S. 20 JF 46-15 Forum

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7/24/2019 S. 20 JF 46-15 Forum http://slidepdf.com/reader/full/s-20-jf-46-15-forum 1/1 20 | F O R U M G ut drei Viertel aller im letzten Jahrhun- dert weltweit geführ- ten Kriege waren kei- ne Staaten-, sondern innerstaatliche oder transnationale Kriege. Der klassische Krieg zwischen Staaten ist die Ausnah- me, nicht die Regel. Wo die drei Elemen- te des Staates – Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt – erodieren, werden nicht nur der Territorialstaat, sondern auch die trinitarischen Grundlagen des zwischenstaatlichen Kriegsbegriffes von Clausewitz – Regierung, Heer und Volk – erschüttert. Die neue Trinität könnte lauten: Individualisierung, Kommer- zialisierung, „Sudden Death“. Dazu mannigfaltige Formen unterhalb des gewohnten Bildes des Krieges, die aber kriegsähnliche Folgen haben können. Der „Sudden Death“ ist die konse- quenteste, zynischste Form der Ächtung des Krieges. Hier findet kein Krieg, ei- ne agonale oder auch asymmetrische bewaffnete Auseinandersetzung statt, in der jene gewisse Wechselseitigkeit, die Chance zur Antwort in Form einer Gegenreaktion, vorliegt. Das Flächen- bombardement, das Selbstmordattentat auf zivile Ziele, die Eliminierung durch Drohnen- und Geheimdienst-Aktionen sind reine Vernichtung. Die Botschaft: Fürchte dich ständig, denn in keinem Raum zu keiner Zeit wirst du sicher sein. Kommerzialisierung meint hingegen in erster Linie den Einsatz global mo- biler Söldnerunternehmen. So kämpfen beispielsweise Academi- und Blackwa- ter-Söldner gegen die Separatisten in der Ost-Ukraine. Ein Konflikt, der in manchen westlichen Medien gern le- diglich als „zwischenstaatlicher Krieg“ inszeniert wird. Mit einem praktischen Vorteil: Während Regierungen im besten Falle ihrem Parlament verantwortlich sind, sind private Firmen dies nur ge- genüber ihren Aktionären. Es sterben im Notfall Menschen, aber keine „Bürger in Uniform“. Gewalt wird ausgelagert und damit die Involvierung „posthero- ischer Gesellschaften“ zugunsten eines globalen Markts für Gewalt und Sicher- heit vermieden. Der dritte Punkt, die „Individuali- sierung“, bezieht sich auf weltweit sich selbst ermächtigende Sympathisan- ten oder Parteigänger. Angefangen bei dem den griechischen Freiheitskampf unterstützenden Lord Byron über die Russische Revolution, die individuelle Sympathisanten und Gegner aus ihren Staatsverbänden und deren militärischen Gewalten mobilisierte, um entweder mit oder gegen die Roten beziehungsweise die Weißen zu kämpfen. Gleiches weni- ge Jahre später in Form der Internatio- nalen Brigaden in Spanien. Oder aber im Rahmen der Waffen-SS, in der fast eine Million ausländischer Freiwilliger kämpfte. Eine auf militärischem Gebiet entsprechende taktische Individualisie- rung setzte sich prototypisch vor dem Ersten Weltkrieg im preußisch-deut- schen Heer durch: „Selbständigkeit, Schemalosigkeit und Eigeninitiative“ leiteten die Individualisierung (des Ge- fechtsfeldes) ein. Im Unterschied aber zur „Auftragstak- tik“ erteilt sich der globale Parteigänger den entscheidenden Auftrag zur bewaff- neten Solidarität selbst. Die damit ein- hergehende Negierung des staatlichen Gewaltmonopols ist typisch für den il- legalen, verdeckten Kampf. Moralität und Legitimität sind die entscheidenden Elemente in ihm. Weswegen man fol- gerichtig die Gesetze und Bräuche des Krieges mißachten darf – da ohnehin die geltende Rechtsordnung ungerecht sei und bis zum Inkrafttreten der einzig maßgeblichen revolutionären, religiösen, nationalen Rechtsordnung mißachtet werden dürfe. Zwischen Individualisierung und Kommerzialisierung existieren meh- rere Hybrid-Formen mit fließenden Grenzen. So sollen sich beispielswei- se die ukrainischen Bataillone „Aidar“ und „Asow“ aus Freiwilligen aus ganz Europa speisen und sich durch Folter, Lösegelderpressungen und „kommerzi- elle Eigeninitiative“ – also Formen Or- ganisierter Kriminalität – auszeichnen.  Auf seiten ost-ukrainischer Volksmilizen kämpfen dagegen jene, die vorgeblich „immaterielle Werte“ akkumulieren wollen: Russen, Kosaken, tschetsche- nische Kadyrow-Getreue, eine serbi- sche Tschetnik-Einheit etc. Zustim- mende Anteilnahme fanden in deut- schen Medien auch kurdische Rocker aus den Niederlanden und Deutsch- land, die in Kobane „Jagd auf den IS“ machen – während gleichzeitig der IS Hunderte Kämpfer aus Deutschland und den Niederlanden in seine Reihen eingliedert. Beispiele für die „gerech- ten“ Kriege unserer Zeit, die aufgrund dieser Gemengelage die Wirksamkeit zwischenstaatlicher Vertragsvereinba- rungen in Frage stellen. Kritiker dieser Entwick- lung bemängelten früh, daß die Bun- deswehr einen Weg einschlagen könnte, an dessen Ende sie das größte Friedenskorps der Welt darstellen würde mit den teuer- sten Sanitätern und besten Brunnenboh- rern des Bündnisses. Da die Welt „mehr verbunden, mehr umstritten und mehr komplex“ gewor- den sei, hat der Europäische Rat im Juni dieses Jahres eine neue „globale Strategie der EU für Außen- und Sicherheitspoli- tik“ in Auftrag gegeben. Diverse Hand- lungsfelder sind dabei relevant: Erosion der Staatensysteme im Nahen Osten und Nordafrika mit dadurch ungesteu- erten Migrationsbewegungen, Vernet- zung gegen den islamischen Terrorismus und die Frage nach der sicherheitspo- litischen Rolle der USA und dem Maß europäischer Eigenverantwortung. Zu- dem wird die Suche nach „gestaltungs- kräftigen Partnern“ eine Rolle spielen, denn noch ist die EU ein Papiertiger und vermag nur sehr begrenzt eigen- ständig global zu agieren. Ob damit ei- ne partielle Renationalisierung europä- ischer Außenpolitik verbunden ist, wie sie sich im „Weimarer Dreieck“ oder dem „Normandie-Format“ abzeichnete, wird sich zeigen. Bis 1998 war die Bundeswehr ei- ne klassische Verteidigungsarmee mit schweren Panzer- und Artillerieeinhei- ten. Die Kommunikationsmittel waren auf einen heimatnahen Einsatz ausge- richtet, ebenso die strategischen Trans- portmittel. Sukzessive wurde daraus eine „Armee im Einsatz“, deren Hauptaufga- be jenseits der Landes- und Bündnisver- teidigung im Bereich der „friedensunter- stützenden Operationen“ liegt. Sachkundige Kritiker dieser Ent- wicklung, wie der ehemalige Leiter des Planungsstabes des Verteidigungsmi- nisteriums Hans Rühle, bemängelten früh, daß die Bundeswehr durch eine Halbierung ihres Umfangs, die Quasi-  Abschaffung der Landesverteidigung, den überproportionalen Abbau von Kampftruppen zugunsten von Unter- stützungs- und Hilfskräften, Logistik und neuen Groß-Stäben einen Weg ein- schlagen könnte, an dessen Ende sie das größte Friedenskorps der Welt darstel- len würde, mit den teuersten Sanitä- tern, den besten Brunnenbohrern und den längsten Nachschubkolonnen des Bündnisses. Die „Verteidigungspolitischen Richt- linien“ des Bundesverteidigungsmini- steriums aus dem Jahr 2011 sehen die größten Herausforderungen in Bür- gerkrieg, regionaler Destabilisierung, humanitären Krisen, Migrationsbe- wegungen, Terrorismus, Organisier- ter Kriminalität, Cyberwar, Echtzeit- Kommunikationstechnologien, Proli- feration, klimatischen Veränderungen mit Ressourcenerschöpfung. Als sicher- heitspolitische Ziele werden bezeich- net: Sicherheit und Schutz der Bürger, territoriale Integrität und Souveränität Deutschlands und seiner Verbündeten sowie die Wahrnehmung internationaler Verantwortung. Gefahren liegen nicht nur in Form der Einwanderung von  Terroristen, sondern auch in einem Import des Bürgerkrieges, der gekennzeichnet ist durch zunehmende Spaltung der Gesell- schaft und ansteigende extremistische Gewalt aller Couleur. Da sich Innere und Äußere Sicherheit nicht mehr klar unterscheiden lassen, erscheint – so klingt es an – die ideolo- giegefärbte Diskussion über den Einsatz der Bundeswehr im Inneren überholt. Hier scheint sich das „neue“ Kriegs- bild wie „Kleiner Krieg“, „Verdeckter Kampf“ und der „Schutz rückwärtiger Gebiete“ widerzuspiegeln. Die vor 20  Jahren beim Umbau der Bundeswehr von einer klassischen Verteidigungsar- mee zu einer „Armee im Einsatz“ be- wußt marginalisierten Strukturen – Be- völkerungsschutz,Territorialstreitkräfte, Objektschutz, Jägerverbände – erhalten neues Gewicht. Bereits vor einhundert Jahren löste sich der deutsche Generalstab sukzes- sive vom Konzept der Flächenbeherr- schung zugunsten dynamischer Bewe- gung. Kampf und Verteidigung sollten nicht in starren Linien, sondern mit- tels Tiefengliederung und flächenweiser Verteidigung in Kampfzonen erfolgen. Nichtbesetzte Flächen wurden in Kauf genommen.  Ähnliches zeichnet den Territorial- staat der Gegenwart aus: Die Bronx, die Banlieues, Duisburg-Marxloh – Beispie- le sogenannter „lokaler Exklusionsberei- che“, von Gangs und Clans beherrscht – werden seitens der eigentlich zustän- digen Exekutivkräfte nur noch im Groß- aufgebot betreten. Eine einsetzende Ge- genbewegung – aber ebenso exkludiert, weil der Öffentlichkeit entzogen – sind die zunehmenden „Gated Communi- ties“: Wohnkomplexe, die durch priva- te Sicherheitsdienste geschützt und mit verschiedensten Arten von technischen Zugangsbeschränkungen versehen sind. Ob Parallelgesellschaft oder Nobelvier- tel – der neofeudalistische Kontext der Gegenwart produziert überall „Lager“. Dazu zählen auch Flüchtlingslager als Folge globaler Verwerfungen und Bür- gerkriege. Vielleicht hat der deutsche Vorsitz im UN-Menschenrechtsrat die Bundes- regierung dazu verleitet, die zwischen- staatliche Humanitäre Intervention in- nerstaatlich zu praktizieren. So zeich- net sich die „humanitäre Intra-vention“ ohne Mandat – der Verzicht auf Ho- heitsrechte in Verbindung mit einem der Exekutive auferlegten Unterlassen – dadurch aus, daß, wie aktuell zu erle- ben, Moral geltendes Recht suspendiert. Das vielen Flüchtlingen widerfahrene Unrecht wird damit in den eigenen Staat importiert und gegen dessen Staatsbür- ger in Anschlag gebracht; eine mimeti- sche Spirale auf Kosten von Institutio- nen (Wohlfahrts-/Sozialstaat etc.) und Kultur, die auch zu einer Gefährdung des europäischen Einigungsprozesses führen kann und damit die kollektive Sicherheit tangiert. Das Phänomen der kürzlich vom Bundesamt für Migration und Flücht- linge vermuteten 290.000 Illegalen, die irgendwie durch Deutschland ziehen, aber nirgends registriert sind, in Ver- bindung mit einer Infrastruktur am Limit, birgt weitere Gefahrenquellen. Nicht nur in Form der Einwanderung von Terroristen und steigender Krimi- nalität. Sondern auch in einem Import des Bürgerkrieges, gekenn- zeichnet durch zunehmen- de Spaltung der Gesellschaft und ansteigende extremisti- sche Gewalt aller Couleur, zu der sich immer mehr selbst legitimierte Individuen den  Auftrag erteilen. Dazu gehö- ren auch die kommerziellen Nutznießer dieser „sanften Form des Krieges“ – die nicht nur in den Schlepperbanden zu suchen sind.  Wird die Bundeswehr in- sofern nicht nur ein weite- rer „humanitärer“ Einsatz in Form der Umwandlung von Kasernen in Auffangstatio- nen erwarten, sondern Ein- sätze im Bereich der Inneren Sicherheit? Bereits 1964 hieß es in der in Bremen erschie- nenen Publikation „Partisa- nen im Schwarzwald?“: „Die noch immer an saubere Tren- nung zwischen Friedens- und Kriegszustand gewöhnte Bun- desrepublik wäre zum ver- deckten Kampf nur bedingt abwehrbereit.“ Man möchte ergänzen: weil kaum jemand Bewußtsein und Kenntnis akuter Bedrohungslagen und Vorstufen physischer Gewalt hat, zu de- nen auch die schleichende materielle Enteignung und politische Entrechtung zu zählen ist – von Cyberwar, interkonti- nentaler Raketenabwehr, geophysischen und genetischen Waffen, Proliferation gar nicht zu reden. Nach einer Gallup-Studie aus dem  Jahr 2014 wollen nur noch 18 Prozent der befragten Deutschen ihre Heimat verteidigen. Die Frage lautet deshalb nicht nur, ob sich Deutschland wehren kann, sondern ob es überhaupt zu er- kennen vermag, wann es sich in einem (Bürger-)Krieg befindet und ob es sich darin überhaupt wehren will.     F     O     T     O    :     I     M     A     G     O Sicherheitspolitik in unübersichtlicher Lage Ist Deutschland wehrfähig? Von Jan-Andres Schulze  JU N GE F R EI H EI T Nr. 46 /15 | 6. November 2015 Dr. Jan-Andres Schulze, Jahrgang 1969, ist promovier- ter Politologe. Er lebt und arbeitet als freiberuflicher PR- Berater und Publizist in München. 2005 erschien bei Dunk- ker & Humblot sein Buch „Der Irak-Krieg 2003 im Lichte der Wiederkehr des ge- rechten Krieges“. Verwaistes Wachhäuschen der Bundeswehr: Fraglich bleibt nicht nur, ob sich Deutschland wehren kann, sondern ob wir überhaupt erken- nen, wann wir uns in einem (Bürger-) Krieg befinden und ob wir uns darin überhaupt wehren wollen.

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Gut drei Viertel allerim letzten Jahrhun-dert weltweit geführ-ten Kriege waren kei-ne Staaten-, sonderninnerstaatliche oder

transnationale Kriege. Der klassischeKrieg zwischen Staaten ist die Ausnah-me, nicht die Regel. Wo die drei Elemen-te des Staates – Staatsgebiet, Staatsvolkund Staatsgewalt – erodieren, werdennicht nur der Territorialstaat, sondernauch die trinitarischen Grundlagen deszwischenstaatlichen Kriegsbegriffes vonClausewitz – Regierung, Heer und Volk– erschüttert. Die neue Trinität könntelauten: Individualisierung, Kommer-zialisierung, „Sudden Death“. Dazumannigfaltige Formen unterhalb desgewohnten Bildes des Krieges, die aberkriegsähnliche Folgen haben können.

Der „Sudden Death“ ist die konse-quenteste, zynischste Form der Ächtungdes Krieges. Hier findet kein Krieg, ei-

ne agonale oder auch asymmetrischebewaffnete Auseinandersetzung statt,in der jene gewisse Wechselseitigkeit,die Chance zur Antwort in Form einerGegenreaktion, vorliegt. Das Flächen-bombardement, das Selbstmordattentatauf zivile Ziele, die Eliminierung durchDrohnen- und Geheimdienst-Aktionensind reine Vernichtung. Die Botschaft:Fürchte dich ständig, denn in keinemRaum zu keiner Zeit wirst du sicher sein.

Kommerzialisierung meint hingegenin erster Linie den Einsatz global mo-biler Söldnerunternehmen. So kämpfenbeispielsweise Academi- und Blackwa-ter-Söldner gegen die Separatisten inder Ost-Ukraine. Ein Konflikt, der inmanchen westlichen Medien gern le-diglich als „zwischenstaatlicher Krieg“inszeniert wird. Mit einem praktischenVorteil: Während Regierungen im bestenFalle ihrem Parlament verantwortlichsind, sind private Firmen dies nur ge-genüber ihren Aktionären. Es sterben imNotfall Menschen, aber keine „Bürgerin Uniform“. Gewalt wird ausgelagertund damit die Involvierung „posthero-ischer Gesellschaften“ zugunsten einesglobalen Markts für Gewalt und Sicher-heit vermieden.

Der dritte Punkt, die „Individuali-sierung“, bezieht sich auf weltweit sichselbst ermächtigende Sympathisan-ten oder Parteigänger. Angefangen beidem den griechischen Freiheitskampfunterstützenden Lord Byron über dieRussische Revolution, die individuelleSympathisanten und Gegner aus ihrenStaatsverbänden und deren militärischenGewalten mobilisierte, um entweder mitoder gegen die Roten beziehungsweisedie Weißen zu kämpfen. Gleiches weni-ge Jahre später in Form der Internatio-nalen Brigaden in Spanien. Oder aberim Rahmen der Waffen-SS, in der fasteine Million ausländischer Freiwilligerkämpfte. Eine auf militärischem Gebietentsprechende taktische Individualisie-rung setzte sich prototypisch vor dem

Ersten Weltkrieg im preußisch-deut-schen Heer durch: „Selbständigkeit,Schemalosigkeit und Eigeninitiative“leiteten die Individualisierung (des Ge-fechtsfeldes) ein.

Im Unterschied aber zur „Auftragstak-tik“ erteilt sich der globale Parteigängerden entscheidenden Auftrag zur bewaff-neten Solidarität selbst. Die damit ein-hergehende Negierung des staatlichenGewaltmonopols ist typisch für den il-legalen, verdeckten Kampf. Moralitätund Legitimität sind die entscheidendenElemente in ihm. Weswegen man fol-gerichtig die Gesetze und Bräuche desKrieges mißachten darf – da ohnehindie geltende Rechtsordnung ungerechtsei und bis zum Inkrafttreten der einzigmaßgeblichen revolutionären, religiösen,nationalen Rechtsordnung mißachtetwerden dürfe.

Zwischen Individualisierung undKommerzialisierung existieren meh-rere Hybrid-Formen mit fließendenGrenzen. So sollen sich beispielswei-

se die ukrainischen Bataillone „Aidar“und „Asow“ aus Freiwilligen aus ganzEuropa speisen und sich durch Folter,Lösegelderpressungen und „kommerzi-elle Eigeninitiative“ – also Formen Or-ganisierter Kriminalität – auszeichnen. Auf seiten ost-ukrainischer Volksmilizenkämpfen dagegen jene, die vorgeblich„immaterielle Werte“ akkumulierenwollen: Russen, Kosaken, tschetsche-nische Kadyrow-Getreue, eine serbi-sche Tschetnik-Einheit etc. Zustim-

mende Anteilnahme fanden in deut-schen Medien auch kurdische Rockeraus den Niederlanden und Deutsch-land, die in Kobane „Jagd auf den IS“machen – während gleichzeitig der ISHunderte Kämpfer aus Deutschlandund den Niederlanden in seine Reiheneingliedert. Beispiele für die „gerech-

ten“ Kriege unserer Zeit, die aufgrunddieser Gemengelage die Wirksamkeitzwischenstaatlicher Vertragsvereinba-rungen in Frage stellen.

Kritiker dieser Entwick-

lung bemängelten

früh, daß die Bun-

deswehr einen Weg

einschlagen könnte,

an dessen Ende sie das

größte Friedenskorps

der Welt darstellen

würde mit den teuer-

sten Sanitätern und

besten Brunnenboh-

rern des Bündnisses.

Da die Welt „mehr verbunden, mehrumstritten und mehr komplex“ gewor-

den sei, hat der Europäische Rat im Junidieses Jahres eine neue „globale Strategieder EU für Außen- und Sicherheitspoli-tik“ in Auftrag gegeben. Diverse Hand-lungsfelder sind dabei relevant: Erosionder Staatensysteme im Nahen Ostenund Nordafrika mit dadurch ungesteu-erten Migrationsbewegungen, Vernet-zung gegen den islamischen Terrorismusund die Frage nach der sicherheitspo-litischen Rolle der USA und dem Maßeuropäischer Eigenverantwortung. Zu-

dem wird die Suche nach „gestaltungs-kräftigen Partnern“ eine Rolle spielen,denn noch ist die EU ein Papiertigerund vermag nur sehr begrenzt eigen-ständig global zu agieren. Ob damit ei-ne partielle Renationalisierung europä-ischer Außenpolitik verbunden ist, wiesie sich im „Weimarer Dreieck“ oder

dem „Normandie-Format“ abzeichnete,wird sich zeigen.Bis 1998 war die Bundeswehr ei-

ne klassische Verteidigungsarmee mitschweren Panzer- und Artillerieeinhei-ten. Die Kommunikationsmittel warenauf einen heimatnahen Einsatz ausge-richtet, ebenso die strategischen Trans-portmittel. Sukzessive wurde daraus eine„Armee im Einsatz“, deren Hauptaufga-be jenseits der Landes- und Bündnisver-teidigung im Bereich der „friedensunter-stützenden Operationen“ liegt.

Sachkundige Kritiker dieser Ent-wicklung, wie der ehemalige Leiter desPlanungsstabes des Verteidigungsmi-nisteriums Hans Rühle, bemängeltenfrüh, daß die Bundeswehr durch eineHalbierung ihres Umfangs, die Quasi-

 Abschaffung der Landesverteidigung,den überproportionalen Abbau vonKampftruppen zugunsten von Unter-stützungs- und Hilfskräften, Logistikund neuen Groß-Stäben einen Weg ein-schlagen könnte, an dessen Ende sie das

größte Friedenskorps der Welt darstel-len würde, mit den teuersten Sanitä-tern, den besten Brunnenbohrern undden längsten Nachschubkolonnen desBündnisses.

Die „Verteidigungspolitischen Richt-linien“ des Bundesverteidigungsmini-steriums aus dem Jahr 2011 sehen diegrößten Herausforderungen in Bür-gerkrieg, regionaler Destabilisierung,humanitären Krisen, Migrationsbe-wegungen, Terrorismus, Organisier-

ter Kriminalität, Cyberwar, Echtzeit-Kommunikationstechnologien, Proli-feration, klimatischen Veränderungenmit Ressourcenerschöpfung. Als sicher-heitspolitische Ziele werden bezeich-net: Sicherheit und Schutz der Bürger,territoriale Integrität und SouveränitätDeutschlands und seiner Verbündeten

sowie die Wahrnehmung internationalerVerantwortung.

Gefahren liegen

nicht nur in Form der

Einwanderung von

 Terroristen, sondern

auch in einem Import

des Bürgerkrieges, der

gekennzeichnet ist

durch zunehmende

Spaltung der Gesell-

schaft und ansteigende

extremistische Gewalt

aller Couleur.

Da sich Innere und Äußere Sicherheitnicht mehr klar unterscheiden lassen,erscheint – so klingt es an – die ideolo-giegefärbte Diskussion über den Einsatz

der Bundeswehr im Inneren überholt.Hier scheint sich das „neue“ Kriegs-bild wie „Kleiner Krieg“, „VerdeckterKampf“ und der „Schutz rückwärtigerGebiete“ widerzuspiegeln. Die vor 20

 Jahren beim Umbau der Bundeswehrvon einer klassischen Verteidigungsar-mee zu einer „Armee im Einsatz“ be-wußt marginalisierten Strukturen – Be-völkerungsschutz, Territorialstreitkräfte,Objektschutz, Jägerverbände – erhaltenneues Gewicht.

Bereits vor einhundert Jahren löstesich der deutsche Generalstab sukzes-sive vom Konzept der Flächenbeherr-schung zugunsten dynamischer Bewe-gung. Kampf und Verteidigung solltennicht in starren Linien, sondern mit-tels Tiefengliederung und flächenweiserVerteidigung in Kampfzonen erfolgen.Nichtbesetzte Flächen wurden in Kaufgenommen.

 Ähnliches zeichnet den Territorial-staat der Gegenwart aus: Die Bronx, dieBanlieues, Duisburg-Marxloh – Beispie-le sogenannter „lokaler Exklusionsberei-che“, von Gangs und Clans beherrscht– werden seitens der eigentlich zustän-digen Exekutivkräfte nur noch im Groß-aufgebot betreten. Eine einsetzende Ge-genbewegung – aber ebenso exkludiert,weil der Öffentlichkeit entzogen – sinddie zunehmenden „Gated Communi-ties“: Wohnkomplexe, die durch priva-te Sicherheitsdienste geschützt und mitverschiedensten Arten von technischen

Zugangsbeschränkungen versehen sind.Ob Parallelgesellschaft oder Nobelvier-tel – der neofeudalistische Kontext derGegenwart produziert überall „Lager“.Dazu zählen auch Flüchtlingslager alsFolge globaler Verwerfungen und Bür-gerkriege.

Vielleicht hat der deutsche Vorsitzim UN-Menschenrechtsrat die Bundes-regierung dazu verleitet, die zwischen-staatliche Humanitäre Intervention in-nerstaatlich zu praktizieren. So zeich-net sich die „humanitäre Intra-vention“ohne Mandat – der Verzicht auf Ho-heitsrechte in Verbindung mit einemder Exekutive auferlegten Unterlassen– dadurch aus, daß, wie aktuell zu erle-ben, Moral geltendes Recht suspendiert.Das vielen Flüchtlingen widerfahreneUnrecht wird damit in den eigenen Staatimportiert und gegen dessen Staatsbür-ger in Anschlag gebracht; eine mimeti-sche Spirale auf Kosten von Institutio-nen (Wohlfahrts-/Sozialstaat etc.) undKultur, die auch zu einer Gefährdungdes europäischen Einigungsprozessesführen kann und damit die kollektiveSicherheit tangiert.

Das Phänomen der kürzlich vomBundesamt für Migration und Flücht-linge vermuteten 290.000 Illegalen, dieirgendwie durch Deutschland ziehen,aber nirgends registriert sind, in Ver-bindung mit einer Infrastruktur amLimit, birgt weitere Gefahrenquellen.Nicht nur in Form der Einwanderungvon Terroristen und steigender Krimi-nalität. Sondern auch in einem Importdes Bürgerkrieges, gekenn-zeichnet durch zunehmen-de Spaltung der Gesellschaftund ansteigende extremisti-sche Gewalt aller Couleur, zuder sich immer mehr selbstlegitimierte Individuen den

 Auftrag erteilen. Dazu gehö-ren auch die kommerziellenNutznießer dieser „sanftenForm des Krieges“ – die nicht

nur in den Schlepperbandenzu suchen sind. Wird die Bundeswehr in-

sofern nicht nur ein weite-rer „humanitärer“ Einsatz inForm der Umwandlung vonKasernen in Auffangstatio-nen erwarten, sondern Ein-sätze im Bereich der InnerenSicherheit? Bereits 1964 hießes in der in Bremen erschie-nenen Publikation „Partisa-nen im Schwarzwald?“: „Dienoch immer an saubere Tren-nung zwischen Friedens- undKriegszustand gewöhnte Bun-desrepublik wäre zum ver-deckten Kampf nur bedingtabwehrbereit.“ Man möchte ergänzen:weil kaum jemand Bewußtsein undKenntnis akuter Bedrohungslagen undVorstufen physischer Gewalt hat, zu de-nen auch die schleichende materielleEnteignung und politische Entrechtungzu zählen ist – von Cyberwar, interkonti-

nentaler Raketenabwehr, geophysischenund genetischen Waffen, Proliferationgar nicht zu reden.

Nach einer Gallup-Studie aus dem Jahr 2014 wollen nur noch 18 Prozentder befragten Deutschen ihre Heimatverteidigen. Die Frage lautet deshalbnicht nur, ob sich Deutschland wehrenkann, sondern ob es überhaupt zu er-kennen vermag, wann es sich in einem(Bürger-)Krieg befindet und ob es sichdarin überhaupt wehren will.

    F    O    T    O   :    I    M    A    G    O

Sicherheitspolitik in unübersichtlicher Lage

Ist Deutschland wehrfähig?Von Jan-Andres Schulze

 JU N GE F R EI H EI TNr. 46 /15 | 6. November 2015

Dr. Jan-Andres

Schulze, Jahrgang1969, ist promovier-ter Politologe. Erlebt und arbeitet alsfreiberuflicher PR-Berater und Publizistin München. 2005erschien bei Dunk-ker & Humblot seinBuch „Der Irak-Krieg2003 im Lichte derWiederkehr des ge-rechten Krieges“.

Verwaistes

Wachhäuschender Bundeswehr: 

Fraglich bleibtnicht nur, ob sich

Deutschlandwehren kann,

sondern ob wirüberhaupt erken-

nen, wann wir unsin einem (Bürger-)

Krieg befindenund ob wir uns

darin überhauptwehren wollen.