Von allem ein wenig: Jeder von uns wirkt an den Songs mit und jeder bringt sein eigenes musika-lisches Gepäck mit“, sagt Band-gründer Nairi Simonian nach dem Konzert im Backstage-Zelt zu Bier und Crackern. Das musikalische Gerüst kreieren sie gemeinsam beim Proben, den Gesang und die Texte steuert Brod bei, der sich von der russischen Rock-Ikone Wiktor Zoj und der US-Band Fos-ter the People inspiriert sieht. Sascha Lipski, der hagere Key-boarder, spielte vor Pompeya tief-schwarzen Funk. „Den puren

Funk will heute aber niemand mehr hören, irgendwann hatte ich selbst genug und wollte Neues aus-probieren.“ Die Ein� üsse � icht er elegant in die Pompeya-Musik ein: melodische Keyboard-Passagen zu rabenschwarzen Beats und prä-zisen Riffs, wie sie auf „The Wall“ von Pink Floyd zu hören sind. Mit der eigenen Zuordnung tun sich die vier Jungs schwer: „New Wave, Indie Pop, Girlie Rock oder House – Musikjournalisten wol-len uns immer in irgendein Genre stecken. Am häu� gsten verglei-chen sie uns mit The Cure. Aber ist das denn so wichtig?“, philo-sophiert Brod. „Wir sind vier In-dividuen, und jeder von uns trägt seine Energie und Liebe bei“, sagt er. „Und was hinten rauskommt, das ist Pompeya.“ Also erfand er einen eigenen Begriff: „Wir sagen einfach, wir spielen Steak House, dann haben alle ihre Ruhe.“

Kostenlose Vermarktung„Heute ist es sinnlos, Geld durch Plattenverkauf verdienen zu wol-len“, erklärt Simonian: „Der Erste, der das Album kauft, stellt es so-fort ins Netz, damit es die ande-ren kostenlos herunterladen kön-nen.“ Die vier Musiker folgen dem Konzept der 1950er, als die Bands

ihre Brötchen über Live-Konzer-te verdienten. Sie stellten ihr ers-tes Album „Tropical“, das sie auf eigene Rechnung einspielten, kos-tenlos ins Netz und machten damit Werbung für sich.„Drei Monate haben wir gebrü-tet!“, erinnert sich Bassist Denis Agafonow, „immer und immer wieder spielten wir alles neu ein, damit es perfekt ist. Dadurch ist der Sound ein wenig geleckt.“ Nicht so ihr neuestes Album „Foursome“, das sie Anfang April in Moskau vorstellten: „Wir waren weniger perfektionistisch. Das Album klingt nun rauer, kanti-ger, aber gleichzeitig erwachse-ner“, sagt Agafonow. Die Platte spielten sie in vier Wo-chen ein – in Los Angeles. Und boten sie wieder kostenfrei zum Download an: „Wir wollen eine große Fangemeinde aufbauen, die auf unsere Konzerte geht. Nur so kann man heute als Musiker noch erfolgreich sein“, erklärt Band-Manager Valentin.Das haben sie schon erreicht. Keine Stunde später, beim Raus-schmeißer „Power“, steigen beim langgezogenen „Ooooh!“ im Gor-ki-Park trotz Kälte 3000 Leute ein, die Augen leuchtend, die Ge-sichter jung, freundlich und offen – eine neue Generation, die eine neue Generation hört.

ihre ideale Band gefunden hat, fernab von Dramatik, hartem Beat oder politischen Texten, eine Ge-neration, die lieber auf süßlich-melancholische Soft-Pop-Klänge tanzt. „Vorsicht“, warnte Brod jüngst ironisch in einem Interview, „auf unsere Konzerte kommen ausschließlich Hipster, wenn ein Nicht-Hipster erscheint, wird er kontaminiert.“ Tatsächlich ist die Klientel auf dem zu Matsch getanzten Rasen zwischen 18 und maximal 25 Jah-ren alt. Der typische Moskauer Hipster unterscheidet sich kaum

Leadsänger Brod istinspiriert von der russischen Rock-Ikone Wiktor Zoj und der US-Band Foster the People.

Die vier jungen Musiker aus Mos-kau kommen aus der neuen rus-sischen Mittelschicht und singen auf Englisch zu süß-melancholi-schen Klängen – einer Mischung aus den Stilrichtungen Pop und New Wave, die sie selber „Steak House“ tauften. In ihren Songs geht es um die einfachen Dinge des Lebens.

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