Seid realistisch, verlangt das Unmögliche - Buch.de · Vorwort 11 hungimKontextvon 68(Sager),sowie...

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Leseprobe aus: Baader, „Seid realistisch, verlangt das Unmögliche!“, ISBN 978-3-407-22393-7 © 2012 Beltz Verlag, Weinheim Basel http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-407-22393-7

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Vorwort:Erziehung und Bildung: übersehene Dimensionenin der 68er-Retrospektive

Der vierzigste Jahrestag der Revolte ist Anlass für zahlreichePublikationen zum Thema. Die Auseinandersetzungen über dasPhänomen halten an und scheinen die Gesellschaft der Bundesre-publik nachhaltig zu bewegen. Erstaunlicherweise aber wird diepädagogische Dimension der Protestbewegung kaum thematisiert.Im Vordergrund stehen zumeist im engeren Sinne politische Fra-gen, insbesondere die Frage nach dem Verhältnis zur Gewalt. Diekulturelle Seite der Protestbewegung, ihre Auswirkungen auf dieLebenswelten und die Lebensführung, auf Erziehung, auf Famili-enformen, das Geschlechter- und Generationenverhältnis und aufdie pädagogischen Institutionen wird kaum genauer ergründet. Sostark die Erziehung für gesellschaftliche Missstände im Kontextvon 1968 verantwortlich gemacht wurde, so sehr wird sie erstaun-licherweise aus den aktuellen Retrospektiven ausgeblendet. Dabeigehört die pädagogische Dimension zu den Besonderheiten derwestdeutschen 68er-Aufbrüche und markiert einen Unterschiedim Verhältnis zu anderen Ländern.

Der Umstand, dass Fragen der Erziehung in den Fokus derdeutschen Protestbewegung gerieten, hängt unmittelbar mit demNachdenken über die Gründe für den Nationalsozialismus undmit den Debatten um Autorität und Antiautorität zusammen.Antiautorität war in keinem anderen Land ein Schlagwort der1968er-Bewegung, in Deutschland hingegen war es zentral undgeht unter anderem auf die Rezeption der Kritischen Theorie undihrer »Studien zum autoritären Charakter« aus dem Jahre 1950zurück, die das Frankfurter Institut für Sozialforschung unterLeitung von Theodor W. Adorno und anderen in der Emigrati-on durchgeführt hatte. Die Untersuchung sollte mit Mitteln derempirischen Sozialforschung und der Sozialpsychologie erklären,

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warum Individuen faschistische Systeme unterstützen und wiedies mit ihren individuellen psychischen Dispositionen zusam-menhängt. Der Erziehung kam in den Analysen der beteiligtenForscher und Forscherinnen eine nicht unerhebliche Bedeutungzu. Adorno selbst unterstrich in seinem 1966 gehaltenen Rund-funkbeitrag zur »Erziehung nach Auschwitz« vor allem die Be-deutung der Erziehung in der frühen Kindheit.

Die gemeinsame Frage, die am Anfang der pädagogischen Auf-brüche im Kontext von 1968 stand, war: Wie lassen sich Erzie-hungsverhältnisse so gestalten, dass die nachfolgenden Generatio-nen nicht mehr anfällig für ein System wie den Nationalsozialismussein würden, sondern den Mut, die Kraft und die Ich-Stärke zumWiderstand und Protest aufbringen würde? In den Fokus gerietendabei insbesondere auch die frühe Kindheit und der Vorschul-bereich, der in Deutschland in den 60er-Jahren wenig ausgebautwar. 1967/68 wurden zahlreiche Kinderläden gegründet, zunächstin den Großstädten Berlin, Frankfurt und Stuttgart, in den fol-genden Jahren dann auch in zahlreichen mittleren und kleinerenStädten. Die Kinderladenbewegung war neben der so genanntenHeimerziehungsbewegung einer der entscheidenden Impulse derpädagogischen Initiativen im Kontext von 1968.

Am Anfang stand die Weigerung, die eigenen Kinder nachPrinzipien des Gehorsams und der Unterordnung zu erziehen.Eine entscheidende Rolle für die Anfänge hat aber auch die Frau-enbewegung gespielt, insofern Frauen es zurückwiesen, alleinefür die Erziehung ihrer Kinder im Vorschulalter verantwortlichzu sein. Sie schlossen sich in Selbsthilfeinitiativen zusammen,um gemeinsam eine bessere und andere Erziehung ihrer Kinderin der frühen Kindheit zu organisieren und durch Einrichtun-gen einer kollektiven Kinderbetreuung zugleich auch die eigeneEmanzipation voranzutreiben. Berliner Frauen orientierten sichdabei an skandinavischen Tagesmuttermodellen, andere warenvon Erfahrungen mit dem Vorschulsystem und Schulsystem inEngland beeinflusst, und schließlich spielte die Psychoanalysefür Konzepte und Ideen einer anderen Vorschulerziehung einewichtige Rolle.

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9Vorwort

Die Antworten, die auf die Ausgangsfrage nach einer anderen,nicht primär an Gehorsam und Sekundärtugenden wie Pünkt-lichkeit und Sauberkeit orientierten Erziehung gegeben wurden,die Konzepte und Projekte, die entwickelt wurden, waren sehrunterschiedlich und vielfältig, sie differenzierten sich aus, nah-men verschiedene Richtungen und lassen sich kaum vereinheit-lichen. So wie es »die 68er« nicht gibt, so gibt es auch nicht »dieErziehung der 68er«, auch wenn diese in öffentlichen Debatten– in regelmäßigen Wellen – immer wieder für diverse Missständeverantwortlich gemacht wurde und wird. So wie die Protestbe-wegung insgesamt sich aus sehr verschiedenen Quellen speiste, soauch die pädagogischen Aufbrüche. Sie sprechen keinesfalls miteiner Stimme, sondern sind ihrerseits wiederum von Differenzenund Konflikten gekennzeichnet. Die dahinterliegenden Motive,die Themen und Handlungsfelder genauer nachzuzeichnen ist ei-nes der zentralen Anliegen dieses Buches, das sich mit den Initiati-ven, Experimenten und pädagogischen Laboratorien im Zeitraumvon 1967–1972 befasst. Damit wird zugleich bildungshistorischesNeuland beschritten, denn bisher gibt es keine Veröffentlichung,die sich aus heutiger Sicht noch einmal mit den pädagogischenAufbrüchen um 1968 befasst und die Hintergründe erklärt undkontextualisiert. Die Erfahrungen zeigen jedoch, dass der Dis-kussionsbedarf groß ist, sowohl in wissenschaftlicher Perspektiveals auch aus der Perspektive pädagogischer Praxis und schließlichaus der Sicht der Betroffenen, etwa der Kinder, die Kinderlädenbesuchten.

Auch wenn im Rückblick viele Bemühungen, Konzepte undInitiativen hoffnungslos überfrachtet erscheinen und teilweisehöchst verkürzte und eindimensionale Sozialisationsmodelle zu-grunde gelegt wurden, so gingen von den pädagogischen Aufbrü-chen um 1968 doch Impulse aus, die die pädagogische Landschaftnachhaltig geprägt haben. Dies betrifft insbesondere die Pädago-gik der frühen Kindheit, aber auch das grundsätzliche Verhältniszwischen Kindern und Erwachsenen sowie das Geschlechterver-hältnis. So gab es beispielsweise nie davor und nie danach so vielemännliche Erzieher wie in den Kinderläden der 70er-Jahre.

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Die meisten Initiativen waren selbst organisiert, wurden vonakademischen Eltern getragen, die Kinderläden oder neue Schu-len gründeten. Manche in dieser Zeit ins Leben gerufenen Schulen,wie etwa die Glockseeschule in Hannover, existieren heute nochund haben sich zu gut funktionierenden Schulen entwickelt, undauch Kinderläden gibt es nach wie vor. Bemerkenswert sind imRückblick das hohe Engagement und zeitliche Investment bei derDiskussion pädagogischer Konzepte, die von Eltern aufgebrachtwurden. Zivilgesellschaftliche Impulse zur Verbesserung des Bil-dungssystems trafen auf das Interesse der Bildungsreform, diesesZusammenspiel bestimmte die pädagogischen Aufbrüche der spä-ten 60er- und der 70er-Jahre. Hinzu kam die Begleitung durchBildungsforschung, die nicht wenige Projekte auszeichnete. Die-ses Zusammenwirken von Selbsthilfeinitiativen, Bildungsreformund Bildungsforschung bildete den Rahmen für eine ganze Reihevon Initiativen. Neue pädagogische Zeitschriften, von denen eini-ge heute noch existieren, wurden gegründet, es fand eine Auswei-tung der über pädagogische Fragen diskutierenden Öffentlichkeitstatt, pädagogische Themen wurden von den Medien aufgegrif-fen. Dadurch angestoßen, so unterstreichen Zeitzeugen, wurdeüberhaupt zum ersten Mal in der bundesrepublikanischen Nach-kriegsgeschichte intensiver, breiter und öffentlich über Erziehungnachgedacht und diskutiert. Wiederentdeckt und neu aufgelegtwurde pädagogische Literatur aus der Vorkriegszeit, so dass anunterbrochene Traditionen angeknüpft werden konnte. Aus derSicht einer Bildungsgeschichte nach 1945 ist die Neuauflage päda-gogischer Texte aus der Zeit vor dem NS ein wichtiger Beitrag derspäten 60er- und der 70er-Jahre.

Die Aufsätze, die dieses Buch versammelt, sind entlang den vierSchwerpunkten »Frühe Kindheit/Kinderläden«, »Schule/Hoch-schule«, »Generationen-/Geschlechterverhältnisse« sowie »Tradi-tionen/Innovationen« gegliedert. Im ersten Schwerpunkt werdendie Ziele und Motive der antiautoritären Kinderläden (Baader),die Implementierung von Ansätzen der antiautoritären Kinderlä-den in den Regelbereich im Rahmen eines Frankfurter Modellpro-jektes (Schmid), die Auseinandersetzungen um die Sexualerzie-

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hung im Kontext von 68 (Sager), sowie die Frage nach den parallelexistierenden Konzepten für die Pädagogik der frühen Kindheitin den späten 60er-Jahren (Cloos) diskutiert. Im zweiten Schwer-punkt werden die Grundlagen und das pädagogische Konzept ei-ner 1972 gegründeten Modellschule erläutert (Negt) sowie die Ver-änderungen von Lernformen im Sozialisationsraum Hochschulerekonstruiert (Groppe). Im dritten Schwerpunkt wird nach denVeränderungen in den Selbst- und Fremddeutungen der Generati-on der 68er, der 88er und der heutigen Jugend gefragt (Böhnisch/Schröer). Außerdem werden Risse im Geschlechterverhältnis der6oer-Jahre sowie die Implikationen der Parole »Das Private ist po-litisch« erörtert (Baader). Und schließlich wird die von AlexanderMitscherlich 1963 aufgeworfene Problematik der »vaterlosen Ge-sellschaft« in ihrer Bedeutung für die Protestgeneration analysiert(Freytag). Im vierten und letzten Schwerpunkt wird die Fragenach Autorität und Antiautoritarismus vor dem Hintergrund pä-dagogischer Traditionen seit der Aufklärung diskutiert (Brumlik).Die Wiederentdeckung der Psychoanalyse und deren Rezeptionim Kontext von 68 sind das Thema des zweiten Beitrages in die-sem Schwerpunkt (Bilstein). Untersucht werden Zeitschriftenbei-träge der 1967 gegründeten auflagenstarken Zeitschrift »betrifft:erziehung«, um die Frage nach Zusammenhängen mit der anti-autoritären Bewegung zu klären (Ostkämper). Und abschließendwird nach den Innovationen und Veränderungen von 68 für dieKinderliteratur gefragt (Remisch).

Ein Anliegen des Buches ist es, im Rückblick noch einmal nachden Stärken und Schwächen sowie nach den längerfristigen Effek-ten dieser pädagogischen Aufbrüche zu fragen.

Zu den Stärken gehörten das hohe Engagement, die pädagogi-sche Aufbruchstimmung, der Glaube, dass das Bildungssystemsich verändern lasse, sowie die Dynamisierung des pädagogischenFeldes, die auch zu seiner Expansion führte.

Zu den Schwächen gehörten zweifelsohne die überzogenenErwartungen an die Pädagogik und deren Überfrachtungen mitweitreichenden Hoffnungen auf den veränderten, neuen Menschenund die neue Gesellschaft. Dies ging unmittelbar mit sehr simp-

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lifizierten und verkürzten Sozialisationsmodellen einher. Prob-lematisch sind auch Tendenzen zur Aufhebung einer Differenzzwischen Kindern und Erwachsenen. Zudem fällt im historischenRückblick auf, wie stark jene pädagogischen Selbsthilfeinitiativenund Neuerungsversuche von Konflikten, Kämpfen um die richti-ge Linie und damit auch von Verletzungen und Kränkungen zwi-schen den Akteuren gekennzeichnet sind.

Gibt es dennoch eine Mitgift für heute? Bemerkenswert ist dasgroße Interesse für pädagogische Fragen und Konzepte, auch aufder Ebene der Theorie. Dieses wurde begleitet von einem hohenEngagement von Eltern, kritische Anfragen an den Mainstreamdes Erziehungs- und Bildungswesens zu stellen, kritische Anfra-gen an einen überzogenen Leistungsgedanken – insbesondere inder frühen Kindheit – zu formulieren, dazu gehört auch eine kri-tische Perspektive auf die kognitive Verengung einer Pädagogik,die auf eine reine Output-Orientierung fixiert ist. Sowohl in derKinderladenbewegung als auch bei innovativen Konzepten für dieGrundschule spielte ein neuer und anderer Umgang mit den kind-lichen Emotionen eine wichtige Rolle und die Beziehungen derKinder untereinander geraten als Ressource in den Blick. Vielleichtliegt die größte Hinterlassenschaft für aktuelle Erziehungsfragenin der zentralen Erkenntnis, dass elterliche Liebe und Zuwendungnicht an Leistung gekoppelt sein sollten – eine Erkenntnis, die inden Zeiten, in denen der Leistungsgedanke auch verstärkt Einzugin die Pädagogik der frühen Kindheit hält, durchaus erinnerns-wert ist. Angesichts des neuerdings wieder verstärkten Rufes nachDisziplin, Autorität und Strenge ist es gleichfalls nicht banal, da-ran zu erinnern, dass extreme Strenge in der Erziehung zu De-pressionen, Angststörungen und anderen psychischen Leiden inspäten Jahren führen kann – wie wir aus der Bindungsforschungund der Psychosomatik wissen.

Beobachten lässt sich in den analysierten Dokumenten und Ini-tiativen auch eine intensive Diskussion über das, was Kindheit istund wie die Bedingungen des Aufwachsens für Kinder sind. IstKindheit eher als Schonraum zu denken oder haben Kinder dasRecht auf eine aktive Teilhabe an der Gesellschaft? Diese Frage

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wird im Zusammenhang mit den Kinderläden, aber auch im Kon-text der 1972 gegründeten Glocksee-Schule erörtert. Bei diesenÜberlegungen spielte auch die Rezeption der bahnbrechendenStudie von Philippe Ariès »Geschichte der Kindheit«, die 1960 inFrankreich erschien, eine Rolle. Für eine Geschichte der Kind-heit markieren die 60er-Jahre zudem einen Säkularisierungsschub,so verstanden sich die Kinderläden auch als Initiativen, den Vor-schulbereich der Zuständigkeit der Kirchen zu entziehen. Dassein »Kind Unterordnung braucht«, diese Position, unlängst nocheinmal von Bernhard Bueb im Gespräch mit Daniel Cohn-Benditvertreten, wurde grundlegend infrage gestellt (ZEIT-Geschichte1/2007, S. 34). Verstärkt geriet in den 60er-Jahren auch ins Be-wusstsein, dass die Bedingungen, unter denen Kinder aufwach-sen, ungleich sind und dass Erziehungs- und Bildungseinrichtun-gen den Auftrag haben, diese Ungleichheiten zu berücksichtigenund auszugleichen. Dies spiegelt sich etwa in der erhöhten Auf-merksamkeit für die Lebensbedingungen von Arbeiterkindern.Chancengleichheit und -gerechtigkeit bildeten eine pädagogischeGrundorientierung für fast alle der in diesem Buch diskutier-ten Modellversuche. In der Zeitschrift »betrifft: erziehung« war»Chancengleichheit« das zentrale Thema.

Das Buch markiert einen Anfang, die Bildungsgeschichte der60er- und 70er-Jahre wissenschaftlich zu erforschen. Diese For-schung steht gerade erst am Anfang und ist weiterführender undaufschlussreicher als die sattsam bekannten Polarisierungen.

Meike Sophia Baader

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