S. 28 S. 32 S. 62 Erdbeben - draeger.comDrägerheft Technik für das Leben 2016 Der Sound der...

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Drägerheft Technik für das Leben 2016 Der Sound der Heilung Musik im OP kann positive Effekte auf Patienten haben S. 28 Kaufen oder mieten? Wann es sich für Kliniken lohnt, darüber nachzudenken S. 32 Teufelskerl Ein Gassensor, der zwei Innovationen vereint S. 62 Drägerheft 399 1. Ausgabe 2016 Erdbeben Die unheimliche Kraft aus dem Untergrund – was wir wissen und wie wir uns schützen können Erdbeben

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Drägerheft Technik für das Leben 2016

Der Sound der Heilung Musik im OP kann positive Effekte auf Patienten haben S. 28

Kaufen oder mieten? Wann es sich für Kliniken lohnt, darüber nachzudenken S. 32

Teufelskerl Ein Gassensor, der zwei Innovationen vereint S. 62

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Die unheimliche Kraft aus dem Untergrund – was wir wissen und wie wir uns schützen können

Erdbeben

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2 DRÄGERHEFT 399 | 1 / 2016

Inhalt 399

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6 ERDBEBEN

Sie kommen scheinbar aus dem Nichts und

rütteln an allem, was der Mensch je gebaut

hat. Doch was sind die Ursachen, und wie

kann man sich schützen?

54 FETALCHIRURGIE

Sie sind noch nicht einmal geboren, und schon ist ihr Leben in Gefahr. Eine Operation im Mutterleib kann Föten helfen. Für einen erfolg-reichen Eingriff sind vor allem Wissen und Erfahrung notwendig. Beides findet sich am Universitäts-klinikum Gießen und Marburg.

22 GASWOLKEN

Sie breiten sich in Form einer Zigarre aus und sind meist unsichtbar. Kontinuierliche Messungen schaffen Gewissheit, und ein neues Mess-konzept definiert Standardszenarien für den Schutz vor gefährlichen Gasen, Dämpfen und Aerosolen.

Auf rund 688 MilliardenUS-Dollar schätzen Experten den weltweiten Biermarkt

im Jahr 2020 – mehr ab Seite 48.

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3DRÄGERHEFT 399 | 1 / 2016

4Menschen, die bewegenSunita Khadka arbeitet als Intensiv-

schwester in Nepal, Trine Signebøen

ist Qualitätsmanagerin in Norwegen.

6Der zitternde PlanetDie Vorhersage von Erdbeben

macht Fortschritte, viele Ursachen

sind mittlerweile bekannt. Und

doch schlägt die Faust aus der Tiefe

immer wieder überraschend zu.

16Ravioli am KrankenbettEine Herzklinik in Kathmandu hat

die Armut erlebt und das große Erd-

beben. Und sie erlebt die Dankbarkeit

oft weit gereister Patienten.

22Die WolkeWie breiten sich giftige Gase, Dämpfe

und Aerosole aus? Messkonzepte

geben Antworten und bieten Schutz.

28Hier spielt die Musik!Für viele chirurgische Teams ist Musik

während der OP eine Bereicherung –

und mittlerweile der Normalfall.

32Kaufen oder mieten?Auch Krankenhäuser beginnen,

auf liquiditätsschonende

Finanzierungsmodelle zu setzen.

36FacettenreichDer Schmerz hat viele Gesichter:

warum es ihn gibt, und

was man dagegen tun kann.

42Das Leben der AnderenOrgane zu spenden und zu transplantie-

ren, das ist oft eine Gratwanderung –

nicht nur zwischen knappem Angebot

und starker Nachfrage.

48Das neue Bier-Gefühl500 Jahre ist das deutsche Reinheits-

gebot für Bier alt. Grund genug,

sich zwischen Hefebank und Abfüllung

genauer umzusehen.

54Der erste Schnitt ins Leben Diagnose: offener Rücken. Ein Fall,

in dem Fetalchirurgie helfen kann.

60Wenn das Herz brennt Lithium-Ionen-Akkus sind die

Kraftquelle in Elektrofahrzeugen.

Ihr zuverlässiger Brandschutz

stellt besondere Anforderungen.

62Drahtlos Gase messenEin patentierter Gassensor, der

autonom zwei Jahre lang seine

Daten funkt. Entwickelt hat ihn ein

norwegisches Start-up.

67Auf einen BlickProdukte von Dräger, die im Zusam-

menhang mit dieser Ausgabe stehen.

68Rettende InselDiese Flucht- und Rettungskammer

bietet Bergleuten verlässlichen Schutz

unter Tage – für bis zu 96 Stunden.

Die Beiträge im Drägerheft infor-

mieren über Produkte und deren

Anwendungsmöglichkeiten im Allge-

meinen. Sie haben nicht die Bedeu-

tung, bestimmte Eigenschaften der

Produkte oder deren Eignung für

einen konkreten Einsatzzweck zuzu-

sichern. Alle Fachkräfte werden auf-

gefordert, ausschließlich ihre durch

Aus- und Fortbildung erworbenen

Kenntnisse und praktischen Erfah rungen an zuwenden. Die

Ansichten, Meinungen und Äußerungen der namentlich

genannten Personen sowie der Autoren, die in den Texten

zum Ausdruck kommen, entsprechen nicht notwendiger-

weise der Auffassung der Dräger werk AG & Co. KGaA. Es

handelt sich ausschließlich um die Meinung der jeweili-

gen Personen. Nicht alle Produkte, die in diesem Magazin

genannt wer den, sind weltweit erhältlich. Ausstattungs -

pakete können sich von Land zu Land unter schei den. Än-

derungen der Produkte bleiben vorbehalten. Die ak tuellen

Informatio nen erhalten Sie bei Ihrer zuständigen Dräger-

Vertretung. © Drägerwerk AG & Co. KGaA, 2016. Alle Rechte

vorbehalten. Diese Veröffent lichung darf weder ganz noch

teilweise ohne vorherige Zustimmung der Drägerwerk AG

& Co. KGaA wiedergegeben werden, in einem Datensystem

gespeichert, in irgendeiner Form oder auf irgendeine Wei-

se, weder elektronisch noch mechanisch, durch Fotokopie,

Aufnahme oder andere Art übertragen werden.

Die Dräger Safety AG & Co. KGaA, Lübeck, ist Hersteller fol-

gender Produkte: X-zone 5500, X-am 2500, X-act 5000 (S. 26);

PIR 7200, Polytron 7000 (Seite 51). Die Drägerwerk AG &

Co. KGaA, Lübeck, ist Hersteller von Inkubatoren (Seite 41)

und des Primus (S. 54). GasSecure AS ist Hersteller des GS01

(Seite 62 ff.) und Dräger-Simsa S.A. der MRC 5000 (S. 68).

H E R A U S G E B E R : Drägerwerk AG & Co. KGaA,

Unternehmenskommunikation

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R E D A K T I O N E L L E B E R A T U N G : Nils Schiffhauer

A R T D I R E K T I O N , G E S T A L T U N G , B I L D R E D A K T I O N U N D K O O R D I N A T I O N :Redaktion 4 GmbH

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IMPRESSUM

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ERFAHRUNGEN AUS ALLER WELT

4 DRÄGERHEFT 399 | 1 / 2016

Menschen,die

bewegen

Sunita Khadka, Intensiv-schwester am Shahid Gangalal National Heart Center, Kathmandu/Nepal

„Ich habe zuvor schon in anderen Kliniken gearbeitet, doch meine Ausbildung als Intensivschwester absolvierte ich hier. Das Leben in Kathmandu ändert sich rasant. Früher gab es kaum Autos, keinen Fernseher und auch kein Telefon. Ich arbeite vor allem mit Erwachsenen. Man-che bleiben einem in Erinnerung, wie

dieser 55-Jährige, der einen Bypass bekam und sich nach dem Eingriff schnell wieder erholte. Plötzlich ging es ihm schlechter – 30 Tage später konnten wir nichts mehr für ihn tun. Was mich glücklich macht? Menschen zu dienen und ihnen zu helfen. Schlimm wird es, wenn das nicht gelingt und die Ver-wandten uns die Schuld geben. Gewiss, das ist eine natürliche Reaktion, ebenso die Hilflosigkeit und die Trauer. Manchmal wissen wir es schon vorher, wenn die Prognosen schlecht stehen.

Wichtig ist es dann, die Emotionen in der Klinik zu lassen. Wenn meine Schicht beendet ist, übergebe ich den Patienten an die Nachtschwester – auch emotional. Mittlerweile arbeite ich mehr als Managerin der Schwestern-abteilung und würde bald gerne in die Verwaltung wechseln. Das wäre der nächste Karriere schritt. Wenn man tag-ein, tagaus immer dasselbe macht, kann sich schnell Frustration einstellen. Wenn man sich aber öfter mal auf Neues einlässt, dann passiert einem das nicht.“

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Trine Signebøen, Qualitätsmanagerin bei AXXE in Berg/Norwegen

„Schon als Kind wollte ich wissen, wie Technik genau funktioniert – wenn ich das Radio meiner Großmutter zerlegt habe, um dessen Innenleben zu studieren. Dabei habe ich mir so manchen elektrischen Schlag geholt! Das bestimmte auch meine Berufs-wahl; ich ließ mich zur Radio- und Fernsehtechnikerin ausbilden. Den ersten Job fand ich bei einer Telefon-gesellschaft. Wir waren 50 Kollegen, darunter zwei Frauen, und installierten Telefonanlagen. Ältere Menschen in Privathaushalten standen mir eher skeptisch gegenüber: ,Mädel, kannst du das überhaupt?‘ In Unternehmen hatten wir Frauen keine Probleme. Kaum zu glauben, dass ich schon seit über 30 Jahren in der Industrie arbeite. Anfangs habe ich Reparaturen gemacht und mich dann weiterent-wickelt. Heute bin ich für die Einführung neuer Produkte und das Qualitäts-management bei AXXE verantwortlich. Wir fertigen komplexe Elektronik: von einem Musterstück über Klein-serien wie Transmitter für GasSecure (siehe auch Seite 62 ff.) bis hin zu Hunderterlosen. Dabei geht es nicht nur um Fragen funktioneller Qualität, sondern auch um die Erfüllung umfang-reicher Vorschriften – etwa bei Pro-dukten für den Verteidigungsbereich. Ich kenne ja noch die Technologie der einzelnen Transistoren. Wenn man heute die Packungsdichte der kleinen SMDs sieht, kann man den Fortschritt ermessen, aber auch die Komplexität.“

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Grafik Erdbeben Erestiam animporem sit landcia

volorum endebis ist ulles que am fuga Minet quia dol volorem

quatur reporehentus vendaes sam ventiorereut aut etqui tem eiumquatur, elent pres molup.

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FOKUS ERDBEBEN

Der zitternde

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Faust aus der Tiefe:Tektonische Verwerfungen erzeugen

gewaltige Energien, die als Erdbeben an die Oberfläche gelangen – mit oft verheerenden Auswirkungen. Forschungen verbessern die

Vorhersagen und den Schutz. Manche Smartphone-App (wie hier: Earthquake 3D)

bietet einen faszinierenden Blick auf seismische Aktivitäten rund um den Globus

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7DRÄGERHEFT 399 | 1/ 2016

PlanetErdbeben kommen scheinbar aus dem Nichts: Sie rütteln und schütteln an allem, was der Mensch gebaut hat. Ihre Zerstörungskraft ist gewaltig – doch was sind die Ursachen, und wie kann man sich schützen?

Text: Niels Boeing, Steffan Heuer

Wer von San Francisco mit dem Auto

nach Süden fährt, sieht sie alle: die Zentra-

len der zahllosen IT-Firmen, deren Erfin-

dungen den heutigen digitalen Herzschlag

vorgeben. Doch während Apple, Google &

Co. am nächsten großen Ding arbeiten,

lauert im Untergrund eine ganz andere

Zukunft. Das globale Hightechzentrum

befindet sich nämlich in einem der geo-

logisch gefährlichsten Gebiete der Welt –

hier haben sich die großen Kontinental-

platten des Pazifiks und Nordamerikas

ineinander verhakt.

110 Jahre ist es her, dass sich über

Jahrhunderte aufgestaute Spannungen in

einem verheerenden Erdbeben lösten und

weite Teile San Franciscos binnen Minu-

Wten dem Erdboden gleichmachten. Seit-

dem ist es relativ ruhig geblieben, doch

die Erde sendet immer wieder Signale. Ein

Beben der Stärke 6,9 im Jahr 1989 forderte

63 Menschenleben, und als es im August

2014 um das nördlich gelegene Städt-

chen Napa bebte, entstanden in 26 Sekun-

den Sachschäden von einer Viertelmilli-

arde US-Dollar. Experten halten die Ruhe

seitdem für trügerisch. Der Geologische

Dienst der USA (USGS) erhöhte in seinen

jüngsten Modellen die Wahrscheinlichkeit

auf sieben Prozent, dass es in den nächsten

30 Jahren zu einem verheerenden Beben

der Stärke 8,0 kommt. Die möglichen Schä-

den durch „The Big One“, wie die Kalifor-

nier es nennen, wären gewaltig. Sollte sich

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8 DRÄGERHEFT 399 | 1 / 2016

FOKUS ERDBEBEN

die besonders angespannte Hayward-Ver-

werfung östlich der Bucht lösen, könnten

die Wasserversorgungsleitungen aus der

Sierra Nevada unterbrochen, Hafenanla-

gen sowie Lande- und Autobahnen zer-

stört werden. In der IT-Industrie könnten

Rechenzentren mit enormen Datenmen-

gen ausfallen. Die Schadenssumme läge,

je nach Stärke des Bebens, zwischen 25

und mehr als 200 Milliarden US-Dollar.

Weil die Bay Area über ihre Dienstleistun-

gen mit aller Welt vernetzt ist, „könnten

die Auswirkungen eines Hightech-Bebens

spürbar sein“, warnt der US-Trendforscher

Paul Saffo. Der kalifornische Ballungs-

raum, der immer weiter wächst, ist eine

von etwa 15 dicht besiedelten Regionen

weltweit, die auf eine Katastrophe gefasst

sein müssen. Erst allmählich beginnt die

Wissenschaft zu verstehen, was tatsäch-

lich unter der Oberfläche vor sich geht –

und das Bild ist weitaus komplexer als bis-

lang angenommen. Erdbeben sind vor

allem eine Folge davon, dass sich riesige

Gesteinsmassen der Kontinente und Oze-

anböden langsam in verschiedene Rich-

tungen bewegen. Wenn die pazifische Plat-

te mit einigen Zentimetern pro Jahr nach

Nordwesten driftet, die nordamerikani-

sche hingegen nach Südwesten, kommen

sie miteinander in Berührung. Oft glei-

ten ihre Kanten träge aneinander vorbei,

manchmal jedoch bleibt das Gestein auf

viele Kilometer langen Abschnitten anei-

nander hängen – wie an der San-Andreas-

Verwerfung in Kalifornien.

Sechs Erdstöße pro MinuteWährend die Billiarden Tonnen schweren

Platten immer weiter vorwärts drücken,

baut sich an den verhakten Flächen über

Jahrzehnte eine ungeheure Spannung

auf – bis ein Punkt erreicht ist, an dem

sich beide Kantenstücke ruckartig vonei-

nander lösen. Die aufgestaute Energie, die

dann freigesetzt wird, ist mitunter viele

Tausend Mal größer als die Detonation

der Hiroshima-Bombe. Die Oberflächen

rechts und links der Verwerfung schnellen

in Windeseile aneinander vorbei, sodass

Straßen oder Weidezäune durchschnit-

ten werden und die Teilstücke mehrere

Die Zahl der Verwerfungen ist gewaltig

San Francisco 1906: Bei diesem Jahrhundert-

beben starben rund 3.000 Menschen. Dem

Maschinenschlosser Otto Feige hingegen

verhalf es zu einer neuenIdentität: Er gab sich

1907 als „Ret Marut“ aus San Francisco aus, wo

alle Geburtsregister zer-stört waren. Unter dem

neuerlichen Pseudonym „B. Traven“ erlangte er später als Schriftsteller

(unter anderem „Der Schatz der Sierra

Madre“) Weltruhm

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Meter voneinander entfernt sind. Der

Erste, der diesen Vorgang richtig erfass-

te, war der amerikanische Geophysiker

Harry Fielding Reid. Seine 1910 veröffent-

lichte „Elastic Rebound“-Theorie bildet

bis heute den Kern der modernen Seismo-

logie. Reid konnte damals allerdings nicht

ahnen, wie zerklüftet und dynamisch die

Erdkruste ist. „Die Zahl der Verwerfun-

gen auf unserem Planeten ist gewaltig“,

sagt Prof. Dr. Onno Oncken, Geophysiker

am GeoForschungsZentrum (GFZ) in

Potsdam. Permanent rumpelt und zittert

es an einer der Bruchlinien. Im Durch-

schnitt ereignen sich weltweit minütlich

sechs Erdbeben, die schlimmstenfalls –

bei einer Magnitude von 4,9 – Geschirr

klirren und Türen klappern lassen. Fast

1.000-mal im Jahr kommt es zu Beben mit

einer Magnitude von 5 bis 5,9, die schlecht

gebaute Häuser bereits ernsthaft beschä-

digen können. Größere Erschütterungen

sind deutlich seltener.

Wie ein MikadospielWeniger erfreulich ist, dass die Verwerfun-

gen nicht unabhängig voneinander existie-

ren. „Sie reagieren in unerwarteter Wei-

se auf subtile Verspannungen, die durch

das Schieben und Schütteln in benachbar-

ten Verwerfungen ausgelöst werden“, sagt

Ross Stein, der bis vor Kurzem bei der USGS

arbeitete. Diese Vermutung kam ihm und

seinen Kollegen erstmals 1992, als sie die

Erdbeben bei den kalifornischen Wüsten-

orten Big Bear und Landers untersuchten,

die sich innerhalb von drei Stunden ereig-

neten. Eine derart dichte Abfolge ist eigent-

lich nicht ungewöhnlich. Jedem schwe-

ren Schock folgen etliche Nachbeben,

Erdbebensicher ragt „Taipeh 101“ 508 Meter in die Höhe. Die Hauptmasse des Tilgerpendels mit seinem Durchmesser von 5,5 Metern (rechts) bilden 41 Stahlscheiben von jeweils 125 Millimeter Stärke. Das Pendel soll Schwankungen durch Erdbeben und Taifune ausgleichen.

Hilfreicher Energiefresser Er ist das wohl spektakulärste Symbol erdbebensicherer Architektur: der 2004 ein -geweihte Wolkenkratzer „Taipeh 101“ in der taiwanesischen Hauptstadt Taipeh. Seine 101 Stockwerke beherbergen nicht nur das Finanzzentrum des Landes, sondern auch eine glamouröse Mall und das vom Guide Michelin mit drei Sternen ausge -zeich nete Restaurant „Stay“. Zum Bleiben lädt überdies die verglaste Aussicht im 88. und 89. Stockwerk ein sowie eine windumtoste freie Galerie im 91. Stockwerk. Seine Archi tektur ist an einen Bambusschössling angelehnt, und wie dieser widersteht das nach wie vor mit gut 509 Metern zweithöchste Bürogebäude der Welt allen Schwingungen des Windes und der Erde. Das ist zwingend notwendig, denn unterhalb der Inselrepublik stoßen eurasische und philippinische Kontinentalplatten aufein-ander. Zudem gefährden Taifune mit Wind geschwindigkeiten von bis zu 300 Kilometern je Stunde die Region. Beider Energie versetzt das Gebäude in Schwingungen. Diese fängt das weltgrößte Tilgerpendel auf, das mit einem Gewicht von 660 Tonnen zwischen dem 87. und 92. Stockwerk an 16 oberarmdicken Stahlseilen hängt. Durch sein Pendeln um 1,5 Meter reduziert es die Auslenkung des Gebäudes auf die Hälfte. Diese vier Millionen US-Dollar teure Konstruktion des kanadischen Bauingenieurs Scott L. Gamble hat sich schon mehrfach bewährt: So hinterließ das Beben der Stärke 6,8 mit seinem Epizentrum im gerade mal 110 Kilometer entfernten Hualien am 19. Dezember 2009 ebenso wenig Schäden wie die nachfolgenden Erschütterungen von Beben und Taifunen. Ähnliche Konstruktionen schützen auch andere Wolkenkratzer – und sogar die Offshore-Plattform Sakhalin-I, die aus über 12.000 Metern Tiefe Öl und Gas fördert.

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10 DRÄGERHEFT 399 | 1 / 2016

die langsam immer schwächer werden.

Doch Landers liegt 40 Kilometer von Big

Bear entfernt, und das Beben dort war mit

einer Stärke von 7,3 noch stärker als das

vorhergehende.

Die Experten folgerten daraus, dass

es sich um zwei eigenständige Ereignisse

handeln musste. Eine Analyse der Mess-

daten führte schließlich zu der Erkenntnis,

dass ein Teil der vom Beben in Big Bear

ausgehenden Energie sich im Untergrund

bis zur Verwerfung bei Landers ausgebrei-

tet und dort das nächste Beben ausgelöst

hatte. Man kann sich das wie ein Mika-

dospiel vorstellen: Zieht man ein Stäb-

chen heraus, können andere zu wackeln

beginnen, und die Gewichte verteilen sich

neu. „Wir müssen davon ausgehen, dass

jedes Beben ein weiteres auslösen kann“,

bestätigt Geophysiker Oncken eine der

wichtigsten seismologischen Erkenntnis-

se der vergangenen Jahrzehnte. Analysiert

man die Intensitäten aller aufgezeichne-

ten Beben, stellt man fest, dass ihre Häu-

figkeit einer speziellen mathematischen

Verteilung folgt. Sie ist typisch für ein cha-

otisches System, dessen künftige Entwick-

lung sich nicht eindeutig berechnen lässt.

„Große Teile der Erdkruste befinden sich

in der Nähe des kritischen Punkts, an dem

ein Schmetterlingseffekt auftreten kann“,

erläutert Oncken. Anders als in der klas-

sischen Physik können winzige Verände-

rungen enorme Auswirkungen haben. Ein

einzelnes Sandkorn, das auf einen Sand-

haufen im kritischen Zustand fällt, kann

eine Lawine auslösen – wann dieser Effekt

das nächste Mal auftritt, lässt sich nicht

berechnen.

Das ist auch der Grund, warum die

Potsdamer Geowissenschaftler buchstäb-

lich Experimente im Sandkasten durch-

führen, um gekoppelte Erdbeben zu simu-

lieren und ihr Zustandekommen besser

zu verstehen. In der freien Natur ist das

nicht möglich. „Dafür müssten wir uns

etwa 1.000 Jahre neben ein und dieselbe

Verwerfung setzen“, sagt Oncken. Auch

andere sind dem Phänomen auf der Spur.

Der Moskauer Seismologe Wladimir Kosso-

bokow vermutet, dass die Reichweite, mit

der sich Spannungsänderungen auf ande-

re Bruchzonen auswirken, zehnmal grö-

ßer sein könnte als die Verwerfung selbst.

Sowohl er als auch andere Geophysiker

halten es für plausibel, dass das verheeren-

de Seebeben im Indischen Ozean (Ende

2004), dessen Tsunami 230.000 Menschen

tötete, für die Häufung schwerer Beben in

den nachfolgenden Jahren verantwortlich

ist. In dieses neue Bild passt auch, dass die

schweren Beben von Sichuan in Zentral-

china (2008) und Christchurch in Neusee-

land (2010) viele Seismologen überrasch-

ten. Zwar waren ihnen an beiden Orten

Verwerfungen bekannt, dennoch hatten

sie diese nicht als akut gefährdet einge-

schätzt.

Das Problem mit den PrognosenGibt es denn wirklich keine Möglichkeit,

der Erdkruste ihre Geheimnisse zu entlo-

cken? Ganz so hoffnungslos ist die Lage

Was tun, wennes rumst?Wer in ein erdbebengefährdetes Land reist, sollte einige Ratschläge des Deutschen GeoForschungsZentrums (GFZ) in Potsdam beachten:

• Nur solche Wohnungen oder Hotelzimmer in Hochhäusern anmieten, die nach erdbebensicheren Standards gebaut worden sind.

• Fängt die Erde an zu beben, während man in einem Gebäude ist, sollte man es nicht verlassen sowie Treppenhäuser und Fahrstühle meiden. Stattdessen sollte man sich unter ein schweres Möbelstück hocken, in einen stabilen Tür-rahmen stellen oder zwischen dicht stehende Möbel legen, die beim Umkip-pen aneinander hängen bleiben.

• Draußen sollte man freie Plätze auf-suchen, um nicht von herunterstür zen-den Gebäudeteilen getroffen zu werden. Wer gerade mit dem Auto unterwegs ist, sollte drinnen sitzen bleiben und am Straßenrand halten – und nicht in der Nähe von Bäumen, Gebäuden oder Brücken.

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Merkblätter zu Erdbeben und Tsunamis Das GFZ bietet ausführliche Infos: www.gfz-potsdam.de/medien-kommunikation/infothek/merkblaetter

Übung macht den Meister: Regelmäßige Katastrophenübungen wie hier in Japan gibt es in vielen erdbebengefährdeten Regionen

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11DRÄGERHEFT 399 | 1/ 2016

ERDBEBEN FOKUS

nicht. „Inzwischen kann man Beobach-

tungen am Boden, in Tiefbohrungen und

aus dem Weltraum miteinander kombi-

nieren“, sagt der GFZ-Forscher Jochen

Zschau. Mithilfe des Global Positioning

System (GPS) können über Bodenstationen

die Bewegungen von Gesteinsmassen ent-

lang der Bruchzonen erfasst werden. Wäh-

rend sich die Stationen an vielen Punk-

ten im Gleichklang mit den tektonischen

Platten weiterbewegen, rühren sie sich an

den verhakten Stellen der Verwerfungen

kaum vom Fleck. Aus den unterschiedli-

chen Bewegungen lässt sich berechnen,

ob sich die Spannung erhöht – und mithilfe

der Radarinterferometrie wiederum verfol-

gen, wie sich Gesteinsmassen im allgegen-

wärtigen Kräftespiel heben oder senken.

Wann ist es wieder so weit?Mit dem Wissen um vergangene Beben

können so – entlang der Tausende Kilo-

meter langen Nahtstellen von tektoni-

schen Platten – Abschnitte ausfindig

gemacht werden, deren Krachen überfäl-

lig ist. Eine derartige 400 Kilometer lange

„seismische Lücke“ war die Gegend um

die zentralchilenische Stadt Concepción.

Hier konnte sich die Nazca-Platte nicht

mit der üblichen Geschwindigkeit von

6,6 Zentimetern pro Jahr unter die süd-

amerikanische Platte schieben, sondern

hing an ihr fest. Am 27. Februar 2010 hiel-

ten die Gesteinsmassen dem Druck nicht

mehr stand, und die aufgestaute Span-

nung entlud sich in einem Beben der

Stärke 8,8 – dem fünftstärksten seit dem

Beginn moderner Messungen. Eine große

noch verbliebene seismische Lücke klafft

in Nordchile. Das dort am 17. September

2015 aufgetretene Beben mit einer Stär-

ke von 8,3 hatte die tektonische Spannung

nur lokal begrenzt entlastet.

Wann ist es dort so weit? Die meisten

Wissenschaftler gehen aufgrund des cha-

otisch-kritischen Zustands der Erdkrus-

te davon aus, dass man sich für immer

mit der unbefriedigenden Angabe von

Sumatra 2004: Das Epizentrum dieses extremen Bebens (Magnitude: 9,1) lag 85 Kilometer nordwestlich der indonesischen Insel. Es löste zudem einen Tusnami aus – insgesamt starben 230.000 Menschen

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Vergangene Beben zeigen, wo es bald krachen könnte

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FOKUS ERDBEBEN

Wahrscheinlichkeiten abfinden muss.

Andere hoffen, mit ausgefeilten mathema-

tischen Methoden Muster zu entdecken,

die das Unmögliche doch möglich wer-

den lassen. Stuart Crampin, Geophysiker

an der University of Edinburgh, ist über-

zeugt davon, einen zuverlässigen Schlüssel

gefunden zu haben: die Veränderung der

Scherwellen, die durch unzählige Mikro-

verwerfungen im Gestein ausgelöst wird.

Nehmen die Zeitverzögerungen zwischen

den Signalen der beiden Scherwellenkom-

ponenten plötzlich ab, deute dies auf eine

Spannungsveränderung hin, die ein bevor-

stehendes Beben ankündigt. Mithilfe von

Sensoren in drei verteilten Bohrlöchern

ließen sich aus verschiedenen Signalen die

Richtung und die Entfernung des Erdbe-

benherds identifizieren. Crampin nennt

diese Methode „Stress-Forecasting“ – in

bewusster Analogie zur Wettervorhersa-

ge, die langfristig zwar auch nicht exakt

ist, aber wenigstens kurzfristig zuverlässi-

ge Prognosen liefert.

Der Brite schlägt vor, ein weltweites

Netz von 200 Messstationen aufzubauen,

die je drei Tiefensensoren umfassen. Die

Kosten sind nicht unerheblich. Crampin

schätzt sie auf fünf bis zehn Milliarden

US-Dollar. Im Vergleich zu den Schäden,

die sich dadurch vermeiden ließen, rech-

ne sich die Investition aber, betont er. Ein

weiterer Vorteil: Die Sensoren könnten

auch in unterseeischen Bohrungen instal-

liert werden, denn die Hälfte aller Beben

ereigne sich in Ozeanböden. „Hier können

Satelliten bei der Beobachtung der geolo-

gischen Vorgänge nicht weiterhelfen“, so

Crampin. Praktisch hat er seinen Ansatz

bislang nur in Island getestet. Mittlerwei-

le habe China Interesse an einer experi-

mentellen Station bekundet, sagt der For-

scher, der enttäuscht darüber ist, dass er

die Fachwelt trotz „deutlicher Belege“ bis-

lang nicht von seinem Ansatz überzeugen

konnte.

Frühwarnsystem steuert FahrstühleVermutlich wird die Menschheit auch

künftig mit der Ungewissheit leben müs-

sen. Und doch: „Die Erdbeben-Frühwar-

nung hat gute Fortschritte gemacht“, sagt

Hiroo Kanamori, einer der renommiertes-

ten Seismologen am California Institute

Seismo-grafen bremsen Japans Schnellzug Shinkansen

Kobe 1995: Für mehr als 6.000 Menschen ging in 20 Sekunden die Welt

unter. So viele Opfer forderte das Erd -beben mit einer Stärke von 7,3. Es faltete

selbst Stahlbetonbrücken wie Origami

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13DRÄGERHEFT 399 | 1/ 2016

of Technology. Pionier war sein Geburts-

land Japan, das besonders gefährdet ist

und zwei flächendeckende Frühwarnsys-

teme unterhält. Das eine, UrEDAS (Urgent

Earth quake Detection and Alarm System),

ist von der Eisenbahngesellschaft Japan

Railways aufgebaut worden. Messen Seis-

mometer auffällige Bodenerschütterun-

gen entlang oder in der Nähe der Bahn-

linien des Hochgeschwindigkeitszugs

Shinkansen, wird dessen Fahrt automa-

tisch abgebremst. Das andere, vom japa-

nischen Wetterdienst JMA betriebene

System, war eine Reaktion auf das über-

raschende Beben in Kobe. Inzwischen

überziehen rund 1.000 Messstationen, die

nicht weiter als 20 Kilometer auseinander

liegen, den gesamten Inselstaat. Treffen

an einigen Stationen die schnellen, aber

ungefährlichen P-Wellen ein, werden aus

dem aufgezeichneten Schwingungsmuster

in einem Computerzentrum Ort und Stär-

ke des Bebens errechnet. Binnen weniger

Sekunden geht eine Nachricht an Behör-

den, Rundfunksender und Mobilfunkbe-

treiber, die den Alarm an die Öffentlich-

keit weiterleiten. Gebiete, die mehr als

30 Kilometer vom Epizentrum entfernt

liegen, gewinnen so wertvolle Sekunden,

um sich auf die Ankunft der langsame-

ren (aber weitaus gefährlicheren) S-Wel-

len vorzubereiten. Einmal im Jahr, im

September, findet eine landesweite Kata-

strophenübung statt, sodass jeder Japaner

instinktiv weiß, was bei einem Alarm zu

tun ist. Seit 2007 sind zudem Aufzüge mit

dem System verbunden, um nach Eintref-

fen der Warnung automatisch im nächs-

ten Stockwerk zu halten und die Türen zu

öffnen. Auch andere Staaten haben regio-

nal begrenzte Systeme aufgebaut. Nicht

überall werden die Alarmsi gnale öffentlich

ausgegeben, weil man eine Massenpanik

fürchtet – zu Unrecht, wie wissenschaftli-

che Untersuchungen früherer Warnungen

in Mexiko und Japan zeigten. Dank allge-

genwärtiger Smartphones arbeiten Exper-

ten zudem an persönlichen Frühwarnsys-

temen, die die Bewohner von gefährdeten

Gebieten sensibilisieren sollen – am bes-

ten lange bevor der Ernstfall eintritt.

Einer von ihnen ist der ehemalige USGS-

Mitarbeiter Ross Stein. Er entwickelte die

App „Temblor“, die das individuelle Risi-

ko und die Kosten möglicher Schutzvor-

kehrungen berechnet. Man muss nur sei-

ne Adresse eingeben, und die App erstellt

aus mehreren öffentlichen Datenbanken

unter Berücksichtigung der Bodenbeschaf-

fenheit die „seismische Gefahr“. Je nach

Datenlage kann man sich sogar die Kosten

für mögliche Reparaturen, Retrofit-Maß-

nahmen und eine Erdbebenversicherung

berechnen lassen. „Wer in einem gefähr-

deten Gebiet lebt, ist sich der Gefahren oft

gar nicht bewusst“, sagt Stein.

Scherwände schützen, Bastmatten auch!Umso wichtiger ist es, dass gefährdete

Re gionen auch anderweitig vorsorgen.

Welchen Unterschied es macht, ob ein

Land Sicherheitsstandards für Gebäude

einhalten kann oder nicht, zeigt der Ver-

gleich zwischen Port-au-Prince (Haiti) und

Christchurch (Neuseeland). Beide Erdbe-

ben ereigneten sich in 2010 und waren

mit einer Magnitude von 7,0 bzw. 7,1 ähn-

lich stark. Doch auf der Karibikinsel star-

ben 230.000 Menschen, in Neuseeland kei-

ner. Dass in Neuseelands zweitgrößter Stadt

nur 350.000 Menschen leben gegenüber

2,2 Millionen im Ballungsraum von Port-

au-Prince, erklärt das Ausmaß nur zum

Teil. „Neuseeland ist eines der weltweit

führenden Länder, wenn es um das erd-

bebengerechte Nachrüsten von Gebäuden

und Sicherheitsstandards für Neubauten

geht“, sagt James Daniell, Katastrophen-

forscher am Karlsruher Institut für Tech-

nologie. Für das bitterarme Haiti (siehe

auch Drägerheft 398; Seite 6 ff.) wären

diese Maßnahmen nicht bezahlbar gewe-

sen. Auf 30 bis 40 Prozent des Gesamtwerts

schätzt Daniell die Kosten für das Nachrüs-

ten eines Hauses. Technisch ist inzwischen

einiges möglich, um zu verhindern, dass

Gebäude einstürzen. Eine verbreitete Mög-

lichkeit sind robuste Scherwände, die sich

asymmetrisch vom Fundament bis zum

Dach eines neuen Gebäudes ziehen. Damit

wird den seitwärts wirkenden Kräften beim

„Rollen“ des Bodens – der sich infolge der

Rayleigh-Wellen gleichzeitig hin und her

sowie auf und ab bewegt – entgegengewirkt.

In Stockwerken, die nur über Stützen auf

dem jeweils unteren ruhen, können diese

wegknicken und mit ihrer Last weitere zum

Einsturz bringen. In Chile etwa werden alle

neuen Stahlbetonbauten mit Scherwänden

angelegt. Mit Erfolg: Beim gewaltigen Mau-

le-Beben (2010) wurden nur 0,5 Prozent

aller Neubauten (seit 1985) mit mehreren

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14 DRÄGERHEFT 399 | 1 / 2016

Geschossen massiv beschädigt – und bei

Hochhäusern mit mehr als neun Geschos-

sen waren es auch nur 2,8 Prozent. „Das

Beben hat gezeigt, dass man technisch eine

Menge machen kann“, sagt Dr. Michael

Spranger, Geophysiker und Erdbebenex-

perte von ERN in Mexiko, einem Unterneh-

men, das aus Daten unter anderem Erdbe-

benrisiken modelliert.

Inzwischen gibt es auch intelligen-

te Dämpfungssysteme, die Sensoren im

gesamten Gebäude erfordern. Aus den

Bewegungen, die diese bei einem Beben

messen, werden in Echtzeit Steuerbefeh-

le errechnet, um etwa in der Gebäudehül-

le mittels Motoren Stahlsehnen zu span-

nen oder im Fundament Stoßdämpfer mit

schaltbaren Flüssigkeiten zu aktivieren.

Dabei handelt es sich um Öle mit metal-

lischen Partikeln, die beim plötzlichen

Anlegen eines elektrischen Felds zu einem

dickflüssigen Gel werden und so die Kräf-

te besser absorbieren können. Aber auch

nachträglich lassen sich Häuser noch

sicherer machen, indem man Betonpfeiler

verstärkt, damit sie unter dem Druck der

oberen Stockwerke nicht zusammenbre-

chen. Masoud Motavalli, Bauingenieur der

staatlichen Schweizer Forschungsanstalt

EMPA, lässt dafür die Pfeiler mit kohlen-

stofffaserverstärkten Kunststoffen (CFK)

umwickeln: „Im Unterschied zu Stahlbän-

dern können CFK nicht korrodieren, sind

leichter zu installieren und nehmen weni-

ger Platz weg.“ Gleichzeitig hätten die Ver-

bindungen eine vier- bis fünfmal höhere

Zugfestigkeit als Stahlbänder. Auf ähnli-

che Weise lassen sich sogar einfache Zie-

gelbauten sicherer machen. Forscher an

der Universität Kassel sowie an der Stan-

ford University kleben hierfür aber nicht

teure Kunststoffe auf das Mauerwerk, son-

dern Matten aus Naturfasern, die auch in

ärmeren Ländern zur Verfügung stehen.

Die Matten können aus Reis- und Kartoffel-

säcken gefertigt sein – oder aus Hanf.

Doch selbst vorbildliche Frühwarn-

systeme und eingehaltene Bauvorschrif-

ten werden nicht verhindern, dass nach

einem starken Beben Tausende Verletz-

te oder gar Tote zu beklagen sind. Erst

recht, wenn es während der Rushhour pas-

siert und nicht wie in Christchurch mit-

ten in der Nacht. Selbst in Ländern mit

einer guten medizinischen Versorgung ist

es nicht selbstverständlich, dass Kranken-

häuser nach einem Beben weiter funktio-

nieren. Auch deshalb hat Dräger nach dem

Kobe-Beben begonnen, sein medizintech-

nisches Equipment in einem Prüfzentrum

im japanischen Yokohama kräftig „durch-

zuschütteln“. „Unsere Geräte hielten allen

Belastungen stand – selbst der Maximal-

belastung (9,0), was dem Tohoku-Beben

vom 11.03.2011 entspricht“, sagt Erk-

Owe Hartz von Dräger, zuständig für die

Re gion Asien-Pazifik. Damit OP-Leuchten

und selbst Deckenversorgungseinheiten

schweren Erschütterungen standhalten,

müssen Elektronikbauteile, Kabelverbin-

dungen und Gehäuseverschraubungen

sehr robust sein. Die Probe aufs Exempel

war unter anderem das schwere Beben in

Chile, das die Dräger-Geräte unbeschadet

überstanden haben.

Ebenso wichtig sind Aktionen, die etwa

die Bewohner in San Francisco regelmä-

ßig darauf vorbereiten, stets einen Ruck-

sack mit dem Nötigsten bereitzuhalten,

um für mindestens 72 Stunden mit lebens-

notwendigen Vorräten gerüstet zu sein –

in erster Linie Wasser und Bargeld. Des-

wegen heißt die Kampagne samt Webseite

auch „sf72.org“. Ständig Angst zu schü-

ren, warnen Fachleute, helfe wenig. „Con-

nection, not catastrophe“, heißt es deshalb

auf der Webseite. Klar ist: Die Bedrohung

aus dem Untergrund wird auch in diesem

Jahrhundert nicht verschwinden – ob in

Kalifornien, Japan oder anderswo. Doch

mit vorausschauenden Investitionen in

Frühwarnsysteme, Bautechnik und medi-

zinische Systeme gibt es gute Chancen,

dass derartige Ereignisse eines Tages der

Vergangenheit angehören.

Ein dick-flüssiges Gel im Funda-ment kann Gebäude sicherer machen

VIDEO: TEST IN YOKOHAMA

Dräger-Versorgungseinheiten und OP-Leuchten bestehen simulierten Erdbebentest in Japanwww.draeger.com/399/japan

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3 3

Subduktions- bzw.

Obduktionsstörung

Platten unter- bzw.

überschieben sich

Divergenzstörung

Aufsteigendes Magma

drängt die Platten

auseinander

Transformstörung

Platten bewegen sich

aneinander vorbei

Hypozentrum

Erdbebenherd unter der

Erdoberfläche

Epizentrum

Position senkrecht über

dem Erdbebenherd auf

der Erdoberfläche

Geologische Störungder tektonischen Platten

D I E W I S S E N S C H A F T D E S

E R D B E B E N SE R D B E B E N S

Die tektonischen PlattenWo Kontinentalplatten aneinander stoßen

90Prozentaller Erdbeben

entstehen entlang

des „Ring of Fire“

452Vulkane

bilden den

„Ring of Fire“

Kontinentalplatten Vulkanketten („Ring of Fire“)

Ring of Fire

Beben: A Beben: B Beben: C

Richter-SkalaDie Stärke des Bebens

Erdbeben „C“ auf einem Streifenschreiber

Zeitlicher Abstand der

Wellen: 30 Sekunden

Auslenkung:

73 Millimeter

P (Primär)-Wellen

Höchste

Fortpflanzungsgeschwindigkeit,

treffen zuerst ein

S (Sekundär)-Wellen

Die Sekundärwellen spürt man

als zweite Welle

S- und P-Wellen

(Sekunden)

Distanz

(Kilometer)

Richter-

Magnitude

Auslenkung

(Millimeter)Wie wir das Beben empfinden

ERDBEBEN FOKUS

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16 DRÄGERHEFT 399 | 1 / 2016

MEDIZINISCHE VERSORGUNG NEPAL

Drinnen und draußen: Auf den Bänken vor dem Shahid Gangalal National Heart Centre herrscht entspannte Ruhe – im Foyer hingegen Geschäftigkeit

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Ravioli am KrankenbettIn Nepals größter Herzklinik in Kathmandu sorgen international ausgebildete Ärzte für die Genesung ihrer Patienten – und Verwandte für deren leibliches Wohl.

Text: Barbara Schaefer

Dr. Jyotindra Sharma – der Herz-chirurg leitet das Shahid Gangalal National Heart Centre in Kathmandu

Dr. Jyotindra Sharma gerät ins Schwärmen, wenn er an Wien

denkt. „Ich vermisse die Käsekrainer“, sagt der Direktor des Sha-

hid Gangalal National Heart Centre (SGNHC). Nach seinem Stu-

dium in Pakistan ließ sich der Nepalese am Wiener Allgemeinen

Krankenhaus zum Herzchirurgen ausbilden. „Am Wochenen-

de bin ich zum Joggen an die Donau, und beim Heurigen war

ich auch.“ Schlechte Erinnerungen habe er nur an

den „Sturm“, wie in Österreich der neue Wein heißt.

„Den habe ich gern getrunken“, so der 44-Jährige,

„und am nächsten Tag gehasst.“ In Kathmandu am

Flussufer zu joggen ist keine gute Idee – nicht nur

weil der Bagmati heilig ist, sie in der Tempelanlage

Pashupatinath ihre Toten verbrennen und die Asche

in den Fluss streuen: Kathmandus Luftverschmut-

zung ist legendär. Mancher Rückreisende hat sogar

eine Bronchitis im Gepäck. Mofas knattern durch

den zähen Verkehr, Busse verpesten die Luft, und

über den Dächern liegt Staub. Erst recht während

der Trockenzeit, wenn es monatelang nicht regnet.

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„Eine staatliche Krankenversicherung gibt es in Nepal nicht“,

erklärt Sharma. Patienten müssen selbst für die Kosten aufkom-

men. Unter 14- und über 75-Jährige werden kostenlos behandelt,

die Regierung übernimmt Diagnose und Therapie. Bedürftige

bekommen 100.000 Rupien (etwa 830 Euro) Unterstützung für

eine Operation. Das SGNHC ist mit 180 Betten das größte Herz-

zentrum des Landes. Ein zweigeschossiger, zartgrün gestriche-

ner Bau, untergebracht in einer ehemaligen Schuhfabrik. Im

Garten sitzen Besucher auf dem Rasen. Jyotindra Sharma führt

durch einen großen Saal, an einem Bett sitzt ein Vater und liest

seinem frisch operierten Kind etwas vor. Auf Bettkanten und

Stühlen drängen sich Menschen – Frauen im roten Sari, Män-

ner in westlicher Kleidung. Die Patienten verschwinden fast in

ihren Betten. „Manchmal müssen wir Besucher nach Hause

schicken, wenn zu viele Verwandte anrücken – in Wien gab es

kaum Besuch.“ Da das Essen in der Klinik etwas kostet, sorgt

meist die Verwandtschaft für die Verpflegung. Gern werden

Momos ausgepackt, eine Art nepalesische Ravioli.

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18 DRÄGERHEFT 399 | 1 / 2016

MEDIZINISCHE VERSORGUNG NEPAL

Spätestens fünf Tage nach der Operation werden die Patienten

nach Hause geschickt, dann sorgen ihre Großfamilien für sie.

„Außerdem sind die Menschen in Nepal deutlich jünger, wenn

sie operiert werden. Als ich an der Herzklinik in Wien anfing,

dachte ich, ich sei in der geriatrischen Abteilung gelandet.“ Wäh-

rend in Nepals Städten Männer und Frauen gleich oft krank wer-

den, trifft es die Frauen auf dem Land weitaus sel-

tener. „Bei uns rauchen Frauen eher nicht“, erklärt

Sharma, während die Männer „irrsinnig qualmen“.

Außerdem seien die Nepalesinnen aktiver, erledig-

ten sie doch die Hauptarbeit in der Landwirtschaft.

„Die werden nicht herzkrank.“ Gesunde junge Män-

ner verlassen meist ihre Heimat, um im Ausland zu

arbeiten, oft in den Golfstaaten. Selten werden Tou-

risten in die Herzklinik eingeliefert, auch potenziel-

le Mount- Everest-Besteiger zählten nicht zur Klien-

tel. „Die leiden eher an Hirn- oder Lungenödemen.“

„Was weg musste, landete bei uns“Mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von

730 US-Dollar (2013) zählt Nepal zu den 20 ärmsten

Ländern der Welt. Ein Viertel der Bevölkerung lebt

unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Rheuma-

tische Herzerkrankungen sind relativ weit verbrei-

tet. Die Gründe dafür liegen in der mangelhaften

Gesundheitsversorgung und schlechten hygienischen

Bedingungen auf dem Land. „Zudem gehen viele

Nepalesen erst dann zum Arzt, wenn eine Krankheit weit fortge-

schritten ist“, erklärt Prof. Dr. Jeju Nath Pokharel. Hinzu kom-

me eine hohe Ansteckungsgefahr – etwa bei Tuberkulose. Dieses

Risiko potenziere sich noch in den vollgestopften Bussen, erklärt

der Leiter der Anästhesiologischen Abteilung, der seit der Eröff-

nung vor 15 Jahren in der Klinik arbeitet. Nath Pokharel, gebo-

ren im Süden des Landes, hatte zunächst in Russland, dann in

Pakistan studiert. Eigentlich wollte er Internist werden, erzählt

der 52-Jährige. Dann bekam er ein Stipendium für Anästhesie:

„Immerhin, nah dran!“

Ein Drittel der Herzerkrankungen sind angeboren, auch

kleinste Patienten werden operiert. Darauf wollte sich der Chi-

rurg Jyotindra Sharma ursprünglich spezialisieren. „Heute

mache ich das kaum noch – der Stress ist dauerhaft einfach zu

groß. Hinzu kommt, dass die kleinen Patienten kaum überle-

ben.“ Erwachsene am Herzen zu operieren sei technisch weni-

ger schwierig, die Überlebenschance weitaus größer. Nach dem

Erdbeben verzeichnete das SGNHC einen Anstieg der Herzer-

krankungen. „Stress bedingt“, wie Sharma sagt. „Wer bereits

angeschlagen war, hatte es schwer.“ In den ersten Wochen

danach nahm man Patienten aller Art auf, Hilfsgüter trafen ein.

Klinikdirektor Sharma erinnert sich noch gut an eine Lieferung

aus Europa: „Zwei riesige Kisten mit Nasentropfen! Was mache

ich damit nach einem Erdbeben?“ Viele andere Medikamen-

te waren bereits abgelaufen oder kurz davor. „Nepal wurde zur

Nach dem Beben stieg die Zahl der Herzerkran-kungen

Einfach kochen:In der Küche des Krankenhauses braucht es Impro-visationstalent. Holzkohle befeuert die offenen Kessel, in denen das Essen dampft. Manche Grillparty ist besser ausgestattet

In seinem Element: Prof. Dr. Jeju Nath Pokharel ist Anästhesist und immer nahe bei seinen Patienten. Er arbeitet seit der Eröffnung vor 15 Jahren in der Herzklinik

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19DRÄGERHEFT 399 | 1/ 2016

Das Leben danachAls schwere Erdbeben Nepal im April und Mai 2015 erschütterten, kamen fast 9.000 Menschen ums Leben. Die Erinnerungen daran trägt jeder mit sich – und auch ein Jahr später sind die Erlebnisse weiterhin lebendig.

Der Wirt einer Pension beim Boudha-Stupa wird den 25. April 2015 wohl nie vergessen. Hom Basnet begegnet seinen Gästen stets fröhlich, aber in der Erinnerung an diese Stunden legt er die Stirn in Falten. „Am schlimmsten war das Geräusch“, sagt er. „Dieses dumpfe Grollen, das aus der Tiefe kam.“ Er versammelte alle anwesenden Gäste und Mitarbeiter auf der Dachterrasse. „Die war stabil, schwankte aber wie eine Schiffschaukel.“ Ein paar Häuser weiter saß Sampoorna Kumar Lama gerade beim Mittagessen. Kumar Lama ist Vor-sitzender des Boudha-Stupa-Entwicklungs komitees,

anschließend kümmerte er sich um den Wiederaufbau dieses tibetisch- buddhistischen Symbols. Als es losging, „konnten wir das Restaurant zwei Stunden nicht verlassen, die Türen waren blockiert“. Von besonderer Dramatik sind die Erinnerungen von Prof. Dr. Jeju Nath Pokharel, dem Leiter der Anästhesiologischen Abteilung des Shahid Gangalal National Heart Centre. Er war gerade an seinem Arbeitsplatz, als es passierte: „Wir haben operiert, in beiden Fällen waren Bypässe nötig.“ Dann fingen die Wände an zu wackeln, es dauerte entsetzlich lange. Die Katheter waren kurz davor herauszuspringen, von den Erschütterungen. „Das war ein unfassbarer Stress! Als Mensch bist du direkt betroffen. Du hast Angst, willst deinem Instinkt folgen und einfach nur rausrennen. Aber da liegen zwei Patienten, die sterben würden. Wir waren 25 Mitarbeiter. Einige haben angefangen zu weinen. Doch wir haben es geschafft, uns zu beruhigen, die Moral hochzuhalten, und sind geblieben. Beide Patienten haben überlebt. Wir waren glücklich und dankbar, dass alles gut gegangen ist.“

Kumar Lama wurde im Restaurant vom Erdbeben überrascht

Wiederaufbau:Das Erdbeben zerstörte auch

Teile des Boudha-Stupas, einem bedeutenden Pilgerziel,

das wiederaufgebaut wird

ÖPNV in Kath-mandu: Zu den Hauptverkehrszeiten sind die Busse in der Hauptstadt Nepals mehr als nur überfüllt. Die Men-schen haben sich auch an die luftigen Sitzplätze gewöhnt

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20 DRÄGERHEFT 399 | 1 / 2016

MEDIZINISCHE VERSORGUNG NEPAL

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Erst zum Trekken, dann zum HelfenDie Wiener Ärztin und Zahnärztin Dr. Gerda Rath initiiert Armenapotheken in Nepal – seither wurden rund 60.000 Patienten mit kostenlosen Medikamenten versorgt. Rath kam 1987 zum Trekken nach Nepal. Nach ihrer Pensionierung 1996 lebte sie viele Jahre in Kathmandu und arbeitete in ländlichen Gegenden. Nach wie vor reist sie nach Nepal und betreut Projekte.

Frau Dr. Rath, was waren damals die dringlichsten Gesundheitsprobleme?Ich zog mit „health camps“ wochenlang von Dorf zu Dorf und stieß vor allem auf Lungenerkrankungen, weil über offenem Feuer gekocht wird. Aber auch auf Magenbeschwerden und andere körperliche Krankheiten, etwa infolge des Tragens schwerer Lasten. Kinder waren häufig mangel- und unterernährt oder hatten Herzfehler infolge rheumatischen Fiebers. Auch Tuberkulose war nicht selten. Wie sieht es heute mit der medizinischen Versorgung aus?In den Städten gibt es ausge-

zeichnete Ärzte und Krankenhäuser. Auf dem Land ist die Versorgung dagegen mangelhaft. Behandlungen können oft nur durch Beihilfe der Großfamilie bezahlt werden, was häufig zur völligen Verarmung führt. Ärzte gibt es höchstens in Distriktspitälern, und auf den Dörfern stehen bestenfalls Gesundheitsassistenten in spärlich ausgestatteten Stützpunkten zur Verfügung.Was müsste geschehen, um die Lage zu verbessern?Nepal wurde mit seinen dörflichen Strukturen in das 21. Jahrhundert katapultiert. Das zu verkraften erfordert Zeit, Geduld und vor allem finanzielle Mittel.Welche Erkrankungen sind heute typisch?In den Städten lassen sich vermehrt Zivilisationskrankheiten wie Diabetes und Bluthochdruck ausmachen. Als ich Mitte der 1980er-Jahre das erste Mal nach Nepal kam, gab es fast keine Zahnarzt praxen, allerdings auch wenig Karies. Heute gibt es viele Zahnkliniken und viele Patienten.Hat sich die Situation mittlerweile verbessert?Ja, eindeutig! Die Krankenhäuser bieten differenzierte(re) Behandlungen an. Das Gesundheitsbewusstsein der Bevölkerung ist gestiegen, und die Regierung bietet Impf- wie Vorsorgeprogramme in ländlichen Gegenden an.Welche Erfahrungen haben Sie bislang mit Ihrer Apotheke gemacht?Magere Einkünfte reichen häufig nur zur Versorgung mit dem Nötigsten. Tabletten oder Verbände müssen aus eigener Tasche bezahlt werden. Mit kostenlosen Medikamente können wir Menschen zu mehr Lebensqualität verhelfen – derzeit unterstützen wir etwa 450 von ihnen monatlich.

Noch immer stapeln sich Hilfslieferungen am Flughafen

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21DRÄGERHEFT 399 | 1/ 2016

NEPALCHINA

INDIEN

Mount Everest

Kathmandu

Resterampe – was weg musste, landete bei uns.“ Natürlich nicht

nur, schränkt er ein. „Viele Menschen haben uns wirklich sehr

geholfen“. Noch schlimmer habe sie die Blockade getroffen, die

Wirtschaft und Alltag monatelang gelähmt hatte. „Der Wieder-

aufbau war ausgebremst, es gab kaum Sprit, Gas, und der Strom

fiel jeden Tag für einige Stunden aus.“ Mit Bitternis konstatiert

er: Das Tragische sei, dass es immer wieder die Armen treffe.

„Wir Ärzte, Verwaltungsleute und Angestellte finden meist einen

Weg, Diesel kaufen wir auf dem Schwarzmarkt.“ In der Kranken-

hausküche wird mit Holz gekocht, ein Mitarbeiter hat im Garten

eine offene Feuerstelle eingerichtet. Viele nepalesische Kliniken

sind betroffen, wenngleich ihre Stromversorgung gesichert ist.

Krankenhausdirektoren aus dem Kathmandutal beratschlagten

mit dem Gesundheitsministerium, wie Kraftstoffe und Medika-

mente nach Bedarf verteilt werden können. Im SGNHC wurden

nur noch dringende Fälle operiert. „Normalerweise schaffen wir

bis zu acht Operationen am Tag, dann waren es nur noch vier –

so haben wir Medikamente für Notfälle gespart.“

Kampf gegen KorruptionWoran hat es gelegen, dass die Verteilung der Hilfsgüter nicht

funktionierte? Lag es an der Korruption? Jyotindra Sharma

scheint auf diese Frage gewartet zu haben. „Nennen Sie mir

ein Land, in dem es keine Korruption gibt“, ist seine Replik.

Eine Geschichte dazu hat er auch parat: „Als ich Wien wieder

verlassen habe, wurde ein neuer Flughafen gebaut. Als der eini-

ge Jahre später endlich fertig war, wurden fünf Führungskräfte

entlassen – wegen Untreue!“ Wenn man über Entwicklungslän-

der rede, sei schnell die Rede von Korruption. Er versuche, sei-

ne Klinik davor zu bewahren, ohne zu wissen, ob es ihm gelin-

ge. Und was die Hilfslieferungen betrifft: „Noch immer stapeln

sich Kisten am Flughafen. Das liegt auch an der Ineffizienz der

Nepalesen.“ Und das sei deutlich schlimmer als die Korruption

und behindere das Land weit mehr.

All diesen Schwierigkeiten zum Trotz sei er stolz, im SGNHC

zu arbeiten, sagt der Anästhesist Nath Pokharel. „Als wir hier

anfingen, hatten Herzkranke nur zwei Möglichkeiten: Ins Aus-

land zu fahren oder zu sterben.“ Die Regierung unterstütze die

Klinik. „So konnten wir eine gute Infrastruktur schaffen, mit

tollen Geräten – auch von Dräger.“ Von den vielen

Operationen ist ihm eine besonders im Gedächtnis

geblieben: Als Notfall wurde eine 24-Jährige eingelie-

fert, die in der 35. Woche schwanger war. „Sie hatte

ein kindskopfgroßes Aneurysma an der Halsschlag-

ader. Wir mussten sofort operieren.“ Das Kind kam

per Kaiserschnitt zur Welt und wurde in eine Spezial-

klinik gebracht. „Wir haben das Aneurysma entfernt

und die Ader neu zusammengefügt – heute geht es

Mutter und Kind gut.“ Vor 15 Jahren hätten sie kei-

ne Chance gehabt.

Andrang:So sieht es auch in manchen Kliniken Europas in Not-fallsprechstunden am Wochenende aus – in Kathmandu ist das Alltag

Nepal: Die Republik mit 26,5 Millionen Einwohnern liegt zwischen China und Indien. Das Epi zentrum

des Bebens im April 2015 lag 80 Kilometer nord-westlich der Hauptstadt Kathmandu

021_Draeger-399_DE 21 02.05.16 12:34

FEUERWEHR GEFAHRSTOFFE

22

Die (un)sichtBromwasserstoff

Blausäure

Acrolein

Chlor

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Kontinuierliche Messungen sind notwendig, um die Ausbreitung gefährlicher Gase, Dämpfe oder Aerosole zu bestimmen. Das gilt für Chemieunfälle ebenso wie für einen Großbrand – ein neues Messkonzept definiert Standardszenarien.

Text: Peter Thomas

Der Tod kam auf leisen Sohlen: Weiß-

grün und braun-gelb waberte das Gift

über die geschundene Erde im belgischen

Ypern, als am Abend des 22. April 1915 das

deutsche Militär erstmals eine Chemie-

waffe im großen Stil einsetzte. Der Inhalt

von 6.000 Flaschen Chlorgas, einem

Nebenprodukt der chemischen Industrie,

trieb mit Nordostwind auf französische

und britische Stellungen zu. Rund 1.000

Menschen starben, mehr als viermal so

viele wurden verletzt. Ypern gilt auch als

Beginn der chemischen Kriegsführung.

Schmerzhaft brannten sich Chlor, Phos-

gen sowie Sarin in die Gesundheit und

das kollektive Gedächtnis der Soldaten

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htbareGefahr

Schwefeldioxid

Kohlenmonoxid

Ammoniak

ein. Neu an diesen Kampfstoffen waren

vor allem die zielgerichtete Verwendung

und die Dimension ihres Einsatzes. Dass

von Gasen eine tödliche Gefahr ausge-

hen kann, wusste man allerdings schon

länger. Aus gutem Grund gingen Berg-

leute über Jahrhunderte nicht allein

unter Tage – Singvögel warnten sie vor

der Gefahr des Sauerstoffmangels. Und

Winzer nahmen in der Gärzeit des Mos-

tes eine brennende Kerze als Lichtquelle

und rudimentäres Warngerät mit in den

Keller – gegen Unfälle durch Kohlenstoff-

dioxid.

EX-OX-TOXSo unterschiedlich die Beispiele auch

sind, sie umfassen drei zentrale Risiken,

denen sich Feuerwehren beim Umgang

mit gefährlichen chemischen Stoffen (in

Form von Gasen, Aerosolen oder Dämp-

fen) stellen müssen. Unter dem Kürzel

EX-OX-TOX werden die Gefahren Explo-

sion (z. B. durch Methan), Sauerstoffver-

drängung (z. B. durch Kohlenstoffdioxid)

und Vergiftung durch Reiz- oder Ätzwir-

kung sowie Wirkung auf Blut, Nerven und

Zellen (z. B. durch Chlor) zusammen-

gefasst. Spezielle Nervengase wie Tabun

eröffnen zusätzliche Flanken.

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In Deutschland bilden nachfolgende Richt-

linien die Grundlage für Einsatztaktiken:

• Feuerwehr-Dienstvorschrift 500 („Ein-

heiten im ABC-Einsatz“)

• sowie die Richtlinien der Vereinigung

zur Förderung des Deutschen Brand-

schutzes (vfdb) des Referats 10, hier ins-

besondere 10/05 („Gefahrstoffnachweis

im Feuerwehreinsatz“ mit den Teilen 1

(„Nachweistechnik“), 2 („Nachweistak-

tik und Einsatzstrategie“) sowie 3 („Qua-

lifikation des Personals, Auswertung und

Personenschutz“).

In einzelnen Bundesländern oder Regi-

onen wurden zudem Messkonzepte entwi-

ckelt, um beim Aufspüren und Messen von

gefährlichen Substanzen einheitlich vor-

zugehen, denn das ist die Basis für jeder-

zeit nachvollziehbare Messungen.

Mit Messungen sofort beginnenDräger bietet seit Langem Messkonzepte

an und stellt nun ein weiteres zur Verfü-

gung, das sich unabhängig von der regi-

onalen Zugehörigkeit einer Feuerwehr

verwenden lässt – die Inhalte (siehe gegen-

überliegende Seite) werden beispielsweise

über Schulungen vermittelt. „Zu den Ziel-

gruppen zählen vor allem lokale ABC-Ein-

heiten der Feuerwehr, die im Einsatzfall

sofort – im Rahmen ihrer Möglichkeiten

– mit den Messungen beginnen müssen“,

sagt Nicolai Gäding aus dem Geschäfts-

feld Feuerwehr bei Dräger. Das Konzept

baut auf dem Einsatz von Dräger-Röhr-

chen und -Mehrgasmessgeräten auf. „Die

Wolken, die man weder sehen, hören noch riechen kann

Gefährliche Brandgase können nicht nur bei Störfällen in der Industrie oder bei Transport-

unfällen entstehen. Feuer jeglicher Art setzen in der Regel gefähr-

liche Stoffe frei, die von der Umge-bungsluft weitergetragen werden

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GEFAHRSTOFFE FEUERWEHR

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entsprechenden Röhrchensätze und Gerä-

te sind in den Facheinheiten flächende-

ckend verbreitet.“ Die Geräte sind meist

mit Sensoren für Explosionsgefahr, Sau-

erstoff, Schwefelwasserstoff und Kohlen-

stoffmonoxid ausgestattet. Je nach örtli-

cher Gefährdungslage gibt es individuelle

Abweichungen.

Gefährliche ZigarreWas genau macht Gaswolken so gefähr-

lich? Man sieht, hört und riecht sie nicht!

Zudem breiten sie sich unterschiedlich

schnell aus – je nach Eigenschaften und

Witterung (Windgeschwindigkeit, Tem-

peratur, Luftfeuchtigkeit, Niederschlag).

Beispiel Verdünnung: Die Einwirkzone

eines Stoffs verringert sich bei doppelter

Windgeschwindigkeit um deutlich mehr

als die Hälfte, weil die Stoffkonzentration

durch die Luftbewegung stärker als nur

linear sinkt. Das berücksichtigte schon

das „Leverkusener Modell“ des vfdb aus

dem Jahr 1981. Wegen der Dynamik der

Umgebungsluft nimmt die Ausbreitung,

etwa vom Brandherd, der Leckage oder

dem Unfallort aus, für gewöhnlich die

Form einer langgezogenen Blase an, mit

scharf definiertem Beginn. Von hier aus

breitet sich die Wolke seitlich aus und

erstreckt sich in Windrichtung bis zu der

Zone, in der keine relevanten Konzen-

trationen der jeweiligen Substanz mehr

gemessen werden. Umgangssprachlich

wird die Halpaap’sche Keule – wegen

ihres zeppelinförmigen Grundrisses –

auch „Zigarre“ genannt.

Neben der Messung aktueller Werte

ist es für Brandschützer ebenfalls wichtig,

eine Prognose zur Ausbreitung der Wolke

Konzepte gegen die WolkeDas neue Messkonzept von Dräger zur Detektion und Messung von Gefahrstoffen setzt auf Prüfröhrchen und Mehrgasmessgeräte. Basis sind drei Szenarien, nach denen Einsatzkräfte für gewöhnlich vorgehen.

Der Großbrand: Gefährliche Stoffe werden häufig bei Bränden freigesetzt. Sie zu bestimmen und ihre Ausbreitung sowie Konzentration über die gesamte Einsatzdauer zu messen ist Aufgabe der Feuerwehr. Das geschieht über wiederholte Rauchgasanalysen. Dabei werden definierte Leitsubstanzen wie Kohlenstoffmonoxid (CO), Blausäure und Salzsäure gemessen. Ein eigens hierfür zusammengestellter Röhrchensatz (Simultantest) sorgt für schnelle und vergleichbare Ergebnisse.

Der Austritt bekannter Gefahrstoffe: Wenn nach einem Unfall die betroffenen Substanzen bekannt sind, kann die Messung von Anfang an genau auf diese Stoffe oder Stoffgruppen angepasst werden. Bei der Erkennung der Substanz helfen Tafeln an einem Tankwagen, Aussagen von Mitarbeitern oder vorhandene Dokumente. Um die Ausbreitung zu messen und eventuelle Gefahrzonen zu bestimmen, werden spezifische Prüfröhrchen oder Mehrgasmessgeräte genutzt.

Der Austritt unbekannter Gefahrstoffe: Schwierig wird es, wenn eine unbekannte Substanz als Gas, Dampf oder Aerosol austritt. Auslöser kann ein Transportunfall mit heterogener Ladung sein. Hier muss gleich-zeitig die Frage nach der Art des Stoffes und seines spezifischen Risikos geklärt sowie dessen Ausbreitung gemessen werden. Standard sind parallele Ex-Messungen und das Abarbeiten eines Prüfröhrchenschemas, das mit sehr weiten Empfindlichkeiten beginnt und sich mit jedem Schritt der Bestimmung einzelner Substanzen nähert. Die Prüfröhrchen für solche Schemata werden typischerweise in übergeordneten Facheinheiten wie ABC-Zügen vorgehalten.

Unter Schutz: Je näher man bei der Analyse von gefährlichen Gasen dem Bereich mit hohen Konzentrationen kommt, desto wichtiger ist die persönliche Schutzaus-rüstung (PSA) – wie dieser Chemikalien-schutzanzug

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zu erstellen. Das geschieht im einfachsten

Fall mit Schablonen, die auf Landkarten

des Einsatzgebiets gelegt werden. Genauer

sind Computerberechnungen mit dem

MET (Modell für Effekte mit toxischen und

brennbaren Gasen). Noch genauer sind

komplexe Simulationen, etwa mit DISMA

(Disaster Management; Anbieter ist der

TÜV Rheinland) oder HEARTS (Hazard

Estimation for Accidental Release of Toxic

Substances) – hier werden mit aktuellen

Daten des Deutschen Wetterdienstes Prog-

nosen für einen Zeitraum von bis zu sechs

Stunden erstellt.

Spüren, messen, analysierenGrundsätzlich folgt die Feuerwehr bei der

Gasdetektion einem mehrstufigen Sche-

ma, das der Deutsche Feuerwehrverband

bereits Anfang der 1990er-Jahre veröffent-

lichte. Hierfür tragen die Einsatztrupps

zunächst die vorhandenen Informatio-

nen zusammen. In der nächsten Stufe

(„Spüren“) wird Messtechnik eingesetzt,

um die jeweiligen Stoffe zu bestimmen.

Die genauere Bestimmung von Konzen-

tration und Ausbreitung erfolgt im dar-

auffolgenden Schritt („Messen“) – durch

Punkt- und kontinuierliche Messungen.

Bei Bedarf kommt es schließlich zum

Einsatz von aufwendiger, überregional

vorgehaltener Technik („Analysieren“).

Dabei müssen die Mess trupps – je nach

Gefährdung – persönliche Schutzausrüs-

tung (PSA) tragen. Über die Gefahr, die

von Chemiestoffen ausgehen kann, infor-

mieren die jeweiligen Einsatztoleranz-

werte (ETW; in der vfdb-Richtlinie 10/01)

und die AEGL (Acute Exposure Guideline

Levels) sowie maximale Arbeitsplatzkon-

zentrationen nach TRGS 900 (MAK). Das

Messen dieser Gase, Dämpfe oder Aero-

sole in der Luft gehört zum Bereich der

ABC- (atomare, biologische und chemi-

sche Gefahren) beziehungsweise CBRN-

Einsätze (chemische, biologische, radiolo-

gische und nukleare Gefahren). Für diese

Gebiete stehen hierzulande spezielle Fahr-

zeuge bereit, etwa die vom Bundesamt für

Bevölkerungsschutz und Katastrophenhil-

fe (BBK) finanzierten Erkundungswagen

(ErkW). Ihr Einsatz ist gerade bei großen

und lang anhaltenden Schadenslagen mit

chemischen Stoffen wichtig. Eingesetzt

Vielseitig: Technik von Dräger ermöglicht die kon-tinuierliche Bereichs-überwachung (oben: X-zone 5500), die schnelle und präzise Kontrolle mit elek-tronischen Mehrgas-messgeräten (links: X-am 2500) und den Einsatz der kom-pletten Palette an Prüfröhrchen (unten: X-act 5000)

Die Feuerwehr muss den Weg

der Wolke berechnen

können

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GEFAHRSTOFFE FEUERWEHR

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werden sie von lokalen und regionalen

Einheiten des Katastrophenschutzes, ins-

besondere den ABC-Zügen der Feuerwehr.

Gase aus der Ferne erkennenDie Mitte der 1990er-Jahre entwickel-

ten und 2001 in Dienst gestellten Fahr-

zeuge sind unter anderem mit Photo-

ioni sationsdetektoren (PID) und

Ionen mobilitätsspektrometern (IMS) aus-

gerüstet. Diese kontinuierlich messenden

Geräte können eine Vielzahl an Indust-

riechemikalien und chemischen Kampf-

stoffen identifizieren und quantifizieren.

„Derzeit ist ein Upgrade für die Erkun-

dungswagen in Planung“, sagt Matthias

Drobig vom Referat CBRN-Schutz des BBK.

Dazu gehören neue Generationen von PID

und IMS, ein verbessertes GPS-Ortungs-

system sowie Softwareanpassungen. Der

Umbau der mehr als 300 Fahrzeuge soll

in der zweiten Jahreshälfte 2016 begin-

nen. In besonders komplexen Situationen

ist weitere Kompetenz für das Messen und

Analysieren notwendig. Dann kommen

die Analytischen Task Forces (ATF) des

Bundes ins Spiel. Insgesamt sieben die-

ser Spezialeinheiten sind über das Land

verstreut, die meisten gehören zu einer

Berufsfeuerwehr. Die ATF sind (nach

einer dreijährigen Pilotphase) seit 2007

im Einsatz und werden rund 180 Mal im

Jahr gerufen – vom Alarm bis zum Ein-

treffen vergehen durchschnittlich drei

Stunden. Eine Einheit ist an der Tech-

nik- und Umweltschutzwache der Berufs-

feuerwehr Hamburg stationiert. Mit

dem von den Experten eingesetzten Sys-

tem SIGIS (Scanning Infrared Gas Ima-

ging System) lassen sich auch geringe

Stoffmengen aus bis zu fünf Kilometern

Entfernung identifizieren.

Moderne Technik erleichtert die

Detektion und Analyse von Chemikali-

en. Das reicht von der digitalen Simulati-

on der Ausbreitung von Gaswolken über

Röhrchenmultitests bis zu dezen tral vor-

gehaltenen Spezialfahrzeugen. Und

die Entwicklung geht weiter: So wurde

bereits vor ein paar Jahren von der Berufs-

feuerwehr Dortmund der Einsatz sensor-

bestückter Drohnen zur Aufklärung von

Gaswolken erprobt.

Simulation und Aufklärung: Bei der Prognose zur Ausbreitung von Gaswolken helfen Computeranwen-dungen wie MET (links). Zur Messung der Wolken aus der Luft können auch mit Sensoren bestückte Drohnen eingesetzt werden (unten)

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App für den großen KnallBeim Austritt gefährlicher Stoffe muss die Bevölkerung schnell informiert werden. Dabei hilft in Deutschland das vom Fraunhofer-Institut entwickelte KATWARN-System.

Schon der erste Alarm über die neue App im Oktober 2012 betraf die Ausbreitung gefährlicher Gase: Beim Brand eines Teppichlagers in Berlin wurden Anwohner vor dem Rauch gewarnt – und aufgefordert, Türen und Fenster geschlossen zu halten. Aber auch beim Austritt giftiger Chemikalien aus einem Fabrikge -bäude in Hamburg wurden Menschen in 20 Stadtteilen im vergangenen Jahr über KATWARN alarmiert.

Entwickelt wurde das System im Jahre 2008 vom Fraunhofer-Institut für Offene Kommunikationssys teme (FOKUS). Nach einem Pilotbetrieb wurde es 2010 in Norddeutschland für Testzwecke eingeführt. Zunächst wurde über SMS nach Postleitzahlen informiert, seit 2012 gibt es eine Smartphone-App mit individueller Warnung für den aktuellen Standort. Heute nutzen rund 60 Landkreise, kreisfreie Städte und Stadtstaaten KATWARN, um die Bevölkerung in kritischen Situationen

zu verständigen. Das können Brände und Störfälle sein, aber auch Unwetter.Im Vergleich zum flächendeckenden Alarm über Sirenen, Radio

oder Lautsprecherwagen erreicht KATWARN die Zielgruppe mitunter schneller und präziser. Je nach Szenario können die Nutzer über die App zudem in ganzen Stadtteilen, oder auch nur in einzelnen Straßen erreicht werden. Wer sich für die Nutzung anmeldet, kann sich Warnungen zum aktuellen Standort senden lassen. Außerdem lassen sich bis zu sieben frei wählbare Orte definieren.

Mobiler Schutz-engel: KATWARN informiert via Smartphone-App über Katastrophen

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DIAGNOSE & THERAPIE KRANKENHAUS

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„Bevorzugt Bach!“ Den Altmeister des

Barock empfehle er gern, wenn ein Patient

Ruhe, Trost oder gar Heilung in der Musik

suche, sagt Hermann Reichenspurner. Der

Herzchirurg von Weltrang, mit der Erfah-

rung von Abertausenden Eingriffen, folgt

in seinem Alltag der Einsicht des Philoso-

phen Friedrich Nietzsche: „Ohne Musik

wäre das Leben ein Irrtum.“ Also fehlt sie

auch nicht bei Reichenspurners Operatio-

nen am Hamburger Universitätsklinikum

in Eppendorf. Der zweifach promovierte

Professor liebt einzig Klassik. Jedoch: „Der

Musikwunsch obliegt dem Operateur!“

Kollegen mit abweichenden Klangpräfe-

renzen dürfen ihrem Geschmack immer

dann Gehör verschaffen, wenn sie am

Skalpell Regie führen. Wie laut darf die

Musik dann sein? „Unaufdringlich, keines-

falls störend für die Kommunikation im

Team“, sagt Reichenspurner.

Damit ist man in Hamburg nicht

allein. In mindestens der Hälfte der deut-

schen Operationssäle läuft Musik. Eine

Stichprobe des „British Medical Journal“

kam jüngst sogar auf einen Anteil von zwei

Dritteln. Wohlklang am OP-Tisch ist also

eher der Normalfall. Der Mensch und die

Musik, das ist eine tiefe Freundschaft. Die

Medizin konnte in den vergangenen 20 Jah-

ren Wesentliches zur Klärung vieler musi-

kalischer Rätsel beitragen. Hirnforscher

zeigten, dass der Gehörsinn durch weit-

reichende Verbindungsbahnen mit zahllo-

sen Zentren des Gehirns vernetzt ist. Das

Gehör webt die Signale auch dort ein, wo

man es nicht erwartet, und nutzt Teile der

Raumorientierung des Sehsinns, um Laute

genau von dort aufzunehmen, wo das Auge

ihre Quelle erspäht. Es rhythmisiert und

synchronisiert als Takt geber in den Tiefen

des Unterbewusstseins. Musik kann den

Blutdruck senken, auch den Puls. Stress

lässt sich „tönend“ regulieren. Wer je ein

Baby in den Schlaf gesungen hat, weiß, dass

es funktioniert.

Werbetreibende nutzen diese Effekte

seit Langem, um Käufer in Supermärk-

ten mit passenden Klängen zu animie-

ren. Der Erfolg ist messbar – und spricht

auch dafür, dass Prof. Reichenspurners

Erfahrung profund ist, wonach Musik das

Arbeitsklima im OP stressfreier stimmt.

B

Für viele Menschen ist MUSIK eine willkommene Abwechslung – und selbst im Operationssaal begegnen einem mitunter exotische Klänge. Die Effekte sind erstaunlich.

Text: Silke Umbach

Rhythmus

im Blut

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KRANKENHAUS DIAGNOSE & THERAPIE

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von Angst und Anspannung. Hier zeigte

sich die Kraft der Töne hoch signifikant.

Sowohl Livemusik, die von den Therapeu-

ten gespielt wurde, als auch Aufnahmen

verschiedener Stilrichtungen erfüllten die

in sie gesetzten Hoffnungen.

Musik kann Stress mindernLange schon mahnt Daniel Barenboim,

Generalmusikdirektor der Berliner Staats-

oper Unter den Linden, vor einer verbrei-

teten Geringschätzung des Gehörs. In

seinen Vorträgen warnt er die Medienge-

sellschaft davor, wegen der großen Macht

der vielen Bilder, die Musik nicht zu ver-

gessen – denn sie dringe tief in den Orga-

nismus ein. Zuweilen mit roher Kraft, wie

jeder weiß, der schon mal ein Rockkonzert

oder eine Flugshow besucht hat. Im Alltag

geschieht das subtiler, und die Formung

des Empfindens durch Töne, betont Baren-

boim, habe einen wesentlichen Vorsprung

vor den Bildern. Tatsächlich beginnt der

menschliche Fötus von der 23. Schwan-

gerschaftswoche an, alle Geräusche in

seiner geborgenen Welt zu lernen. Ab der

35. Woche unterscheidet er sogar Tonhö-

hen und nimmt Rhythmen wahr. Führt

dieser Vorsprung gegenüber den optischen

Auch das Wohl der Patienten um ihren Ein-

griff herum müsste sich steigern lassen.

So, wie es Musiktherapeuten seit Langem

beobachten. Jüngst kam ihre Überzeu-

gung in mehreren großen Untersuchun-

gen auf den Prüfstand der Wissenschaft.

Jaclyn Bradley Palmer, eine bekannte

Künstlerin in der Singer-Songwriter-Sze-

ne, zudem zertifizierte Musiktherapeu-

tin, hat mit Kollegen mehrere randomi-

siert-kontrollierte Studien zur Wirkung

von Musik rund um den Operationstermin

durchgeführt. Unter anderem teilten die

Wissenschaftler 207 Brustkrebspatientin-

nen in drei Gruppen ein, die jeweils selbst

gewählte, vom Therapeuten ausgesuch-

te oder aber keine Musik hörten. Bei letz-

teren wurde eventuell gehörte Musik der

Chirurgen mittels Gehörschutz blockiert.

Das Ergebnis: Auf den „harten“ Parame-

ter der Wirkungsstärke eines Narkose-

mittels hatte die Musik kaum Einfluss.

Ganz anders jedoch bei der Empfindung

Ungeborene entwickeln bereits im Mutterleib ein Sprach-gedächtnis

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Medien auch dazu, dass Musik den kleins-

ten Patienten helfen kann? Die Forschung

bejaht es. In einer der größten bislang

durchgeführten Untersuchungen hat ein

Team der Erasmus-Universität in Rotter-

dam im vergangenen Jahr nachgewiesen,

dass sich auch bei Kindern und Jugend-

lichen Schmerz, Angst und Stress nach

einer Operation durch Musik deutlich

mindern lassen. Die jüngsten Patienten

waren erst einen Monat alt. Auch außer-

halb der operativen Medizin schreitet der

bewusste Einsatz von Taktschlag und Melo-

die voran. Ein eindrucksvolles Beispiel lie-

fert die Rhythmisch-Akustische Stimula-

tion (RAS) bei Parkinson patienten, auch

als „Disco-Effekt“ bekannt. Die Betroffe-

nen, die oft schon unter sehr ausgepräg-

ten Bewegungsstörungen leiden, können

zu lauter und rhythmischer Musik bes-

ser gehen, machen größere Schritte und

halten sich aufrechter. Mancher Thera-

peut spielt gar bevorzugt Märsche, um

den Effekt zu steigern. Das ist gewiss nicht

jedermanns Sache, doch kommt es auf die

Wirkung an – und die hat sich mittlerwei-

le ebenfalls in der Schlaganfall-Rehabili-

tation gezeigt.

Von Bach bis BeatViel weiß man mittlerweile über die Wir-

kung von Musik auf Menschen und Pati-

enten – weniger allerdings über ihre

genauen Effekte auf Chirurgen. Fragt

man sie, zeigt sich eine große Vielfalt.

Das Spektrum in deutschen Kliniken

reicht von getragenem Bach bis zu elek-

tronischen Beats. Doch es gibt auch kla-

ren Konsens: So gedämpft sollte die Musik

sein, dass keine Signal- und Warntöne

medizinischer Geräte maskiert werden –

und gerade so laut, dass sie die akustische

Ödnis des monotonen Sirrens und Sum-

mens von Klimatisierung und Belüftung

aufheben kann. 2010, während eines Tref-

fens der Europäischen Herz- und Thorax-

chirurgen in Genf, lenkte deren damali-

ger Präsident, der Pariser Professor Pascal

Vouhé, die Aufmerksamkeit der Professi-

on auf die menschliche Universalspra-

che – und widmete seine Eröffnungsre-

de den musizierenden Chirurgen und der

Musik im Operationssaal. „Musik lehrt

uns, zuzuhören!“, sagte Vouhé. „Mit ihr

tun wir einen entscheidenden Schritt,

um uns in Empathie und Mitgefühl zu

üben. Sie wird uns künftig helfen, unse-

re Effizienz als Chi rurgen zu verbessern

– und auch dabei, den Patienten wieder

in das Zentrum der chirurgischen Praxis

zu rücken.“

Eine OP kann wie eine Jazzband sein

Gleicht Operieren dem Musizieren? Ja, sagt Dr. Jacopo Martellucci, Chirurg aus Florenz – und zwar der Performance einer Jazzband. Hier wie dort komme es

auf virtuose Improvisation an, die dem gesamten Ensemble glücken müsse. Als Gemeinschaft spielen sich die Teammitglieder aufeinander ein. Ein guter Chef „am Tisch“, argumentiert er, führe wie ein Bandleader und lasse Raum zum Handeln. Aufeinander eingestimmte Teams wüssten nach einiger Zeit, ohne sich dabei zu verständigen, was der nächste Schritt sein wird, selbst wenn er nicht der Routine entspricht. Und er verweist auf Experimente, in denen Chirurgen, die selbst musizieren, am OP-Simulator deutlich schneller zum Ziel kamen als vergleichbare Nichtmusiker.

Ein sehr besonderer Sinn

Das menschliche Gehör besitzt einzigartige Eigen-schaften. Es lässt sich nicht willentlich ausschalten, anders als der Sehsinn durch das Schließen der

Augen. Dennoch kann es dem Willen durchaus gehorchen – wie beim „Cocktailparty-Effekt“, wenn sich die Wahrnehmung absichtlich auf eine von vielen Stimmen im Gewirr konzentriert. Die Möglichkeit, dem Gehirn mit bildgebenden Verfahren bei der Arbeit zuzusehen, hat ge-zeigt, dass das Hören mit ganz unerwartet vielen Hirnfunktionen vernetzt ist: von der emotio-nalen Gestimmtheit über komplizierte räumliche Wahr neh mungsprozesse bis zur Beeinflussung der Denk- und Merkfähigkeit. Das bringt auch die Musikforschung voran. Was jeder nachfühlen kann (die richtige Musik zur richtigen Zeit!), werden Wissenschaftler in den kommenden Jahren wohl immer genauer erklären können. Sicher ist schon heute: Das Wunder der Musik, die wie die Sprache einzigartig ist, wird da-durch nicht kleiner werden.

auf dem Gipfel der Euro031_Draeger-399_DE 31 02.05.16 16:08

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INTERVIEW KRANKENHAUS-MANAGEMENT

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RENÉ BOSTELAAR, Geschäftsführer des Medizinischen Zentrums der Städteregion Aachen, über Krankenhäuser als Wirtschaftsunternehmen, innere Widerstände und geeignete Finanzierungsmodelle.

Drägerheft: Herr Bostelaar, Sie haben die Technik für die neue Intensivstation des Medizinischen Zentrums gemietet und nicht gekauft: warum?René Bostelaar: Das Mietmodell hat uns innerhalb kürzester Zeit zu einem Quantensprung verholfen, der sonst nicht möglich gewesen wäre. Dadurch haben wir nicht nur die Technik modernisiert und die Abläufe neu gestaltet, sondern auch unsere Wirtschaftlichkeit verbessert.Das wäre doch auch möglich gewesen, wenn sie die Technik einfach gekauft hätten. Sicher, allerdings stand das Geld dafür vor zwei Jahren nicht zur Verfügung. Und das ist ja genau die Problematik, die wir mit vielen Krankenhäusern teilen: den Investitionsstau und die leeren Kassen!Intensivstationen über ein Mietmodell zu finanzieren ist in Deutschland nicht gerade üblich. Bei uns liefen damals zwei Entwicklungen zusammen. Als ich hier vor vier Jahren anfing, war der Rohbau des Erweiterungs-gebäudes am Standort Marienhöhe von meinem Vorgänger bereits geplant.

Ich hatte also 13.000 m² freie Fläche zu füllen. Nachdem wir die medizinischen Ziele definiert und einen Masterplan erstellt hatten, beschlossen wir, große Teile der Betriebsstätte in Bardenberg an den Standort Marienhöhe zu verla-gern – und so die Doppelvorhaltung zu reduzieren. Dabei spielte die Zusam-menlegung der beiden Intensivstationen im Neubau eine zentrale Rolle. Aller-dings hatten wir dafür nur sechs Monate Zeit, was dieses Vorhaben aussichts-los erschienen ließ. Auf dem Hauptstadt-kongress in Berlin hörten wir dann von einem Bereitstellungsmodell bei der Gesundheit Nordhessen Holding AG in Kassel. Ich war mir sicher, dass dies eine Möglichkeit war, es doch noch zu schaffen. Wie haben Sie es schlussendlich geschafft?Indem wir bei Dräger nachfragten, ob dieses Projekt auch bei uns auf qualitativ höchstem Niveau und binnen sechs Monaten zu realisieren sei. Das wurde bejaht, und so war es am Ende auch. Ein solches Projekt in so kurzer Zeit umzusetzen, ist wie Segeln im Orkan. Ich habe mich damals viel auf mein

„Wie Segelnim Orkan“

ZUR PERSON

René A. Bostelaar erhielt

Ende der 1980er-Jahre

erstmals die Aufgabe, eine

Intensivstation zu bauen

und zu betreiben. In den

Folgejahren verantwor-

tete er als Vorstand und

Geschäftsführer mehrere

Bau- und Sanierungspro-

jekte an verschiedenen

Krankenhäusern sowie der

Uniklinik Köln. 2012 wech-

selte der gebürtige Nieder-

länder an das Medizinische

Zentrum (MZ) in Würse-

len, um als Geschäftsführer

einen 50-Millionen-Euro-

Masterplan umzusetzen,

der das MZ für die Zukunft

rüsten soll. Vor diesem

Hintergrund wurde im

vergangenen Jahr eine neue

Intensivstation mit 24

Betten am Standort Marien-

höhe eröffnet.

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Bauchgefühl verlassen, aber auch auf meine Mitarbeiter und Partner. Wie hätten Sie die Intensivstation gebaut, wenn Sie den Vortrag über das Mietmodell nicht gehört hätten?Dann hätte ich wahrscheinlich versucht, mir von den Gesellschaftern Geld genehmigen zu lassen – und eine deut-lich günstigere Lösung angestrebt, die vermutlich weniger nachhaltig gewe-sen wäre. Das hätte unter anderem bedeutet, ältere Technik zunächst aus- und dann wieder einzubauen. Welchen Wert hat der Vertrag, den Sie mit Dräger geschlossen haben? Insgesamt ist es ein mittlerer einstelliger Millionenbetrag, verteilt auf feste monatliche Raten über eine Laufzeit von acht Jahren. Die ältesten Geräte haben wir sofort ausgetauscht, die übrigen folgen – je nach Restwert und Funktion – in den kommenden Jahren. Insgesamt hat die Ausstattung der neuen Intensivstation natürlich deutlich mehr gekostet. Bestimmte Arbeiten, wie das Verlegen der Fußböden, haben wir selbst übernommen. Welche Komponenten liefert Dräger?Zum einen die komplette Technik, um die Intensivarbeitsplätze zu betreiben: etwa das Deckensystem für die Ver-sorgung mit Strom, Daten und Gasen so-wie die gesamte Beatmungstechnik und das Infusionsmanagement. Damit ist jedes Zimmer gleich ausgestattet und

aufgebaut, was nicht nur die Bedienung der Geräte erleichtert. Dieser Standard ist auf deutschen Intensivstationen nicht die Regel. Hinzu kommen ein elektro-nisches Patienten-Daten-Management-System (PDMS) sowie ein Arbeits-platz, der es Ärzten und Pflegekräften erlaubt, jeden Patienten über ein zentrales Monitoring zu überwachen und die Daten komplett zu digitalisieren. Welche Servicestufe wurde vereinbart?Dräger gewährleistet eine Verfügbarkeit von 98 Prozent. Für den Fall des Falles werden Funktionalitäten also innerhalb kürzester Zeit repariert oder ersetzt. Gab es Schwierigkeiten bei der Einführung der Systeme?Bei der Hardware nicht. Was wir aber unterschätzt haben, war der Aufwand für die Einführung des PDMS, das anfangs quasi keine Daten enthielt und erst gefüllt werden musste. Es gibt zwar Leitlinien, wie diese Daten auszusehen haben, aber jedes Krankenhaus arbeitet am Ende doch etwas anders. Wie und wann lagern wir einen Patienten? Wann findet ein Kanülenwechsel statt? All diese Abläufe mussten zunächst standardisiert wer-den, um sie digital abbilden zu können. Der Aufwand war enorm. Wir haben einen Arzt und einen Pfleger ein ganzes Jahr lang dafür freigestellt. Stellen Sie das Projekt heute infrage? Nein. Vielleicht hätte man uns diese Herausforderung etwas deutlicher vor

Augen führen können. Am Ende wird sich diese Investition aber in jedem Fall auszahlen – auf beiden Seiten. Inwiefern?Das PDMS ist eines der Herzstücke der neuen Intensivstation, es führt alle Patientendaten elektronisch zusammen – und uns in eine papierlose Welt, wie sie nur in wenigen deutschen Kliniken existiert. Darüber hinaus bietet es uns die Möglichkeit, den Intensivbereich künftig auch mit dem OP, der Anästhesie,Intermediate Care oder der Notauf-nahme zu vernetzen. Dann lägen auch dort alle Patientendaten jederzeit, überall und vollständig vor. Neben den Qualitätsstandards steigert ein PDMS natürlich auch die Wirtschaftlichkeit. Die Erlöse, die wir auf unserer Intensiv-station erzielen, sind sehr hoch – des-halb schaut die Krankenkasse bei der Abrechnung auch ganz genau hin. Mit dem PDMS können wir per Knopf-druck die komplette Aufenthalts-historie eines Patienten minutengenau dokumentieren. Dadurch wird das Personal enorm entlastet und eine ganz neue Transparenz geschaffen. DRG-Codierungen und Arztbriefe lassen sich so auch viel schneller ausstellen, denn niemand muss mehr dicke Aktenordner wälzen, um darin die notwendigen Informationen zu finden. Wie hat das Personal auf diese Veränderungen reagiert?Für viele war das sehr hart – nicht, weil wir den Intensivbereich neu gestaltet,

Dräger gewährleistet eine Verfüg-barkeit von 98 Prozent

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INTERVIEW KRANKENHAUS-MANAGEMENT

35DRÄGERHEFT 399 | 1/ 2016

sondern weil wir aus zwei Stationen eine gemacht haben. Einigen Pflege-kräften war das zu viel, die wollten das partout nicht. Auch einige Ärzte sind gegangen. Insgesamt hat uns während der Übergangsphase rund ein Zehntel des Personals verlassen. Gab es Vorbehalte seitens der Gesellschafter oder des Betriebsrats? Nein, im Gegenteil. Wir haben das Mietmodell inzwischen in zwei weiteren Bereichen in Anspruch genommen: für die bildgebende Diagnostik und in der Gastroenterologie. Vor vier Jahren haben Sie einen Masterplan verabschiedet, der das Medizinische Zentrum insgesamt mehr als 50 Millionen Euro kostet, um es für die Zukunft zu rüsten. Wo stehen Sie heute damit? Genau in der Mitte. Im Verlauf dieses Jahres beginnen wir mit dem nächsten Bauabschnitt – dann wird der OP- Bereich direkt an die Intensivstation grenzen. Hinzu kommen ein neuer Eingang und eine neue Cafeteria. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg, den klinischen Betrieb an einem Standort zu konzentrieren. Werden Sie das Equipment für den OP wieder mieten?Das steht noch nicht fest. Aber in jedem Fall wäre das eine ernsthafte Alternative, die wir durchaus in Betracht ziehen.

Rund 75.000 Patienten werden an den Standorten Marienhöhe und Bardenberg jedes Jahr behandelt

Medizinisches Zentrum derStädteregion Aachen Das Medizinische Zentrum (MZ) in Würselen ist eine Gesundheitseinrichtung der Schwerpunktversorgung sowie akademisches Lehrkrankenhaus der RWTH Aachen. Mit 16 Kliniken und Belegabteilungen an den Standorten Marienhöhe und Bardenberg leistet das MZ mit seinen 753 Betten einen entscheidenden Bei-trag zur medizinischen Versorgung im Landkreis Aachen. Zudem ist es mit fast 1.700 Mitarbeitern der größte Arbeitgeber. Jährlich werden hier rund 27.000 Patienten stationär und 50.000 ambulant behandelt. Gesellschafter des MZ sind zu gleichen Teilen die Städteregion Aachen und die Knappschaft-Bahn-See.

Einheitlicher Standard: Jedes Zimmer auf der neuen Intensiv-station ist gleich aufgebaut und aus-gestattet – eines der Herzstücke: das elektronische Patienten-Daten-Ma-nagement-System

Das Gespräch führte Frank Grünberg.

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GESUNDHEIT SCHMERZMEDIZIN

36 DRÄGERHEFT 399 | 1 / 2016

Sofie prellte sich beim Handballspielen den Rücken – der Schmerz wurde chronisch. Damit umzugehen lernte sie erst anderthalb Jahre später: im Deutschen Kinderschmerzzentrum (DKSZ) der Vestischen Kinder- und Jugendklinik in Datteln

Letzte

Station

Leuchtturm

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37DRÄGERHEFT 399 | 1/ 2016

Text: Isabell Spilker Fotos: Max Brunnert

Wie ein nasses, kaltes Tuch legt sich

der Frühling auf den Tag. Sofie L. ist es

am Ende egal. Sie wird heute eh nicht

Inlineskaten oder Handball spielen, ihre

große Passion. Dinge, die das schlanke,

blonde Mädchen vor anderthalb Jahren

noch wie selbstverständlich tat, bevor sie

sich beim Training den Rücken verletz-

te – und ihr Gehirn anfing, Gefallen am

Schmerz zu finden, und beschloss, ihn

nicht mehr gehen zu lassen.

„Schmerz macht uns zu dem, was wir

sind: Er formt uns und unsere Welt – er

ist quasi ein Geschenk“, sagt David But-

ler, Professor am Neuro Orthopaedic Ins-

titute an der University of South Aust-

ralia in Adelaide. Butler hat es sich zur

Aufgabe gemacht, als Basis jeder Thera-

pie, Schmerzen zunächst zu erklären.

Dass Schmerzen auch schützen, glaubt nur, wer sich rational mit ihnen beschäftigt – und keine Odyssee von Arzt zu Arzt erlebt.

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GESUNDHEIT SCHMERZMEDIZIN

38 DRÄGERHEFT 399 | 1 / 2016

„Wenn wir Schmerzen fühlen, sind etwa

500 bis 1.000 Areale des Gehirns betei-

ligt. Gedanken, Gerüche, Geschmäcker,

Gesagtes und Gefühltes: Menschen, die

wir getroffen haben, Orte, an die wir

gegangen sind. All das steht im Kontext

zu dem Schmerz, den wir fühlen und wie

wir ihn fühlen.“ Schmerzen sind überle-

benswichtig und die Reaktion des Körpers

auf eine gegenwärtige oder drohende Ver-

letzung. Das Nervensystem verarbeitet sie

als riesige Informationsflut, noch bevor

unser Bewusstsein sie realisiert. Am Ort

der Verletzung werden Botenstoffe frei-

gesetzt, die Nervenzellen reizen. Diese

Nozizeptoren leiten die Schmerzinforma-

tion an die erste Schaltzentrale weiter:

das Rückenmark. Gleichzeitig gelangen

die Reize über Nervenstränge Richtung

Gehirn und werden gefiltert. Nur das, was

wirklich wichtig ist, kommt auch an.

Rettung in höchster NotEine Prellung am Rücken signalisierte

Sofie, das Training zu unterbrechen. Die

Hauptaufgabe des Schmerzes war erfüllt.

Als er aber nicht aufhörte und noch

Wochen später zu spüren war, begann

ihre Odyssee, die erst anderthalb Jah-

re später im Deutschen Kinderschmerz-

zentrum (DKSZ) der Vestischen Kinder-

und Jugendklinik in Datteln endete.

„Hier habe ich zum ersten Mal gemerkt,

dass jemand versteht, wovon ich rede“,

erzählt sie. Auf der Station Leuchtturm,

die ihren Namen auch deshalb trägt, weil

sie über die Kinder wacht, ist die Stim-

mung ausgelassen. In kleinen Gruppen

lachen 19 He ranwachsende, necken sich.

Rettungsanker symbolisieren das, was

die Station tatsächlich ist: Rettung in

höchster Not – aus einem Daueralarm-

zustand, in den sich der Körper gebracht

hat. Wie genau die Schmerzverarbeitung

auf der Ebene des menschlichen Gehirns

funktioniert, untersucht auch Mike

Brügger mit seinem Team am Zentrum

für Zahnmedizin der Universität Zürich

sowie am Institut für Biomedizinische

Technik der ETH und Universität Zürich.

Hier arbeitet man an Methoden, Schmer-

zen zu objektivieren. Dazu werden Pro-

banden mittels geringer Strom impulse

gezielt Schmerzen zufügt, und ihre Hirn-

reaktionen mit bildgebenden Verfah-

ren beobachtet. „Eine Zeit lang wurde

angenommen, es gäbe dieses eine Are-

al, das den Schmerz codiert“, sagt Brüg-

ger. „Mittlerweile gehen wir eher davon

aus, dass die entsprechende Interaktion

zwischen den Hirnarealen darüber ent-

scheidet, ob und wie schmerzhaft etwas

ist.“ Im Moment seien es aber eher Ver-

mutungen, welche Areale die essenzielle

Steuerung des Schmerzempfindens über-

nehmen und wo Medikamente am besten

wirken. „Vieles ist noch unverstanden,

nicht nur in der Schmerzverarbeitung.“

Der Schmerz hat viele Gesichter. Als

Indikator einer existentiellen Bedrohung

hat er auch die Aufgabe, das Überleben zu

sichern. Gleichzeitig benutzt der Mensch

diese Sinneswahrnehmung zur Leistungs-

steigerung, als Initiationsritus oder zur

Kunstdarbietung. Spitzensportler gelan-

gen schmerzhaft an ihre Grenzen – und

trainieren darüber hinweg (siehe auch

gegenüberliegende Seite). Mütter spü-

ren den Schmerz der Geburt und wach-

sen über sich hinaus.

Boris Zernikow, Chefarzt am Deutschen Kinder-schmerzzentrum in Datteln, bringt Kindern und Jugend-lichen bei, was sie der Schmerz hat vergessen lassen: Spaß am Leben

Als Indikator einer existentiellen Bedrohung hat er die Aufgabe, das Überleben zu sichern

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39DRÄGERHEFT 399 | 1/ 2016

Hoch oben über der Kinderklinik mutet die Station „Leuchtturm“ nicht wirklich wie ein Krankenhaus an – eher wie eine Jugendherberge

Prof. Ansgar Thiel ist Direktor des Instituts für Sportwissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen.

„Im Schmerz sozialisiert“Im Sport herrschen mitunter einfache Gesetze: Wer ganz nach oben will, darf sich nicht von Wehwehchen geschlagen geben. Prof. Ansgar Thiel hat Spitzensportler zu ihrer Gesundheits- und Schmerzsituation befragt.

Herr Prof. Thiel, Sport ohne Schmerzen: Geht das überhaupt?Im Spitzensport sicherlich nicht, da permanent an Grenzen agiert wird, die immer wieder überwunden werden müssen – auch, um die eigene Leistung zu steigern. Dafür muss immer mehr investiert werden, wobei die Wahr-scheinlichkeit des Schmerzes zunimmt, der dann irgendwann zur Normalität wird.Begrüßen es Trainer, wenn ihre Schützlinge Schmerzen leiden?Viele sagen: Nicht das Talent sei entscheidend, ob jemand ganz nach oben kommt, sondern vielmehr, wie sehr man sich in körperlich belastenden Situationen durch -beißen kann. Wir reden aber nicht nur über Muskelkater, sondern über pathologisch verursachten Schmerz. Den Lactatwert eines Spitzenathleten nach einem 400-Meter-Sprint verkraftet kein Normalsterblicher. Aus nicht spitzensportlicher Perspek-tive ist dieser Schmerz pathologisch, im Spitzensport nennt man ihn funktional.Wo genau liegt das Problem?Dass Athleten mitunter Zustände aushalten, die sie besser nicht ausgehalten hätten, und doch ihr Programm weiterverfolgen, obwohl sie Schmerzen haben und ihnen eine Pause gut täte.Wie offen reden Sportler darüber?Das ist ein Tabuthema. Eine Turnerin hat uns mal gesagt: „Man bekommt keinen Preis dafür, wenn man die Schmerzen angibt, die man ausgehalten hat.“ Das werde einfach erwartet. Jedes Kind beklagt doch Schmerzen und wird normalerweise von seinen Eltern davor geschützt. Der Prozess, den Schmerz aushalten zu können, dauert Jahre. Jedes Kind klagt zwar über Schmerzen, doch sobald sich Erfolge einstellen und es zudem durch Eltern oder Trainer darin bestärkt wird, sie auszuhalten, lernt es, damit umzuge-hen. Der Schmerz wird glorifiziert, das Kind förmlich dort hineinsozialisiert.Wie schützen sich Spitzensportler dann vor ernsthaften Verletzungen?Sie unterscheiden zwischen guten und schlechten Schmerzen. Eine gerissene Muskelfaser ist ein schlechter Schmerz. Die meisten hören dann auf – einige aber nicht, wenn der Druck zu groß ist.Im Gegensatz zu chronischen Schmerzen hat das Gehirn gelernt, den Schmerz zu ignorieren?Ja, er wird bagatellisiert. Kaum ein Trainer wird seinen Schützling davor warnen, weil er dann nämlich keinen Dreifachsalto mehr springt. Wir versuchen dennoch, die funktional schlechte Seite des Schmerzes zu vermitteln.Welche Rolle spielen Schmerzmittel dabei?Seriöse Angaben werden durch eine hohe Dunkelziffer erschwert. Bis zu 20 Prozent der Sportler geben in Fragebögen an, Schmerzmittel zu nehmen. In vertrauten Gesprächen liegen die Werte aber deutlich höher – in manchen Sportarten sogar bei 80 Prozent.

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GESUNDHEIT SCHMERZMEDIZIN

40 DRÄGERHEFT 399 | 1 / 2016

Jedem Menschen erscheint der Schmerz

in einem eigenen Kontext. Kommt die

Mutter angerannt, weil das Kind hin-

gefallen ist? Oder wartet sie, ob es von

allein wieder aufsteht? Der Umgang mit

dem Schmerz ist gelernt, über Jahre. So

kann er als chronisches Phänomen auch

ein gelernter Prozess sein, der keinen

schmerzhaften Auslöser mehr braucht.

„Chronischer Schmerz ist eine neuro-

biologische Erkrankung, die man sich

nicht einbildet – er ist organisch bedingt,

braucht aber keinen Organschaden“,

erklärt Boris Zernikow, Chefarzt des Deut-

schen Kinderschmerzzentrums in Dat-

teln. Schmerzen bei Kindern, zumal chro-

nische, waren bis in die 1970er-Jahre für

viele Ärzte und Wissenschaftler nicht exis-

tent. In Datteln eröffnete Zernikow 2002

eine Schmerzambulanz und später das

Kinderschmerzzentrum – das erste seiner

Art. Kürzlich haben Mitstreiter Zernikows

weitere Stationen in Stuttgart und Augs-

burg eröffnet. Hier werden Kinder wie

Sofie, die unter chronischen Schmerzen

leiden, betreut. Sie lernen, dass es ein Tor

in ihrem Kopf gibt, das Schmerzen filtert.

„Das Gehirn hat sich unter bestimmten

ungünstigen Bedingungen so entwickelt,

dass Schmerz viel mehr Raum einnimmt.

Es hat ihn gelernt und mit Dingen ver-

knüpft, die nicht ursächlich sind – Angst

oder Stress zum Beispiel.“

Viele versprachen zu helfenDie Kinder und Jugendlichen auf der Sta-

tion Leuchtturm sind zwischen sieben

und 17 Jahren alt. Hier sollen sie jene

Schmerzen verlernen, die sie haben ver-

gessen lassen zu spielen, zur Schule zu

gehen, nachts durchzuschlafen oder ihre

Freunde zu treffen und Geschwister zu

ärgern, sich blaue Flecken zu holen oder

kopfüber an Reckstangen zu hängen. Boris

Zernikow und sein Team wollen sie wieder

in ein Leben führen, in dem kein Schmerz

ihren Alltag dominiert. Will er sie hei-

len? „Natürlich, aber das Empfinden von

Schmerzen lässt sich nicht heilen“, betont

Zernikow. Das weiß auch Sofie: „Ich habe

seit meinem Unfall keine ganze Schulwo-

che durchgehalten“, sagt sie. „Ich bin von

Arzt zu Arzt gegangen, hatte Physiothera-

pie und Reha sport. Ich war beim Chiro-

praktiker, Heilpraktiker, Osteopathen

und in mehreren Krankenhäusern. Kei-

ner konnte mir helfen.“

Heilsbringer für geplagte SeelenBis zu zehn Millionen Menschen sind

allein in Deutschland chronisch schmerz-

krank, gut versorgt werden (können) nur

die wenigsten. „Es gibt etwa 1.000 nie-

dergelassene Ärzte, die sich auf Schmerz-

medizin spezialisiert haben“, sagt Oliver

Emrich, Arzt für Allgemeinmedizin und

Anästhesiologie sowie Vizepräsident der

Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedi-

zin (DGS). „Diese Ärzte können vielleicht

300 Patienten behandeln. Die Lücke zwi-

schen denen, die versorgt werden kön-

nen, und denen, die versorgt werden

müssen, ist also riesig.“ Migräne, Clus-

terkopf-, Rücken- oder Tumorschmerzen

– die Palette ist groß, die Ursachen für die

Schmerzen sind meist noch größer.

Das Konzept der multimodalen

Schmerztherapie, das von vielen spezi-

alisierten Ärzten, Krankenhäusern und

Therapiezentren angewendet wird, ist

derzeit das erfolgversprechendste Mit-

tel für Langzeitleidgeplagte – und die

Rettung aus einer Spirale, die sie immer

weiter nach unten zieht. Sie ist eine

Mischung aus physikalischen Anwen-

dungen wie Massagen, Physiotherapie

oder Akupunktur, psychischer und gege-

benenfalls medikamentöser Therapie.

„Bei uns lernen die Kinder Schmerzbe-

wältigungstechniken und bekommen mit-

tels Biofeedback beispielsweise vermittelt,

was sie tun können, um sich zu entspan-

nen“, erzählt Zernikow. „Wichtig hierbei

ist auch der Umgang mit den Eltern – sie

werden ebenfalls trainiert, da sie Teil des

Konstrukts sind, in dem ihr Kind krank

geworden ist.“ Dazu müsse man zunächst

he rausfinden, wo das Problem liege. „Es

gibt in der Regel nicht die eine Ursache.

Ist es Stress, weil das Kind in der Schu-

le unterfordert ist, oder liegt eine post-

traumatische Belastungsstörung vor?“ In

Feinarbeit versuchen Zernikow und seine

Kollegen, den Ursachen auf den Grund zu

gehen. „Aber selbst wenn wir das Problem

lösen, haben wir den Schmerz damit noch

nicht behandelt.“ Ziel ist es, die Kinder

nach drei bis vier Wochen in ihren nor-

malen Alltag zu entlassen und sie best-

möglich darauf vorzubereiten.

Sofie darf in vier Tagen nach Hause.

Um zu prüfen, wie der eigene Körper auf

Stress reagiert, musste sie in Datteln eini-

ge Belastungstests machen. Dazu gehören

Weck- und Küchendienste, Spontanrefe-

rate sowie andere – mitunter absurde –

Aufgaben. Sofie hat sie alle gemeistert.

Als sie davon erzählt, klingt sie fröhlich.

Eine Stimmung, die in ihr Leben zurück-

gekehrt ist.

„Meinen Schmerz kann ich aushalten – solange er eine Bedeutung hat“Haruki Murakami, japanischer Autor

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41DRÄGERHEFT 399 | 1/ 2016

Jedes Kind, das in Datteln seinen Schmerz erfolgreich bekämpft hat, hinterlässt einen Handabdruck

LITERATUR Jutta Richter: Schmerzen verlernen – Die erfolgreichen Techniken der psychologischen Schmerzbewältigung. Anleitung und Übungen zur Selbsthilfe

Sytze van der Zee: Schmerz – eine Biografie

Michael Dobe, Boris Zernikow: Rote Karte für den Schmerz – Wie Kinder und ihre Eltern aus dem Teufelskreis chronischer Schmerzen ausbrechen

APPSPainDiaryEine App für Schmerzpatienten, die helfen soll, die Wirksamkeit ihrer Behandlung zu erfassen – und es Ärzten damit erleichtert, die Qualität der Schmerzmedikation zu bewerten.

schmerzApp Alles Wissenswerte rund um Schmerzen, Möglichkeiten zur Selbsteinschätzung und Basis für Gespräche bietet diese App der Deutschen Schmerzgesellschaft e. V., die sich an Betroffene und Angehörige wendet.

ChangePainDie App richtet sich an Schmerzpatienten und Fachkräfte, um gemeinsam eine sinnvolle Schmerztherapie zu gestalten.

INTERNET Deutsches Kinderschmerzzentrumwww.deutsches-kinderschmerzzentrum.de

Deutsche Schmerzligawww.schmerzliga.de

Schmerzen bei FrühgeborenenBis in die 1980er-Jahre dachte man, ein Frühgeborenes empfindet Schmerzen anders: weniger oder gar nicht. Das Gegenteil ist der Fall! Das Schmerzempfinden beginnt sich bereits in der 18. Schwanger-schaftswoche zu entwickeln. „Die Schmerzartikulation und die Reaktion auf schmerzhafte Reize ist bei Frühgeborenen besonders“, erklärt Dr. Philipp Deindl, Neonatologe am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf, das mit Dräger-Technik, unter anderem Inkubatoren, ausgestattet ist. Je kleiner und unreifer ein Neugeborenes sei, desto schwieriger die Einschätzung. Der Mediziner führte Studien zum Schmerzem -pfinden und zur Schmerztherapie bei Frühgeborenen durch und weiß, wie wichtig Beobachtung und Behand-lung sind: „Schmerzen wirken sich negativ auf die neurologische Entwicklung aus.“ Für das Pflegepersonal und die Ärzte wurde daher der Berner Schmerzscore entwickelt, der auch im UKE standardmäßig bei Frühgeborenen angewendet wird. Dessen Skala bietet eine Beurteilung anhand von Parametern wie Schlaf, Weinen, Beruhigung, Hautfarbe, Mimik, Körperausdruck, Atmung und Herzfrequenz. Was dann bei indi -ziertem Schmerz zu tun ist, wird individuell abgestimmt. „Das reicht vom Saugen an in Zucker getränkten Watte -stäbchen über Saugen an der Mutterbrust bis zur Gabe von Paracetamol oder Opiaten“, sagt Deindl.

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GESUNDHEIT ORGANSPENDE

42 DRÄGERHEFT 399 | 1 / 2016

Spenderorgane sind ein rares Gut – allein in Deutschland warten mehr als 10.000 Patienten auf eine

rettende TRANSPLANTATION. Manipulationen bei der Organvergabe haben zu neuen Regelungen geführt.

Welche Auswirkungen haben sie auf die Medizin?

Text: Dr. Hildegard Kaulen

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Das Leben der

6.270Herztransplantationen gab es 2013 weltweit. Die

erste unternahm Christiaan Barnard: Am 03.12.1967 tauschte er das Herz eines 54-Jährigen gegen

das einer 24-Jährigen aus. Die junge Frau war kurz zuvor nach einem Autounfall für hirntot erklärt

worden. Der Empfänger überlebte 18 Tage.

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43DRÄGERHEFT 399 | 1/ 2016

Das Erste, was an Dr. Gabriele Wöbker auffällt, ist ihre Prä-

senz. Die Direktorin der Klinik für Intensivmedizin am Helios

Klinikum Wuppertal ist auf eine unaufdringliche Weise zuge-

wandt und sehr präzise. Man spürt, dass sie die Herausforderun-

gen kennt und meistert, die Tag für Tag an sie herangetragen

werden. Dazu zählt auch die Diagnose „Hirntod“, ohne die mehr

als 10.000 Schwerkranke hierzulande vergeblich auf ein Organ

warten würden. Wöbker hat drei Facharzt-Titel. Sie ist Neurolo-

gin, Neurochirurgin sowie Anästhesistin und hat im vergangenen

Jahr sieben Organspenden mit der Deutschen Stiftung Organ-

transplantation (DSO) realisiert. Das Helios Klinikum Wupper-

tal gehört zu den rund 1.300 Entnahmekliniken in der Bundes-

republik, in denen Organspenden möglich sind. 40 Prozent der

Häuser haben allerdings noch nie eine Spende umgesetzt.

Vor der Organspende steht der Hirntod – der irreversible Verlust

aller Hirnfunktionen einschließlich des Großhirns, des Kleinhirns

und des Hirnstamms. Mit dem Erlöschen des Gehirns erlischt

auch das Bewusstsein. „Der Hirntod darf nicht nur im Zusammen-

hang mit der Organspende gesehen werden – man muss beides

auseinanderhalten“, sagt Wöbker. „Da die Beatmungsmedizin den

Sterbeprozess unterbrechen und Menschen im Koma halten kann,

brauchen wir ein Kriterium, das uns von der Pflicht entbindet, die

Atmung und die Herz-Kreislauf-Funktionen aufrechterhalten zu

müssen. Eines, das es uns erlaubt, den Toten wie einen Toten zu

behandeln.“ Dieses Kriterium sei der Hirntod, erst danach stelle

sich die Frage nach einer Organspende.

Wann ist ein Mensch wirklich tot?Die Klinikdirektorin hat in den vergangenen Wochen einige Erfah-

rungen mit der neuen Richtlinie zur Hirntoddiagnostik gesam-

melt. Auffällig ist bereits der neue Name. Der vormalige „Hirntod“

heißt jetzt „irreversibler Hirnfunktionsausfall“. Die Überarbei-

tung wurde durch den Transplantationsskandal beschleunigt.

2012 wurde bekannt, dass Ärzte einige Patienten auf der Warte-

liste kränker gemacht hatten, als sie tatsächlich waren, um ihnen

schneller ein neues Organ zukommen zu lassen. Es war auch

bekannt geworden, dass einzelne Akteure beträchtliche Bonus-

Anderen

4.834Empfänger erhielten 2013 weltweit eine neue Lunge. Ein gesundes Organ besitzt 300 bis 400 Millionen Lungenbläschen für den Gasaustausch. Ausgebreitet entspricht ihre Fläche der Größe eines Tennisplatzes. Am Tag werden bis zu 20.000 Liter Luft bewegt.

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GESUNDHEIT ORGANSPENDE

44 DRÄGERHEFT 399 | 1 / 2016

zahlungen erhalten hatten. Beides schürte das

Misstrauen der Bevölkerung in die Redlichkeit

der Transplanta tionsmedizin und ihrer Kont-

rollgremien. Die Zahl der Organspender brach

um ein Drittel ein. Mittlerweile steigt sie wieder, aber von einer

Trendwende will die DSO noch nicht sprechen. Nur von einem

Hoffnungsschimmer am Horizont.

Unabhängiges Urteil von zwei FachärztenAuch die Hirntoddiagnostik geriet ins Kreuzfeuer. Es wurde die

Sorge geäußert, dass die Fachkenntnisse der Ärzte nicht immer

und überall ausgereicht hätten, um den Hirntod zu diagnosti-

zieren. Nach den alten Richtlinien brauchten Ärzte weder eine

Facharztbezeichnung noch eine besondere Erfahrung. Wöbker

begrüßt die neue Richtlinie, die drei wesentliche Änderungen

enthält. Es dürfen jetzt weitere apparative Verfahren verwendet

Nach Skandalen gewinnt die Trans-plantationsmedizin

Vertrauen zurück

Ablauf einer Organspende

Krankheit oder Unfall mit schwerer Hirnschädigung

Feststellung des Hirntods (irreversibler Funktionsausfall)

Meldung des Spenders an die Deutsche Stiftung

Organtransplantation (DSO)Gespräch mit Angehörigen

+ Zustimmung zur Organspende

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25.050Menschen erhielten 2013 weltweit

eine neue Leber – mit einem Anteil von 21 Prozent wird sie am zweithäufigsten trans-

plantiert, hinter der Niere (67 Prozent). Die Leber ist das größte innere Organ. Sie verwertet, speichert

und entgiftet Substanzen, die vom Darm ins Blut gelangt sind. Die Leber produziert täglich einen Liter Gallenflüssigkeit.

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45DRÄGERHEFT 399 | 1/ 2016

werden, um die fehlende Durchblutung des Gehirns – und damit

die Endgültigkeit des Hirntods – nachzuweisen. Die neue Richtli-

nie fordert mehr Sachkunde von den Ärzten und verpflichtet die

Kliniken zu qualitätssichernden Maßnahmen. Die beiden Ärzte,

die den Hirntod heute unabhängig voneinander feststellen und

protokollieren, müssen Fachärzte sein und jahrelange Erfah-

rung in der intensivmedizinischen Betreuung von Patienten mit

schweren akuten Hirnschädigungen haben. Mindestens einer

von ihnen muss Facharzt für Neurologie oder Neurochirurgie

sein. „Das stellt kleinere Kliniken vor erhebliche Probleme“, sagt

Wöbker. „Entweder weil sie keine Fachärzte haben oder weil die

Fachärzte nicht sicher sind, ob sie die geforderte Sachkunde mit-

bringen. Neu ist auch, dass Ärzte im Hirntodprotokoll bestätigen

müssen, dass sie die Anforderungen der neuen Richt linie erfüllt

haben. Das erhöht den Druck auf die Kollegen.“ Auch das habe

dazu geführt, dass die Zahl der Organspenden nach Inkrafttre-

ten der neuen Richtlinie (im Sommer 2015) erst einmal zurück-

gegangen ist. Zum Jahresende lag sie dann aber mit 877 Organ-

spendern eineinhalb Prozent über dem Vorjahreswert. Gespendet

wurden insgesamt 2.900 Organe, 89 weniger als 2014.

Worauf es genau ankommtDie Diagnostik des irreversiblen Hirnfunktionsverlusts beruht

auf dem Nachweis, dass alle Hirnfunktionen erloschen sind – und

dass dieser Verlust nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.

Dafür gibt es einen dreistufigen Prozess, der strikt einzuhalten

ist. Das war schon früher so. „Wenn es in der Vergangenheit Pro-

bleme mit der Hirntoddiagnostik gegeben hat, dann nicht, weil

der Hirntod fälschlicherweise diagnostiziert worden ist, sondern

weil die Untersuchungen nicht in der korrekten zeitlichen Rei-

henfolge durchgeführt wurden“, so Wöbker. „Im ersten Schritt

muss geprüft werden, ob die Voraussetzungen für einen irrever-

siblen Hirnfunktionsverlust gegeben sind. Das ist in der Intensiv-

medizin nicht so einfach zu beurteilen“, sagt die Klinikdirektorin.

„Dafür braucht man sehr viel Erfahrung. Deshalb sind jetzt zwei

Fachärzte mit mehrjähriger Erfahrung in der Behandlung von

Patienten mit Schädel-Hirn-Verletzungen gefordert, wovon min-

destens einer Neurologe oder Neurochirurg sein muss.“

Bei der Prüfung der Voraussetzungen muss nachgewiesen

werden, dass der Patient eine akute schwere primäre oder sekun-

däre Hirnschädigung hat, die den Hirntod erklären kann und

für die es keine reversiblen Ursachen gibt – etwa bestimmte

eMedizinische Untersuchung

des VerstorbenenÜbertragung von Daten zur

Organvermittlung an EurotransplantOrgan-

entnahmeOrgan-

transportTrans-

plantation

Die ethische DimensionNach dem Transplantationsskandal 2012 hat sich auch der Deutsche Ethikrat mit dem Hirntod beschäftigt und ihn in einem einstimmigen Votum als Kriterium für die Organspende festgelegt. Allerdings waren sich nicht alle Mitglieder einig, dass der Hirntod tatsächlich der Tod des Menschen ist. Einige sind der Ansicht, dass der Organismus auch ohne Gehirn, aber mit Unterstützung der Apparatemedizin über integrierende Funktionen ver-fügt. Diese Gruppe macht das etwa daran fest, dass sich Schwangerschaften bis zur Geburt eines gesunden Kindes fortführen lassen.

Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina hat sich mit der Legitimation der Vergabe-kriterien beschäftigt. Wem steht das Organ als Erstes zu? Die Kriterien werden derzeit von der Bundesärzte-kammer festgelegt. Diese Institution ist aber lediglich ein Organ der ärztlichen Selbstverwaltung. Weil es bei der Vergabe eines Organs aber um die Zuteilung von Lebenschancen geht und damit um einen normativen Prozess, müssten – nach Ansicht der Leopoldina – die Vergabekriterien demokratisch legitimiert werden: also vom Parlament, nicht von einigen Ärzten. Patienten, die es nicht auf die Warteliste schaffen, sollten zu-dem das Recht erhalten, diese Entscheidung von einem unabhängigen Gremium überprüfen zu lassen.

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46 DRÄGERHEFT 399 | 1 / 2016

Medikamente oder eine Muskellähmung. Erst danach dürfen Ärz-

te die in den Richtlinien geforderten klinischen Ausfallsymptome

untersuchen und feststellen. Dazu gehören eine tiefe Bewusstlo-

sigkeit, der Ausfall der Spontanatmung und das Fehlen der Hirn-

stammreflexe. Anschließend muss nachgewiesen werden, dass

die Funktion des gesamten Gehirns (einschließlich des Groß-

hirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms) endgültig erloschen

ist. Wöbker sieht allerdings noch Klärungsbedarf bei der Umset-

zung der Anforderungen an die Untersucher. „Wenn beispiels-

weise neben dem Neurologen oder Neurochirurgen auch ein

Facharzt für Anästhesie an der Diagnostik beteiligt war, darf der

Anästhesist später nicht an der Entnahme der Organe beteiligt

sein. Spende und Transplantation müssen ja strikt getrennt blei-

ben. Das stellt viele Kliniken vor Herausforderungen, weil sie kei-

ne zwei diensthabenden Fachärzte für Anästhesie haben.“

Vertrauen zurückgewinnenHinter Dr. Manfred Richter liegt ein anstrengender Tag. Rich-

ter leitet das Herztransplantationsprogramm an der Kerckhoff-

Klinik im hessischen Bad Nauheim. Er ist ein erfahrener Trans-

plantationsmediziner, der sich schon während seiner Promotion

mit Abstoßungsreaktionen beschäftigt hat. Richter kennt sei-

ne Patienten, meist Männer mittleren Alters, über viele Jahre

und weiß, wie dankbar sie für das neue Organ sind.

Im vergangenen Jahr hat er 14 Herzen und eben-

so viele mechanische Kreislaufunterstützungssyste-

me („Kunstherzen“) implantiert. Sein Team wurde

2013 von der unabhängigen Prüfungs- und Überwa-

chungskommission mit sehr gut bewertet. Es gab kei-

nerlei Beanstandungen oder Unregelmäßigkeiten.

„Das freut uns natürlich, denn wir betrachten diese

Beurteilung als Auszeichnung“, sagt Richter. Nach

dem Transplantationsskandal wurden die Befugnis-

Interessenkonflikte werden durch strikte

Trennung von Spende und Transplantation

vermieden

Todesursachen der Organspender in Deutschland (2014)

Ischämisch-hypoxi-sche Hirnschäden

Schädel-Hirn-Traumen

Primäre intra-kranielle Tumore

EntzündlicheHirnschäden

Hirninfarkte

Hydrozephalen

Intrakranielle Blutungen

485 (56,1 %)

151 (17,5 %)

127 (14,7 %)

86 (10 %)

7 (0,8 %)

6 (0,7 %)

2 (0,2 %)

QUELLE: DEUTSCHE STIFTUNG ORGANTRANSPLANTATION (DSO)

Realisierte Organspenden

Ausschlussgründe nach allgemeiner Beratung

Nicht realisierte Organspenden

Ergebnisse der organspendebezogenenKontakte in Deutschland (2014)

864 40 %

475 22 %

83138 %

046_Draeger-399_DE 46 02.05.16 17:23

47DRÄGERHEFT 399 | 1/ 2016

ORGANSPENDE GESUNDHEIT

se der Prüfungs- und Überwachungskommission deutlich ausge-

weitet. Alle Transplantationszentren werden nun regelmäßig und

ohne Vorankündigung überprüft. Zudem gibt es die unabhängi-

ge Vertrauensstelle „Transplantationsmedizin“, der 2013 – teils

anonym, teils namentlich – 163 Auffälligkeiten gemeldet wurden.

Gegen Manipulationen auf der Warteliste gibt es inzwischen ein

Mehraugenprinzip. „Die Entscheidung über die Aufnahme in das

Transplantationsprogramm fällt in einer interdisziplinär besetz-

ten Konferenz“, erklärt Richter. „Die Verantwortung liegt bei

drei Kollegen – in unserem Fall bei dem Leiter der Herzinsuffi-

zienzambulanz, dem Leiter der Psychokardiologie und bei mir.“

Neue Lebenschancen mit neuem HerzenDie Zuteilung des Spenderherzens erfolgt durch die im nieder-

ländischen Leiden ansässige Stiftung Eurotransplant. Entschie-

den wird auf Basis von Dringlichkeit und Wartezeit. Derzeit gibt

es drei Kategorien für die Zuteilung eines Spenderherzens: hoch-

dringlich, transplantabel und zurzeit nicht transplantabel. „Etwa

90 Prozent der Organe gehen an Patienten mit der höchsten

Dringlichkeitsstufe“, sagt Richter. „Die als transplantabel ein-

gestuften Patienten, die sich zu Hause aufhalten, erhalten dage-

gen nur selten ein Organ. Deshalb hängen die Dringlichkeit und

Chance auf ein Organ eng zusammen.“ Die hohe Dringlichkeits-

stufe gilt maximal acht Wochen und muss dann (mit aktuellen

Behandlungsdaten) neu begründet werden. Wer diesen Status

hat, ist schwer krank und muss sich ständig auf einer Intensiv-

oder Überwachungsstation aufhalten. Viele als hochdringlich

gelistete Patienten warten ein halbes Jahr oder länger auf ein

neues Organ.

„Unsere Patienten wissen, dass sie durch die Transplantation

eine neue Lebenschance erhalten“, sagt Richter. „Nach einem

Jahr sind mehr als 90 Prozent nicht mehr eingeschränkt in ihren

Alltagsaktivitäten.“ Von den zehn Patienten, denen Richter mit

seinem Team 2014 ein neues Herz transplantiert hat, ist bislang

keiner gestorben. Von den 14 Patienten, die er im vergangenen

Jahr operiert hat, leben 13. Diese Zahlen sind besser als der bun-

desdeutsche Durchschnitt. Bundesweit liegt die Überlebensrate

nach einem Jahr bei 80, nach fünf Jahren bei 70 Prozent. Fach-

leute sind der Ansicht, dass die Raten noch besser sein könnten,

wenn die Patienten bei der Transplantation nicht so krank wären.

Die Zuteilung über die hohe Dringlichkeit führt dazu, dass vie-

le sehr lange warten müssen. Deshalb ist ein neues Allokations-

system in Arbeit. Richter begrüßt diesen Cardiac Allocation Score,

der neben der Dringlichkeit auch die Erfolgsaussichten des Ein-

griffs stärker berücksichtigen soll.

Richter implantiert seit einigen Jahren vermehrt Herzunter-

stützungssysteme. In Deutschland sind 2014 etwa 300 Herzen ver-

pflanzt und über 1.000 Herzunterstützungssysteme implantiert

worden. „Früher haben diese Systeme nur die Zeit bis zur Trans-

plantation überbrückt“, sagt er. „Heute ist es für viele Patienten

die endgültige Therapie, weil sie für eine Transplantation nicht

mehr infrage kommen.“

Welche Möglichkeiten zur Organspende gibt es?Nicht jeder Mensch wird automatisch Organspender. In Europa haben sich drei Konzepte durchgesetzt:

Widerspruchslösung Sie macht jeden Menschen nach dessen Hirntod automatisch zum Organspender, sofern er zu Lebzeiten nicht offiziell widersprochen hat. Der Widerspruch wird in einem nationalen Register festgehalten. In einigen Ländern haben Angehörige allerdings ein Widerspruchsrecht. Diese Lösung gilt in 22 der 28 EU-Staaten.

Zustimmungslösung Bei dieser Lösung muss der Verstorbene zu Lebzeiten der Organspende zugestimmt haben, etwa durch einen Organspendeausweis. Liegt keine Zustimmung vor, werden die Angehörigen nach dem mutmaßlichen Willen des Verstorbenen gefragt. Diese Regelung gilt in fünf europäischen Staaten.

Entscheidungslösung Hier soll jeder seine Bereitschaft zur Organspende auf Basis fundierter Informationen prüfen und schriftlich festhalten. Dazu wird er von den Krankenkassen regelmäßig angeschrieben. Wenn sich der Spender nicht selbst geäußert hat, werden bei seinem Hirntod die nächsten Angehörigen um Zustimmung gebeten. Deutschland ist das einzige EU-Land mit dieser Regelung.

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79.325Nieren wurden 2013 weltweit verpflanzt. Ihre Empfänger genießen eine neue Freiheit ohne die sonst oft notwendige und beeinträchtigen-de Dialyse.

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FORUM GETRÄNKEINDUSTRIE

Zaubertrank von der

Hefebank

Oliver Wesseloh, Biersommelier und Braumeister:Mit seinem handwerklich produzierten Craft Beer ist der Diplom-Ingenieur aus Hamburg ein bekanntes Gesichteiner munteren Szene – nicht nur in Deutschland

48 DRÄGERHEFT 399 | 1 / 2016

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GETRÄNKEINDUSTRIE FORUM

49DRÄGERHEFT 399 | 1/ 2016

Hefe wird nicht erwähnt im DEUTSCHEN REINHEITSGEBOT für Bier, dessen 500. Jubiläum sich im April jährte. Warum eigentlich nicht, und wofür brauchen fünf Hamburger Mikrobrauereien heute noch einen Eiskeller?

Text: Olaf Krohn

Zum Biertrinken brauchte es früher

keine Expertise. Doch seit ein paar Jah-

ren tut sich was: „Craft Beer“ heißt der

Trend, der aus den USA nach Deutschland

schwappte. Vom Bürgerschaftsabgeordne-

ten Joachim Seeler angestochen, strömte

zu Beginn dieses Jahres der Hamburger

Senatsbock aus dem Fass in einen grauen

Steinkrug – der milchig braune Schaum

lief sogleich über. „Dieses Getränk ist zum

menschlichen Genuss geeignet“, gab See-

ler nach dem ersten Schluck bekannt. „Ein

dunkler Doppelbock, mit Röstmalzaromen

von Zartbitterschokolade und Espresso“,

urteilte Oliver Wesseloh, der in der deut-

schen Craft Beer-Szene einen Namen hat.

Ein halbes Jahrhundert versank der

Hamburger Senatsbock im Dornrös-

chenschlaf, bis fünf Hamburger Mikro-

brauereien auf die Idee kamen, ihn wie-

derzubeleben. Er wurde „mit fünf Malzen

gebraut, die sich zu einer cremigen, kom-

plexen Konsistenz vereinen. Leicht nus-

sig zu Beginn, drückt sich der Gerstensaft

sanft in den Gaumen.“ Vom edlen Hand-

werk beseelte Brauer umgarnen ihre Kun-

den heute gern mit der Terminologie und

Dramaturgie von Winzern.

ZOliver Wesseloh wurde 2013 als bester

Biersommelier der Welt ausgezeichnet.

Manchem Brauereikonzern kreidet er

an, „jahrelang nichts anderes gemacht

zu haben, als dem Bier den Geschmack

auszutreiben.“ Wesseloh spielt damit

auf den Siegeszug des Pilseners seit den

1980er-Jahren an, dem vor der Jahrtau-

sendwende seine ursprünglich bittere

Note genommen wurde. Marktforscher

hatten herausgefunden, dass Frauen bitte-

res Bier nicht sonderlich mögen. Seitdem,

so räumen auch Branchenkenner ein, las-

sen sich Fernsehbiere, für die etwa bei der

Übertragung von Fußballspielen gewor-

ben wird, geschmacklich kaum noch von-

einander unterscheiden.

Jedes Handwerk hat seinen PreisGegen massenkompatible Volksbiere

wappnen sich Craft Beer-Brauer (craft =

Handwerk) mit immer neuen Rezeptu-

ren – und ziehen sich mit ihren Anhän-

gern in eine Art gallisches Dorf zurück.

Der Zaubertrank, den sie dort kreieren,

imprägniert sie gegen ein Imperium.

Craft Beer stammt aus Kleinstbrauereien

und eben nicht aus riesigen Industriean-

lagen. In seiner noch jungen Kehrwieder

Kreativbrauerei produziert Oliver Wesse-

loh neben drei Sorten, die immer verfüg-

bar sind, auch solche, die es mitunter

nur als limitierte Edition gibt: einmalig,

nach dem Anstich schnell vergriffen und

somit auch zur Legendenbildung geeig-

net. Allerdings nicht ganz billig.

Kürzlich hat der Hamburger Diplom-

Ingenieur für Brauwesen mit „ü.NN –

überNormalNull“ das erste alkoholfreie

IPA auf den Markt gebracht. Kenner wis-

sen, dass IPA für Indian Pale Ale steht und

geben für eine 0,33-Liter-Flasche ü.NN

im Fachhandel 2,99 Euro aus. Auf diesen

Zug sind auch die großen Brauereien auf-

gesprungen, mitunter begleitet von hämi-

schen Kommentaren aus dem Puristen-

lager. Nicht zuletzt ist es einfallsreichen

Craft Beer-Brauern zu verdanken, dass

sich zu den etablierten 5.500 Biermar-

ken in Deutschland jede Woche eine neue

dazugesellt – und das, obwohl der Markt

eigentlich gesättigt ist. Tatsächlich trinken

die Deutschen schon länger immer weni-

ger Bier: Der Absatz sank von 96,7 Milli-

onen (2001) auf 79,5 Millionen Hektoli-

ter (2015). Allerdings berücksichtigte das FO

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049_Draeger-399_DE 49 02.05.16 13:00

FORUM GETRÄNKEINDUSTRIE

50 DRÄGERHEFT 399 | 1 / 2016

Heidewitzka:Jeder Anstich, bei dem der Zapfhahn mit dem Schlägel ins unter Überdruck stehende Fass geschlagen wird, ist ein Risiko (links). Der Druck verdankt sich der Arbeit von Hefen wie sie auch in Berlin lagern (oben und rechts)

Reinheitsgebotvon 1516: mehr als nur ein Marketing-kniff

Statistische Bundesamt kein alkoholfreies

Bier, das mittlerweile durchaus als Life-

style- und Sportgetränk reüssiert – mit fünf

Prozent Marktanteil. Mancher sagt dem

Alkoholfreien in zehn Jahren sogar einen

Marktanteil von 20 Prozent voraus.

Für 2016 gründen die deutschen

Brauer ihren Optimismus auch auf die

Fußballeuropameisterschaft in Frank-

reich – und ein rundes Jubiläum: am

23. April 1516 wurde das Reinheitsgebot

für bayerisches Bier erlassen. Keine ande-

re Lebensmittelverordnung der Welt hat

einen derartigen Nimbus entwickelt wie

dieses in Ingolstadt erlassene Gebot, nach

dem Bier nur Wasser, Hopfen und Gerste

enthalten darf. Es verleiht in Deutschland

gebrau tem Bier eine Art Heiligenschein,

der vielen Konsumenten jedoch nicht

mehr so recht einleuchten will. Um die-

sem Nimbus deutscher Braukunst nach-

zuspüren, ist die Seestraße im Berliner

Stadtteil Wedding eine gute Adresse. Hin-

ter einer imposanten Backsteinfassade

mit dem historischen Schriftzug „Institut

für Gärungsgewerbe“ hat die Versuchs-

und Lehranstalt für Brauerei (VLB) seit

1898 ihren Sitz. Ab 1903 bildete das von

der deutschen Brau- und Malz industrie

getragene private Institut in Zusammen-

arbeit mit der Königlich Landwirtschaftli-

chen Hochschule Braumeister aus. Heute

ist die Technische Universität akademi-

scher Partner der VLB – und man kann

dort seinen Bachelor oder den Diplom-

Braumeister machen.

Bier liegt im TrendAuf fast allen Kontinenten genießt deut-

sches Bier einen exzellenten Ruf, der sich

auch auf die Brauerausbildung erstreckt.

Die Kurse der VLB locken regelmäßig jun-

ge Leute aus aller Welt an. „Unser aktuel-

ler Kurs hat 52 Teilnehmer, mehr können

wir nicht unterbringen – nur eine Teil-

nehmerin stammt aus Deutschland“,

sagt VLB-Sprecher Olaf Hendel. Unter-

richtssprache ist Englisch, der fünfmo-

natige Lehrgang kostet 16.500 Euro. Vie-

le angehende Braumeister stammen aus

den Emerging Markets, also Ländern wie

Brasilien, Russland, Indien oder China.

Ein wichtiger Wachstumsmarkt ist Asien.

„Das Muster erleben wir fast über-

all“, sagt Hendel. „Wo die Kaufkraft steigt,

geben Menschen ihr Geld für Marken-

produkte und oft auch für alkoholische

Getränke aus.“ Doch wie kommt das deut-

sche Reinheitsgebot dort ins Glas, wo kei-

ne Gerste wächst? In Nigeria oder Kenia

beispielsweise setzt man auf regionale

Rohstoffe wie Sorghum. Tatsächlich eig-

nen sich die meisten Getreidesorten, um

schmackhaftes Bier zu brauen.

Und wie kam jetzt die Gerste vor 500

Jahren in das deutsche Reinheitsgebot?

Historiker vermuten, dass die Landesher-

ren im späten Mittelalter den vielfältig

verwertbaren Weizen für die Bäcker und

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050_Draeger-399_DE 50 02.05.16 13:00

51DRÄGERHEFT 399 | 1/ 2016

ihre Brotherstellung reservieren wollten.

Während man mit der Wintergerste schon

im Mittelalter das Vieh fütterte, fand die

Sommergerste in erster Linie als Brau-

gerste Verwendung. „Das Reinheitsge-

bot ist mehr als nur ein Marketingkniff,

es wird auch gelebt“, meint Olaf Hen-

del. Und es sei ja durchaus ein Qualitäts-

merkmal, dass in Deutschland keine Farb-

oder Konservierungsstoffe und auch keine

Schaumstabilisatoren oder technischen

Enzyme ins Bier gemischt werden dürfen.

Dem Hefegeheimnis auf der SpurDoch warum war im ursprünglichen

Reinheitsgebot von Hefe nie die Rede?

Dafür wendet man sich in der VLB am

besten an Martin Senz, Fachgebietslei-

ter Bioprozesstechnik und Angewandte

Mikrobiologie: „Im 16. Jahrhundert kann-

te man noch keine Mikroorganismen und

machte sich bei der Spontangärung den

Umstand zunutze, dass sich an Früch-

ten und Getreide natürliche Hefen befin-

den.“ Es kam, was kommen musste. „Der

Bier-Geschmack unterschied sich stark, je

nach Region“, sagt der promovierte Inge-

nieur und Biotechnologe. Erst der franzö-

sische Wissenschaftler Louis Pasteur kam

der alkoholischen Gärung von Hefe in der

zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf

die Spur. Vor 100 Jahren entwickelte dann

Prof. Paul Lindner die Hefereinzucht in

Berlin weiter und legte eine umfangrei-

che Sammlung an – reine Hefen in iso-

lierter Form. Die Grundlage für eine viel-

seitige „Hefebank“ war geschaffen. „Wir

bewahren hier ein reiches Erbe“, sagt

Martin Senz und zieht einen Schlüssel

aus seiner Kitteltasche, mit dem er einen

Seitenraum des Labors öffnet. Das Ther-

mometer zeigt vier Grad, in den Rega-

len stehen kleine Glasröhrchen dicht

Durch und durch patent Mit dem Lubeca-Ventil für Bierzapfanlagen wurde Johann Heinrich Dräger berühmt – und vom Händler zum Hersteller.

Am Anfang war das Bier, und Johann Heinrich Drägers Ehrgeiz, dass es gleichmäßig und mit konstant dosierter Kohlensäure aus dem Zapfhahn fließen möge. Bismarcks Kanzlerschaft neigte sich gerade dem Ende zu, als Dräger 1889 mit seinem Kompagnon das Handelsunternehmen Dräger & Gerling gründete. Damals vertrieb man auch Apparate an Gastwirte, mit denen sich Bier zapfen und mit Kohlensäure aus Druckluft-flaschen versetzen ließ. Allerdings merkte Dräger schnell, dass vor allem die Ventile mangelhaft funktionierten und häufig repariert werden mussten. Das forderte den gelernten Uhrmacher heraus: Zusammen mit seinem Sohn Bernhard machte er sich daran, einen Kohlensäure-Druckminderer zu entwickeln. Er war mit vier Kilogramm sogar um das Vierfache leichter als herkömmliche Produkte. Das Lubeca-Ventil (Patentnummer: 52238) für Bierzapfanlagen wurde praktisch über Nacht zum Bestseller und bewirkte auch, dass aus dem Händler der Hersteller Dräger wurde. Für die Getränkeindustrie produziert der Lübecker Technologiekonzern heute noch: So stattet etwa Krombacher seine Brauerei seit dem vergangenen Jahr mit Dräger-Gasmessgeräten aus – sie arbeiten mit Infrarot- (Typ: PIR 7200; zur CO2

-Messung) und elektrochemischen Sensoren (Typ: Polytron 7000; zur Ammoniakmessung). Ammoniak dient Brauereien als Energie-träger für den Kühlungsprozess. In der Food-and-Beverage-Industrie liefert Dräger seine mobile und stationäre Gasmesstechnik nicht nur an Brauereien, sondern generell an Betriebe der Getränkeindustrie, die CO

2 für die Karbonisierung verwen-

den – vom Limonadenhersteller bis hin zum Sekt- und Weinerzeuger.

„Das Erfinden ist die Tätigkeit der Fantasie, Neues zu gestalten“, so Bernhard Dräger, Sohn des Firmengründers. Erster Ertrag dieser Kreativität: ein Druckminderer-Ventil

Dräger PIR 7200: infrarotoptischer Transmitter zur kontinuierlichen Überwachung von Kohlendioxid

051_Draeger-399_DE 51 02.05.16 13:00

FORUM GETRÄNKEINDUSTRIE

52 DRÄGERHEFT 399 | 1 / 2016

Das perfekte Bier, so scheint es, muss erst noch gebraut werden

Berlin gerade eine Onlinedatenbank auf.

Denn den einzelligen Pilz Saccharomyces

cerevisiae (Back- oder Bierhefe) gibt es in

einer Fülle von Variationen. Wie Hopfen

und Malz bildet Hefe die unverwechsel-

bare DNA eines Bieres. Bei der alkoholi-

schen Gärung entstehen bis zu 300 Düf-

te und Aromen.

In der Vergangenheit legte man auf

diese Vielfalt keinen gesteigerten Wert,

außer dass man Hefe in untergärig und

obergärig unterschied – je nachdem, ob

das Bier auf der Hefe liegt, oder die Hefe

auf dem Bier schwimmt. Mittlerweile

sind die Anforderungen gestiegen. „Wir

beobachten, dass die Relevanz der Hefe

zunimmt“, sagt Senz. So setzen experi-

mentierfreudige Brauer wie Oliver Wesse-

loh bei der Entwicklung neuer Biere auch

auf die Hefe. Statt die Gärung vorzeitig

zu unterbrechen oder den Alkohol später

zu entfernen, verwendet der Hamburger

Craft Beer-Brauer bei seinem alkohol-

freien ü.NN Spezialhefe, die Malz zucker

nicht vergären lässt.

Das perfekte Bier, so scheint es, war-

tet noch immer darauf, gebraut zu wer-

den. Angesichts von 1.500 Hefestämmen

und 200 Hopfensorten darf man, selbst

unter Beachtung des deutschen Reinheits-

gebots von 1516, noch auf so manches

Geschmackserlebnis gespannt sein. Olaf

Hendel von der Berliner VLB stammt aus

Köln und besucht gern die wenigen Berli-

ner Kneipen mit Kölschausschank. Einer-

seits imponiert ihm der Erfindungsreich-

tum der Handwerksbrauer, andererseits:

„Einen ganzen Abend lang nur Craft Beer

zu trinken, kann die die Geschmacksner-

ven ganz schön stressen.“

an dicht, alle sorgsam beschriftet. „Das

sind unsere Schrägagarkulturen! Diese

Hefestämme müssen wir alle drei Monate

auf einen neuen Nährboden überimpfen“,

erklärt der Wissenschaftler.

Einzelliger Pilz in vielen Varianten Andere Hefen lagern konventionell gefrier-

getrocknet in einer Schutzmatrix. Zudem

gibt es Kulturen, die bei minus 70 Grad

regelrecht in den Winterschlaf versetzt

werden. „Von unseren 1.500 Hefestäm-

men werden bislang etwa 100 kommerzi-

ell genutzt“, so der 34-Jährige. „Die ande-

ren sind erst unvollständig charakteri-

siert, das wird noch Jahre dauern.“ Die

Hefen, die durch eine umfangreiche Bak-

teriensammlung ergänzt werden, dienen

der Lehre, aber auch der Forschung und

Entwicklung. So wurden hier die Hefen

und Bakterien des Teepilzes isoliert, cha-

rakterisiert und erstmalig für die indus-

trielle Herstellung des nicht alkoholi-

schen Gärgetränks Kombucha genutzt.

Vor allem aber nutzen Brauereien die

Reinzuchthefen, um ihre eigenen Kultu-

ren vor Degeneration oder Mutation zu

bewahren.

Um Brauern und anderen Kunden

künftig eine zielgerichtete Suche nach

einer Hefe mit genau definierten Eigen-

schaften zu erleichtern, baut die VLB in

WACHSTUMSMARKT:

Auf rund

688

Milliarden US-Dollar schätzen

Experten den weltweiten

Biermarkt im Jahre 2020. Das

entspricht etwa dem Brutto-

inlandsprodukt der Schweiz,

das im vergangenen Jahr

bei 659,7 Mrd. US-Dollar lag.

144Liter Bier trinkt jeder

Tscheche im Schnitt pro Jahr

(2014). Und hat damit welt-

weit den größten Bierdurst.

Mit

0,59

US-Dollar ist eine

durchschnittliche Flasche

Bier in der Ukraine und in

Vietnam 2014 am preiswer-

testen. Dagegen kostet die

0,75-Liter-Flasche Bourbon

Barrels (eines dunklen

Doppelbocks, im Whiskey-

fass gereift) rund 30 Euro.

052_Draeger-399_DE 52 02.05.16 13:00

53DRÄGERHEFT 399 | 1/ 2016

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MIT

4GRAD CELSIUS SCHÄUMT DAS BIER AUF DEM

MÜNCHNER OKTOBERFEST IN DIE MASSKRÜGE.

MIT RUND 200 BRAUEREIEN WEIST DIE BAYERISCHE REGION OBERFRANKEN DIE

HÖCHSTE BRAUEREIDICHTE DER WELT AUF. DESHALB NENNT MAN DIESEN LANDSTRICH AUCH „BIERFRANKEN“.

4 METER HOCH UND 5 METER BREIT IST DAS WAHR SCHEINLICH GRÖSSTE BIERFASS DER WELT. KNAPP

16 MILLIMETER HOCH IST DIE KLEINSTE BIERFLASCHE DER WELT – SOGAR MIT FUNKTIONIERENDEM BÜGEL-

VERSCHLUSS, GEBAUT VON FRANZ STELLMASZYK IN KÖLN.

ÜBER

10.000 HANDWERKLICHE BRAUEREIEN (MICRO/CRAFT BREWERIES)

GAB ES WELTWEIT IM JAHRE 2015 – DIE MEISTEN DAVON IN DEN USA. WEINLAND FRANKREICH STEHT AUF DEM DRITTEN, DEUTSCHLAND AUF DEM ACHTEN PLATZ.

GIBT ES DAS DEUTSCHE REINHEITSGEBOT

Als Bayerische Landesordnung

erblickte es am 23. April 1516 das Licht

der Welt – dem heutigen Tag

des Bieres. Erst 402 Jahre später

wurde es erstmals als

Reinheitsgebot bezeichnet.

053_Draeger-399_DE 53 02.05.16 17:24

54 DRÄGERHEFT 399 | 1 / 2016

DIAGNOSE & THERAPIE FETALCHIRURGIE

Sie sind noch nicht einmal geboren, und schon ist ihr Leben in Gefahr – selbst Föten müssen operiert werden. Für einen solch komplexen Eingriff ist vor allem eines notwendig: Erfahrung.

Text: Sascha Karberg Fotos: Bernd Roselieb

Fünf Millimeter. Viel breiter ist der Schnitt nicht, mit dem

Prof. Thomas Kohl einen Zugang zum werdenden Leben im

Bauch einer Schwangeren schafft. „Eine Zahnbehandlung ist

meist schlimmer“, findet der Chefarzt und schiebt eine

1,2 Millimeter dicke Nadel durch die Öffnung, mit der er in

der betäubten Gebärmutterwand eine Schleuse setzt. Durch

das Loch können nun Kohl und seine Kollegen am Deutschen

Zentrum für Fetalchirurgie & minimal-invasive Therapie

(DZFT) am Universitätsklinikum Gießen und Marburg recht-

F

Der erste Schnitt

ins Leben

054_Draeger-399_DE 54 02.05.16 13:06

55DRÄGERHEFT 399 | 1/ 2016

zeitig Fehlbildungen und Kreislauferkrankungen behandeln,

die den Fötus schlimmstenfalls das Leben kosten könnten. Gut

1.000 vorgeburtliche Eingriffe hat Kohl in den vergangenen

14 Jahren durchgeführt. Sie sind für den Chirurgen zur Routine,

für die Medizin inzwischen zur Standardtherapie geworden.

Mitte der 1980er-Jahre sah das noch anders aus.

Es beginnt in einer Studentenbude in Essen. Vor dem

Fernseher zappt sich ein junger Medizinstudent durch

die Programme. Plötzlich taucht eine Dokumentation über

einen Arzt auf, der den Bauch von Schwangeren öffnet,

Volle Konzentration: Nur scheinbar entspannt beobachtet Chefarzt Prof. Dr. Thomas

Kohl am Universitätsklinikum Gießen und Marburg, wie sein Team die Narkose einleitet.

In Gedanken geht er die vor ihm liegende OP am Ungeborenen durch

055_Draeger-399_DE 55 02.05.16 13:07

56 DRÄGERHEFT 399 | 1 / 2016

um ihre ungeborenen Babys zu operieren. Chirurgie, noch

bevor das Leben beginnt! Thomas Kohl ist sofort fasziniert –

und am Ende doch enttäuscht, als er erfährt, dass Dr. Michael

R. Harrison, der Pionier dieser neuen Behandlung, im

entfernten San Francisco praktiziert. „Ich komme aus einem

Tal kessel im Sauerland“, sagt Kohl. „Aber irgendein Funke

war übergesprungen.“ Als er zwei Jahre später in der Kinder-

kardiologie der Universität Münster seine Facharztausbil-

dung beginnt, schlägt sein Chef ihm vor, sich auf die vorgeburt-

liche Herz diagnostik zu spezialisieren: die Diagnose von

Herzfehlern bei Föten mithilfe von Ultraschall – und erwähnt

beiläufig, dass dazu auch in San Francisco geforscht werde.

San Francisco! Kohl setzt sich ins nächste Flugzeug und

stellt sich, ohne einen Termin zu haben, bei Dr. Norman H. Sil-

verman vor – dem Spezialisten für Ultraschall bei geborenen

und ungeborenen Kindern, damals an der University of Califor-

nia. „Ich würde gern bei Ihnen arbeiten!“ Silverman ist beein-

druckt. Auf dem Rückflug hat Kohl tatsächlich eine Zusage im

Gepäck. Trotzdem dauert es noch zwei Jahre, bis er dort

an fangen kann. Zwei Jahre, in denen er alles liest, was mit der

Dia gnose von Krankheiten und Fehlbildungen bei Ungebore-

nen zu tun hat. „Durch die Verbesserung und Verbreitung der

Ultra schalldiagnostik hat man in den 1980er-Jahren Föten

überhaupt erst als Patienten kennengelernt“, erinnert sich Kohl.

Dann ist es so weit, doch von San Francisco sieht er in den

Folgejahren vor allem einen tiermedizinischen Operationssaal.

Dort probt er an trächtigen Schafen, um bessere Ultraschall-

bilder von Föten zu bekommen und Erkrankungen oder Fehl-

bildungen frühzeitig zu erkennen. Längst geht es ihm nicht

mehr nur um die Diagnose. Kohl entwickelt und testet chirur-

gische Eingriffe, entwickelt neue Methoden: vor allem die

minimalinvasive Operation von Föten durchs „Schlüsselloch“.

Michael Harrison, sein Idol aus dem Fernsehen, den er mehr-

mals im Monat bei Besprechungen auf dem Uni- Campus trifft,

öffnete für seine ersten Operationen an Föten (1981) noch

Bauchdecke, Gebärmutter und Fruchtblase, um die winzigen

Kinder operieren zu können. „Die offene Fetalchirurgie

brachte natürlich ethische Bedenken mit sich“, sagt Kohl. „Man

setzte die gesunde Mutter einer Operation aus.“ Entsprechend

vehement wurde anfangs über diesen Eingriff diskutiert. Denn

wie bei jeder Operation besteht das Risiko einer Infektion – von

Mutter und Kind. Und auch die Narkose war damals noch mit

erheblichen Risiken verbunden. Zudem kann der Eingriff ver-

frühte Wehen auslösen. Kohl redet die Risiken nicht klein, doch

er macht auch klar, dass sich seit 1981 viel getan hat. Es bleibe

eine Nutzen-Risiko-Abwägung, wie bei jeder Operation. Und die

falle inzwischen überwiegend positiv aus.

Wenn Nerven blank liegen„Beim Zwillingstransfusionssyndrom ist die Frage für die

erkrankten Kinder existenziell“, sagt Kohl. In diesem Fall teilen

sich eineiige Zwillinge einen Mutterkuchen. Abnorme Gefäß-

verbindungen können die Blutversorgung eines oder beider

Kinder schwer beeinträchtigen. „Wenn man das nicht be han-

delt, verlieren die meisten Schwangeren beide Kinder.“ Mit-

hilfe eines Lasers lassen sich die falsch angelegten Gefäßver-

bindungen veröden. „Neun von zehn Frauen bringen danach

wenigstens einen der Zwillinge zur Welt, sieben von zehn sogar

beide“, sagt Kohl. „Viele kommen oft noch zu früh, aber die

meisten sind später gesund.“ Neurologische Schäden aufgrund

Drei Zugänge braucht Prof. Thomas Kohl,

um Föten mit Spina bifida operieren zu können –

einen für die Bildgebung (rechts außen), zwei für

die OP-Instrumente. Wo genau am Bauch der

Schwangeren die millimeter-dünnen Kanülen einge-

führt werden, hängt von der Lage des Babys ab

056_Draeger-399_DE 56 02.05.16 13:07

FETALCHIRURGIE DIAGNOSE & THERAPIE

57DRÄGERHEFT 399 | 1/ 2016

einer Frühgeburt seien die Ausnahme. Völlig anders ist die Situa-

tion bei Fehlbildungen, die lebenslange Konsequenzen haben

können und bei denen die Fetalchirurgie die Symptome meist

bessern, aber nicht vollständig korrigieren kann. Dazu gehört

der „offene Rücken“ (Spina bifida), wenn das Rückenmark in

der frühen Embryonalentwicklung nicht vollständig ins Inne-

re des Körpers wandert und eine Verbindung nach außen offen

bleibt. Die Nerven liegen dann buchstäblich blank. Sie wer-

den vom Fruchtwasser umspült, was sie schädigt und absterben

lässt. In vielen Fällen führt das zu einer Querschnittslähmung.

Werden die Kinder vorgeburtlich operiert, ist ihre Chance, später

laufen zu können, mindestens doppelt so hoch. Die meisten

Eltern entscheiden sich dennoch für einen Schwangerschaftsab-

bruch. Wenn Kohl das hört, ist er sichtlich frustriert. Zwar

respektiert er die Entscheidung der Eltern, aber er weiß auch,

dass es an Aufklärung darüber mangelt, wie die Symptome dieser

Krankheit mit der Fetalchirurgie gelindert werden können. „In

einigen Teilen Deutschlands ist die Diagnose einer Spina bifida

gleichbedeutend mit einem Todesurteil für den Fötus“, sagt

Kohl. Mancherorts liege die Abtreibungsrate bei 95 Prozent.

Dennoch: „Wir überreden niemanden zu einer OP.“ Vielmehr

vermittle er Kontakte zu Eltern, die in einer ähnlichen Situa-

tion waren und sich für einen vorgeburtlichen Eingriff ent-

schieden haben. „Damit die Eltern selbst hören können,

wie eine solche Operation erlebt wurde, welche Schwierigkeiten

es gegebenenfalls gab und wie es den Kindern heute geht.“

Die meisten Schwangeren kommen ans DZFT, nachdem ein

anderes Krankenhaus die Diagnose gestellt hat. „Für die

Frauen ist das wie ein Schlag in den Bauch. Eben noch ‚Baby-

fernsehen‘ (Ultraschall) und dann die Nachricht, dass etwas

nicht stimmt.“ Tage-, manchmal wochenlang müssen sie sich

nun mit Dingen auseinandersetzen, von denen sie nie zuvor

gehört haben. Die meisten Fehlbildungen sind sehr selten –

vielleicht einmal unter 2.000 Schwangerschaften komme

das Zwillingstransfusionssyndrom vor. Für langes Nachdenken

bleibt dann meist keine Zeit, bestimmte Fehlbildungen

müssen früh behandelt werden. „Und oft ist der Zug dann schon

abgefahren“, sagt Kohl. So können Herzklappenfehler zwar

operiert werden, um zu verhindern, dass die Herzkammer so

zerstört wird, dass sie nach der Geburt nicht mehr funk-

tioniert. „Aber die meisten Kinder kommen zu spät zu uns, als

dass eine Operation noch Erfolg versprechend wäre.“

Bis zu 160 vorgeburtliche Operationen finden inzwischen

jedes Jahr am DZFT statt. „Routine“, sagt Kohl. Das war bei

seiner ersten Operation noch anders. Als er 1996 aus den USA

zurückkehrte, machte er die neuen und am Schaf getesteten

Methoden allmählich für den Einsatz am Menschen nutzbar –

zunächst in Münster, dann in Bonn. Vor seiner ersten Fetal-

chirurgie habe er kaum schlafen können. „Natürlich hatte ich

Oft ist es für einen vorgeburt-lichen Eingriff schon zu spät –es mangelt an Aufklärung

057_Draeger-399_DE 57 02.05.16 13:07

1 2 3 4

DIAGNOSE & THERAPIE FETALCHIRURGIE

58 DRÄGERHEFT 399 | 1 / 2016

Angst“, erinnert er sich. „Der Eingriff war dann auch kompli-

zierter als gedacht – und nicht erfolgreich.“ Trotzdem zitterten

seine Hände nicht. „Je größer der Stress, desto ruhiger wer-

de ich.“ Bei 19 Spina-bifida-Operationen aus der Pilotphase am

Bonner Universitätsklinikum verstarben drei Kinder. „Die

Kritik war oft schwer zu ertragen.“ Inzwischen verstarb in mehr

als 100 weiteren Fällen kein Kind mehr aufgrund der Opera-

tion, und nur wenige danach starben an Infektionen, begleiten-

den Hirnfehlbildungen oder ihrer Unreife. „Damit ist das

Risiko dieser komplexen OP für den Fötus fast so gering wie eine

Fruchtwasser untersuchung.“ Das muss auch für die Mutter

gelten, betont Kohl. Mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von

unter fünf Prozent bestehe kein Risiko für eine Schwangere,

durch Fetalchirurgie eine schwere Blutung oder Infektion zu

bekommen. Auch Auswirkungen auf Folgeschwangerschaften

seien zumindest nach minimalinvasiven Operationen nicht zu

erwarten. „Für die offene Fetalchirurgie gilt das allerdings nicht.“

Früh geboren, aber nicht zu frühLetztlich ist die Entscheidung für oder gegen einen Eingriff

eine Abwägung von Nutzen und Risiken. „Und die fällt heute

meist zugunsten vorgeburtlicher Operationen aus“, sagt Kohl.

Der Grund seien nicht nur bessere und für die Schwangere

weniger belastende Methoden, sondern auch, dass 90 Prozent der

operierten Föten erst nach der 30. Schwangerschaftswoche

geboren werden – die Hälfte sogar erst nach der 34. „Zu beiden

Zeitpunkten sind heute dank moderner Therapie und Pflege

von Frühgeborenen kaum noch langfristige Komplikationen zu

befürchten.“ Die Frühgeburten werden nicht allein durch den

vorgeburtlichen Eingriff ausgelöst. Erkrankungen wie das Zwil-

lingstransfusionssyndrom oder die Zwerchfellhernie gehen mit

einer deutlich vermehrten Fruchtwassermenge einher, mitunter

sind es mehrere Liter. Dadurch verkürzt sich der Gebärmut-

terhals oft vorzeitig, Wehen können einsetzen, die Fruchtblase

droht zu platzen. „Das kann schon vor der Operation so weit

fortgeschritten sein, dass man den Eltern in die Hand verspre-

chen kann, dass es eine Frühgeburt wird“, sagt Kohl. „Trotzdem

sieht es in den Statistiken dann so aus, als sei der fetalchirur-

gische Eingriff Ursache der Frühgeburt.“ Um gefährliche Früh-

geburten zu verhindern, operiert Kohl manche Erkrankung

(wie die Zwerchfellhernie) erst erst nach der 32. bis 33. Schwan-

gerschaftswoche. Doch das geht nicht bei allen Fehlbildungen.

Die frühesten Operationen müssen deshalb schon in der 13.

Woche durchgeführt werden, wenn die Föten gerade mal fünf

bis sechs Zentimeter groß sind. In seltenen Fällen kann es

passieren, dass ihr Blasenausgang verstopft ist. Urin staut sich

auf, was letztlich die Nieren zerstört. Die Fetalchirurgen

müssen dann einen Katheter legen, über den der Urin abfließen

kann. Dieser Eingriff muss meist mehrfach wiederholt werden

– weil entweder die Drainage ihren Dienst versagt oder sie dem

wachsenden Fötus angepasst werden muss. „Und trotzdem

versterben immer noch viele Kinder. Ob wirklich alles gut ge-

gangen ist, weiß man oft erst nach Monaten. Da brauchen

betroffene Eltern ein ganz, ganz dickes Fell“, sagt Kohl.

„Je größer derStress, destoruhiger werde ich“Prof. Dr. Thomas Kohl, Universitätsklinikum Gießen und Marburg

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5

59DRÄGERHEFT 399 | 1/ 2016

Wie steht es um Narben bei den Eingriffen? Zwar lässt sich bei

Schafföten tatsächlich narbenlose oder -arme Wundheilung

beobachten, aber bei menschlichen Föten steht vom Zeitpunkt

des Entstehens der Wunde bis zur Geburt die Zeit still. „Da

passiert gar nichts, selbst nach Monaten überwächst die Abde-

ckung nicht mit Haut“, weiß Kohl. Das Fruchtwasser ist kein

Milieu, das Wundheilung fördert: Es enthält Stuhl und Enzyme,

die das Gewebe angreifen können und bei Spina bifida sogar

Nervenzellen absterben lassen. Das Ungeborene schützt sich

davor mit der „Käseschmiere“, einer Schutzschicht auf der

Haut. Wenn Thomas Kohl den offenen Rücken bei Föten mit

einem Flicken aus Kollagenfasern abdeckt und vernäht,

überwächst die Haut diesen zunächst nicht. Dies geschieht

erst nach der Geburt über mehrere Wochen. Eine Narbe

entsteht, verwächst sich aber mit den Jahren.

Längst gibt es eine Fetalchirurgie an vielen Orten, welt-

weit sind es etwa 30 Zentren. Einem Fünftel der Schwangeren

kann nicht geholfen werden, schätzt Kohl. Das liege auch

daran, dass Ärzte in der vorgeburtlichen Diagnostik noch zu

wenig über die Möglichkeiten dieser Disziplin wissen oder

das Zeitfenster für bestimmte Operationen nicht kennen. „Oft

ist der richtige Zeitpunkt für die Operation überschritten,

mitunter das Risiko auch einfach zu groß – und einiges ist

technisch schlicht noch nicht machbar.“ Auch deshalb

wendet Kohl viel Zeit dafür auf, sein Wissen weiterzugeben –

nicht nur in Deutschland, auch in der Türkei, Polen, Brasi-

lien oder Rumänien. Inzwischen hat der 53-Jährige, der sich

bereits sein halbes Leben der Fetalchirurgie widmet, wohl

mehr zu erzählen als sein einstiges Idol aus dem Fernsehen.

Eines der jüngsten Frühchen in EuropaSie kam 2010 nach knapp 22 Wochen Schwanger-schaft in Fulda zur Welt – 19 Wochen zu früh. Die Prognose für eines der jüngsten Frühchen in Europa war schlecht. Frieda wog nur 460 Gramm und war gerade mal 26 Zentimeter groß. Noch zehn Jahre zuvor hätte sie keine Chance gehabt zu überleben oder hätte wohl mit geistigen oder körperlichen Behin-derungen leben müssen. Nicht einmal ihre Körper-temperatur können Frühchen aufrechterhalten. Doch inzwischen ist die Neonatologie in der Lage, vielen Frühgeborenen den fehlenden Schutz und die Ver-sorgung durch die Plazenta der Mutter weitge-hend zu ersetzen. Laut einer Studie des Neonatal Research Network der National Institutes of Health/USA starben zwischen 2000 und 2003 noch 27,5 Prozent aller Frühchen, zwischen 2008 und 2011 waren es nur noch 25,8 Prozent. Dabei gilt: Je früher die Geburt, umso geringer die Überlebens-chance. Vor der 22. Woche überleben nur rund fünf Prozent, ab der 28. Woche schaffen es 92 Prozent. In Deutschland werden jährlich etwa 60.000 Kinder zu früh geboren, bei 6.000 müssen die Ärzte eingreifen. 60 bis 65 Prozent dieser Frühchen (unter 500 Gramm) überleben mittlerweile. Oft bleibt die Frühgeburt nicht ohne Folgen. Ein Drittel der Kinder zeigt Entwicklungsdefizite, 16 Prozent sind schwer-behindert. Frieda hatte Glück und wird allem Anschein nach keine Schäden davontragen. Ihr Zwillings-bruder schaffte es damals nicht, er starb sechs Wochen nach der Entbindung an Herz- und Darmproblemen.

„Fötus flicken“ ist für Prof. Kohl Routine bei der Behandlung von Babys mit Spina bifida, dem offenen Rücken: Der Chirurg muss dafür im Mutterleib schrittweise einen Flicken aus Kollagenfasern, der aufgerollt durch den Zugang geführt wird, über die offene Stelle am Rücken des Fötus legen (Bild 1-3) und vernähen (Bild 4-5). Eine ruhige Hand, viel Übung und Geduld sind dabei hilfreich. Der Flicken schützt die Nerven vor Fruchtwasser und verwächst nach der Geburt mit der Haut des Babys

059_Draeger-399_DE 59 02.05.16 13:07

60 DRÄGERHEFT 399 | 1 / 2016

Ob ELEKTROAUTO oder Lagerhalle: Überall können Brand schützer heute auf Lithium-Ionen-Akkus treffen – sie gelten zwar als schwer zu löschen, doch mit konventionellen Methoden lässt sich das Feuer gut unter Kontrolle bringen.

Text: Peter Thomas

Der Transport von Lithium-Ionen-

Akkus im kommerziellen Frachtgut auf

Passagierflügen ist seit April 2016

verboten. Als Konsequenz sind bei vielen

Airlines entsprechende Notebooks und

andere Geräte nur noch im Handgepäck

erlaubt, das während des Flugs unter

Beobachtung steht. Das hat die Interna-

tionale Zivilluftfahrtorganisation (ICAO)

beschlossen.

Seit einem Jahrzehnt hört man

immer wieder von Lithium-Ionen-Akkus,

mitunter auch wegen ihres Brand-

risikos. Dabei sind die Stromspeicher

(genauer: sekundäre Lithium-Ionen-

Zellen) keineswegs neu – sie wurden in

den 1990er-Jahren in Japan entwickelt.

Seitdem ist ihre Verbreitung exponentiell

gestiegen. Morgan Hurley, technischer

Direktor der US-amerikanischen Society

of Fire Protection Engineers, rechne-

te bereits 2013 vor, dass auf einen Flug-

passagier durchschnittlich 1,5 Lithium-

Ionen-Akkus im Handgepäck kommen.

Im täglichen Einsatz stehen Feuer-

wehren auch vor der Frage, wie sie mit

der Akkutechnologie, etwa in Elektro-

autos, umgehen sollen – denn bei Ver-

kehrsunfällen ist die Gefahr einer mecha-

nischen Beschädigung besonders groß.

Noch machen diese Fahrzeuge nur einen

Bruchteil des Verkehrsaufkommens aus,

doch der Wechsel vom Verbrennungs-

motor zum elektrischen Antrieb steht in

den nächsten Jahren bevor. Das zeigt

auch eine Analyse von Bloomberg New

Energy Finance aus dem Frühjahr 2016.

Wie löscht man einen Elektrobrand?Was genau erwartet die Einsatzkräfte am

Unfallort? Elektro- und Hybridautos mit

Lithium-Ionen-Akkus stehen im Brandfall

mindestens auf dem gleichen Sicher-

heitsniveau wie Benzin- oder Dieselfahr-

zeuge, heißt es bei der Dekra. Die Prüf-

organisation hat die Batterietechnik von

Elektrofahrzeugen schon vor Längerem

genauer analysiert. „Die Leistung bezie-

hungsweise Kapazität der Stromspeicher

ist seitdem deutlich gestiegen – doch

das Brennverhalten und die spezifischen

Risiken sind vergleichbar geblieben“,

sagt David Kreß, Projektmanager im Test-

center der Dekra in Stuttgart.

Das Risiko lässt sich mittlerweile

auch deshalb so gut einschätzen, weil

die Akkus schon länger im Fokus der

Brandschutzforschung stehen. So hat

die Landes feuerwehrschule Baden-

Württemberg in Bruchsal bereits 2011

Einsatzhinweise für Elektrofahrzeuge

D IL

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KEINE ANGSTvor der Energiewende

060_Draeger-399_DE 60 02.05.16 13:19

61DRÄGERHEFT 399 | 1/ 2016

ENERGIESPEICHER BRANDSCHUTZ

veröffentlicht. Darin wird als optimale

Löschmethode der Einsatz von Wasser

vorgeschlagen, dem Tenside (Mehrbe-

reichs schaummittel oder Mizellen-

Einkapselungs-Agenzien wie F-500) bei-

gemischt werden. Im Gegensatz zu

Metallbrandpulver erfüllt das in großen

Mengen aufgebrachte Löschwasser

gleich mehrere Ziele: Es erstickt die

Flammen, kühlt die Akkus und trägt

zum langsamen Entladen aller mecha-

nisch beschädigten Zellen bei. Auch

das Karlsruher Institut für Technologie

(KIT) präferiert das Löschen mit Wasser

und Additiven. Die dortige Forschungs-

stelle hat im September 2015 einen

Abschlussbericht zum Brandverhalten

von Lithium-Ionen-Akkus veröffentlicht.

Angst vor KettenreaktionWas macht diese Technologie nun so

gefährlich? Sie birgt die Gefahr des

„thermischen Durchgehens“ – einer

Kettenreaktion, die durch mechanische

Beschädigung, einen Kurzschluss, Alte-

rung, Überladung oder Tiefentladung

ausgelöst werden kann. Hierdurch ent-

stehende Brände sollen eigentlich mit

verschiedenen Sicherheitsvorkehrungen

in den Akkus selbst (oder im damit ver-

sorgten Gerät) verhindert werden. Dazu

gehören in den Zellen beispielsweise:

• PTC (thermische Sicherung,

die zu hohe Stromflüsse beim Laden

oder Entladen reduziert),

• CID (unterbricht den Ladestrom

bei kritischer Druckerhöhung in der

Zelle) und schließlich

• das Sicherheitsventil (lässt bei

plötzlichem Druckanstieg das Gas aus

der Zelle entweichen, um zumindest

eine Explosion zu verhindern).

Dennoch kommt es gelegentlich zu

Unglücken wie der Explosion eines zuvor

tiefentladenen Elektrofahrrad-Akkus in

einem Hotel in Norddeutschland. Damals

kam ein Mensch ums Leben. Das Institut

für Schadenverhütung und Schadenfor-

schung der öffentlichen Versicherer (IFS)

warnt deshalb vor dem unbeaufsichtigten

Laden von Lithium-Ionen-Akkus, die

länger nicht gebraucht und zudem kalt

gelagert wurden. Das thermische

Durchgehen gilt als typisches Brand-

Wo Lithium-Ionen-Akkus eingesetzt werden, und wie man sie richtig entsorgt:Eingesetzt werden sie überall dort, wo elektrische Energie flexibel und dezentral gespeichert wird. Das reicht vom wenige Gramm leichten Akku bis zum gigantischen Strompuffer, der als schwarzstartfähiges Kraftwerk Energie aus Windkraft zwischenspeichert und mehrere Megawatt leistet. Dazwischen existiert eine große Bandbreite: vom Hybridauto über digitale Kameras und E-Bikes bis hin zu Heizungskellern – ob als einzelne Batterie, herausnehmbarer Akku oder feste Installation. Die Nennkapazität einzelner Speicherbausteine liegt zwischen zwei und 60 Amperestunden.

Auch nach Gebrauch können Lithium-Ionen-Akkus noch gefährlich sein, wenn sie unsachgemäß entsorgt werden. Um Kurzschlüsse und mechanische Beschädigungen zu vermeiden, sollte man sie in Kunststofffolie wickeln und über den Handel oder kommunale Sammelstellen entsorgen. Das beugt Großbränden vor, wie dem in einer Abfallverwertungsanlage in Neu-münster/Schleswig-Holstein im Sommer 2015, der wohl durch alte Lithium-Ionen-Akkus im Sperrmüll ausgelöst wurde.

szenario. Es beginnt recht unspektakulär:

Das Innere des Akkus er hitzt sich (durch

die Oxidation des Elektrolyts) auf rund

80 Grad Celsius, in der Zelle werden dar-

aufhin Gase und Dämpfe freigesetzt.

Wird der Prozess nicht gestoppt, schmilzt

bei rund 120 Grad Celsius der Separator

zwischen Anode und Kathode. Es kommt

zum Kurzschluss – und zur thermischen

Zersetzung der Kathode unter Freisetzung

von Sauer stoff sowie der Entzündung

der in Anode, Kathode und Elektrolyt ent-

haltenen Materialien. Dazu gehören

organische Lösungsmittel, Leichtmetalle

und Graphit. Weil in Akkus neben diesen

Komponenten auch Schwermetalle ent-

halten sind, müssen die Einsatzkräfte

ihre Ausrüstung entsprechend der chemi-

schen Gefährdung wählen. Gleichzeitig

ist der Schutz vor elektri schen Gefah-

ren sicherzustellen. Beide Anforderungen

spielen bei Bränden in geschlossenen

Räumen eine wichtige Rolle. Deren Zahl

dürfte in den kommenden Jahren zu -

nehmen, da immer mehr Stromspeicher

installiert werden: von der Batterie im

Keller bis zum schwarzstartfähigen Kraft-

werk, das Energie aus Windkraft zwi-

schenspeichert. Solche Großspeicher die-

nen der Stabilisierung, denn sie können

den Strom sofort und ohne zusätzlichen

Energiebedarf („Schwarzstart“) ins

Netz speisen. Wichtige Einsatzhinweise

zu diesen Anlagen gibt das Merkblatt

„Einsatz an stationären Lithium-Solar-

stromspeichern“ des Bundesverbands

Solarwirtschaft, auf das auch der Deut-

sche Feuerwehrverband (DFV) verweist.

Für eine aus Brandschutzper spektive

sichere Energiewende.

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62 DRÄGERHEFT 399 | 1 / 2016

Made in

Ein Auge für Gas:Im Zentrum des Chips steckt

dieser patentierte Teil des Sensorsystems, der Kohlen-

wasserstoffe in der Luft erkennt. Dazu nutzt er Infrarotlicht

Norway

062_Draeger-399_DE 62 02.05.16 13:19

GASMESSTECHNIK NEUE TECHNOLOGIEN

63DRÄGERHEFT 399 | 1/ 2016

Das norwegische Unternehmen GASSECURE hat einen Gassensor auf spektroskopischer Basis entwickelt, der zudem drahtlos kommuniziert. Unter dem Dach von Dräger entwickelt es diese Technologie nun weiter – ein schönes Beispiel dafür, wie Neues in die Welt kommt.

Text: Nils Schiffhauer Fotos: Patrick Ohligschläger

„Im Regenwald, auf Ölplattformen

oder in Tanklagern sind unsere draht-

losen Gasmessgeräte im Einsatz“, blickt

Knut Sandven auf die Entwicklung

von GasSecure zurück. Drahtlos? „Ja,

man braucht kein teures Netz aus

Kupfer oder Glasfaser zu verlegen, um

mehrere Hundert Sensoren, etwa

in einer Raffinerie, miteinander zu ver-

netzen.“ Die Gesamtkosten für eine

derartige Überwachung seien sogar deut-

lich geringer, obwohl der eigentliche

Sensor teurer als die drahtgestützte

Variante ist. Die Anfänge sind durch-

aus typisch für eine Entdeckungsfahrt,

die in der Vergangenheit schon so

manchen norwegischen Pionier ans

Ziel brachte. Sandven, immerhin,

steuerte mit GasSecure ein eigenes,

innovatives Unternehmen an.

Von Oslo nach Stanford – und zurückDen Ingenieur interessierte das Potenzial

der Funktechnologie schon 2004:

„Damals habe ich einen Vibrations sensor

für Kleinmotoren entwickelt, der seine

Daten zuverlässig und drahtlos überträgt.“

Da arbeitete er noch für das norwegi-

sche Industrieforschungszen trum SINTEF.

Funktechnologien für den rauen

In dustrieeinsatz steckten noch in den

Kinderschuhen, nur wenige Anwen-

dungen ließen sich überhaupt kaufen.

Doch Sandven hatte Mut – und Ideen.

Einige Jahre später, als er für ein anderes

Start-up in Oslo arbeitete, verfolgte er

ein neues, noch ehrgeizigeres Ziel: „Der

weltweite Bedarf an Gassensoren in

Systemen und Netzwerken lag jährlich bei

rund 150.000 Stück. Das schrie förm-

lich nach einer Funktechnologie, mit der

man auf die Installation und Unter-

haltung einer vergleichsweise teuren

und komplexen Infrastruktur mit Kupfer

oder Glasfaser verzichten können sollte.“

Als Sandven für SINTEF tätig war,

traf er auf Dr. Håkon Sagberg. Der Physi-

ker hatte sich auf exotische elektro-

mechanische Bauteile spezialisiert. „So

exotisch, dass ich nach meinem Diplom

in Norwegen niemanden fand, mit dem

ich darüber diskutieren konnte.“ An der

US-Eliteschmiede Stanford, wo er seine

Dissertation über mikroelektromecha-

nische Systeme (MEMS) schrieb, wur-

de er fündig. Sagberg interessierte sich

für die Verbindung von Optik und Elek-

tromechanik. So entstand ein patentiertes

Bauteil, das sich für spektroskopische

Untersuchungen eignete. Hochpräzise in

Silizium geätzte Strukturen funktio-

nieren wie ein Prisma, das weißes Sonnen -

licht in ein Regenbogenband auffächert.

Die winzigen Strukturen sind beweg-

lich, ihre Position lässt sich elek trisch

steuern. Dadurch können sie Licht

bestimmter Wellenlängen gezielt auf

I

Drahtlos auf Draht: Knut Sandven (oben) hatte die Idee, Funktechnik zur Vernetzung von Gassensoren einzusetzen. Unten: ein Blick auf den Lufteinlass fertiger Gassensoren des Typs GS01

063_Draeger-399_DE 63 02.05.16 13:19

NEUE TECHNOLOGIEN GASMESSTECHNIK

64 DRÄGERHEFT 399 | 1 / 2016

einen Fotodetektor lenken, der die Energie

in eine Spannung umsetzt. Mit anderen

optischen Filtern kann man das Anwen-

dungsspektrum noch erweitern. Sand-

ven elektrisierten diese Ergebnisse, und

Sagberg war gleichfalls fasziniert von

der Idee, einen energieeffizienten, draht-

losen Gassensor zu entwickeln.

Als die Funktechnologieerwachsen wurdeWas heute offensichtlich ist, musste

damals nicht zwangsläufig so sein. Vor

allem nicht in der Öl- und Gasindustrie,

die nochmals höhere Anforderungen an

die Zuverlässigkeit von Produkten stellt.

Funkverbindungen galten als wacklig

und anfällig, zudem hatte man keine

Erfahrung, wie sich eine 2,4-Gigahertz-

Funkbrücke zwischen Fördertürmen und

Öltanks verhält: ob die umgebende

Elektronik die Übertragung stört oder

umgekehrt, sie ungewollt in andere

Anwendungen hineinfunkt. Diese Beden-

ken sind heute zerstreut. Funkverbin-

dungen sind praktisch genauso zuverlässig

wie ein Kabel. Dafür sorgen detaillierte

Planungen (über bis zu 400 Meter) eben-

so wie ausgefeilte Übertragungsproto-

kolle, die eine sichere Kommunikation

ermöglichen. 2007, als sich Sandven

und Sagberg trafen, standen sie in vielen

Punkten ganz am Anfang. Rasch wurde

ihnen klar, welche Anforderungen ein

draht loser Gassensor erfüllen muss: „Er

durfte in keinem Punkt schlechter sein

als damalige drahtgebundene Lösun-

gen – und er sollte rund zwei Jahre funk-

tionieren, ohne externe Stromzufuhr

und Kalibrierung“, erinnert sich Sand-

ven. Dass sich Hunderte drahtlose Senso-

ren überdies zu einem kollisionsfreien

Netz zusammenschalten lassen müssen,

verstand sich von selbst.

Die Mischung macht’sDoch wie wollten sie das finanzieren?

„Wir haben verschiedene Quellen ange-

zapft“, sagt Sandven. „Forschungsetats,

Wagniskapital und auch potenzielle

Kunden.“ Letztere boten Kapital und

Erfahrung. Diese Kombination erwies

sich als ideal, denn so wurde kein Gerät

entwickelt, das sich seinen Markt erst

suchen musste. Klangvolle Namen wie

Statoil und ConocoPhillips beteilig-

ten sich an der Entwicklung sowie den

strengen Tests von Hard- und Software.

„2012“, sagt Sandven, „lieferten wir

das erste Gerät an den norwegischen Öl-

und Gaskonzern Statoil.“ Seitdem

ist nur ein verschwindend geringer Teil

der bislang über 1.000 im Markt be -

findlichen Geräte ausgefallen (< 1 Pro-

zent). Ausgerechnet 2009, während

der Finanzkrise, hatten sie Gas Secure

gegründet. Doch schon bald konnte

man sich in Oslo vor Übernahmeangebo-

ten kaum retten: „Wir haben uns mit

vielen potenziellen Interessenten getroffen

und alle Chancen gewissenhaft ausge-

lotet“, erinnert sich Sandven, „und uns

dann für Dräger entschieden.“ Dort

trafen sie auf mehrere Dinge: „Enthu si-

astische Menschen, die von innovativer

Technik begeistert sind, ein leistungs-

starkes Portfolio von Gassensoren sowie

ein weltweites Vertriebs- und Service-

netz und nicht zuletzt auf die Erkenntnis

Kreativer Kopf: Im Rahmen seiner Dissertation entwickelte der Physiker Dr. Håkon Sagberg unter anderem das interne Sensorsystem des GS01 – und damit dessen Herzstück

Funkverbin-dungen sind heute genauso zuverlässig wie ein Kabel

064_Draeger-399_DE 64 02.05.16 13:19

3,6 μm3,3 μm3,0 μm

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65DRÄGERHEFT 399 | 1/ 2016

So funktioniert der drahtlose GassensorPräzision, Robustheit und Zuverlässigkeit sind die Ziele des drahtlosen Gassensors (GS01). Die interne Batterie muss das Gerät über mindestens zwei Jahre betriebs-fähig halten – zudem darf es maximal fünf Sekunden dauern, bis eine Messung vor Ort an die Zentrale weitergegeben wird. Gemessen wird der Gehalt von Kohlenwasser-stoffen in der Um gebungsluft. Insbesondere Methan als Hauptbestandteil von Erdgas bildet in Verbindung mit Luft ein explosives Gemisch, wenn die Konzentration über 4,4 Prozent liegt (untere Explosionsgrenze). Die Messungen müssen quasi kontinuierlich erfolgen und der Sensor muss zuverlässig auf Kohlenwasserstoffe ansprechen (qualitative Messung) sowie deren Konzentration erkennen (quantitative Messung), um Fehlalarme auszuschließen.

Der GS01 misst den Gehalt von Kohlenwasserstoffen durch deren Absorption von Licht im Infrarotbereich. Dieses Licht erzeugt eine kleine, extrem langlebige Birne. Es wird durch ein Linsensystem auf einen Spiegel geworfen und von diesem reflektiert. Der Licht-strahl durchläuft somit eine 2 x 5 Zentimeter lange Messstrecke, in der die Umgebungsluft zirkuliert – während die gesamte Elektronik gasdicht in einem Stahlgehäuse untergebracht ist, das mit inertem Stickstoff unter leichtem Überdruck steht. In dieses Gehäuse wird der Lichtstrahl über ein Fenster und eine Blende wieder eingekoppelt. Er fällt dann auf den messtechnischen Kern des Sensors (auch mikroelektromechanisches System genannt; MEMS), der eine spektroskopische Untersuchung des einfallenden Lichts vornimmt. Kohlenwasserstoffe absorbieren Licht in einem Wellenbereich von rund 3,3 Mikrometern, während die Frequenzen ober- und unterhalb davon nicht gedämpft werden.

Das MEMS arbeitet ähnlich wie ein Prisma. Es zerlegt das einfallende Licht und spiegelt dessen spektrale Bestandteile in unterschiedliche Richtungen. Das System lässt sich so schalten, als würde man ein Prisma schwenken. Dadurch fallen gezielt verschiedene Wellenlängen auf den Detektor. Jeder Messzyklus besteht aus zwei Messungen. Die erste ermittelt die Intensität auf der zentralen Wellenlänge von 3,3 Mikrometern (μm), während die zweite die Intensität auf den benachbarten Bändern bei 3,0 und 3,6 Mikrometern registriert. Sind in der Umgebungsluft Kohlenwasserstoffe enthalten, absorbieren sie Licht ausschließlich im mittleren Wellenbereich von 3,3 Mikrometern. Gegenüber den Ver-gleichswerten auf der niedrigeren (3,0 μm) und höheren (3,6 μm) Wellenlänge fällt die vom Fotodetektor registrierte Energie also geringer aus – und zwar umso geringer, je höher die Konzentration an Kohlenwasserstoffen ist. Die Stoffkonzentration wird aus der Differenz der ersten und zweiten Teilmessung errechnet. Unterscheiden die sich, sind in der Luft Kohlenwasserstoffe enthalten.

Die Messwerte werden alle zehn Sekunden über eine gesicherte Funkstrecke auf 2,4 Gigahertz mit 10 Milliwatt Sendeleistung nach IEEE802.15.4 an die Zentrale übertragen und dort ausgewertet. Steigt die Konzentration über einen fest ge-legten Wert, wird der Sendezyklus auf üblicherweise zwei Sekunden verkürzt.

DAS PRINZIP DER ABSORPTION:

Je höher die Konzentration

an Kohlenwasserstoffen

in der Luft, desto geringer die

Lichtdurchlässigkeit des

Gemischs in einem schmalen

Wellenlängenbereich um

3,3 Mikrometer.

DIE MESSUNG:

Gemessen wird die Energie

auf den Referenzwellenlängen

von 3,0 und 3,6 Mikrometer

(μm). Ihren aufsummierten Wert

vergleicht der interne Rechner

mit der Energie auf der kohlen-

wasserstoffspezifi schen Wellen-

länge von 3,3 μm. In die ragt hier

ein typisches Absorptions spek-

trum von Erdgas mit seinem

Hauptbestandteil Methan hinein.

Strahlengang innerhalb des drahtlosen Gassensors (siehe Text). Im linken Teil des Gehäuses befindet sich die Batterie

0,1 Vol.-%1,0 Vol.-%

5,0 Vol.-%(= 100 % LEL)

T = 99 %T = 93 %

T = 84 %

Wellenlängenbereich (cm-1)

1 MEMS-Chip

2 Photodetektor

3 Infrarot-Lichtquelle

4 Linse

5 Blende

6 Fenster

7 Spiegel

065_Draeger-399_DE 65 02.05.16 13:19

NEUE TECHNOLOGIEN GASMESSTECHNIK

66 DRÄGERHEFT 399 | 1 / 2016

des GasSecure- Potenzials.“ Auch für

Dräger passte es, seit dem vergangenen

Jahr ist das norwegische Unternehmen

„A Dräger Company“.

An der langen LeineWie fühlt man sich als ehemaliges Start-

up innerhalb eines Technologiekon-

zerns? „Ausgesprochen gut“, antwortet

Sandven spontan. „Wir haben eine

ähnliche Auffassung von der Qualität

unserer Arbeit, und man lässt uns

an der langen Leine laufen!“ Wobei eine

der größten Veränderungen in der Art

der Entscheidungsfindung liegt. „Wenn

ich hier über den Flur gehe, habe ich

in fünf Minuten ein Meinungsbild. Das

dauert jetzt natürlich länger.“ Noch

mehr als in Deutschland, ist ein kleines

Hightechunternehmen in Norwegen

auf Konsens angelegt. Vierzehntägliche

Versammlungen der Belegschaft

(„All hands on“, im Jargon) halten jeden

auf dem Stand der Dinge und venti-

lieren kreative Ideen. Immer dabei: Dr.

Christian Heinlein. Der Deutsche lebt

seit 1994 in Norwegen, spricht mehrere

Sprachen fließend und arbeitet als Pro-

duktmanager: „Eine ebenso spannende

wie fordernde Aufgabe!“ Noch stehen

Unternehmen und Markt am Anfang.

Erst langsam sprechen sich in der

Branche die technischen und wirtschaft-

lichen Vorteile drahtloser Sensoren

herum. Heinlein hat das Ohr am Markt:

„Mittlerweile produzieren wir den

GS01 auch mit absetzbarer Antenne.“

So lässt sich der Transmitter auch

am Boden installieren, wobei die Abstrah-

lung der Daten über eine fest instal -

lierte Antenne ungünstig wäre. Also posi-

tionierte man sie an einer funktech-

nisch günstigeren Stelle.

Neben der Entwicklung erfolgen

auch die Produktion und Qualitätssiche-

rung in Norwegen. „Dank kurzer

Wege können wir die Qualität derzeit

so am besten halten“, begründet

Produktionsleiterin Britta Fismen die

Kooperation mit AXXE. In der ersten

Zeit pendelte die Ingenieurin fast jeden

Tag eine gute Autostunde zur Ferti-

Energieträger: Eine Raffinerie ist reich an Energie, die es zu sichern gilt. Gassensoren tragen dazu bei, wobei drahtlose Systeme nicht zuletzt Kostenvorteile bieten

Innere Werte: Die Fertigung des GS01 ist so weit wie möglich automatisiert – aufgrund des hohen Qualitätsanspruchs und der notwendigen Genauigkeit lässt sich einiges nur in Handarbeit herstellen

FO

TO:

ISTO

CK

PH

OTO

gungsstätte, um notwendige Prozesse zu

implementieren. „Aber nach über 1.000

produzierten Geräten läuft es nun bei-

nahe wie von selbst.“ Wie geht es weiter?

„Derzeit stehen unsere Kunden vor

einem Investitionsstau, aufgrund der

niedrigen Öl- und Gaspreise.“ Doch auf-

geschoben ist nicht aufgehoben. Einer-

seits sind zuverlässige Gasmessgeräte

zwingend erforderlich, andererseits ist

die drahtlose Technologie einfach auch

wirtschaftlich sehr attraktiv. „Zudem

prüfen wir mit Dräger intensiv, wie sich

die drahtlose Technologie auf andere

Produkte übertragen lässt.“ Die Norwe-

ger fuhren eben schon immer gern

entdeckungslustig ins Offene.

Nach über 1.000 produzierten Geräten hat die Fertigung eine hohe Autonomie erreicht

066_Draeger-399_DE 66 02.05.16 13:19

67DRÄGERHEFT 399 | 1/ 2016

PRODUKTE SERVICE

Auf einen BlickEinige DRÄGER-PRODUKTE dieser Aus-gabe finden sich hier im Überblick – in der Reihenfolge ihres Erscheinens. Zu jedem Produkt gehört ein QR-Code, der sich mit einem Smartphone oder Tablet scannen lässt. Danach öffnet sich die jeweilige Produkt-information. Haben Sie Fragen zu einem Gerät oder zum Drägerheft? Dann senden Sie uns eine E-Mail: [email protected]

Bis zu 25 Geräte des Typs X-zone 5500 lassen sich automatisch zu einer drahtlosen Alarmkette vernetzen. In Kombination mit Dräger-Gaswarngeräten entsteht so ein flexibles System zur Bereichs-überwachung. Seite 26

Das 4-Gas-Messgerät X-am 2500 misst brennbare Gase und Dämpfe – sowie O2, CO, NO2, SO2 und H2S. Seite 26

Die automatische Röhrchenpumpe X-act 5000 eignet sich für Messungen mit Dräger-Kurzzeit-röhrchen sowie für Probe-nahmen von Gasen, Dämpfen und Aerosolen. Seite 26

Der PIR 7200 ist ein druckfest gekapseltes Infrarot-Gaswarngerät – zur kontinuierlichen Über-wachung von Kohlenstoffdioxid im industriellen Umfeld. Seite 51

Das Polytron 7000 misst toxische Gase und Sauerstoff – und lässt sich individuell konfigurieren. Seite 51

Der drahtlose GS01 Infrarot-Funktransmitter detektiert Kohlenwasserstoffe – auch in anspruchsvollen und gefährlichenUmgebungen. Seite 62

Der Primus, ein Anästhesie-arbeitsplatz, bietet verschiedene Beatmungs- und Monitoring-Funktionen – für individuelle Narkosen. Seite 54

067_Draeger-399_DE 67 02.05.16 13:20

EINBLICK MRC 5000

1

32

10

1113

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12

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TO:

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Sie sieht aus wie ein Container, doch

dank ihres raffi nierten Innenlebens

bietet die aus robustem Stahl gefertigte

Flucht- und Rettungskammer (Typ:

MRC 5000) zwischen 24 und 96 Stunden

Schutz vor lebensbedrohenden Konta-

minationen und Gasen. Je nach Ausbau-

stufe finden hier acht bis 20 Menschen

Unterschlupf. Bei Auftreten dieser Gefah-

ren im Berg- und Tunnelbau wird die

unter einem Überdruck von 100 bis 500

Pascal stehende Kammer über die gas-

dichte Außentür 1 samt Personenschleu-

se 2 betreten, in der sich zudem ein

WC be findet. Herz des Innenraums mit

seinen Sitzbänken 3 ist die BPU 7000,

Besser haben als brauchen: Einen sicheren Zufluchtsort bei gefährlichen Situationen im Berg- und Tunnelbau – diese Flucht- und Rettungskammer lässt sich modulartig erweitern

eine Atemluftversorgungs- und Rege-

ne rationseinheit 4 . Der verbrauchte

Sauerstoff der Atemluft wird aus

den Sauerstofffl aschen 5 wieder zuge-

führt, während die anderen sechs

Flaschen 6 Atemluft bereithalten, um

den Raumüberdruck und die Spülung

der Personen schleuse zu gewähr leisten.

In der Regenerationseinheit wird

mit Dräger-Atemkalk das Kohlendioxid

auf einen Wert von unter 1 Vol.-%

gefi ltert und Kohlenmonoxid auf weniger

als 60 ppm katalysiert. Die Klimaan-

lage 7 hält die Innentemperatur auf

unter 30 °C und steuert zudem die

Luftfeuchtigkeit. Im Bedarfsfall wird

eine unterbrechungsfreie Stromver-

sorgung über leistungsstarke Batterien

sicher gestellt 8 . Das Filtrations-

system 9 für die externe Luftversor-

gung erlaubt auch die Nutzung

externer Druckluft, sofern diese vom

Anwender be reitgestellt wurde.

Das Tonnendach aus robustem

Stahl ist gegen Steinschlag noch-

mals kon struktiv verstärkt. Gabel-

stapler laschen am Boden er -

leichtern die Verbringung der in der

Basisversion 5,4 Tonnen wiegenden

Kammer, die über Bodenkufen und

Schwerlasttransport ösen ver-

setzt werden kann. Die MRC 5000

wurde von Dräger-Simsa S.A. in

Eigen regie entwickelt.

Insel unter Tage

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