Schätzen, rechnen, Größenordnungen erschließen

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48 | Phys. Unserer Zeit | 1/2008 (39) www.phiuz.de © 2008 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim MAGAZIN | Wir möchten Sie auch herzlich dazu einladen, sich an der Rubrik zu beteiligen. Wenn Sie eine geeignete Aufgabe und deren Lösung haben, schicken Sie diese bitte an: Physik in unserer Zeit, Dr. Thomas Bührke, Wiesenblättchen 12, 68723 Schwetzingen oder [email protected]. [1] Lexikon der Physik, Spektrum Akademi- scher Verlag, Heidelberg 1997, Bd. 2, S. 340. AUFGABE Auge und Quanten: so nicht! Das menschliche Auge ist in einem Wellenlängenbereich von etwa 400 bis 800 nm empfindlich. In einem ansonsten sehr guten Biologielehr- buch [1] wird die Begrenzung des Sehbereiches auf Wellenlängen unterhalb 800 nm mit folgendem Argument begründet: „Die Energie infraroter Quanten jenseits von 800 nm ist so gering, dass sie bereits im Bereich der thermischen Moleku- larbewegung bei 37 °C liegt. Hätte ein Photorezeptor ein Pigment, dass für solche Wellenlängen empfindlich wäre, so würde es durch thermische Stöße angeregt, die zufällig gerade seine Anregungsenergie erreichen.“ Mit anderen Worten: Ein Licht- signal mit Wellenlängen oberhalb von 800 nm würde im thermischen Rauschen „untergehen“. Kann diese Begründung stimmen? Die Lösung erfahren Sie in der nächsten Ausgabe. [1] B. Ronacher, H. Hemminger, Einführung in die Nerven- und Sinnesphysiologie, Quelle und Meyer, Heidelberg 1978, S. 83. Andreas Müller, Landau FERMIS CORNER | Schätzen, rechnen, Größenordnungen erschließen Denken in Größen und Größenordnungen ist eine der wichtigsten Kom- ponenten naturwissenschaftlichen Arbeitens. So wichtig, dass es in der Ausbildung von Naturwissenschaftlern und Lehrern von Naturwissen- schaften eine besondere Rolle spielt. Der italienische Physiker Enrico Fermi war berühmt für seine Fähigkeit, eine komplexe Fragestellung auf das Wesentliche zu reduzieren und größenordnungsmäßig zu lösen. Mit der neuen Serie Fermis Corner wollen wir diese Kunst fortführen. Angaben über Größen und Größen- ordnungen gehören zu den grund- legenden Aussagen der Naturwissen- schaften: Wie groß ist ein Atomkern? Ein Molekül? Eine Zelle? Die höchs- ten Bäume? Die höchsten Berge? Die Sonne? Mit einem halben Dut- zend Fragen macht man eine Reise durch die Physik, Chemie, Biologie, Geographie und Astronomie. Ebenso wie eine Reise durch Längen kann man eine durch Zeitdauern, Ge- schwindigkeiten, Energien und vieles andere unternehmen. Mit jeder dieser Reisen entsteht eine ge- dankliche Verbindung zwischen all ihren Stationen: Größenangaben, die miteinander in Beziehung gesetzt und verglichen werden können. Es sind solche Beziehungen, die diese Frage- und Denkform als eine Komponente naturwissenschaft- lichen Arbeitens sehr wichtig ma- chen – so wichtig, dass es dazu in der Physik einen eigenen Begriff gibt: Fermi-Fragen oder auch Fermi- Lösungen [1]. Sie sind benannt nach dem italienischen Nobelpreisträger Enrico Fermi, der es in der Kunst des Größenordungsdenkens zu einer geradezu legendären Meisterschaft gebracht hatte. Der Gegenstand bei Fermi- Aufgaben kann sehr vielfältig sein: zum einen eine Fülle von alltagsbezo- genen und physikalischen Fragen, zum anderen Schätzung von unbe- kannten Daten und Schlussfolgerun- gen aus bekannten Daten. Andere Charakteristika sind neben der Schätzung von Größenordnungen: Verbindung von gesundem Men- schenverstand und Physikwissen, Veranschaulichungen von Größenordnungen, Begründung von Faustformeln, kritisches Denken und insbesondere Diskussion populärwissenschaft- licher und fachlicher „Folklore“ (Stichwort moderne Legenden). Schließlich bieten Fermi-Probleme auch die Möglichkeit, sich fundamen- talen Fragestellungen der Physik in einer sehr greifbaren Weise zu nähern. Hierfür ein historisches Beispiel: Wer hätte noch nicht ge- hört, dass man durch „Öl auf die Wogen Gießen“ die Wasseroberflä- che glätten kann? Benjamin Franklin beobachtete bereits um 1770, wie groß bei einem gegebenen Volumen Olivenöl (a teaspoon, V 2 cm 3 ) die geglättete Wasseroberfläche ist (half an acre, A 2000 m 2 ). Hundert Jahre später schloss Lord Rayleigh hieraus auf die Existenz und die Dimensio- nen von kleinsten Bausteinen der Materie: Der Quotient V/A liefert die Dicke des Ölfilmes, nämlich etwa ein Nanometer. Das ist, wie man heute weiß, gerade die Größenordnung der Länge der Ölmoleküle. Damit sind wir schon mitten in der neuen Serie, die wir hiermit beginnen. Wir haben sie Fermis Corner genannt, in Anlehnung an Speakers Corner im Londoner Hyde Park, wegen der erfahrungsgemäß lebhaften Debatten um solche Auf- gaben.

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48 | Phys. Unserer Zeit | 1/2008 (39) www.phiuz.de © 2008 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim

M AG A Z I N |

Wir möchten Sie auch herzlichdazu einladen, sich an der Rubrik zubeteiligen. Wenn Sie eine geeigneteAufgabe und deren Lösung haben,schicken Sie diese bitte an: Physik inunserer Zeit, Dr. Thomas Bührke,Wiesenblättchen 12,68723 Schwetzingen [email protected].

[1] Lexikon der Physik, Spektrum Akademi-scher Verlag, Heidelberg 1997, Bd. 2, S. 340.

AUFGABEAuge und Quanten: so nicht! Das menschliche Auge ist in einemWellenlängenbereich von etwa 400bis 800 nm empfindlich. In einemansonsten sehr guten Biologielehr-buch [1] wird die Begrenzung desSehbereiches auf Wellenlängenunterhalb 800 nm mit folgendemArgument begründet: „Die Energieinfraroter Quanten jenseits von 800 nm ist so gering, dass sie bereitsim Bereich der thermischen Moleku-larbewegung bei 37 °C liegt. Hätteein Photorezeptor ein Pigment, dassfür solche Wellenlängen empfindlichwäre, so würde es durch thermischeStöße angeregt, die zufällig geradeseine Anregungsenergie erreichen.“

Mit anderen Worten: Ein Licht-signal mit Wellenlängen oberhalb von800 nm würde im thermischenRauschen „untergehen“. Kann dieseBegründung stimmen? Die Lösungerfahren Sie in der nächsten Ausgabe.

[1] B. Ronacher, H. Hemminger, Einführung indie Nerven- und Sinnesphysiologie, Quelleund Meyer, Heidelberg 1978, S. 83.

Andreas Müller, Landau

F E R M I S CO R N E R |Schätzen, rechnen, Größenordnungenerschließen

Denken in Größen und Größenordnungen ist eine der wichtigsten Kom-ponenten naturwissenschaftlichen Arbeitens. So wichtig, dass es in derAusbildung von Naturwissenschaftlern und Lehrern von Naturwissen-schaften eine besondere Rolle spielt. Der italienische Physiker EnricoFermi war berühmt für seine Fähigkeit, eine komplexe Fragestellung aufdas Wesentliche zu reduzieren und größenordnungsmäßig zu lösen. Mit der neuen Serie Fermis Corner wollen wir diese Kunst fortführen.

Angaben über Größen und Größen-ordnungen gehören zu den grund-legenden Aussagen der Naturwissen-schaften: Wie groß ist ein Atomkern?Ein Molekül? Eine Zelle? Die höchs-ten Bäume? Die höchsten Berge? Die Sonne? Mit einem halben Dut-zend Fragen macht man eine Reisedurch die Physik, Chemie, Biologie,Geographie und Astronomie. Ebensowie eine Reise durch Längen kannman eine durch Zeitdauern, Ge-schwindigkeiten, Energien und vielesandere unternehmen. Mit jederdieser Reisen entsteht eine ge-dankliche Verbindung zwischen allihren Stationen: Größenangaben, diemiteinander in Beziehung gesetztund verglichen werden können.

Es sind solche Beziehungen, diediese Frage- und Denkform als eineKomponente naturwissenschaft-lichen Arbeitens sehr wichtig ma-chen – so wichtig, dass es dazu inder Physik einen eigenen Begriffgibt: Fermi-Fragen oder auch Fermi-Lösungen [1]. Sie sind benannt nachdem italienischen NobelpreisträgerEnrico Fermi, der es in der Kunst desGrößenordungsdenkens zu einergeradezu legendären Meisterschaftgebracht hatte.

Der Gegenstand bei Fermi-Aufgaben kann sehr vielfältig sein:zum einen eine Fülle von alltagsbezo-genen und physikalischen Fragen,zum anderen Schätzung von unbe-kannten Daten und Schlussfolgerun-gen aus bekannten Daten. AndereCharakteristika sind neben derSchätzung von Größenordnungen:

• Verbindung von gesundem Men-schenverstand und Physikwissen,

• Veranschaulichungen von Größenordnungen,

• Begründung von Faustformeln,• kritisches Denken und

insbesondere• Diskussion populärwissenschaft-

licher und fachlicher „Folklore“(Stichwort moderne Legenden).

Schließlich bieten Fermi-Problemeauch die Möglichkeit, sich fundamen-talen Fragestellungen der Physik ineiner sehr greifbaren Weise zunähern. Hierfür ein historischesBeispiel: Wer hätte noch nicht ge-hört, dass man durch „Öl auf dieWogen Gießen“ die Wasseroberflä-che glätten kann? Benjamin Franklinbeobachtete bereits um 1770, wiegroß bei einem gegebenen VolumenOlivenöl (a teaspoon, V ≈ 2 cm3) diegeglättete Wasseroberfläche ist (halfan acre, A ≈ 2000 m2). Hundert Jahrespäter schloss Lord Rayleigh hierausauf die Existenz und die Dimensio-nen von kleinsten Bausteinen derMaterie: Der Quotient V/A liefert dieDicke des Ölfilmes, nämlich etwa einNanometer. Das ist, wie man heuteweiß, gerade die Größenordnung derLänge der Ölmoleküle.

Damit sind wir schon mitten inder neuen Serie, die wir hiermitbeginnen. Wir haben sie FermisCorner genannt, in Anlehnung anSpeakers Corner im Londoner HydePark, wegen der erfahrungsgemäßlebhaften Debatten um solche Auf-gaben.