Sarah Kirsch Sämtliche Gedichte

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Sarah Kirsch

Sämtliche Gedichte

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Sarah Kirsch

Sämtliche Gedichte

Deutsche Verlags-Anstalt

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Inhalt

7 Landaufenthalt (1969)

75 Zaubersprüche (1974)

127 Rückenwind (1977)

163 Drachensteigen (1979)

187 Erdreich (1982)

249 Katzenleben (1984)

311 Schneewärme (1989)

363 Erlkönigs Tochter (1992)

405 Bodenlos (1996)

435 Schwanenliebe (2001)

517 AusführlichesInhaltsverzeichnis

539 Alphabetisches Verzeichnisaller Gedichte

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Landaufenthalt

(1969)

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Der Wels ein Fisch der am Grund lebt

Der Wels ein Fisch der am Grund lebtHat einen gewölbten Rücken der Kopf ist stumpfDer Bauch flach er paßt sich dem Sand anDer von den Wellen des Wassers gewalzt istVon dieser Gestalt wähn ich mein FlugzeugDas hoch über der Erde steht, aus seinem FischbauchIns Riesge gewachsen laden noch FlügelStumpfwinklig in windzerblasene WolkenUnter mir Wälder Nadel- und LaubgehölzLeicht unterscheidbar von hierDer Herbst ist sichtbar dumpfes Braun bei denBuchen Eichen und Lärchen, die WinterbäumeHaben ihr Grünes zu zeigen, mehr nochRufen die Straßen Flüsse und Städte mich anSchön liegt das Land die Seen wie SpiegelTaschenspiegel SpiegelscherbenDas ist meine Erde, daWerden Demonstrationen gemacht weißWerden die Transparente getragen mit schwarzer SchriftGegen Schlächterei Ungleichheit DummheitEs schwimmen Kinder auf Gummischwänen es schlafenImmer noch Alte auf Bänken an Flüssen, StraßenfegerHoln jeden Morgen den Abfall zusammErde die ich überflieg auf die Regen und Schnee fälltNicht mehr so unschuldig wie eh wie der Schatten des FlugzeugsIch höre Bach und Josephine Baker das ist ein Paar

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Fahrt II

1Aber am liebsten fahre ich EisenbahnDurch mein kleines wärmendes LandIn allen Jahreszeiten: der WinterWirft Hasenspuren vergessene KohlplantagenDurchs Fenster, ich seh die Säume der kahlen BäumeZarte Linie ums Geäst sie fahren heranDrehn sich verlassen mich wieder

2Im Frühjahr schreitet der Fasan vorbeiSeine goldenen LöwenzahnfedernMachen ihn kostbar ich fürchte für ihnSchon ist er verschwunden, zerbrochne ErdeLiegt schamlos am Bahndamm aberBeim Schrankenhäuschen wird sie geebnetVon Stiefmütterchen Pfingstrosenbüschen und VeilchenIch seh schon den Sommer, daWird das geflügelte Rad rotgestrichenDer Schrankenwärter legt aus SteinenDen Reisenden gute Wünsche

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3Arme Erde rußschwarz und mehligSchöne Gegenfarbe von Schwertlilien, die blauUnd mit seidig geäderten BlütenIn letzter Sonne stehn, das geht vorbeiNeue Bilder drehn sich der Zug ist so langsamDaß ich die Pflanzen benennen kannJetzt die Robinien Weißes und Grünes DuftOder liegt auf den PfennigblätternGeriesel vom Kalkwerk

4Die Fahrt wird schneller dem Rand meines Lands zuIch komme dem Meer entgegen den Bergen oderNur ritzendem Draht der durch Wald zieht, dahinterSprechen die Menschen wohl meine Sprache, kennenDie Klagen des Gryphius wie ichHaben die gleichen Bilder im FernsehgerätDoch die WorteDie sie hörn die sie lesen, die gleichen BilderWerden den meinen entgegen sein, ich weiß und sehKeinen Weg der meinen schnaufenden ZugDurch den Draht führtGanz vorn die blaue Diesellok

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Lange Reise

Jetzt wolln wir mal nach Birmingham gehnDer alten schwarzen Küche wo der Ofen nicht ziehtDu nimm die Mütze vom Kopf frag wo das Haus steht»Zur singenden Katze« da gehn wir gleich hinUnd finden bloß eine music-box frag ob das alles ist

Dann wolln wir lieber Onkel Olaf besuchen der liegtUnten am Sund und ist voll wie ein Sprit-ZugWo hat er nur die schöne blaue Mütze herDie leuchtet wie im Juni die See um halb vierBloß jetzt ist sie fleckig und er antwortet nicht

So nehmen wir eben Weg auf die Shetland-InselnUnd werden mal sehn ob die Ponys sich kämmenUnd ob sie so klein sind weil auf dem Land groß nichts wächstDie kleinen Pferde sind wirklich vorzüglich duDas sollte Onkel Olaf sehn wie die seine Mütze wegessen

Jetzt wird es aber Zeit daß wir Palmbäume sehnAber hier hätten wir nie unsern Fuß aufsetzen sollenLeg dich flach ins Reisfeld neben die WasserkuhOder kriech ins Gebüsch dahin wo die zwitschernden Kinder rennenNein bleib da mäht was die Palmen abWirf die Mütze weg sie brennt ja wie die Kinder im Busch

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Nun müssen wir bis Köln hinlaufen das liegtSehr weit unten hat der Koch von Birmingham gesagtAch was die Leute für saubere Hemden habenSie duften nach Juchten und Blumen aus SpanienWoher kommt dann der süßfrische Rauchgeruch dazwischenDu trägst nicht mal eine Mütze aufm Kopf komm wir müssen weiter

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Ausflug

Ach Vogel, fremde Pfeifente, verirrt im Springbrunnenteich, sag nichtDaß ich das nicht kann:Nachts besteig ich den Nylonmantel, bezahlDie Helfer im voraus mit Knöpfen, flieg einfach losNicht schlechter als du, GraufedrigeDie Sterne, Poren in meinen FlügelnUmtanzen den kleinen Mond in der TascheWind in den Ärmeln hebt mich in maßlosen SchornsteinrußIch häng überm Land, seh nichts vor Nebel und RauchFort reißts mich über den Fluß, die aufrechten Bäume, den TagebauHier werf ich scheppernd Ersatzteile ab – bloß so, dieBrauchen sie immer, du, Vogel, pfeif nicht, ich singe, da trägts michSchwarz von der Arbeit des Fliegens bis in die VorstadtDurchs Fenster fall ich in weiße DeckenKissen gefüllt mit Entendaunen (hüte dich, fremder Vogel)Und mein Freund, der Schmied aus dem RauchkombinatGibt mir ein duftendes Seifenstück

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Trauriger Tag

Ich bin ein Tiger im RegenWasser scheitelt mir das FellTropfen tropfen in die Augen

Ich schlurfe langsam, schleudre die PfotenDie Friedrichstraße entlangUnd bin im Regen abgebrannt

Ich hau mich durch Autos bei RotGeh ins Café um MagenbitterFreß die Kapelle und schaukle fort

Ich brülle am Alex den Regen scharfDas Hochhaus wird naß, verliert seinen Gürtel(ich knurre: man tut was man kann)

Aber es regnet den siebten TagDa bin ich bös bis in die Wimpern

Ich fauche mir die Straße leerUnd setz mich unter ehrliche Möwen

Die sehen alle nach links in die Spree

Und wenn ich gewaltiger Tiger heuleVerstehn sie: ich meine es müßte hierNoch andere Tiger geben

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Bei den weißen Stiefmütterchen

Bei den weißen StiefmütterchenIm Park wie ers mir auftrugStehe ich unter der WeideUngekämmte Alte blattlosSiehst du sagt sie er kommt nicht

Ach sage ich er hat sich den Fuß gebrochenEine Gräte verschluckt, eine StraßeWurde plötzlich verlegt oderEr kann seiner Frau nicht entkommenViele Dinge hindern uns Menschen

Die Weide wiegt sich und knarrtKann auch sein er ist schon totSah blaß aus als er dich untern Mantel küßteKann sein Weide kann seinSo wollen wir hoffen er liebt mich nicht mehr

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Das grüne Meer mit den Muschelkämmen

Das grüne Meer mit den MuschelkämmenDampft in der Winternacht

Sanften Auges der LeuchtturmwärterSetzt Laternen ein, hau ruck

Einfach so, vor dem Neuen JahrGing seine Frau übers Wasser

Keine Fische wollte sie schuppenNicht unterm Nebelhorn schlafen

Ach, die Laternen des LeuchtturmwärtersFinden nur Muschelkämme

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Der Himmel schuppt sich

Ach Schnee, sag ich, hier siehst du Eine vor dirDie kalte Füße hat und es satt, hilf Winter-UhrGleichmacher, weißer Fliegentanz, kommstAuf Gerechte und Ungerechte Jahr für Jahr

Schnei ihn ein, Schnee, fall aus allen WolkenBring Nacht, Mauern aus Eis, teilDeine Flocken ohn Unterlaß, roll ihn in HochlandlawinenEr hat was nicht schlägt als Herz in der Brust

Hat schöne gläserne Augen, mit denen sieht er nichtHat zwei Ohren, mit denen hört er nichtHat einen Mund den kenn ich nicht

Du Schnee, sag ich, weiße Federtiere, Reimwort auf WehDu bist Lava, kochender Stahl verglichen mit ihmTau ihn auf. Er magert mich ab

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Erklärung einiger Dinge

1Wenn du mich verläßt VerleumdungAusstreust, in deiner Zeitung verkündestDu seist betrogen deiner EnttäuschungAusdruck verleihst, schwarzgeränderte KartenAn Alle verschickst meine purpurnen SchuheIns Feuer wirfst Briefe verschweigstDann will ich dich längst nicht verlassen

Wenn du deinem Spott mich aussetztMir Klugheit in Dummheit verkehrstAus meinem RotTeer machst, meine BegeisterungZu Eis fälschst so will ichDir nachgehn verkünden du lügst

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2Wenn du dich meinerEntledigen willst, eine andere SchönheitVorziehst, mich in den SandsturmSchickst daß mir Hören und Sehn vergehtMeine Hände nichts fassen die HautIm Staub fast ersticktWill ich dich längst nicht verlassen

Ich warte auf andere Tage warteTöricht? auf deine Reue, schon morgenSetzt die vorgezogne GeschminkteDu vor die Tür ziehst eilig den RiegelNelken bringt mir der Mittag am AbendLäufst du mir hungrig entgegen bietestMir deinen Mantel ich

Gehe nicht ohne dich Tausend-Äugiger Antreiber millionen-Fingrige Faust Hoffnung auf Hoffnung

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Hirtenlied

Ich sitz über Deutschlands weißem SchneeDer Himmel ist aufgeschlitztWintersamenKommt auf mich wenn nichts SchlimmresHaar wird zum HelmDie Flöte splittert am Mund

Der Wald steht schwarz es kriechtDraht übern Felsen es riechtNach Brand da hüte ichDie vier Elemente am Rand des Lands

Meine Federn am KleidMein ängstlicher SchuhSeid ruhig ruhig tragtMich nicht fort

Ich knote an Bäume mich lieg unter SteinenStreu Eis mir ins Hemd ich schneideDas Lid vom Aug da bleibe ich wach:Meine tückische HerdeDie sich vereinzelt die sich vermengtMeine dienstbare tückische HerdeWird Wolke sonst: winters nochIst sie zerkracht

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Dann werden wir kein Feuer brauchen

Dann werden wir kein Feuer brauchenEs wird die Erde voll Wärme seinDer Wald muß dampfen, die MeereSpringen – Wolken die milchigen TiereDrängen sich: ein mächtiger Wolkenbaum

Die Sonne ist blaß in all dem GlänzenGreifbar die Luft ich halte sie festEin hochtönender WindTreibts in die Augen da weine ich nicht

Wir gehn bloßen LeibsDurch Wohnungen türenlos schattenlosSind wir allein weil keiner uns folgt niemandDas Lager versagt: stummSind die Hunde sie wehren nichtDen Schritt mir zur Seite: ihre ZungenAufgebläht ohne Ton sind taub

Nur Himmel umgibt uns und schaumiger Regen KälteWird nie mehr sein, die SteineDie ledernen Blumen unsere Körper wie SeidedazwischenStrahln Wärme aus HelligkeitIst in uns wir sind silbernen Leibs

Morgen wirst du im Paradies mit mir sein

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Schneelied

Um den Berg um den BergFliegen sieben RabenDas werden meine Brüder seinDie sich verwandelt haben

Sie waren so aufs Essen versessenSie haben ihre Schwester vergessenSie flogen weg die Goldkuh schlachtenAch wie sie lachten

Eh sie zur Sonne gekommen sindWaren sie blind

Mein Haus ich blas die Lichter ausBevor ich schlafen gehKann ich die schwarzen Federn sehnIm weißen gefrorenen Schnee

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Der Schnee liegt schwarz in meiner Stadt

Der Schnee liegt schwarz in meiner StadtDie Hunde gehn voll Schlamm und RauchDie Menschen sind um diese ZeitAuf ihrem breiten ChaiselongueUnd essen warmes Brot

Nur Tauben brüllen auf dem DachDie suchen in den Schuppen SchutzSie denken schon ans nächste NestUnd rupfen eine Feder losUnd legen sie ins Ziegelfach

Ich gehe aus im schwarzen PelzIch red den Hunden freundlich zuDa heulen sie und wedeln mattUnd zeigen mir den weißen SchneeDer auf dem Judenfriedhof ist

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Breughel-Bild

Der Himmel schneit sich nackt und grünSchon häuft sichs besetzt die Erde auf LandsknechtartFallen Krähen ein belauben den BaumSchrein spähn sammeln sich fliegen weiter

Werden grauer im Schnee sind klein fast weißKältevögel wohin geht eure Straße was zieht euchEin dampfender Maissilo ein Schlachthaus ein Rapsfeld das SchlachtfeldWomit wollt ihr euch mästen wie denkt ihrOhne Verluste übern Winter zu kommen wartetNicht diesen Winter ist es umsonst fliegtÜber die schwarzborstigen Berge: hier fällt nichts ab

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Fahrt 1

Die Erde in unserer Gegend ist übel dranDer Winter wie Krieg ging seine FetzenVerdrecktes Verbandzeug zerfallen, da sehnNarben und Schorf hervor, die ErdeIn unserer Gegend ist grindig

Filziges bleiches Gras SchamhaarReckt sich über die größten Löcher, die ErdeIst tonig sanft blutig stöhnt unterm trocknen Himmel

Die durchsichtigen Bäume sind so leicht zu verletzenDaß sie ganz still stehn Modelle aus Glas

Nur Schwertlilien im BahnwärtergartenSchlagen sich unbeirrt aus der ErdeDie Blattspitzen zerreißen dabeiDie ersten haben es am schwersten

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Wenn er in den Krieg muß

Ich schwinge mich in den ApfelbaumKnüpfe mich fest mit meinen HaarenIch will auf dich warten GoldenerEinen Monat oder mehr im Wind

Ach greift da der WindRüttelt Regen den BaumSonne zersägt schon das KleidAch wenn der Liebste naht in der FlammenwolkeSteh ich nackt

Den Vögeln Brot und HausDen Vögeln die es nicht gibtIch geh schwanger mit Nachtigalln LiebsterWarte auf dich komm sieh mich an

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Aufforderung

Denk nach Bruder und zähle dein GeldKauf einen schillernden Hahn verrate mich sagIch könnte Fische verstehen wüßte wie Gras wächst

Auf bittrer Erde erstorbener Dörfer, aberDu hast es gesehn ich verriegleAbends die Türen vertraue dir nicht und keinem Computer

Hab einen steifen Rücken ein Maultier das störrisch istNoch im Kleefeld nicht frißt manchmalDie Peitsche nimmt aber verdorben ist seit diesem Tag

Sag Bruder daß du mein Bruder nicht bistDaß deine Fingerabdrücke den meinen fremd sind verwahr dichUnd deine zahlreiche Sippe wenn sie dir lieb ist gegen

Mein einfältiges Schweigen

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Seestück

Ich tanze Seil überm Meer von Felsen zu FelsenHabs nie gelernt: das kann ich vergessen, ich setzeDie Füße, hab schlaue Zehen, die greifen ums SeilDie lösen sich, wenn ich Zeichen gebe

Ich trab übers Seil, als ging es durch StraßenVorüber an Läden (die kenne ich lange)Und seh schon das Ziel: die Arme der Bäume, GrasWächst mir buschweis entgegen, ich spürKantigen Felsen in meinen Händen

Da seh ich am Seil vorbei flutende WiesenDer Seestern stelzt auf gepflügtem GrundDelphine flüstern, die sanften FontänenKühln die Sohlen mir, bitten ach kommDie Ertrunknen haben ein fröhliches Leben

Ich setze die schwarze Brille auf, balancierFinger im Ohr weg über gesättigte Schollen, ich springeUnd liege zerschunden auf meinem Ufer

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Bevor die Sonne aufgeht

Bevor die Sonne aufgeht rufen meine Brüder die schecki-gen Hunde im Hof blasen die Hände schütteln Tau vomSchuh eh die Sonne oben ist sind meine Brüder hinterdem Dorf haben Netze ins Strauchwerk getan knüpfeneinen Vogel fest der ist geblendet und singt bis ans Endedie Brüder stopfen sich Pfeifen liegen im Kraut sindgeduldig folgen den kunstvollen Strophen jetzt hängensieben im Netz sagt der Jüngste und schneidet sichSchinken

Aber wenn der Vollmond hinter Wolken steht gehnmeine Brüder im Wald mit den Hunden biegen einan-der die Zweige zurück sehn in den Himmel eine zer-sprungne Emailleschüssel sie legen dem Hickorybaumihre Hände an rupfen ein Gras blasen Hirsche hervorund treffen wie sies lernten beim ersten Schuß kom-men ächzend durch den Hof auf dem Rücken brettsteifeLast

Meine Brüder haben einen gelben Rock Sterne weichefaltige Stiefel sie tragen einen Tornister es ist ein Bildvon unserem Haus darin eine Büchse Fleisch und ihrVogelnetz sie haben die neusten Gewehre gehn außerLands sie sollen schießen wenn ein Mensch im Visierist ich kenne meine Brüder sie biegen einander Zweigezurück und sind geduldig bis ans Ende

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Augenblick

… ach wie ihre Fenster blitzten und die ZahlenAuf den Flügeln, eh sie in die Palmen fielen . . .

Eines Tages

Eines Tages werde ich gewissenlos glücklich sein, daWird mich die Nachricht erreichen, ich weiß nichtOb Sommer ob wässriger Schnee ist, kann seinIch schäle Kartoffeln (versuch ohneDas Messer zu lösen ein Band)

Einer wird es vor mir erfahren, er sagt es amTelefon, möglich ich antworte nichtLege den Hörer zurück, rauch eine ZigaretteSchalte das Radio ein, gieße BlumenOder ich geh auf die Straße in Läden auf PlätzeUm zu bemerken, daß alles wie immer geschiehtDie Leute drängen sich vor, anderswoWird eine Kundgebung organisiert, MikrofonprobeDer Redner schreibt eine langweilige Rede

An diesem TagWerde ich Marschmusik lieben und SchalmeinIch warte auf ihn wenn mich die Nachricht erreichtDer Krieg ist vorbei, die ich nicht meine Brüder nenne, fallnEin Schwarm Fliegen, mit ihren Flugzeugen, Schiffen, KanonenZurück in ihr Land

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Legende über Lilja

1Ob sie schön war ist nicht zu verbürgen zumalDie Aussagen der überlebenden LagerbewohnerSich widersprechen schon die Farbe des HaarsUnterschiedlich benannt wird in der KarteiSich kein Bild fand sie sollAus Polen geschickt worden sein

2Im Sommer ging Lilja barfuß wie im Winter und schriebSieben Briefe

3Sechs drahtdünne Röllchen wandernDurch Häftlingskittel übern Appellplatz klebenAn müder Haut stören den Schlaf erreichenDen man nicht kennt (er kann nichtZeuge sein beim Prozeß)

4Das siebente gab einer gegen Brot

5Lilja in der Schreibstube Lilja unterwegs Lilja im BunkerSchlag mit der Peitsche den Namen warum sagt sie nichts wer weiß dasWarum schweigt sie im August wenn die VögelSingen im Rauch

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6Einer mit Uniform Totenkopf am Kragen LiebhaberAlter Theaterstücke (sein Hund mit klassischem Namen) erfandMan sollte ihre Augen reden lassen

7Durch die gefangenen Männer wurde eine Straße gemachtEine seltsame Allee geplünderter Bäume tat sich da aufHier sollte sie gehen und einen verraten

8Nun brauch deine Augen Lilja befiehlDen Muskeln dem Blut Sorglosigkeit hier bist du oft gegangenKennst jeden Stein jedenStein

9Ihr Gesicht ging vorbeiSagten die Überlebenden sieHätten gezittert Lilja wie tot ging gingBis der Mann dessen Hund Hamlet hießBrüllte befahl genug

10Seitdem wurde sie nicht mehr gesehen

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11Andere Zeugen sagten sie habe auf ihrem WegAlle angelächelt sich mit den Fingern gekämmtSei gleich ins Gas gekommen – das warÜber zwanzig Jahr her –

12Alle sprachen lange von Lilja

13Die Richter von Frankfurt ließen im Jahr 65 protokollierenOffensichtlichWürden Legenden erzählt dieser PunktSei aus der Anklage zu streichen

14In dem Brief soll gestanden haben wirWerden hier nicht rauskommen wir habenZu viel gesehn

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Landaufenthalt

Morgens füttere ich den Schwan abends die Katzen dazwischenGehe ich über das Gras passiere die verkommenen ObstplantagenHier wachsen Birnbäume in rostigen Öfen, PfirsichbäumeFallen ins Kraut, die Zäune haben sich lange ergeben, Eisen und HolzAlles verfault und der Wald umarmt den Garten in einer Fliederhecke

Da stehe ich dicht vor den Büschen mit nassen FüßenEs hat lange geregnet, und sehe die tintenblauen Dolden, der HimmelIst scheckig wie LöschpapierMich schwindelt vor Farbe und Duft doch die BienenBleiben im Stock selbst die aufgesperrten Mäuler der NesselblütenZiehn sie nicht her, vielleicht ist die KöniginHeute morgen plötzlich gestorben die Eichen

Brüten Gallwespen, dicke rosa Kugeln platzen wohl baldIch würde die Bäume gerne erleichtern doch der ÄpfelchenSind es zu viel sie erreichen mühlos die Kronen auch faßtKlebkraut mich an, ich unterscheide Simsen und Seggen so viel Natur

Die Vögel und schwarzen Schnecken dazu überall Gras Gras dasDie Füße mir feuchtet fettgrün es verschwendet sichNoch auf dem Schuttberg verbirgt es Glas wächst

in aufgebrochne Matratzen ich rette michAuf den künstlichen Schlackeweg und werde wohl baldIn meine Betonstadt zurückgehen hier ist man nicht auf der WeltDer Frühling in seiner maßlosen Gier macht nicht halt, verstopftAugen und Ohren mit Gras die Zeitungen sind leerEh sie hier ankommen der Wald hat all seine Blätter und weißNichts vom Feuer

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Im Baum

Ich hänge zwischen Stricken im BaumDie Füße berühren die Erde nicht, die ArmeLiegen mir an ich pendle unter der LindeEs knarrt der Ast, ich auf der SchaukelBin leicht daß sie hält doch zu schwerBis in die Blätter zu kommen den Vögeln ins NestDa häng ich ich halt mich, unter den FüßenSpärliches Gras, zu meinen Augen der SeeUnd die Sonne, weils schwingt, springtBlattwärts erreicht meinen FingerDer See mit blauschwarzem BuckelRollt sacht ans Ufer zerplatztEs sieht ein schweinsäugig Tier hervor, sagtIch bin der See von AnbeginnWohn in mir selbst laß Boote sinkenSpielplatz der Algen Fischschaukel ich, doch ehDie Rede noch vollendet warKlatscht die Welle vom Ufer zurück, der SeeIst glatt sein TierHats nie gegeben, ich schaukleErreiche die Blätter das Gras, häng in der LindeStrecke die Füße binZwischen zwei Stricken auf einem Holz, seheZwei Ufer meins und das andereRieche Apfelblüten weiß Häuser in meinem Rücken kann losVon Baum und Strick

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Die Vögel singen im Regen am schönsten

Noch eh es Tag wird fällt Regen die Wolken wüten ver-liern sich kennen kein Maß das perlt erdwärts auf dieSpitzen der Bäume fließt den Kiel der Pappeln entlanggeht von Nadel zu Nadel wirft sich auf Gras drückts nie-der bespringt zerbrechlichen Ehrenpreis trommelt denHorizont aus der Welt

Die braunen Tauchenten laufen übers Wasser verlassendas Schilf sind ganz von Wasser umgeben ihr Gefiederist für den fetten Regen gerüstet sie tauchen zum Grunddes Sees verraten den Aalen die Erde schwimmt

Den kleinen Vögeln in Baum und Strauch im Gras reg-nets ins Nest wenn sie sich ducken ob sie die Flut über-stehn sie singen bloß und rufen lauter als die TropfenGeräusch machen schon unterscheide ich KuckuckDrossel etliche Tauben es fallen Grasmücken ein unddie Spatzen über dem Fenster geben ihr Weniges derLärm ist groß und voller Kunst

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Schöner See Wasseraug

Schöner See Wasseraug ich lieg dir am RandSpähe durch Gras und Wimpern, duLäßt mir Fische springen ihr BauchsilberSprüht in der schrägen Sonne die KräheMit sehr gewölbten SchwungfedernGeht über dich hin, deine UferWähltest du inmitten heimischer BäumeKiefern und Laubwald Weiden und BirkenRahmen dich, kunstvolle FassungDeines geschuppten Glases, aber am nächsten Morgen

Ist die Sonne in Tücher gewickelt und fernDas andere Ufer verschwimmt, seine HängeSanft abfallende PalmenhaineErreichen dich, duEinem langsamen Flußarm ähnlichBirgst Krokodile und lederne SchlangenSeltsame Vögel mit roten FedernFliegen dir quellwärts, ich komm zur HütteRufe mein weißgesichtiges Äffchen und willIn dir die bunten Röcke waschen

Wenn der Rücken mir schmerzt wennDie Sonne ganz aufgekommen istLiegt der See in anderer LandschaftEr weiß alle jetzt hat er das Ufer der Marne

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Ein Stahlbrückchen eckige Häuser BüscheMein schöner Bruder holt mich im KahnFischsuppe zu essen er singt das LiedVom See der zum Fluß wurdeAus Sehnsucht nach fremden Flüssen und Städten

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Musik auf dem Wasser

Am Sonntag war der See wie ausgewechselt schon frühBefuhren ihn kleine Boote dreistellige Zahlen auf den SegelnVom Ufer hingen viele Angeln ins Wasser Kinder schwammen die FischeZogen dem Grund zu

Erst schluckten sich gewöhnliche Dampfer durch die WellenDer Schwan blieb im Schilf hielt die Flügel übers NestSpäter erschien ein großes schwimmendes Haus man konnteDie gegenüberliegenden Fenster durchsehn

Die Seereisenden waren an Deck gestiegen um KaffeeUnter freiem Himmel zu trinken die Kleider klebtenAn ihrer Haut es blitzte golden ans dunkle LandDas waren Hörner und Posaunen

Es ist schwer in Hitze und Uniform über der Tiefe Lieder zu blasenDie Töne kamen fett und berstend Enten stoben aufFlogen mit langen Hälsen langsam über die ArcheDie Angler vergaßen ins Wasser zu sehn

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Morgens hatte ich Wein getrunken weil die Sonne so brannte

Morgens hatte ich Wein getrunken weil die Sonne so brannteIch lag auf kühlem Parkett las alte Bücher in denenWinzige Tiere seit Jahren wohnten, sieAßen vom Leim manchmal ein Komma, den TextKonnte ich trotzdem verfolgen: es waren Fata von

See-Fahrt und Schiff-Bruch

Mittags lag ein Knabe am Strand er warWohl angespült ich wunderte mich nichtPappelflocken flogen herab die ElsterSah gierig nach seinen Augen die waren hellLuden mich ein schwimmen zu gehn – ich vertriebEine weiße Spinne von seinem Zeh, wehrte den MückenEine Welle klatschte ans Ufer, er hob anMir die Finger zu küssen ich war empfänglichUnd nannte ihn sanft

da rauschte das WasserEs bäumte sich schlug über ihnDer See kochte stand auf reckte sich groß nahm ihn zurückKatzen sprangen am Rande und lachten

Abends saß ich im Apfelbaum und sah über das Wasser

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