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SCHULE UND SCHÜLER IM MITTELALTER Beiträge zur europäischen Bildungsgeschichte des 9. bis 15. Jahrhunderts herausgegeben von Martin Kintzinger, Sönke Lorenz, Michael Walter SONDERDRUCK Im Buchhandel nicht erhältlich 1996 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

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SCHULE UND SCHÜLER IM MITTELALTER Beiträge zur europäischen

Bildungsgeschichte des 9. bis 15. Jahrhunderts

herausgegeben von Martin Kintzinger,

Sönke Lorenz, Michael Walter

SONDERDRUCK Im Buchhandel nicht erhältlich

1996

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Corrigenda:

S. 54 Anm. 2, Z. 16 S.. 55 Z. 12

Anm. 5, Z. 2 S. 56 Z. 14 S. 59 Z. 8

Anm. 11, Z. 5 S. 62 Z. 17 S. 63 Z9

Z. 10

Schola recte: Scuola H1. recte: hl. archidiacones recte: archidiaconus Nachhinein recte: nachhinein der recte: des 1187 recte: 1987 soll recte: sollen der recte: dessen Methode typischer Ver= recte: typische sophistische treter der so- phistischen

Z. 11 conclusiünculas recte: conclusiunculas S. 64 Z. 7 Gens

Z. 8 Metropolitan S. 65 Z. 11 im S. 68 Z. 18 in S. 69 Z. 31 1. Drittel S. 70 Z. 22 Tourais

Z. 27 H1. S. 71 Z. 23 Trivium

Anm. 26, Z. 1 propose S. 73 Z. 6 meint

Anm. 28, Z. 3 sermones

recte: Sens recte: Metropolit recte: in recte: im recte: 1. Drittel des 12. Jhs. recte: Tournai recte: hl. recte: Triviums recte: propos recte: meinten recte: Sermones

HELMUT G. WALTHER

St. Victor und die Schulen in Paris vor der Entstehung der

Universität

I.

Paris war im beginnenden 12. Jahrhundert alles andere als eine bereits sehr große Stadt - auch nicht nach den Maßstäben des Hochmittelal- ters. Die kapetingischen Könige benutzten die Stadt nicht allzu häufig als Residenz; die städtische Siedlung selbst bedeckte noch nicht ein- mal ganz die Fläche der großen Seineinsel, der Ile de la Cite. Wohl maximal 3 000 Einwohner lebten dort in recht beengten Verhältnissen. Die Stadt hatte sich noch immer nicht von den Rückschlägen in der Entwicklung nach der normannischen Belagerung von 885 erholt. '

Als Bildungszentrum spielte die Pariser Kathedralschule eine nachgeordnete Rolle, zumindest wenn man sie im Rang ihrer Lehrer und in der Attraktivität auf Schüler mit denjenigen an den Bischofssit- zen von Reims, Laon, Orleans und Poitiers messen will. Wenn sich der junge Bretone Petrus Abälard um 1100 nach seiner unfriedlichen Trennung in Loches vom Lehrer Roscelin von Compiegne und nach einer kurzen Zwischenphase als selbständiger Wanderlehrer dann doch nach Paris begab, so geschah dies nicht wegen einer prinzipiel- len Attraktivität der Stadt als Schulort, sondern weil dort gerade der angesehene Dialektiker Wilhelm von Champeaux lehrte. ' Schon von

I Zum frühmittelalterlichen Stadtgebiet: Jacques Boussard, De la fin du siege de 855-886 a la mort de Philippe Auguste (Nouvelle histoire de Paris I), Paris 1976; Robert-Henri Bautier, Paris en temps d'Abelard. In: Abelard en son temps, Paris 1981, S. 21-77. Abelard, Historia calamitatum, ed. Jacques Monfrin, Paris 31967; �Perveni tan- dem Parisius, ubi jam maxime disciplina hec florere consueverant". (S. 64). - Gegen die Echtheit der �Historia" wie des gesamten Briefwechsels Abälard-

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daher ergibt sich das erste Strukturmerkmal der damaligen Schulen in Frankreich: Die Attraktivität der Schulen ist identisch mit der Attrak- tivität der Lehrer. Der Ruhm eines Schulortes als solcher kam nur zu- stande, wenn kontinuierlich hintereinander, z. T. auch überlappend mehrere berühmte, auf auswärtige Schüler attraktiv wirkende Lehrer dort wirkten. Die längere Forschungskontroverse über die sog.

�Schule von Chartres" im 12. Jahrhundert läßt sich unter einem sol- chen pragmatischen Gesichtspunkt entscheiden. '

Wilhelm von Champeaux hatte sich zuvor selbst von seinem Leh- rer Anselm von Laon emanzipiert, hatte noch beim Wanderlehrer Ma-

Heloise hat zuletzt 1985 Hubert Silvestre erneut grundsätzliche Einwände gel- tend gemacht und das gesamte Konvolut zu einer Fälschung des 13. Jahrhun- derts aus dem Umkreis des Rosenromanfortsetzers Jean de Meun erklärt. Für eine Totalfälschung der Historia calamitatum bleibt aber weder die nach Silve- stre maßgebliche Absicht Jeans de Meun, das Liebesverhältnis Abälards und Heloises zu rechtfertigen, ein ausreichender Grund, noch könnte ein Fälscher des 13. Jahrhunderts soviele Details der Schulsituation in der Francia des 12. Jahrhunderts aus den sonstig erhaltenen Nachrichten und Überlieferungen re- konstruiert haben: H. Silvestre, L'idylle d'Abelard et Heloise: la part du roman. In: Academie Royale de Belgique, Bulletin classe des lettres ..., 5ieme serie, Bd. 71 (1985), S. 157-200, bes. S. 197f., dt. unter dem Titel: Die Liebesge- schichte zwischen Abälard und Heloise: der Anteil des Romans. In: Fälschun- gen im Mittelalter, Bd. 5 (MGH Schr. 33,5), Hannover 1988, S. 121-165, bes. S. 163f. Zu Wilhelm von Champeaux als Lehrer in Paris: Jean Chätillon, De Guillaume de Champeaux ä Thomas Gallus. In: RML 8 (1952), S. 139-272; Ders., Les ecoles de Chartres et de Saint-Victor. In: La Schola nell'Occidente latino dell'Alto Medioevo (Sett. cent. it. 19), Spoleto 1972, S. 795-839; Ders., La culture de l'ecole de Saint Victor au 12e siecle. In: Entretiens sur la renais- sance du 12e siecle, Paris-La Haye 1968, S. 147-160; Ders., Theologie, spiri- tualite et metaphysique dans l'oeuvre oratoire d'Achard de Saint-Victor (EPhM 58), Paris 1969, bes. S. 54ff.; Ders., Abälard et les ecoles. In: Abälard en son temps (wie Anm. 1), S. 133-160. Alle Aufsätze jetzt nachgedruckt in: J. Chätillon, Le mouvement canonial au Moyen Age. Reforme de l'Eglise, spiri- tualite et culture (Bibliotheca Victorina 3), Turnhout-Paris 1992.

3 Vgl. zuletzt zur Kontroverse um die Schule von/in Chartres: Nikolaus M. Hä- ring, Chartres and Paris revisited. In: Essays in Honour of Charles Pegis; ed. by J. R. O'Donnell, Toronto 1974, S. 268-329; Peter Dronke, New Approaches to the School of Chartres. In: Anuario de estudios medievales 6 (1969, ersch. 1971), S. 117-140; Richard W. Southern, The Schools of Paris and the School of Chartres. In: Renaissance and Renewal in the Twelfth Century, ed. by Robert L. Benson an Giles Constable with Carol D. Lanham, Cambridge, Mass. 1982, S. 113-137.

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negold von Lautenbach gehört, war ebenfalls Schüler Roscelins gewe- sen und hatte schließlich als Anerkennung seines wissenschaftlichen Rangs die Würde des Archidiakons des Kathedralkapitels von Notre Dame übertragen bekommen. Bischof Fulko I. von Paris hatte Wil- helm zugleich die Position des Scholasters der Domschule übertragen, so daß dieser Übergang in den Stand des Kanonikers keinen Berufs- wechsel für Wilhelm bedeutete. '

Umso mehr gab dann Wilhelms Verhalten von 1108 den, Zeitge- nossen Rätsel auf. Damals verzichtete er nämlich auf beide' Positionen, um fortan in der Waldeinsamkeit um den Mont St. Genevieve, einen knappen Kilometer südöstlich der ile de la Cite, bei einer alten, dem Hl. Victor geweihten Kapelle mit einigen Schülern als Gemeinschaft regulierter Chorherren zu leben.

Trotz dieser spektakulären Weltabkehr wirkte Wilhelm auch wei- terhin in St. Victor als Lehrer - und es war diese Verbindung von Weltabkehr und Lehre, diese neuartige Form einer Doppelexistenz, die den gebildeten Zeitgenossen nicht ohne Nachhilfe verständlich war. Denn die Chorherrengemeinschaft von St. Victor war keine traditio- nelle Benediktinerabtei mit innerer und äußerer Schule. Im Urteil des nordfranzösischen Benediktinerabts Robert von Torigny stand die Le- bensform als Chorherr bei Wilhelm im Vordergrund, und der Autor wollte deshalb das Verhalten Wilhelms als ein hervorragendes Exem- pel für die großer Anziehungskraft der vita apostolica auf den Welt- klerus gewertet sehen. St. Victor galt ihm deshalb als monasterium clericorum. Viele moderne Interpreten sind Robert von. Torigny in dieser Deutung gefolgt. '

Aus der Perspektive Abälards nahm sich der Vorgang freilich ganz anders aus: Dieser Vertreter der neuen Wissenschaft, der eigens 'nach Paris gekommen war, um bei Wilhelm als dem damals führenden Re-

Vgl. Chätillon, Guillaume de Champeaux (wie Anm. 2), S. 141-146; Ders., Abelard et les ecoles (wie Anm. 2), S. 139-146. Robert de Torigny, De immutatione ordinis monarchorum: Eodent tempore nta- gister 11rllelntus de Campellis, qui ftterat archidiacones Parisiensis, vir adnto- dunt litteratus et religiosus, habitunt canonici regularis assuntens cunt aliquibus discipulis suis, extra urbem Parisiensem, in loco ubi erat quaedant capella Sancti Victoris martyris, coepit ntonasteriunt aedificare clericorunt (Migne PL 202, col. 1313); dazu Fourier Bonnard, Histoire de I'Abbaye royale et de fordre de chanoines reguliers de St. -Victor de Paris, Paris 1905, S. 5ff.; Chätillon, Theologie (wie Anm. 2), S. 54ff.

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präsentanten der dialectica discipliuta zu lernen, sah in sich selbst in erster Linie den neuen Konkurrenten Wilhelms in dieser Disziplin. Abälard setzte ja alles daran, den Meister in dessen Unterricht als Dialektiker auszustechen und zu übertrumpfen, um Wilhelms Schüler für sich zu gewinnen. Er wollte Wilhelm als Schulleiter ersetzen und letztlich aus Paris verdrängen. Mit einer auf diese Weise erzwungenen Ablösung Wilhelms von Champeaux durch Abälard sollte Paris zur Hochburg der Dialektik werden.

So ist Abälards abschätzige Beurteilung des Vorgangs der Konver- sion Wilhelms verständlich. Abälard war tief enttäuscht. Sein ehrgei- ziger Plan zerschlug sich wegen Wilhelms Konversion; andererseits unterstellte Abälard dem alten Meister den gleichen Ehrgeiz wie sich: Wilhelm habe das Kleid des Regularkanonikers nur angelegt, um da- mit den Aufstieg zur Bischofswürde zu erreichen. Im Nachhinein konnte das tatsächlich so erscheinen, da Wilhelm schließlich 1113, also nur fünf Jahre nach der Konversion, die Position des Bischofs von Chalons-sur-Marne erreichte. '

Da Abälard selbst höchst ehrgeizig war, konnte er kaum einen sol- chen, von ihm bei Wilhelm unterstellten Karrieredrang prinzipiell als anstößig empfinden. Vielmehr hob er als entscheidenden Kritikpunkt hervor, daß Wilhelm auch im Mönchshabit noch als öffentlicher Leh- rer gewirkt habe: Nec tanzen hic suae conversionis habitus auf ab erbe Parisius auf a consulto philosophiae studio ewn revocavit, sed in ipso quoque inonasterio, ad quod se causa religionis contulerat, statim more solito publicas exercuuit scholas.

Von einer derartigen Kritik versprach sich Abälard offensichtlich Wirkung bei den Zeitgenossen, genauer: bei den Schülern und Lehrern der damaligen Hohen Schulen in der Francia. Er, der damals nur in den Kategorien des Wettstreites unter den Schulleitern und des Rivali- sierens um den möglichst größten Schülerkreis dachte, machte deshalb die Zweifel von Wilhelms Schülern an der Ernsthaftigkeit seiner neu- artigen Verbindung von persönlicher Weltabkehr ins Claustrum und doch konstanter öffentlicher Lehre dafür verantwortlich, daß Wilhelm sich mit seiner Gemeinschaft ganz aus der Nähe von Paris zurückzog. '

6 Abälard, Historia calamitatum (wie Anm. 2), S. 65; dazu Chätillon, Abdlard (wie Anm. 2), S. 137f.

7 Abälard, Historia calamitatum (wie Anm. 2), S. 65; cunt ille intelligeret orruies fere discretos de religione ejus plurimum hesitare et de conversione ipsius ve-

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Doch Wilhelm war selbst ernsthaft von Zweifeln an der Richtigkeit seiner Entscheidung geplagt. Die traditionelle, auf Hieronymus zu- rückgehende Vorstellung, daß es Aufgabe des Mönchs sei zu trauern, nicht aber öffentlichen Unterricht zu erteilen, bestimmte gerade die Auseinandersetzungen des frühen 12. Jahrhunderts, in denen die Re- gularkanoniker ihre eigenständige Lebensform zwischen Monastik und Weltgeistlichkeit rechtfertigen mußten. In dieser Kanonikerbewe- gung kommt ja gerade der neuen Viktorinischen Gemeinschaft eine besondere Stellung zu, für die Abälard freilich kein Sensorium besaß. '

Seine eigene Lebensspannung reichte vom Dasein eines Wander- lehrers bis zu dem eines Mönches in den keineswegs spannungsfrei nebeneinander stehenden benediktinischen Formen, die in der Abtei St. Denis und im burgundischen Reformzentrum Cluny gepflegt wur- den. Auch als Benediktiner verzichtete Abälard nie auf Lehrtätigkeit im Claustrum, auch wenn er nicht öffentlich lehrte. '

Die innere Unsicherheit Wilhelms von Champeaux, ob er mit der Verbindung von Regularkanonikat und Wissenschaft den richtigen Weg eingeschlagen habe, spricht aus dem Antwortschreiben auf eine diesbezügliche Anfrage, das ihm der hochgebildete Bischof von Le Mans, Hildebert von Lavardin schickte. Hildebert bemühte sich hier

um Gegenargumente, um Wilhelm in seiner Lebensform zu unterstüt- zen. Gegen Gerüchte, daß Wilhelm seine Position als Lehrer endgültig aufgeben wolle, argumentiert Hildebert, daß Wilhelm auch im neuen Status des Regularkanonikers nicht seine ihm von Gott gegebene Gabe

hementer susurrare, quod videlicet minime a civitate recessisset, transtulit se et corrventiculum fratnun cum scolis suis ad villain quandam ab urbe remotam (S. 66). Hieronymus, Contra Vigilantium, 15 (bsonachus autem non doctoris habet sed plagentis ofcium: qui vel se, vel numdum lugeat, et Domini pavidus praesto- letur adventum) Migne PL 23, col. 367A. Dazu: Rolf Köhn, Monastisches Bil- dungsideal und weltgeistliches Wissenschaftsdenken. Zur Vorgeschichte des Mendikantenstreites an der Universität Paris. In: Die Auseinandersetzungen an der Pariser Universität im XIIL Jahrhundert (Miscellanea Mediaevalia 10), Ber- lin-New York 1976, S. 1-37, hier S. 6ff. Vgl. Jürgen Miethke, Abaelards Stellung zur Kirchenreform, eine biographische Studie. In: Francia 1 (1973), S. 158-192; Jacques Verger, Abdlard et les molieux sociaux de son temps. In: Abdlard en son temps (wie Anm. 1), S. 107-131, hier S. 123ff.

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des Lehrens opfern dürfe, vielmehr müsse er mit allen Eigenschaften Gott dienen: Noli ergo claudere rivos doctrinae. 10

II.

Aber selbst wenn für den Pariser Archidiakon Wilhelm von Cham- peaux der Entschluß zur Gründung der neuen Chorherrengemeinschaft von St. Victor allein vom Gedankengut der zeitgenössischen Kirchen- reformbewegung inspiriert gewesen wäre, hätte er das Unternehmen nur mit Hilfe mächtiger Herrschaftsträger in der Ile-de-France ver- wirklichen können. Wilhelm war aber alles andere als ein weltferner Kleriker und Wissenschaftler. Im politischen Konfliktfeld des kape- tingischen Königshofes hatte er schon frühzeitig Partei ergriffen und dieser Parteinahme sein Amt als Archidiakon an Notre Dame zu ver- danken. Auch Abälard war sich nur zu genau der Tatsache bewußt, daß er seine eigenen ehrgeizigen Ziele erst dann erreichen werde, wenn er sich dafür entsprechend mächtige politische Helfer suchte. In der Historia calamitatum spricht er denn auch ganz offen davon, daß er es nur der Unterstützung durch nonnulli potentes terrae zu verdan- ken hatte, daß sein Plan zur Errichtung einer Schule in Melun ver- wirklicht werden konnte. Melun war zwar eine sedes regia, wie Abä- lard schreibt, doch stand es damals zu Ende der Herrschaft Philipps I. (1108) noch voll unter Kontrolle der Grafen von Meulan. Der neue König Ludwig VI. hatte sich nach dem Beginn seiner Alleinregent- schaft 1108 sofort in Orleans von dem Erzbischof von Sens zum Kö- nig salben lassen, um den konkurrierenden Herrschaftsanspruch seines illegitimen Halbbruders Philipp (Hurepel, Graf von Mantes) entge- genzutreten. Diesen unterstützte eine Gruppe von königlichen Groß- vasallen der Ile-de-France, angeführt von den seit 1107 entmachteten Familien Rochefort, Montfort und Meulan. Der zuvor in Ungnade ge- fallene zweite der drei Pariser Archidiakone, Stephan von Garlande,

10 Hildebert von Lavardin, ep. I: Offer ergo le totem Domino Deo, quoniam Do- mino Deo Lotion to devovisti; scientia quoque distributa suscipit incrementum, et avarunt dedignata possessorem, nisi publicetur, elabitur. Noli ergo claudere rivos doctrinae mae 1... ] (Migne PL 171, col. 142f. ).

St. Victor und die Schulen in Paris 59

erhielt das Kanzleramt zurück, sein Bruder Ansald wurde wieder kö- niglicher Seneschall. "

Es war deshalb nicht zufällig, daß Wilhelm von Champeaux, der sich als Anhänger der Kirchenreformpartei Bischof Yvos von Chartres hervorgetan hatte, nun von seinem Archidiakonat in Notre Dame zu- rücktrat. Galo, ein ehemaliger Chorherr aus Beauvais und ebenfalls Parteigänger Yvos, behielt zwar sein Amt als Pariser Bischof, sah sich aber nicht nur einem gegnerischen Archidiakon aus der Familie der Gilbert Garlande gegenüber, sondern mußte auch dessen Parteigänger, den bisherigen Kanzler des Domkapitels, als neuen zweiten Archidia- kon hinnehmen.

Zwar konnte Wilhelm von Champeaux mit Hilfe Galos und seiner alten Vertrauten im Domkapitel Abälard als Scholaster der Domschule vertreiben, jedoch nicht verhindern, daß Abälard am Stift St. Gene= vieve eine blühende und mit St. Victor konkurrierende Schule betrei- ben konnte, da Abälards Schutzherr Stephan von Garlande seit 11`11 Dekan des Stiftes geworden war.

Noch später in seiner Zeit als Mönch von St. Denis konnte Abälard im dem Konflikt mit seinem Abt Adam auf die Unterstützung Stephans

von Garlande zählen, die dieser ihm auch gegen jenen Abt Suger 1123

noch zuteil werden ließ. ` Bei der Besetzung der zwei 1113 freiwerdenden Bischofsstühle in

der Francia in Chalons-sur-Marne und Beauvais gelang es freilich dem Reformerkreis um Yvo`von Chartres noch einmal, einen Zugriff der Garlande-Partei zu verhindern und mit Wilhelm von Champeaux statt dessen einen der ihren zu etablieren und auch den Griff Stephans

selbst nach Beauvais scheitern zu lassen: Dafür wurde Stephans

I Zum politischen Hintergrund: Achille Luchaire, Läuis VI Ie Gros, Annales de sa vie et de son regne (1081-1137), Paris 1890, S. XXIV ff.; Robert-Henri Bautier, Paris en temps de Abälard. In: Abdlard en son temps (wie Anm. 2), S. 21-77, hier S. 58ff.; Joachim Ehlers, Geschichte Frankreichs im Mittelalter, Stuttgart 1187, S. 87ff. - Vgl. Abälard, Historia calamitatum (wie Anm. 2), S. 64 (Melun als sedes regia und nonnulli de potentibus terre als Förderer Wilhelms). Bautier (wie Anm. 11), S. 63f.; Stephan von Garlande als Dekan von Ste. Ge- nevieve mit Immunitätsprivileg für das Stift: Cartulaire gdndrale de Paris I (528-1180), ed. Robert de Lasteyrie, Paris 1888, no. 157, p. 181f.

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Freund, der Archidiakon Gilbert, Nachfolger des 1116 gestorbenen Pariser Bischofs Galo. 13

Schulen in Paris und in der unmittelbaren Umgebung der Stadt wa- ren nur erfolgreich zu führen, wenn die nötige Protektion durch po- tentes terrae oder durch den König selbst vorhanden war. Es ent- sprach dieser Einsicht, daß Wilhelm von Champeaux als Repräsentant der kirchlichen Reformergruppe um Yvo von Chartres und Manasse von Meaux und des damals noch lebenden Galo sich anläßlich seiner Bischofsweihe in Chälons-sur-Marne Ende Mai 1113 königliche Un- terstützung für seine Gründung St. Victor holte. Nach dem damals er- wirkten Diplom galt der Konvent nun als königliche Stiftung und wurde von diesem mit reichem Grundbesitz ausgestattet. "

Angesichts des Werdegangs seines geistlichen Gründers Wilhelm war es nahezu selbstverständlich, daß das neue Kanonikerstift St. Victor unter seinem ersten Abt Gilduin seine besondere Aufgabe in der Verbindung von monastischer Lebensform und der neuen Wissen- schaft der Schriftexegese suchte, also die neue Methodik der Syste- ntatisierung in sententiae, die Wilhelm von seinem Lehrer Anselm von Laon übernommen hatte und mit ihm zusammen bei der Zusammen- stellung der Glossa ordinaria zu allen Büchern der Bibel angewandt hatte. Die Form dialektischer Logik, die Abälard damals einseitig be- tonte, brillant in seiner Schule am Mont St. Genevieve praktizierte und damit großen Anklang bei Schülern fand, wurde nur als Mittel zum Zweck der Herstellung widerspruchsfreier Exegese der auctoritates der patristischen Tradition geduldet. Die Konzeption von St. Victor als geistigem Zentrum, in dem sich die monastische Tradition der Konzentration auf den Text selbst, kontemplative Versenkung in ihn und die neue frühscholastische Methode der Textexegese verbinden sollten, war auch eine bewußte Absage an die Praktiken in den Schu- len der unsteten Wanderlehrer. Sie zogen von Kathedralschule zu Kathedralschule, brillierten mit logischen Kabinettsstückchen in der von ihnen einseitig bevorzugten Lehrform der disputatio tropheis bellorum conflictus pretidi disputationtun, wie es bezeichnenderweise

13 Bautier, Paris (wie Anm. 1), S. 63f.; Bautier, Les origines et les premiers ddve- loppements de t'abbays Saint-Victor de Paris. In: L'abbaye de Saint-Victor au Moyen Age (Bibi. Victorina 1), Paris-Turnhout 1991, S. 23-52, hier S. 33f.

14 Bautier, Origines (wie Anm. 12), 33f.; Kgl. Privileg f. St. Victor. de Lasteyrie (wie Anm. 12), no. 163, p. 187.

St. Victor und die Schulen in Paris 61

in der Historia calanzitatuºn heißt, und gewannen auf diese Weise möglichst viele Schüler, von deren Gebühren sie lebten. Divitibus ºna- xime hucusque intenderam urteilt Abälard über seine frühere Tätig- keit. Den ersten Anlauf Abälards, diese neue Wissenschaft auch in der Kathedralschule von Notre Dame von Paris zu etablieren, konnte Wil- helm von Champeaux verhindern, der greise Anselm von Laon ver- hinderte, daß Abälards Dialektik Einzug in seine Kathedralschule der

exegetischen Theologie hielt; doch wurde Abälard mit Hilfe der Gar- lande-Partei, besonders des Kanzlers Theobald, doch noch Scholaster

an Notre Dame und betrieb dann dort seine dialektische Theologie in Konkurrenz zur Wissenschaftsform, die man in St. Victor pflegte. 'S

Die Statuten, die sich die Gemeinschaft von St. Victor wahr- scheinlich noch unter dem ersten Abt Gilduin am Ende der 20er Jahre

gab und die dann bei der Angliederung des Stiftes von St. Genevieve

als Priorat überarbeitet wurden, orientierten sich einerseits an der älte-

ren benediktinischen Reform cluniazensischer Prägung, die, im Sinne der Kirchenreformbewegung, den Weltklerus durch Bindung an regu- lierte Lebensformen �vermönchen" wollte. So sind gerade die liturgi-

schen Regeln des Liber ordinis St. Victors stark von cluniazensischen Vorbildern geprägt.

Auffälligerweise ist von den pastoralen Aufgaben, die Regularka-

nonikergemeinschaften ja-im Unterschied zu Mönchskonventen aus- zeichnen, im Liber ordinis St. Victors nicht die Rede. Wie das im vor- ausgehenden Jahr gegründete Puiseaux im Gätinais, das die Regeln der Kanoniker von St. Quentin in Beauvais übernahm, war St. Victor

als nunmehrige königliche` Stiftung auch Objekt königlicher Kirchen-

reformpolitik. Ludwig VI. ist ausdrücklich als Intervent für das päpst- liche Bestätigungsprivileg Paschals II. genannt. Der Papst hebt darin das gewährte Recht der freien Abtwahl hervor. Gilduin wurde offen- bar erst nach Erhalt dieses päpstlichen Privilegs zum Abt St. Victors

gewählt. Damit war der neuen Abtei ein relativer Handlungsspielraum ge-

genüber der königlichen Politik zugestanden; dennoch war St. Victor natürlich durch seine geographische Lage besonders vom Verhältnis des kapetingischen Königs zur kirchlichen Reformpartei abhängig.

15 Bautier, Paris (wie Anm. 1), S. 67f.; Chätillon, Ahelard (wie Anm. 2), S. 145f.; Historia calamitatum (wie Anm. 2), S. 63f. (Zitate).

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Diese Abhängigkeiten bestimmten die Rahmenbedingungen für die Wirksamkeit St. Victors als Reformzentrum in der Ile-de France. Die engen Handlungsgrenzen wurden schon am Ende des Gründungsjahr- zehnts deutlich, als der neue Pariser Bischof Stephan von Senlis ab 1124 versuchte, auch das eigene Domkapitel von Notre Dame zu re- formieren. Hierfür wollte er sich der Hilfe St. Victors bedienen. Stu- fenweise sollte das Pariser Stift über Präbendengewährung mit den wichtigsten Kollegiatstiften der Francia verbunden werden. In einem ersten Schritt wurden 1124 St. Victor die Einkünfte der unbesetzten Präbenden aller Kollegiatstifte in Paris (Notre Dame, Saint Marceau, St. Germain l'Auxerrois, St. Cloud und St. Martin de Champeaux) zu- gesichert. Ausgespart blieb charakteristischerweise das Stift St. Gene- vieve, wo der Archidiakon Stephan von Garlande als Dekan amtierte. Die Familien der Garlande und der Senlis rivalisierten damals um Ein- fluß am Königshof. Die im folgenden Jahr durch königliche Schen- kung an St. Victor zugewiesenen Anniversarien für Kanoniker in kö- niglichen Stiften und Einkünfte je einer freien Präbende soll nach Ausweis des Nekrologs von St. Victor auf Interventionen Stephans von Garlande erfolgt sein! "

Wenn sich Bischof Stephan nun in einem nächsten Schritt um die Reform des eigenen Domkapitels bemühte, war sicher, daß er auf hartnäckigen Widerstand seines Garlande-Archidiakons und dessen Verbündeten stoßen würde. Bischof Stephan erhielt von seinem Ka- pitel die Zustimmung, daß die Anniversarien für die in St. Jean-le- Rond bestatteten Domherren an St. Victor übertragen wurden. Dies schien der Mehrheit des Kapitels wegen der besonderen liturgischen Ausrichtung St. Victors für die Sicherung des Seelenheils der Verstor- benen vorteilhaft. Doch um gleich allen Weiterungen vorzubeugen, mußte der Bischof schriftlich genau festlegen, unter welchen Bedin-

gungen die Kanoniker von St. Victor die ihnen zufallenden Präbenden

aus Notre Dame nutzen durften. Diese Regelung bestätigte im folgen- den Jahr (1125) Papst Honorius 11. per Privileg.

Auch im anschließenden jahrelangen Streit um Galo, den Schola- ster der Kathedrale, der von den einflußreichen Kapitularen, Kanzler

16 Liber Ordinis Sancti Victoris Parisiensis, cdd. L JocqucL Alilis (CCCAI 61), Turnhout 1984; Chstillon, La culture (wie Anm. 2), S. 150ff.; Luc Jocquc, Les structures de la population claustrale daps l'ordre de Saint-Victor au Xlle siecle. In: L'abbaye (wie Anm. 12). S. 53-95; Bautier, Origines (wie Anm. 12), S. 37ff.

St. Victor und die Schulen in Paris 63

Algrin von Etampes und den Archidiakonen Stephan von Garlande

und Theobald unterstützt wurde, konnte sich Bischof Stephan erst 1127 durchsetzen, nachdem er die Führer der französischen Kirchen-

reformpartei und die päpstliche Kurie zum Eingreifen veranlaßt hatte. Nachdem der päpstliche Legat Humbald vermittelt hatte, übernahmen die Äbte Suger von St. Denis und Gilduin von St. Victor die Aufgabe

eines Schiedsspruchs zwischen Bischof und Domkapitel über den Schulstreit. Beide waren dabei keineswegs neutrale Richter, sondern selbst engagierte wissenschaftliche Gegner des Scholasters Galo, -der von den Reformern als typischer Vertreter der sophistischen Dialektik denunziert wurde: argutias et sopltisticas conclusiünculas, quas Gua- lidicas a quondam Gualone vocant, nannte der Reichsabt Wibald von Stablo in einem Brief an Manegold, den ehemaligen Wanderlehrer in Frankreich. Der Streit um den Scholaster war also nicht nur eine Aus-

einandersetzung zwischen Reformpartei und den rivalisierenden Fa-

milien der grands officiers aus der entourage du roi, sondern auch eine

zwischen unterschiedlichen Schultypen. Der von Suger und Gilduin getroffene Schiedsspruch regelte des-

halb nicht nur die Rechtsstellung der Kanoniker im Kapitel und die

Möglichkeit zur Veräußerung von Kapitelbesitz, sondern verlegte den

gesamten Schulbetrieb an der Kathedrale aus dem unmittelbaren Claustrum von Notre Dame, aus der Tresantia hin zur Bischofspfalz

und verbot auch den scholares extranei die Unterbringung in den

Häusern der Domkanoniker, dort wo noch Abälard nach 1114 bei Ful-

bert gewohnt und Heloise unterrichtet hatte. Robert-Henri Bautiers

Urteil, daß damit die Schulen an Notre Dame aus der Kontrolle des

Kapitels in die des Bischofs gekommen seien, trifft nicht zu, wie die

Folgezeit deutlich erweist, in der der Kanzler des Domkapitels zur entscheidenden Instanz aufstieg. Doch entsprach der Verlagerung der

Schulen zu quidam locus adherens episcopaei curie zweifellos eine gewisse Kompetenzverschiebung zu Lasten des alten magister scho- larunt Galo, der vom jetzigen Archidiakon Theobald noch in seiner vorhergehenden Funktion als Kanzler bestellt worden war. Nächster Gegner Bischof Stephans war deshalb Theobald, den er wegen Amtsanmaßung zu Lasten des Bischofs beschuldigte, der aber seine Verurteilung durch eine Diözesansynode in Paris durch Appellation an die päpstliche Kurie vereitelte.

Als Stephan von Garlande und sein Bruder im August 1127 beim König in Ungnade fielen und ihre Hofämter verloren, triumphierte die

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Diese Abhängigkeiten bestimmten die Rahmenbedingungen für die Wirksamkeit St. Victors als Reformzentrum in der Ile-de France. Die engen Handlungsgrenzen wurden schon am Ende des Gründungsjahr- zehnts deutlich, als der neue Pariser Bischof Stephan von Senlis ab 1124 versuchte, auch das eigene Domkapitel von Notre Dame zu re- formieren. Hierfür wollte er sich der Hilfe St. Victors bedienen. Stu- fenweise sollte das Pariser Stift über Präbendengewährung mit den wichtigsten Kollegiatstiften der Francia verbunden werden. In einem ersten Schritt wurden 1124 St. Victor die Einkünfte der unbesetzten Präbenden aller Kollegiatstifte in Paris (Notre Dame, Saint Marceau, St. Germain l'Auxerrois, St. Cloud und St. Martin de Champeaux) zu- gesichert. Ausgespart blieb charakteristischerweise das Stift St. Gene- vieve, wo der Archidiakon Stephan von Garlande als Dekan amtierte. Die Familien der Garlande und der Senlis rivalisierten damals um Ein- fluß am Königshof. Die im folgenden Jahr durch königliche Sehen- kung 'an St. Victor zugewiesenen Anniversarien für Kanoniker in kö- niglichen Stiften und Einkünfte je einer : freien Präbende soll nach Ausweis des Nekrologs von St. Victor auf Interventionen Stephans von Garlande erfolgt sein! "

Wenn sich Bischof Stephan nun in einem nächsten Schritt um die Reform des eigenen Domkapitels bemühte, war sicher, daß er auf hartnäckigen Widerstand seines Garlande-Archidiakons und dessen Verbündeten stoßen würde. Bischof Stephan erhielt von seinem Ka- pitel die Zustimmung, daß die Anniversarien für die in St. Jean-le- Rond bestatteten Domherren an St. Victor. übertragen wurden. Dies schien der Mehrheit des Kapitels wegen der besonderen liturgischen Ausrichtung St. Victors für die Sicherung des Seelenheils der Verstor- benen vorteilhaft. Doch um gleich allen Weiterungen vorzubeugen, mußte der Bischof schriftlich genau festlegen, unter welchen Bedin- gungen die Kanoniker von St. Victor die ihnen zufallenden Präbenden aus Notre Dame nutzen durften. Diese Regelung bestätigte im folgen- den Jahr (1125) Papst Honorius H. per Privileg.

Auch im anschließenden jahrelangen Streit um Galo, den Schola- ster der Kathedrale, der von den einflußreichen Kapitularen, Kanzler

16 Liber Ordinis Sancti Victoris Parisiensis, edd. L. Jocqud/L. Milis (CCCM 61), Turnhout 1984; Chätillon, La culture (wie Anm. 2), S. 150ff.; Luc Jocqud, Les structures de la population claustrale dans l'ordre de Saint-Victor au Me siecle. In: L'abbaye (wie Anm. 12), S. 53-95; Bautier, Origins (wie Anm. 12), S. 37ff.

St. Victor und die Schulen in Paris 63

Algrin von Etampes und den Archidiakonen Stephan von Garlande und Theobald unterstützt wurde, konnte sich Bischof Stephan erst 1127 durchsetzen, nachdem er die Führer der französischen Kirchen- reformpartei und die päpstliche Kurie zum Eingreifen veranlaßt hatte. Nachdem der päpstliche Legat Humbald vermittelt hatte, übernahmen die Äbte Suger von St. Denis und Gilduin von St. Victor die Aufgabe eines Schiedsspruchs zwischen Bischof und Domkapitel über den Schulstreit. Beide waren dabei keineswegs neutrale Richter, sondern selbst engagierte wissenschaftliche Gegner des Scholasters Galo, der von den Reformern-als typischer Vertreter der sophistischen Dialektik denunziert wurde: argutias et sophisticas conclusiiinculas, quas Gua- lidicas a quondam Gualone vocau, nannte der Reichsabt Wibald von Stablo in einem Brief an Manegold, den ehemaligen Wanderlehrer in Frankreich. Der Streit um den Scholaster war also nicht nur eine Aus- einandersetzung zwischen Reformpartei und den rivalisierenden Fa- milien der grands officiers aus der entourage du roi, sondern auch eine zwischen unterschiedlichen Schultypen.

Der von Suger und Gilduin getroffene Schiedsspruch regelte des- halb nicht nur die Rechtsstellung der Kanoniker im Kapitel und die Möglichkeit zur Veräußerung von Kapitelbesitz, sondern verlegte den gesamten Schulbetrieb an der Kathedrale aus dem unmittelbaren Claustrum von Notre Dame, aus der Tresantia hin zur Bischofspfalz und verbot auch den scholares extranei die Unterbringung in den Häusern der Domkanoniker, dort wo noch Abälard nach 1114 bei Ful- bert gewohnt und Heloise unterrichtet hatte. Robert-Henri Bautiers Urteil, daß damit die Schulen an Notre Dame aus der Kontrolle des Kapitels in die des Bischofs gekommen seien, trifft nicht zu, wie die Folgezeit deutlich erweist, in der der Kanzler des Domkapitels zur entscheidenden Instanz aufstieg. Doch entsprach der Verlagerung der Schulen zu quidam locus adherens episcopaei curie zweifellos eine gewisse Kompetenzverschiebung zu Lasten des alten magister scho- larum Galo, der vom jetzigen Archidiakon Theobald noch in seiner vorhergehenden Funktion als Kanzler bestellt worden war. Nächster Gegner Bischof Stephans war deshalb Theobald, den er wegen Amtsanmaßung zu Lasten des Bischofs beschuldigte, der aber seine Verurteilung durch eine Diözesansynode in Paris durch Appellation an die päpstliche Kurie vereitelte.

Als Stephan von Garlande und sein Bruder im August 1127 beim König in Ungnade fielen und ihre Hofämter verloren, triumphierte die

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Familie Senlis. Das Amt des Mundschenken ging an Ludwig, den Bruder Bischof Stephans über. Der Bischof versuchte seinen in seinen Ämtern als Seneschall und Kanzler entmachteten alten Gegner noch zusätzlich zu treffen, indem er in einer territorialen Auseinanderset-

zung zwischen den Stiften St. Genevieve und St. Victor, Stephan als Dekan von St. Genevieve mit dem Interdikt belegte. Der Vetter des Garlande, Erzbischof Heinrich Sanglier von Gens konnte als Metro- politan wegen Widerspruch Stephans von Senlis nicht richterlich ein- schreiten. Die Reformpartei triumphierte. Erstmals griff auch der Zi- sterzienser Bernhard von Clairvaux ein und denunzierte in Stephan von Garlande den Typ des vorreformerischen Klerikers, der trotz sei- nes geistlichen Standes die militärische Funktion des Seneschalls aus- geübt hatte. Neuer königlicher Kanzler wurde Simon, der Neffe Abt Sugers von St. Denis.

Doch beim nächsten Coup überreizte Bischof Stephan. Als er nun ein Kanonikat des Domkapitels mit Viktorinern besetzen wollte und St. Genevieve weiterhin unter Interdikt hielt, machte er sich den Kö- nig zum Feind. Auch die Verhängung des Interdikts konnte nicht ver- hindern, daß Bischof Stephan zu den Zisterziensern nach Citeaux flie- hen mußte. Stephan von Garlande konnte 1132 noch einmal ins Amt des königlichen Kanzlers zurückkehren. Auf Intervention des neuen Papstes Innocenz H. erhielt St. Victor dann aus freiem Entschluß des Domkapitels eine Präbende in Notre Dame.

Die Auseinandersetzungen um die Kirchenreform wurden jedoch immer blutiger. Zuerst wurde 1131 im Streit um ein Archidiakonat in Orleans der dortige Subdekan Archamber ermordet; dann fiel am 20. August 1133 Thomas, der Prior von St. -Victor, den Auseinanderset- zungen um eine zwangsweise Reform des königlichen Nonnenklosters von Chelles zum Opfer. Täter waren im letzteren Fall die Neffen des Archidiakons Theobald, die Vasallen Stephans von Garlande waren. Erst eine päpstlich angeordnete Synode von Jouarre bestrafte die Täter und deren Hintermänner. Als Wiedergutmachung für den Mord an Prior Thomas erhielt das Stift eine weitere königliche Landschenkung. Die bisherige Front des Domkapitels gegenüber St. Victor begann aufzubrechen. Der Domdekan Bernier und der Subcentor Adam wur- den Victoriner; sogar vom Stift St. Genevieve wurden nach dem Vor- bild Bischof Stephans nun vier Präbenden für St. Victor zur Verfü- gung gestellt.

St. Victor und die Schulen in Paris 65

Der neue König Ludwig VII. verfolgte jedoch gegenüber dem Stift eine Politik sorgsamen Kalküls. Zwar schützte er den in der Zeit sei- nes Vaters errungenen Status St. Victors sorgfältig, doch wollte er dessen Renommee als neue Bildungstätte, das Papst Innocenz II. 1132 bereits verkündet hatte (sue laudabilis institutionis magisterio in di- versis partibus jam ecclesia multe, Deo gratias, profecerunt), für die eigene Herrschaft nutzen und als Institution seines Zentrums Paris ge- genüber den konkurrierenden Zentren der Herzöge von Aquitanien in Poitiers und der Grafen von Blois-Champagne betrachten. "

III.

Gegenüber den Schulen im Paris von Notre Dame und an St. Gene- vieve entwickelte St. Victor ein eigenes Bildungsprofil. Wie der Liber

ordinis ausweist, war St. Victor eine Gemeinschaft gelehrter Kleriker. Aber mit keinem Wort nennen seine Statuten für die vita communis der Kanoniker eine institutionalisierte Schule als Teil der Lebens- wirklichkeit im Stift. Aber es war ja gerade die Besonderheit St. Vic- tors seit den allerersten Anfängen unter Wilhelm von Champeaux, daß dort - zum Verdruß Abälards - öffentlicher Unterricht stattfand. Den Abbatiat Gilduins kennzeichnet Robert von Torigny dadurch, daß da- mals multi clerici nobiles, die in weltlichen und göttlichen Wissen- schaften unterrichtet waren, dorthin zum Verbleiben kamen. Unter ih-

nen war auch der magister Hugo Lotharensis, et scientia litterarum et humili religione maxime effloruit. Hier habe er viele Bücher geschrie- ben, �die so bekannt seien, daß sie nicht aufgezählt zu werden brauchten".

Der von Abt Robert gemeinte Hugo von St. Victor begründete in der Tat den Ruhm seines noch jungen Stiftes als einen Hort der Ge- lehrsamkeit und zugleich als Zentrum wissenschaftlichen Unterrichts. Aber der gleichzeitige Liber ordinis nennt nur eine Schule für Novi- zen (scola novitiorwn), in der der magister novitioruun sie während der ersten Wochen ihres Aufenthaltes in die neue Lebensform einwei- sen soll. "

17 Bautier, Paris (wie Anm. 1), S. 66-77; Bautier, Origines (wie Anm. 12), S. 37- 45 (mit urkundlichen Belegen).

18 Jocqud, Structures (wie Anm. 16), pass.; Robert von Torigny, Tractatus de im- mutatione ordinis monachorum (hMigne PL 202, col. 1313).

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Die von Papst Innocenz II. ausdrücklich bezeugte Außenwirkung des Stifts auf dem Feld der theologischen Studien, also keinesfalls auf Anfänger, sondern auf schon einschlägig Vorgebildete, -setzt die Exi- stenz eines Schulunterrichts unter Hugo und unter zumindest einem Nachfolger voraus. Jean Chätillon hat versucht, die Attraktivität dieser Schule St. Victors im 12. Jahrhundert als quasi gezieltes Lockmittel für die 'Rekrutierung von neuen Kanonikern zu werten. Der Schule von St. Victor käme also eine bloß dienende Funktion zu. Das junge Kanonikerstift, das sich auf stabilitas loci gründete und im Wirkungs- bereich seiner Kongregation auf die Ile-de-France beschränkt war, mußte natürlich darauf bedacht sein, aus dem

�internationalen" Kreis der Schüler, die es nach Paris zum Studium zog, neue Mitglieder für die Gemeinschaft zu rekrutieren. `

Deswegen wurde auswärtigen Theologen wie Petrus Lombardus und Robert von Melun, als sie nach Paris kamen, zunächst gern Gast- freundschaft in St. Victor gewährt. Petrus Comestor scheint sich im Alter als Kanoniker nach St. Victor zurückgezogen zu haben und folgte dabei dem Muster, das schon andere Dignitäre von Notre Dame vor ihm geprägt hatten. Doch enthalten die in den Kapiteln 5-23 des Liber Ordinis beschriebenen Ämter der Abtei keines eines schola- sticus oder magister scholarum. Wichtigster Amtsträger für die Ver- wirklichung der besonderen Viktorinischen Lebensform, die in den Kapiteln 24-81 geregelt wird, ist vielmehr der armarius, der Biblio- thekar. Welche Rolle die Bibliothek für das geistige Leben in St. Vic- tor spielte, ist noch an der satirischen Verkehrung durch Rabelais' Gargantua abzulesen. Der armarius beaufsichtigte zugleich das Scriptorium des Stifts und kontrolllierte die Buchausgabe für öffentli- che und private lectiones der Kanoniker wie für den liturgischen Dienst. Im 36. Kapitel heißt es: Hora silentii debent fratres in claustro quieti sedere, alii legere, alii cantare, et unus quisque quod sibi in- junctunz est facere. 20

19 Chätillon, Culture (wie Anm. 2), S. 150f. 20 Stephen C. Ferruolo, The Origins of the University, The Schools of Paris and

their critics 1100-1215, Stanford 1985, S. 27ff. (St. Victor); Chätillon, Spiri- tualitd (wie Anm. 2), S. 72ff.; Jocqud, Structures (wie Anm. 16), S. 72; Marcia L. Coolish, Peter Lombard, Leiden 1994, S. 18; Liber ordinis (wie Anm. 16), S. 145 (Zitat).

St. Victor und die Schulen in Paris 67

Mag auch im Kreuzgang die lectio oft die Gestalt einer praelectio mit disputatio angenommen haben, von einem geregelten Wissen- schaftsbetrieb in einer Schule ist eine solche lectio weit entfernt, und weder Hugo noch der jüngere Richard von St. Victor nennen in ihren didaktischen Schriften die disputatio, also die besondere Unterrichts- form der Wanderlehrer an Kathedralschulen, als Form des in St. Vic- tor praktizierten Wissenschaftserwerbs. Und: im Liber ordinis gibt es keinen Funktionsträger namens Scholasticus. Wenn durch Hugo und Richard, wie zuvor unter Wilhelm von Champeaux Unterricht erteilt wurde, geschah dies in einem nicht von den Statuten des Stifts gere- gelten Raum. Anders als im Falle von Chartres ist also bei St. Victor von einer Schule von St. Victor zu sprechen, nicht, aber einer institu- tionalen Schule in St. Victor.

Für die normale Form der Eingewöhnung in die Lebensform des Regularkanonikers war für den Novizen eine liturgische Ausbildung vorgesehen. Es kennzeichnet St. Victor, daß im Liber Ordinis das can- tare als gleichrangig dem legere für die Beschäftigungsart in den Still- stunden an die Seite gestellt wird. Eine Bevorzugung der theologi- schen Wissenschaft ist hieraus nicht abzuleiten.

So ist neben dem Zeugnis der typischen viktorinischen Literatur- gattung der sermones die große Rolle zu beachten, die die Liturgie in Form von Officien spielte, von deren Teilnahme es im Unterschied zur Verpflichtung des Kanonikers zur körperlichen Arbeit keinen Dispens gab. Die schöpferisch-ordnende Tätigkeit des früheren Precentors Adam von Notre Dame in St. Victor auf dem Gebiet der Sequenzen

entspricht genau der Spiritualität dieses Kanonikerstiftes. Jean Chätillon hat darauf aufmerksam gemacht, daß in vielen sermones aus St. Victor die Prosen der Sammlung Adams zitiert werden 2'

Hugo von St. Victor präsentiert in seinen Didascalion eine Wis- senschaftslehre, die für die Kanonikergemeinschaft bis ins 13. Jahr- hundert verbindlich bleiben sollte. Der Untertitel de studio legendi zeigt schon an, daß der große Lehrer hier eine Anweisung zum richti- gen Lesen geben will: dem Studienanfänger die Fertigkeit zu einem Wissenserwerb ganz im Sinne des Geistes von St. Victor und gegen die disputatio der Sentenzen gerichtet. Auf die praecepta legendi fol- gen die Anweisungen, was, in welcher Reihenfolge und wie zu lesen

21 Jocqud, Structures (wie Anm. 16), S. 83f.; Chätillon, De Guillaume (wie Anm. 2), S. 249.

68 Helmut G. Walther

sei. Wenn noch immer das Ganze etwas abschätzig als enzyklopädi- scher Versuch beurteilt wird, so ist dieser Unterton fehl am Platz. Hu-

go sammelt nicht nur, sondern versucht, alles Wissen und Können des Menschen in eine umfassende Ordnung zu bringen. Auch dies ist

schon Gegenprogramm zur Konzentration auf Detailbereiche im Wis- senschaftsbereich der Wanderlehrer an den Kathedralschulen. Wie die Historia calamitatum ausführt, wollte Abälard Dialektik und Rhetorik als Einzelwissenschaften perfektionieren. Die Theologie als Anwen- dungsbereich dieser Fertigkeiten habe er ja nur als Folge einer Wette mit Mitschülern in der Schule Anselms -von Laon entdeckt. Ein sol- cher Umgang war nicht nur für den greisen Anselm ein Stein des An- stoßes, sondern ihn erklärte auch der jüngere Hugo von St. Victor für unzulässig. Grundüberzeugung Hugos war, die verschiedenen Diszi- plinen in der Synthese zu fassen, in denen sie auf ihre anthropologi- schen Grundlagen zurückgeführt wurden. In seinem theologischen Hauptwerk De sacramentis verwendet Hugo stets Bilder, um eine funktionale Einheit angesichts der vorfindlichen Vielgestaltigkeit her- zustellen und anschaulich zu vermitteln. Für ihn war es nicht nur in Didascalion wichtig, auf die theorica die practica und dann noch die Siebenheit der mechanica folgen zu lassen, um mit den logica zu en- den. Alle Bereiche der philosophia waren auf diese Weise von ihm lückenlos erfaßt.

Am Beispiel der logica dissertiva vel rationalis versuchte Hugo dabei zu zeigen, daß sie nicht nur Wissen für notwendige Beweisar- gumente umfassen dürfe, sondern auch Erfindung und Urteil begrün- den müsse. Logik als Wissen oder ars genügt nicht, um zur Wahrheit zu gelangen, sondern sie muß schöpferische und zugleich auch kriti- sche Funktionen übernehmen. Dies gilt auch für Hugos Lehre von den drei Schriftsinnen. Was bei seinen Nachfolgern in St. Victor dann oft als spekulative �mystische Theologie" erscheint, ist zumindest bei Hugo immer in seine Wissenschaftslehre, wie sie das Didascalion prä- sentiert, eingebunden. Aber noch Richard von St. Victor in seinem Liber exceptionum greift Hugos Ansatz auf, wenn er formuliert: Ratio agriculturae pertinet ad philosophiun, administratio ad rustician. Die Praxis der techne ist stets an die dahinterstehende ratio zurück- gebunden. ̀

22 Chätillon, Culture (wie Anm. 2), S. 154ff.

St. Victor und die Schulen in Paris

IV.

69

Nach 1162 verbanden sich in St. Victor offensichtlich wirtschaftlicher und geistiger Niedergang. Achard von St. Victor hatte als Theologe Renommee, als Abt des Stiftes konnte er seit 1155 auch noch den Rang der Kanonikergemeinschaft wahren. Offensichtlich gelang es damals auch, die Beziehungen des Stiftes zur römischen Kurie zu in- tensivieren, die bereits seit Gilduin bestanden. Mehrere Kardinäle des 12. Jahrhunderts waren zuvor Viktoriner gewesen. Von drei, Privilegi-

en Papst Hadrians IV. für St. Victor unter Achard enthält das dritte das Recht des Stiftes, Kleriker und Laien bei sich aufzunehmen, die, da- durch den Stand der Freiheit erlangten und von ihren Herren nicht zu- rückgefordert werden durften. Auch die guten Beziehungen persönli- cher Art zu Notre Dame blieben erhalten: Der Archidiakon Bernhard

von Notre Dame wurde Viktoriner, die Bischöfe Petrus Lombardus

und Maurice von Sully förderten das Stift durch Zuwendungen. Durch die englische Abkunft Achards stellten sich sogar. Bezie-

hungen zum Hof Heinrichs II. ein. Ihnen war dann auch die Wahl

Achards zum Bischof von Avranches zu verdanken. Der Weg in die

Katastrophe war dennoch kurz. Der Nachfolger als Abt, Ervisius,

wurde 1172 vom Papst wegen Mißwirtschaftens abgesetzt. Wirt-

schaftlicher Niedergang bedeutete für St. Victor freilich auch, die bis-

herige Praxis, durch große Gastfreundschaft berühmte Wanderlehrer

an sich zu binden und dadurch eine international zusammengesetzte Gemeinschaft zu sein, nicht mehr aufrechterhalten zu können. Insofern

sind der wirtschaftliche Niedergang und der geistige Abstieg St. Vic-

tors in die Provinzialität angesichts der gleichzeitigen Blüte interna-

tionaler Wanderschulen im benachbarten Paris bemerkenswert. Mit Richard von St. Victor (gest. 1172, auch er Engländer von Ge-

burt) endete die Reihe der großen Viktorinischen Theologen, die auch Leiter der Schule waren. Das Festhalten an der von Hugo am Ende des 1. Drittels formulierten Wissenschaftskonzeption auch jetzt noch im

ausgehenden Jahrhundert, das stete Rekurrieren auf seine Autorität

zeigt gerade im Vergleich mit der Entwicklung der übrigen Pariser Schulen, in denen das artistische Studium im Trivium immer stärkeres Gewicht erhielt, ein geradezu antiquiertes Gesicht. '

23 Chätillon, De Guillaume (wie Anm. 2), S. 247ff.

70 Helmut G. Walther

Anders als zu Zeiten der Äbte Gilduin und vielleicht auch Achards bildete St. Victor nun in seinem Anspruch als Bildungszentrum kaum

noch eine Konkurrenz zu den Schulen auf der Seine-Brücke und um St. Genevieve. Dort studierten inzwischen wohl schon ein bis zwei Tausend Schüler: um 1200 soll nach jüngsten Schätzungen ihre Zahl

schon auf Drei- bis Viertausend angestiegen sein und machte damit

wohl 15-20 % der Gesamtbevölkerung der um die gleiche Zeit wirt- schaftlich und demographisch expandierenden französischen Haupt- stadt aus. Für die Zeit zwischen 1179 und 1218 hat man eine Zahl von 148 Magistern errechnet, von denen 47 namentlich bekannt sind, sie verteilen sich auf die einzelnen Disziplinen folgendermaßen: 11 sind Artisten, 10 Kanonisten, 2 Mediziner und 24 Theologen. Der erhebli- che Unterschied zwischen der errechneten Gesamtzahl von 148 und den nur 47 namentlich bekannten magistri läßt eine große Dunkelzif- fer frei. Doch. ist immerhin wahrscheinlich, daß es sich bei dem Groß- teil der nicht namentlich bekannten magistri um Artisten handelt, also um Lehrer einer oder mehrerer der artes des Triviums. 24

Seit 1144 fand kein artistischer Unterricht mehr bei St. Genevieve statt. Damals hatte St. Victor die alte Konkurrentin der eigenen Kon- gregation angeschlossen und durchgesetzt, daß es dort - wie auch zu- nehmend in St. Victor selbst - nur noch ein theologisches Hausstudi- um gab. Der Kanonist Stephan von Tourais war Abt von St. Genevieve; aber von einem kanonistischen Schulunterricht Stephans dort wissen wir nichts. Abälard, Robert von Melun und Alberich dürften die letz- ten Theologielehrer an St. Genevieve gewesen sein, Johann von Salis- bury Angehöriger der letzten Schülergeneration, die in der dortigen Schule in der Kapelle des Hl. Hilarius hören und lernen konnte. 's

Die artistische wie die theologische Lehre fand seit dieser Zeit auf der Ile-de-la-Cite bis zum petit Pont statt, auch vereinzelt schon auf dem rechten Seineufer. Das linke Ufer wurde erst wieder im 13. Jahr- hundert Platz des Schulunterrichts, dann aber schon im Zeichen der neuen universitären Studienorganisation. Zur Heimstätte des Pariser

24 Ferruolo (wie Anm. 20), S. 40ff.; John W. Baldwin, Masters at Paris from 1179 to 1215: A Social Perspective. In: Renaissance and Renewal (wie Anm. 3), S. 138-172.

25 Jacques Verger, Des dcoles a l'Universitd: la mutation institutionelle. In: La France de Philippe Auguste, le temps du mutations (Colloques CNRS 602), Pa-

ris 1982, S. 817-845; Ferruolo (wie Anm. 20), 19ff., 133ff.

St. Victor und die Schulen in Paris 71

Theologiestudiums, das im Cloitre von Notre Dame selbst zu Hause war, hatte St. Victor noch immer gute Beziehungen; vielleicht sym- pathisierte man sogar wechselseitig - zumindest im Kreis der traditio- nal ausgerichteten Theologen. Bischof Maurice von Sully war zuvor Nachfolger des Petrus Lombardus als Theologielehrer gewesen. Als Bischof benutzte er Übersetzungen Richards von St. Victor für volks- sprachliche Predigten. Der andere große Petrus, - Petrus Comestor, stand bei der Bearbeitung der Historia Scholastica ganz unter dem Einfluß der Lehrer Hugos-von St. Victor über den historischen Schrift- sinn. Nach seinem Rücktritt vom Lehramt in Notre Dame 1169-wurde Petrus Comestor Kanoniker in St. Victor.

.. '; ' º+ Aber ein solcher Schritt könnte auch symptomatisch bewertet wer

den. Nicht mehr als Lehrer ging man nach St. Victor, sondern man be-

nutzte das Stift als Altersruhesitz! 'Diese Mentalität prägte auch schon Gottfried von St. Victor, der seinen Lehrer Richard als Haupt der vik- torinischen Theologie abgelöst. hatte. Ob er noch als Leiter einer Schule-in St. Victor fungierte, ist fraglich. Gottfried war 1155 in St.

Victor eingetreten; nach 1176 widmete er sein Werk Fons philoso-

phiae dem Abt der: St. -Victor-Dependance Stephan von Tournai als

autobiographisch gehaltenen Gedicht. Es ist eine einzige Abrechnung

mit den Schulen in Paris außerhalb St. ' Victors. Auf den Seineufern

gebe es nur noch Rudimente der einstigen blühenden Schulen des Tri-

vium, weil die logische Grundlage vernachlässigt worden sei. Statt- dessen habe der Drang zur Dialektik alles verdorben (stultum dialectica, facit insanire). Der Kritik Gottfrieds verfallen deshalb auch die dialekti-

schen Theologen des Mont St. Genevieve, Alberich und Robert. ̀

Der Zweck dieser Kritik-an der neuen Wissenschaft und der, Prei= sung der Viktoriner Theologie sollte den bereits praktizierten Rückzug der'Viktoriner von ihrer seit Hugo mit didaktischem Eifer ausgeübten bisherigen Praxis der Vermittlung von Wissenschaft legitimieren. Die- se Absage an eineýso eindrucksvolle Tradition genügte dennoch noch nicht der schul- und bildungsfeindlichen Mehrheit im Stift. Walter, der neue Prior St. Victors, verdrängte Gottfried aus der. Gemeinschaft.

26 Bonnard, Histoire (wie Anm. 5), S. 141ff.; Jacques Verger, A propose de la naissance de l'universite de Paris: contexte social, enjeu politique, portee intel- lectuelle. In: Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters. Hg. von Johannes Fried (VuF 30), Sigmaringen 1986, S. 69-96; Chätillon, De Guillaume (wie Anm. 2), S. 266ff.

72 Helmut G. Walther

Selbst jenes nur moderate Schätzen der Theologie, die mehr sein wollte als, monastische Kontemplation, galt nach der Meinung Prior Walters nun in St. Victor als nicht zulässig. 27

- Exponent dieser neuen Stimmung im Stift wurde Abt Absalom

(1198-1203), unter dessen Abbatiat sich diese Mentalität auch in in-

stitutionellen Veränderungen im Konvent ' niederschlug. Das literari-

sche Werk Absaloms, besteht im wesentlichen aus-52 Sermones. So beklagt er sich: In palatio ubique resonat cantus de gestis Hectoris et in sancta Ecclesia silentio damnantur verba Salvatoris. In anderen Sermones verurteilt er die- Lehren von Cicero, ' Plato und Aristoteles, dehnt das Verdikt sogar auf die Grammatik des Donatus und auf die De musica des Boethius aus. Dabei - so hat Pierre Courcelle nachge- wiesen - stecken Absaloms Aussagen selbst voll von Zitaten und An- spielungen auf eine Fülle profaner antiker Autoren. So wird deutlich, daß die moralische Entrüstung Absaloms das ganze neue Bildungssy- stem treffen soll, dessen Produkt zum guten Teil der Abt selbst war. Diese Bildung wird aber nun verurteilt, weil für sie in St. Victor hin- fort kein Platz mehr sein soll. Diese also forciert in St. Victor ange- strebte Rückbesinnung -auf traditionelle monastische Bildungshori- zonte erreichten etwa Walter und Absalom von St. Victor nur dadurch, daß sie auf zisterziensische' Formulierungshilfen zurückgriffen. Mit der'in der Tradition Bernhards von Clairvaux stehenden Verurteilun- gen weltlicher Studien ließ sich leicht gegen die Studieninhalte der neuen Pariser Schulen polemisieren. Glaubwürdig werden diese vikto- rinischen Ergüsse des späten 12. Jahrhunderts dadurch freilich nicht.

In seinen sermones liebt Absalom das polemische Ausspielen von Augustin-Lektüre gegen scholastische Dialektik (plus appetit revolve- re numerum quaestionum quarr librum `confessionum') oder im glei- chen Sermo 51 erneut- eine Setzung Augustins gegen den modischen Drang zum Kirchenrecht, den Stephan von Tournai in St. Genevieve,

aber auch etwa Schüler des Theologen-Petrus Cantor von Notre Dame, wie Stephan Langton, Robert von Courson und Lothar von Segni (der

spätere Innocenz III. ) einschlugen. Schließlich steht bei Absalom gar Augustinus gegen die scientia

lucrativa des römischen Rechts, das die Päpste den Mönchen und

27 Ibid., S. 265f.

St. Victor und die Schulen in Paris 73

Klerikern ausdrücklich mehrfach als Studienfach verboten? ' Unter den ganzen moderni sacrae scripturae gilt nur noch Hugo noster (also Hugo von St. Victor) als singularis auctoritas. Der Viktoriner Achard polemisierte offen gegen die Schulen der Theologen, denen sein Stift einst selbst eine Lehrheimat geboten hatte. Denn Achards Beschimp- fungen der Dialektiker und Kanonisten meint doch in erster Linie den einst willkommen geheißenen Gast in St. Victor, Petrus Lombardus. Achard polemisiert gegen die sog. �nihilistische Christologie" des Lombarden in seinem (heute verlorenen) Traktat De trinitate. Noch vor 1160 muß es zu einer öffentlichen Auseinandersetzung Achards und Roberts von Melun mit dem Lombarden gekommen sein? '

Der Viktoriner Prior Walter vulgarisierte die Polemik nach 1177 in seinem Traktat gegen die quatuor labyrinthos Franciae und meinte damit die vier minotaurischen Verführer Petrus Abälard, Petrus Lom- bardus, Petrus von Poitiers und Gilbert de la Porrde., In diesem absolut unoriginellen Werk, das gleich seitenweise die älteren viktorinischen Vorlagen ausschreibt, drückt sich wohl am besten die Mentalität St. Victors im späten 12. Jahrhundert aus. Man begnügt sich mit dem Sammeln und polemischen Verteidigen des in den Jahrzehnten zuvor von den bedeutenden Theologen Hugo, - und Andreas von St. Victor Erarbeiteten2°

Um 1200 war das Stift St. Victor zum bloßen Hort der Tradition geworden. In dieser bewußt bezogenen " Haltung besaß es durchaus Bundesgenossen unter den Theologen in Notre Dame. Doch die Aus- einandersetzungen der Magister in ihrer Funktion als Leiter von Schulen mit den Kanzlern des Pariser Domkapitels von Notre Dame um die Vergabe der licentia docendi seit den 70er Jahren waren ande- rer Natur: Es waren korporativ-institutionelle Gründe, die nach 1200 zum Zusammenschluß zu einer universitas magistrorum et scolarium führten. Die Konflikte des Kanzlers mit dem Konvent von St. Gene- vieve, unter dessen Schutz sich die Artistenschulen des linken Sei- neufers zunächst geflüchtet hatten, wurden 1222 durch das Privileg

28 Pierre Courcelle, La culture antique d'Absalon de Saint-Victor. In: Journal des savants 1972, S. 274-291, bes. S. 286ff. (mit ausführlichen Belegen aus den polemischen sermons). Die Sermones des Absalom von St. Victor in: Migne PL 211.

29 Chätillon, Spiritualitd (wie Anm. 2), S. 74f. 30 Paldmon GIorieux, i. e �Contra quatuor labyrinthios Franciae" de Gauthier de

Saint Victor. In. AHDLMA 19 (1953), S. 187-335.

74 Helmut G. Walther

Papst Honorius III. beigelegt und die Lizenzvergabe des Notre-Dame- Kanzlers auf die höherrangige Theologie beschränkt. In jener Ausein-

andersetzung blieb St. Victor quasi unbeteiligter Dritter, fungierte al- lenfalls als ein Annex des Pariser Schulsystems. Wie die Papsturkunde Inimico homine ausführt, dürfen die magistri ihre Studenten nicht dar-

an hindern, zur Beichte oder zu Exsequien nach St. Victor zu gehen. Die Abtei erscheint hier ganz auf eine pastorale Funktion reduziert: als attraktives Bildungszentrum für Studierende ist sie in Paris nicht mehr präsent.

Auch die Beziehungen zum Königshof spiegeln diese veränderte Stellung St. Victors unter den geistigen Zentren von Paris wider. Im ersten Testament Philipps H. von 1190, das er vor seinem Aufbruch zum 3. Kreuzzug abfaßte, setzte der Herrscher für die Zeit seiner Ab- wesenheit einen Rat von sechs loyalen Bürgern ein. Für den Fall sei- nes Todes auf dem Kreuzzug sollten die beiden Äbte von St. Victor und von Vaux-de-Cernay als Nachlaßverwalter des Königs wirken. Philipp II. blieb dem Stift vor den Toren seiner Hauptstadt politisch gewogen, wie verschiedene Privilegien beweisen; als wichtiges Bil- dungszentrum seiner Residenz betrachtete er das Chorherrenstift wohl nicht mehr. So erklärt sich gut der Abscheu des Abtes Absalom gegen die cantus de gestis Hectoris, die der Kanoniker nun überall als ge- schätzte literarische Mode an den Fürstenhöfen hören zu müssen glaubte. In der Tat hob die Hofgeschichtsschreibung unter Philipp II. bewußt die trojanische Unterkunft der Franken hervor. "

Der König setzte mit dem großen Privileg von 1200 auf die neuen Schulen der magistri, bot ihren Anhängern Schutz vor dem Zugriff seines Prevöt. Der Vater, Ludwig VII., hatte noch St. Victor als geisti- ges Zentrum privilegiert. Auch in dieser Veränderung zeigt sich der Wandel der Pariser Bildungshorizonte um 1200 an.

31 Verger, Ecoles (wie Anm. 25) pass.; Boussard, Nouvelle histoire (wie Anm. 1), S. 329ff.