Seneca Die Kuerze Des Lebens

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  • L. Annaeus Seneca De brevitate vitae Fr Seneca geht es angesichts der Krze des Lebens darum, dieses in philosophischer Mue (otium) zu gestalten. Hektische Betriebsamkeit (occupatio) vermeiden, die Leidenschaften vergessen, zu leben und zu sterben wissen; Fr den, der das Leben richtig einzurichten wei, ist es keineswegs zu kurz.

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    L. ANNAEUS SENECA

    DIE KRZE DES LEBENS

    DE BREVITATE VITAE

    bersetzt und herausgegeben

    von Gerhard Fink

    2003 Patmos Verlag GmbH & Co. KG

    Artemis & Winkler Verlag, Dsseldorf und Zrich

    Druck und Verarbeitung: Bercker, Kevelaer

    ISBN 3-7608-1375-5

    www.patmos.de

    PDF-Version: Diotallevi

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    1 Zum greren Teil, mein Paulinus, beklagen sich die Menschen heftig ber die Migunst der Natur, weil wir nur fr ein kurzes Leben geboren werden und weil so rasch, so ungestm die uns gewhrte Zeitspanne entflieht, dergestalt, da mit Ausnahme von ganz wenigen fr alle anderen inmitten der Vorbereitung auf das Leben das Leben endet. Und ber solches Unglck, das angeblich alle ereilt, jammert nicht nur die groe Masse und der unverstndige Pbel: Auch berhmten Persnlichkeiten hat dieses Gefhl schon Klagen entlockt. Daher stammt jener Ausspruch des unver-gleichlichen Arztes: Das Leben ist kurz, weitlufig die Wissenschaft", daher auch kam von Aristoteles, als er mit der Weltordnung ins Gericht ging, der fr einen Weisen ganz unpassende Vorwurf, sie habe Tieren eine derart lange Lebenszeit zugebilligt, da sie es bis auf fnf oder zehn Jahrhunderte brchten, dem Menschen aber, der doch zu so vielen groen Aufgaben geschaffen wurde, sei ein desto frheres Ende bestimmt. Wir haben aber nicht wenig Zeit, wir haben viel ver-geudet. Hinreichend lang ist das Leben und grozgig bemessen, um Gewaltiges zu vollbringen, wrde man es im Ganzen nur richtig investieren. Doch wenn es uns in Genu und Nichtstun verrinnt, wenn wir es keinem guten Zweck widmen, dann wird uns erst in unserer letzten Not bewut, da, was von uns unbemerkt verging, vorbei ist!

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    So ist's: Wir erhalten kein kurzes Leben, sondern haben es dazu gemacht, und es mangelt uns nicht an Zeit, sondern wir verschwenden sie. So wie gewaltige, knigliche Schtze, sobald sie in die Hnde eines schlechten Herrn kommen, im Augenblick verschleudert werden, whrend auch ein noch so bescheidenes Vermgen, falls man es einem guten Verwalter anvertraute, arbeitet und wchst, so steht auch dem, der sie gut einzuteilen wei, viel Lebenszeit zu Gebote. 2 Was klagen wir ber die Natur? Sie hat sich freigebig gezeigt: Das Leben ist, wenn man es zu nutzen versteht, lang. Doch unersttlich hat den einen die Habsucht im Griff, den anderen bei berflssiger Anstrengung rastlose Geschftigkeit, der eine ist voll von Wein, der andere dst stumpfsinnig vor sich hin, den treibt sein ewig nach dem Urteil anderer schielender Ehrgeiz bis zur Erschpfung, jenen fhrt der verderbliche Drang, Handel zu treiben, durch alle Lnder, alle Meere immer in der Hoffnung auf Gewinn. Manchen lt ihre Leidenschaft fr den Krieg keine Ruhe, und stets sind sie entweder auf die Bedrohung anderer aus oder angesichts eigener in Sorge. Es gibt auch Leute, die undankbare Kriecherei bei Hhergestellten sich in selbstgewhlter Sklaverei aufreiben lt. Schon viele schlug die Begeisterung fr fremde Schnheit oder die Sorge um

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    die eigene in ihren Bann. Die meisten aber, die kein bestimmtes Ziel verfolgen, hat ihre flatterhafte und prinzipienlose und sich selbst verhate Oberflchlichkeit schon von einem Vorhaben zum anderen getrieben. Manche knnen sich nicht entscheiden, worauf sie Kurs halten sollen, und so ereilt sie im trgen Dahindmmern der Tod, dergestalt, da ich, was ein groer Dichter gleich einem Orakel verkndet hat, ohne Zweifel fr wahr halte: Ein kleiner Teil des Lebens ist's, in dem wir leben. Die restliche ganze Lebenszeit ist nicht Leben, sondern nur Zeit. Es bedrngen und umringen Laster von allen Seiten die Menschen und erlauben es ihnen nicht, sich aufzurichten und den Blick zu erheben, um die Wahrheit ganz zu erfassen. Sie halten sie nieder und ketten sie an ihre Leidenschaften, und nie erlauben sie ihnen, zu sich selbst zurckzufinden. Wenn sich aber irgendwann zufllig etwas Ruhe einstellt, dann werden sie wie auf hoher See, wo auch nach dem Sturm der Wellengang noch anhlt, umhergetrieben, und nie lassen sie die Begierden in Frieden. Von denen, meinst du, rede ich, deren schlimme Lage auer Zweifel steht? Schau die an, um deren Glck man sich drngt! Sie ersticken an ihren Schtzen! Wie vielen ist ihr Reichtum eine Last! Wie viele kosten ihre Redekunst und der krankhafte Drang, sich tglich als

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    Talent zu produzieren, den letzten Blutstropfen? Wie viele sind bla von dauernden Ausschweifungen? Wie viele haben keine freie Minute mehr, weil sie Klienten in Scharen umringen! Ja, nimm sie dir nur alle vor, von den Geringsten bis zu den Prominentesten! Der sucht Rechtsbeistand, der gewhrt ihn, der hat einen Proze am Hals, der ist sein Verteidiger, jener der Richter, keiner macht sich frei fr sich selbst, der eine reibt sich auf fr den anderen. Erkundige dich nach denen, deren Namen man sich merken mu: Du wirst sehen, sie lassen sich folgendermaen herauskennen: Der kmmert sich rhrend um diesen, der um jenen, aber keiner um sich selbst. Ganz tricht ist sodann die Entrstung bestimmter Leute: Sie klagen ber den Dnkel der Hhergestellten, weil diese, als sie ihnen ihre Aufwartung machen wollten, keine Zeit gehabt htten. Da wagt einer sich ber die Arroganz eines anderen zu beschweren, einer, der fr sich selbst nie Zeit hat! Immerhin hat dich jener andere, so wie du bist, zwar mit blasierter Miene, aber doch irgendwann einmal zur Kenntnis genommen, hat geruht, deinen Worten sein Ohr zu leihen und dich an seine Seite gelassen. Du aber fandest es unter deiner Wrde, einmal auf dich zu sehen, auf dich zu hren. Also gibt es keinen Grund, aus deiner Anhnglichkeit fr irgend jemand eine Verpflichtung abzuleiten, weil du ja, als du sie zeigtest, nicht etwa mit einem anderen

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    zusammensein wolltest, sondern es mit dir zusammen nicht aushieltest. 3 Mgen sich alle groen Geister, die je ihr Licht leuchten lieen, in diesem Punkte einig sein sie werden sich nie genug ber eine derartige Verblendung der Menschen wundern knnen: Ihren Grundbesitz lassen sie sich von niemandem wegnehmen; wenn es einen geringfgigen Streit ber die Art der Grenzziehung gibt, strzen sie auseinander nach Steinen und Waffen. In ihr Leben aber lassen sie andere sich einmischen, ja, sie holen sich selbst die Leute, die knftig darber verfgen sollen. Niemand findet sich, der sein Geld verteilen mchte doch sein Leben, an wie viele verteilt das ein jeder! Sie nehmen es genau damit, ihr Vermgen zusammen-zuhalten; sobald es dahin kommt, Zeitopfer zu bringen, verschleudern sie mit vollen Hnden das einzige Gut, mit dem zu geizen Ehre bringt. So will ich mir denn aus der groen Zahl der Betagt-eren einen herausgreifen: Da du bis an die uerste Grenze eines Menschenlebens gelangt bist, sehen wir; du gehst auf die hundert zu oder darber. Nun denn, la zur Schluabrechnung dein Leben an dir vorberziehen! Schtze, wieviel von deiner Zeit dich ein Glubiger, wieviel eine Geliebte, wieviel ein Mchtiger, wieviel ein Klient gekostet hat, wieviel der Streit mit deiner Frau,

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    wieviel die Zurechtweisung der Sklaven, wieviel diensteifriges Herumlaufen in der Stadt! Rechne die Krankheiten dazu, die wir uns selbst aufgeladen haben, rechne dazu auch, was ungentzt brachlag! Du wirst sehen, da du weniger Lebensjahre vorzuweisen hast als du zhlst. berdenke, wann du ein klares Ziel vor Augen hattest, wie wenige Tage so vergingen, wie du es dir vorgenommen hattest, wann du dich mit dir selbst beschftigt hast, wann deine Miene ausgeglichen, dein Herz unerschttert war, was du in einem so langen Dasein ausgerichtet hast, wie viele sich Stcke aus deinem Leben gerissen haben, ohne da du den Verlust bemerktest, wieviel grundloser rger, trichte Freude, heies Verlangen und nette Gesellschaft dir wegge-nommen haben und wie wenig dir von dem Deinen geblieben ist du wirst merken, da du zu frh stirbst." Wie sieht die Sache also aus? Als solltet ihr ewig leben, so lebt ihr dahin; nie wird euch eure Vergnglichkeit bewut, ihr achtet nicht darauf, wieviel Zeit schon vergangen ist, wie aus dem Vollen, aus dem berflu verschwendet ihr sie, whrend vielleicht gerade der Tag, den ihr an einen Menschen oder eine Sache verschenkt, euer letzter ist. Vor allem habt ihr Angst gleich Sterblichen, nach allem verlangt ihr wie Unsterbliche. Man hrt viele sagen: Mit dem fnfzigsten Jahr will ich mich ins Privatleben zurckziehen, das sechzigste wird mich aus allen Bindungen entlassen." Und wen

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    nimmst du dir zum Brgen fr ein lngeres Leben? Wer wird's erlauben, da das so, wie du es dir zurechtlegst, vonstatten geht? Schmst du dich nicht, nur einen Lebensrest fr dich zu reservieren und lediglich die Zeit fr deine innere Vervollkommnung vorzusehen, die man fr nichts sonst gebrauchen kann? Es ist doch zu spt, dann mit dem Leben anzufangen, wenn es aufzuhren gilt! Wie kann man so tricht seine Sterblichkeit vergessen, da man bis ins fnfzigste und sechzigste Lebensjahr vernnftige Vorhaben aufschiebt und an einem Punkt sein Leben beginnen will, den nur wenige erlebt haben? 4 Gromchtigen, hocherhabenen Personen entschlpfen, wie du feststellen kannst, Bemerkungen der Art, da sie sich Mue wnschen, sie preisen und ber all ihre Gter stellen. Sie mchten manchmal aus jener Hhe, wenn es nur ohne Risiko ginge, herabsteigen, denn mag auch nichts von auen daran kratzen oder stoen: Glck kann an sich selbst zugrunde gehen. Der vergttlichte Augustus, dem die Gtter mehr als sonst einem gaben, betete unablssig um Ruhe und Entlastung von den Staatsgeschften. Bei allem, was er sagte, kam er stets darauf zurck, da er auf Mue hoffte. Damit und wenn es falsch war, war es doch angenehm trstete er sich ber seine Belastungen

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    hinweg, da er irgendwann sich selber leben knne. In einem Brief an den Senat finde ich nach der Zusage, sein Ruhestand werde nicht frei sein von Autoritt und nicht im Widerspruch stehen zu seinen frheren Ruhmestaten, die folgenden Worte: Doch es kann sein, da die Verwirklichung eher eine Illusion bleibt als die Ankndigung. Mich aber hat die Sehnsucht nach dieser hocherwnschten Zeit hingerissen, da ich, da die erfreulichen Verhltnisse noch auf sich warten lassen, mir vorweg ein wenig Vergngen aus den angenehmen Worten verschaffte." Als etwas so Bedeutendes erschien ihm die Mue, da er sie, weil er sie nicht wirklich genieen konnte, wenigstens in seinen Gedanken vorwegnahm. Er, der sah, da alles von ihm allein abhing, der ber das Schicksal von Menschen und Vlkern entschied, dachte in hchster Freude an jenen Tag, an dem er sich seiner Gre entkleiden wrde. Er hatte erfahren, wieviel Schwei jenes Glck kostete, das ber alle Lande hin strahlte, wieviel geheime ngste sich darunter verbargen. Erst gegen seine Mitbrger, dann gegen seine Amtskollegen, zuletzt gegen Verwandte hatte er gezwun-genermaen mit den Waffen um die Entscheidung gekmpft und zu Wasser und zu Lande Blut vergossen. Durch Makedonien, Sizilien, gypten, Syrien, Kleinasien und fast an allen Ksten entlang war er im Krieg gezogen und hatte die des Rmermordens mden Heere wieder in Kmpfe mit fremden Vlkern gefhrt. Whrend er die

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    Alpen befriedete und Feinde, die sich mitten in einem Friedensreich breitmachten, niederzwang, whrend er ber Rhein und Euphrat und Donau die Grenzen vorschob, wetzten in der Hauptstadt selbst ein Murena, Caepio, Lepidus und Egnatius die Dolche gegen ihn. Noch war er ihren Anschlgen nicht entronnen, da versetzten seine Tochter und so viele junge Mnner aus dem Adel, die sich zum Ehebruch geradezu verschworen hatten, den vom Alter Gebeugten in Schrecken, dazu Iullus und abermals die Frau, die man im Bund mit einem Antonius frchten mute. Diese Geschwre hatte er samt den Gliedmaen abge-schnitten; andere wuchsen nach. Wie an einem Leib, den zu viel Blut belastet, brach immer wieder irgendwo etwas auf. Daher wnschte er sich Mue; whrend er sie erwartete und sich ausmalte, wurden ihm seine Lasten leichter. Das war der Wunschtraum dessen, der Wunsch-trume erfllen konnte. 5 Whrend Marcus Cicero, zwischen Leuten wie Catilina und Clodius hin- und hergestoen, dazu solchen wie Pompeius und Crassus, teils seinen erklrten Feinden, teils unzuverlssigen Freunden, zusammen mit dem Staat dahintrieb, ihn vor dem Untergang zu bewahren suchte und zuletzt doch fortgesplt wurde, er, der weder im Glck gelassen blieb noch Unglck ertragen konnte

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    wie oft hat er da nicht sogar sein Konsulat, das er zwar nicht ohne Grund, doch ohne Ende pries, zur Hlle gewnscht! Wie klglich uert er sich in einem Brief an Atticus, bereits nach der Niederlage des lteren Pompeius, whrend dessen Sohn noch in Spanien die zerschlagene Streitmacht sammelte: Was ich hier treibe, fragst du mich?" schrieb er, Ich sitze in meinem Gut bei Tusculum, nur noch halb frei." Anderes fgt er noch hinzu, wobei er sein bisheriges Leben bedauert, ber das gegenwrtige jammert und an seiner Zukunft verzweifelt. ,Halb frei' nannte sich Cicero. Aber, bei Gott, ein Weiser wird sich nie zu einer so verzagten uerung hinreien lassen, wird nie ,halb frei' sein, sondern stets in voller, unantastbarer Freiheit, unabhngig, selb-stndig und ber alle anderen erhaben. Was kann nmlich ber dem stehen, der ber dem Schicksal steht? 6 Als Livius Drusus, ein energischer und unbeherrschter Mann, neue Gesetze beantragt und die blen Plne der Gracchen wieder aufgegriffen hatte, soll er inmitten einer gewaltigen Volksmenge aus ganz Italien, noch ungewi ber den Ausgang des Unternehmens, das er nicht htte beginnen drfen und nun, da es einmal in Gang gesetzt war, von sich aus nicht mehr abbrechen konnte, sein von frhester Jugend an unruhiges Leben

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    verflucht und erklrt haben, er allein habe nicht einmal als Kind Ferien gehabt. Er hatte sich nmlich erkhnt, als Unmndiger, noch in der Knabentoga, vor Gericht zugunsten von Ange-klagten einzutreten und seinen Charme auf dem Forum auszuspielen, und zwar derart erfolgreich, da er, wie man wei, einige Richterkollegien ganz auf seine Seite zog. Wozu htte sich ein so unzeitiger Ehrgeiz nicht versteigen sollen? Man htte sich denken knnen, da derart frh bewiesene Dreistigkeit unermeliches Unglck sowohl ber Drusus persnlich wie ber den Staat bringen werde. Zu spt beklagte er sich also, da er keine Ferien gehabt habe, er, der von Kindheit an aufmpfig war und den Richtern lstig fiel. Man ist sich nicht sicher, ob er Hand an sich gelegt hat, denn unversehens brach er mit einer Wunde im Unterleib zusammen. Manch einer fragte sich da, ob er dieses Ende gewollt habe, niemand, ob es zu frh gekommen sei. Es erbrigt sich, noch mehr Leute anzufhren, die, whrend sie anderen berglcklich schienen, ber sich selbst wahres Zeugnis ablegten und voll Abscheu auf all die hinter ihnen liegenden Jahre blickten. Doch durch solche Klagen haben sie weder andere gebessert noch sich selbst. Denn kaum sind die Worte herausgesprudelt, da verfllt ein von Leidenschaften beherrschter Mensch wieder seinen alten Gewohnheiten. Bei Gott, euer Leben mag mehr als tausend Jahre

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    dauern: Es wird dennoch auf engste Grenzen zusammen-schrumpfen, denn eure Fehler werden manches Jahr-hundert schlucken. Die bliche Zeitspanne aber, die, mag es auch die Natur eilig haben, Vernunft zu strecken wei, die mu euch natrlich wie im Flug vergehen. Ihr greift ja nicht nach ihr und haltet sie nicht fest oder bringt das Flchtigste, das es gibt, zum Verweilen, sondern lat es wie etwas Entbehrliches und Ersetzbares entschwinden. 7 Besonders mu ich aber auch jene nennen, die nur fr Suff und Sex etwas brig haben. Sie lassen sich nmlich von den schndlichsten Trieben beherrschen. Denn wenn die anderen auch von den trgerischen Vorspiegelungen ihres Ehrgeizes nicht loskommen, befinden sie sich doch in einem schnen Wahn. Man mag mir nun die Habgierigen, mag mir die Jhzornigen anfhren oder solche, die ohne rechten Anla ihren Gehssigkeiten und ihrer Streitsucht freien Lauf lassen all deren Fehler stehen einem Mann noch eher an. Wer sich seinem Bauch und seiner Geilheit berlt, der entehrt und besudelt sich. Untersuche nun, wie all diese Leute ihre Zeit verbringen, sieh nach, wie lange sie ihr Geld zusammenzhlen, wie lange sie Intrigen spinnen, wie lange sie in Angst sind, wie lang sie jemandem

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    schmeicheln und wie lang sie sich umschmeicheln lassen, wieviel Zeit ihre eigenen und fremde Gerichts-termine in Anspruch nehmen, wieviel die Gelage, die ihrerseits gesellschaftliche Verpflichtungen darstellen! Du wirst mitansehen, wie nichts sie zu Atem kommen lt, weder das Schlechte noch das Gute, das ihnen zuteil wird. Alle Welt ist sich ja darin einig, da ein Mensch nichts vernnftig ausben kann, wenn er gestret ist, nicht die Kunst der Rede, nicht die anerkannten Fachwissen-schaften, da er bei seiner Zerfahrenheit nichts tiefer in sich aufnehmen kann, sondern alles, als htte man es ihm eingetrichtert, wieder von sich gibt. Nichts versteht ein gestreter Mensch weniger als zu leben, nichts ist schwerer zu erlernen. Lehrer fr andere Wissensgebiete gibt es allenthalben in groer Zahl, und manche von ihren Lehren scheinen tatschlich bereits Kinder so in sich aufgenommen zu haben, da sie sie weitergeben knnten. Leben mu man das ganze Leben lang lernen, und, worber du vielleicht noch mehr staunst, das ganze Leben lang mu man lernen zu sterben. So viele groe Mnner haben alles, was sie abhielt, hinter sich gelassen, indem sie dem Reichtum, den Verpflichtungen, den Vergngungen entsagten und sich bis ans Ende ihres Lebens darum bemhten, mit Verstand zu leben. In ihrer Mehrheit aber schieden sie mit dem Gestndnis aus dem Leben, sie knnten es noch

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    nicht. Wie sollten sich dann diese Durchschnitts-menschen darauf verstehen! Von Gre, das glaube mir, und einem ber mensch-liche Irrtmer erhabenen Sinn zeugt es, wenn ein Mensch sich nichts von seiner Zeit wegnehmen lt; deshalb ist sein Leben auch sehr lang, weil es in seiner ganzen Ausdehnung ihm selbst zur Verfgung stand. Nichts davon wurde vernachlssigt oder blieb unbeachtet, nichts unterlag fremder Bestimmung; er fand nmlich nichts so Wertvolles, da er es gegen seine Zeit eingetauscht htte, ber die er hchst sorgsam wachte. So hat sie ihm auch gereicht. Denen aber mu sie zwangslufig fehlen, aus deren Leben alle Welt viel fortgenommen hat. Und du brauchst jetzt nicht zu glauben, da jene Leute nicht irgendwann ihren Verlust begreifen: Jedenfalls kannst du die meisten, die groes Glck bedrckt, inmitten ihrer Klientenscharen oder Gerichtsverfahren oder sonstigen ehrenvollen Plagen bisweilen rufen hren: Ich komme nicht zum Leben!" Warum sollte man nicht dazu kommen? Alle jene, die dich als ihren Beistand anrufen, entfhren dich dir selbst. Jener Angeklagte wie viele Tage hat er dir geraubt? Wie viele jener Amtsbewerber? Wie viele jene Alte, die erschpft ist von den Begrbnissen ihrer Erben? Wieviel jener Mensch, der, um die Gier der Erbschleicher zu reizen, den Kranken spielt? Wieviel jener hhergestellte Freund, der euch nicht als Freunde um sich hat, sondern als

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    Raumausstattung? Rechne nach, sag' ich dir, und berprfe deine Lebenstage! Du wirst sehen, da dir nur wenige, und zwar unntz verbrachte, verblieben sind. Kaum hat jener bekommen, was er wollte, nmlich die heiersehnten Abzeichen seines Amts, mchte er sie wieder ablegen und sagt stndig: Wann ist dieses Jahr endlich vorber?" Der veranstaltet Spiele, und da ihm dieser Auftrag erteilt wurde, galt ihm viel. Wann", sagt er, komme ich davon los?" Man reit sich berall auf dem Forum um jenen Anwalt, er hat gewaltigen Zulauf und fllt damit alles, viel weiter, als man ihn hren kann. Wann", spricht er, sind endlich Gerichtsferien?" Ein jeder bereilt sein Leben und qult sich in Erwartung der Zukunft, whrend ihm die Gegenwart zuwider ist. Aber jener, der jegliche Zeit fr sich zu ntzen wei, der alle Tage gleich wie das ganze Leben einrichtet, der wnscht sich das Morgen nicht und hat auch keine Angst davor. Was gibt es denn fr ein unerhrtes Vergngen, das ihm irgendeine Stunde bringen knnte? Alles ist ihm bekannt, alles hat er zu Genge in sich aufgenommen. ber den Rest mag der blinde Zufall nach Laune walten: sein Leben ist ihm bereits sicher. Es kann noch etwas zugegeben, aber nichts mehr weggenommen werden, und bei der Zugabe ist's, als ob man einem schon vollstndig Gesttigten noch etwas zu essen anbte: Was er gar nicht verlangt, bekommt er. Du hast also keinen Grund, von jemand wegen seiner

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    grauen Haare oder Runzeln anzunehmen, er habe lange gelebt. Nicht lange gelebt hat er, sondern er war lange vorhanden. Das wre so, als ob du von jemandem glaubtest, er habe eine lange Seereise unternommen, den ein wtender Sturm gleich nach der Ausfahrt aus dem Hafen erfate, da- und dorthin verschlug und im Wech-selspiel der Winde, die sich von verschiedenen Seiten auf ihn strzten, stets auf derselben Bahn im Kreise jagte. Der Mann ist nicht viel gefahren, sondern viel herumge-trieben worden. 8 Ich wundere mich regelmig, wenn ich irgendwelche Leute sehe, die um ein Zeitopfer bitten, und wenn die darum Gebetenen es willig bringen. Darauf achten beide, warum man es will, auf die Zeit selbst aber keiner, gleich als wrde nichts erbeten, als wrde nichts gegeben. Mit dem Allerkostbarsten geht man leichtfertig um und merkt es nicht einmal, weil es nichts Gegenstndliches ist, weil es nicht ins Auge fllt und deshalb als ganz wohlfeil gilt, ja fast wertlos ist. Regelmige Einknfte und auerordentliche Spenden beziehen die Leute sehr gern und verwenden darauf Mhe, Anstrengung und Sorgfalt. Doch niemand wei die Zeit zu schtzen; sie gehen mit ihr ziemlich grozgig um, gleich als gbe es sie umsonst. Aber sieh dir dieselben Leute nur an, wenn sie krank sind, wenn ihr

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    Zustand bedrohlich und der Tod ganz nahe ist, wie sie da die Kniee der rzte umklammern, wenn es sie vor dem letzten Gang graut, und sie all ihre Habe, nur um am Leben zu bleiben, zu opfern bereit sind! Derart wider-sprchlich ist ihre Gemtsverfassung! Knnte man aber so, wie sich bei einem jeden die Zahl der vergangenen Lebensjahre angeben lt, auch die der noch vergnnten nennen, wie wrden dann diejenigen, die nur wenige brig shen, in Panik geraten, wie wrden sie sparsam mit ihnen umgehen! Allerdings ist es leicht, mit noch so geringen Mengen hauszuhalten, wenn man sich ihrer sicher sein darf. Das mu noch peinlicher bewahrt werden, von dem man nicht wei, wann es zu Ende geht. Du brauchst aber nicht zu glauben, da ihnen unklar sei, wie wertvoll das ist: Gewhnlich sagen sie zu denen, die sie am leidenschaftlichsten lieben, sie seien bereit, ihnen einen Teil ihrer Jahre zu geben. Sie geben wirklich und bemerken es nicht. Auch geben sie so, da sie, ohne Gewinn fr den anderen, sich selbst etwas nehmen. Doch gerade, ob sie sich etwas nehmen, das wissen sie nicht. So knnen sie den Verlust verschmerzen, der un-bemerkt bleibt. Niemand gibt dir deine Jahre zurck, niemand bringt dich wieder zu dir selber. Dein Leben eilt dahin, wie es begonnen hat, und wird seinen raschen Lauf nicht zurckrufen oder hemmen. Es macht keinen Wirbel, macht nicht darauf auf-

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    merksam, wie schnell es vergeht: Schweigend entgleitet es. Nicht durch das Gebot eines Knigs, nicht durch die Volksgunst lt es sich verlngern. So, wie es am ersten Tage auf die Bahn geschickt wurde, luft es dahin, kehrt nirgends ein und rastet nirgends. Was wird geschehen? Du bist beschftigt; das Leben entflieht, der Tod ist schon zur Stelle, fr den du, ob du nun willst oder nicht, dir Zeit nehmen mut. 9 Vermag denn der Verstand der Menschen etwas ich spreche von denen, die sich mit ihrer Klugheit brsten? Die sind nur noch hingebungsvoller beschftigt. Um besser leben zu knnen, richten sie ihr Leben auf Kosten ihres Lebens ein. Sie denken und planen auf lange Sicht; doch man verliert am meisten von seinem Leben durch Aufschub. Der nimmt einen Tag nach dem andern weg, der raubt uns die Gegenwart, indem er uns Hoffnung auf Knftiges macht. Das grte Lebenshemmnis ist das Warten, das sich ans Morgen klammert und das Heute verliert. Was in der Hand des Schicksals liegt, das verplanst du, was du selbst in der Hand hast, das lt du fahren! Worauf starrst du? Wonach reckst du dich? Alles, was kommen soll, liegt im Ungewissen. Los, lebe sogleich! Siehe, laut erhebt der grte Dichter seine Stimme, und, wie von gttlichem Schauer erfat, verkndet er Worte

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    des Heils: Stets die schnsten Tage im Leben entfliehen den armen Sterblichen zuerst. Warum zauderst du?" fragt er, warum tust du nichts? Wenn du sie nicht festhltst, entfliehen sie!" Doch auch wenn du sie festhltst, werden sie trotzdem entfliehen. Daher mu man gegen den schnellen Lauf der Zeit durch raschen Gebrauch ankmpfen und wie aus einem reienden Giebach, der nicht stndig flieen wird, geschwind trinken. Auch das pat herrlich, um endloses Plnemachen anzuprangern, wenn der Dichter nicht von der schnsten Lebenszeit, sondern vom schnsten Tag spricht. Was lt du sorglos und, obschon die Zeit so rasch enteilt, gemchlich die Monate und Jahre in langer Reihe vor dir ausschwrmen, wie immer es dir in deiner Begehr-lichkeit gut dnkt? Von einem Tag spricht mit dir der Dichter, und zwar von einem, der entflieht. Ist es etwa zu bezweifeln, da stets die schnsten Tage den Sterblichen entfliehen, den armen das heit, den Vielbeschftigten, deren noch kindliche Gemter das Alter berrascht, in das sie unvorbereitet und ungerstet gelangen; sie haben ja dafr nicht vorgesorgt! Pltzlich und unversehens sind sie hineingeraten da es tglich nher kam, sprten sie nicht. Wie entweder eine Unterhaltung oder Lektre oder etwa intensiveres Nachdenken Reisende die Zeit vergessen lt und sie erst ihre Ankunft, nicht schon die

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    Nhe ihres Ziels bemerken, so wird diese stndige, atemberaubend rasche Lebensreise, die wir im Wachen wie im Schlafen im gleichen Schritt und Tritt zu-rcklegen, den Vielbeschftigten erst an ihrem Ende bewut. 1o Wollte ich, was ich behauptet habe, weiter aufgliedern und durch Beispiele absichern, so bieten sich viele an, die mir den Nachweis erlauben, da das Leben der Vielbeschftigten sehr kurz ist. Fabianus, keiner von diesen Katheder-Philosophen, sondern einer von den echten und alten, sagte gewhnlich: Gegen die Leiden-schaften mu man mit Ungestm, nicht mit Zartgefhl kmpfen und ihre Front nicht mit Nadelstichen, sondern im Sturmangriff zurckwerfen." Er hatte fr Scheinargumente nichts brig und meinte, jene mten zerschmettert, nicht gezaust werden. Gleichwohl, damit solchen Leuten ihr Irrtum vor Augen gefhrt wird, mu man sie belehren und darf sie nicht nur beklagen. In drei Zeitspannen zerfllt das Leben, in Vergangen-heit, Gegenwart und Zukunft. Davon ist die Zeit, die wir gerade durchleben, vergnglich, die, die wir noch zu leben haben, ungewi und nur die, die wir durchlebt haben, uns sicher. Sie ist es nmlich, ber die das Schicksal seine Macht verloren hat, die nie wieder in

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    jemands Ermessen gestellt werden kann. Die verlieren beschftigte Menschen, denn sie haben nicht die Zeit, auf Vergangenes zurckzublicken, und sollten sie sie haben, dann ist ihnen die Erinnerung an das unangenehm, was sie bereuen mten. Nur ungern denken sie also an schlecht verlebte Zeiten zurck und haben nicht den Mut, sich noch einmal mit dem zu befassen, dessen Mngel und zwar auch die, die ir-gendein verfhrerischer Reiz im Augenblick des Genusses unbemerkt bleiben lie bei erneuter Betrachtung ans Licht kommen. Nur wer all sein Tun mit der kritischen Selbstkontrolle verfolgt hat, die sich nie tuschen lt, wendet sich gern wieder Vergangenem zu. Der aber, der vieles ehrgeizig erstrebt, stolz verachtet, leidenschaftlich durchgesetzt, listig erschlichen, gierig an sich gerissen, leichtfertig verschleudert hat, mu zwangslufig sein eigenes Gedchtnis frchten. Und doch hat dieser Teil unserer Lebenszeit eine heilige Weihe, ist erhaben ber alles, was Menschen widerfahren kann und der Macht des Schicksals entzogen, da ihn nicht Not, nicht Angst, nicht der Ansturm der Krankheiten berhrt. Er kann nicht verwirrt und nicht entrissen werden. Er ist unser blei-bender Besitz, um den wir nicht bangen mssen. Gegenwrtig ist jeweils ein Tag, und der nur von Au-genblick zu Augenblick; doch die Tage der Vergangen-heit werden sich, wenn du es verlangst, allesamt einstellen und von dir nach Belieben betrachten und

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    festhalten lassen. Dazu haben Beschftigte freilich keine Zeit. Es zeugt von einem sorgenfreien, ruhevollen Geist, wenn er all seine Lebensabschnitte durchwandert. Vielbeschftigte Gemter knnen sich, als wren sie ins Joch gespannt, nicht umwenden und zurckblicken. So sinkt denn ihr Leben ins Bodenlose, und so, wie es nichts hilft, wenn du auch noch so viel nachschttest, falls drunten nichts ist, was es halten und bewahren knnte, so spielt es keine Rolle, wieviel Zeit man erhlt, wenn es nichts gibt, wo sie bleiben knnte. Durch ein zerrttetes, durchlchertes Gemt rinnt sie hindurch. Die Gegenwart ist ganz flchtig, und zwar in dem Mae, da manche sie fr nicht vorhanden halten. Sie ist ja immer im Flu und strmt reiend dahin, vergeht, ehe sie noch ganz da ist, und gnnt sich ebensowenig Rast wie das Himmelsgewlbe und die Gestirne, die bei ihrem ewig ruhelosen Umlauf nie am gleichen Ort bleiben. Nur sie ist also fr die Beschftigten von Bedeutung, die Gegenwart, die so flchtig ist, da man sie nicht ergreifen kann und gerade sie entzieht sich ihnen, whrend sie sich mit vielem verzetteln. 11 Schlielich mchtest du wissen, in welchem Mae sie nicht lange leben? Schau, wie sie sich sehnen, lang zu leben! Tattergreise bitten und betteln um eine Zulage

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    weniger Jahre. Sie tun, als wren sie jnger, sie lgen sich in die eigene Tasche und machen sich so gern etwas vor, als wenn sie gleichzeitig das Schicksal austricksen knnten. Dann aber, wenn sie irgendein Schwcheanfall an ihre Vergnglichkeit erinnert, wie angstvoll sterben sie da, als ob sie nicht aus dem Leben schieden, sondern herausgerissen wrden. Dumm seien sie gewesen, da sie nicht gelebt htten, jammern sie, und falls sie diese Krankheit berstnden, wrden sie in Mue leben. Dann denken sie daran, wie sie umsonst herangeschafft htten, was sie nicht mehr genieen knnten, wie ihre ganze Mhe vergebens gewesen sei. Doch jenen, die ihr Leben fern von jeder Obliegenheit erbringen, wie sollte es denen nicht lang sein? Nichts davon wird anderen berlassen, nichts da- und dorthin verschleudert, nichts davon dem Schicksal ausgeliefert, nichts geht durch Gedankenlosigkeit verloren, nichts wird grozgig verschenkt, nichts ist berflssig. Als Ganzes, wenn ich so sagen darf, steht es auf der Haben-seite. Mag es auch noch so kurz sein, es ist genug und bergenug, und deshalb wird der Weise, wann immer der letzte Tag da ist, ohne Zgern dem Tod mit festem Schritt entgegengehen. 12 Vermutlich mchtest du wissen, wen ich als ,vielbe-schftigt' bezeichne. Nun, du brauchst nicht zu glauben,

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    da ich nur die so nenne, die man aus dem Gerichtssaal erst hinauswerfen kann, wenn man Hunde auf sie hetzt, die entweder inmitten ihres eigenen Klientenschwarms fortgedrngt werden, was immerhin Aufsehen macht, oder im Gefolge eines anderen, was eher Schande bringt, dazu Leute, die ihre Verpflichtungen aus dem Haus treiben, damit sie an fremde Tren klopfen, und solche, die eine vom Prtor anberaumte Auktion in Atem hlt, aus schnder Profitgier, die sie eines Tages zerfrit nein: Bei manchen Leuten ist auch die Freizeit von Geschftigkeit erfllt. Auf ihrem Landgut oder gar im Bett, in tiefster Einsamkeit, lassen sie, obwohl sie sich von allem zurckgezogen haben, sich selbst keine Ruhe. Ihr Leben kann man nicht ,mig' nennen, sondern nur ,mige Betriebsamkeit'. Oder nennst du den mig, der Bronzen aus Korinth, die nur wegen der Verrcktheit von ein paar Leuten wertvoll sind, mit peinlicher Genauigkeit restauriert und den greren Teil des Tags ber ein paar Blechstckchen voller Grnspan verbringt? Oder den, der in der Ringschule herumsitzt zu unserer Schande plagen uns ja nicht einmal nur typisch rmische Laster und zuschaut, wie kleine Jungen sich balgen? Oder den, der aus seiner eigenen lglnzenden Ringertruppe nach Alter und Hautfarbe passende Paare heraussucht? Oder den, der die jmmerlichsten Sportler durchfttert? Und weiter: Nennst du die mig, die viele Stunden beim Friseur verbringen, whrend sie sich ausrupfen

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    lassen, was etwa in der letzten Nacht nachwuchs, whrend man ber jedes einzelne Haar eine Debatte erffnet, whrend man entweder zerzaustes Haar in Ordnung bringt oder schtteres von da und dort in die Stirn kmmt? Wie werden sie wtend, wenn der Meister etwas nachlssig war, des Glaubens, da er einen Mann rasierte! Wie erhitzen sie sich, wenn ein wenig von ihrer Mhne abgeschnitten wurde, wenn etwas nicht ordentlich liegen will, wenn nicht alles schn in Ringellckchen fllt! Wer von diesen Leuten mchte nicht lieber den Staat in Unordnung sehen als seine Frisur? Wer ist nicht ngstlicher auf seine Haarpracht bedacht als auf seine Gesundheit? Wer wre nicht lieber fein herausgeputzt als anstndig? Und die nennst du mig, die immerzu mit Kamm und Spiegel beschftigt sind? Doch wie steht's um jene, die sich mit dem Dichten, Anhren und Auswendiglernen von Liedern abgeben, wobei sie die Sprache, deren rechten Flu die Natur so schn und schlicht gestaltet hat, zu den abartigsten Koloraturen zwingen, Leute, deren Finger den Takt eines Lieds, das ihnen gerade durch den Kopf geht, stndig mitklopfen, Leute, die selbst bei ernsten, ja oft gar bei traurigen Anlssen eine leise Melodie vor sich hinsummen? Die kennen keine Mue, nur mige Geschftigkeit. Auch ihre Gelage mchte ich bei Gott nicht ihrer Freizeit zuschlagen, da ich ja sehe, wie penibel sie das

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    Tafelsilber aufstellen, wie sorgsam sie die Hemdchen ihrer Lustknaben hochgrten lassen, wie gespannt sie darauf sind, in welchem Zustand der Eber aus der Kche kommt, mit welchem Tempo auf ihr Kommando die glattrasierten Brschchen zum Servieren losspurten, mit welchem Raffinement das Geflgel in nicht zu groe Stcke zerlegt wird und wie sorgsam bedauernswerte junge Sklaven abwischen, was Betrunkene von sich gegeben haben. Mit all dem mchten sie in den Geruch von Feinheit und Lebensart kommen, und das hngt ihnen derart bis in die intimsten Lebensbereiche an, da sie weder trinken noch essen knnen, ohne dabei anzugeben. Nicht einmal jene solltest du zu den Geruhsamen zhlen, die sich in einem Tragstuhl oder einer Snfte da- und dorthin bringen lassen und fr ihre Ausflge, als ob sie davon nicht abgehen drften, eine bestimmte Tageszeit abwarten, Leute, die dann, wenn sie sich waschen, wenn sie schwimmen, wenn sie essen sollen, ein anderer darauf hinweist. Derart abgeschlafft sind solche Snobs, da sie von sich aus nicht feststellen knnen, ob es sie hungert. Da hre ich von einem dieser Genieer sofern man es einen Genu nennen darf, sich normaler Lebensge-wohnheiten zu entuern, er habe, als man ihn aus der Badewanne hob und in einen Sessel setzte, mit Nachdruck gefragt: Sitze ich schon?" Was meinst du: Kann so einem, der nicht wei, ob er sitzt, bewut sein, ob er lebt,

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    ob er was sieht, ob er Mue hat? Es fllt mir nicht leicht zu entscheiden, ob ich ihn mehr bedauern soll, wenn er's wirklich nicht wei oder wenn er nur so tut. Bei vielen Dingen verspren diese Leute ihre Verge-lichkeit, doch bei vielen schtzen sie sie auch nur vor; bestimmte Schwchen freuen sie, als bewiesen sie ihr Glck: nur zu einem ganz unbedeutenden und verchtlichen Menschen pat es ihrer Ansicht nach, zu wissen, was er tut. Geh nur und bilde dir ein, die Komdianten lieen sich lauter Lgen einfallen, um den Luxus anprangern zu knnen. Bei Gott, sie lassen mehr unerwhnt als sie erfinden, und eine solche Flle unglaublicher Entgleisungen ist in unserem nur dazu talentierten Jahrhundert vorgekommen, da wir den Komdianten bereits ihre Gleichgltigkeit vorwerfen knnen. Da gibt's doch einen, der in seinem Lotterleben so tief gesunken ist, da er es sich von einem anderen sagen lassen mu, ob er sitzt. Ein solcher Mensch lebt wirklich nicht geruhsam; fr seinen Zustand braucht man eine andere Bezeichnung: Krank ist er, oder besser: tot ist er! Geruhsam lebt nur, wer seine Ruhe auch empfindet. Unser Halbtoter aber, der einen Informanten ntig hat, um sich ber seine krperliche Lage klar zu werden, wie kann der je Herr seiner Zeit sein?

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    13 Die einzeln aufzuzhlen ginge zu weit, denen entweder er Spieltisch oder der Sportplatz oder das Bedrfnis, in der Sonne zu schmoren, das Leben unntz verrinnen lieen! Auch die leben nicht in Mue, deren Vergngen viel Unmue mit sich bringt. Denn bei denen hat niemand Zweifel daran, da sie mit Anstrengung nichts tun, die sich mit nutzloser Gelehrsamkeit abgeben und das sind auch in Rom schon eine ganze Menge. Aus Griechenland stammt dieser abartige Drang zu er-grnden, wieviele Ruderer Odysseus gehabt habe, ob die Ilias oder die Odyssee frher abgefat worden sei, ob beide vom gleichen Dichter stammten und noch mehr von der Art, das, sofern du es still fr dich behltst, dein Selbstbewutsein nicht hebt, sofern du es aber unter die Leute bringst, dich nicht gescheiter erscheinen lt, sondern nur ziemlich lstig. Sieh nur, auch ber die Rmer ist das nrrische Bedrfnis gekommen, Unntiges zu erlernen. Erst in den letzten Tagen hrte ich, wie einer darber referierte, welcher rmische Heerfhrer jeweils etwas zuerst getan habe. Als erster siegte in einer Seeschlacht Duilius, als erster fhrte Curius Dentatus im Triumph Elefanten mit. Immerhin hat dergleichen, wenn es auch keinen wahren Ruhm bringt, noch etwas mit den herausragenden Leistungen unserer Mitbrger zu tun. Nutzen bringt solches Wissen nicht, doch kann es unser Interesse wecken, und es beeindruckt, obwohl es wertlos ist.

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    So wollen wir den Forschern denn auch die Frage gestatten, wer die Rmer als erster dazu beredete, ein Schiff zu besteigen. Claudius war es, Caudex gerade deshalb zubenannt, weil ein Gefge aus mehreren Brettern bei den Alten caudex hie. Daher nennt man auch die in der ffentlichkeit aufgestellten Gesetzes-tafeln codices und bezeichnet nach altem Brauch die Schiffe, die auf dem Tiber Lebensmittel heranschaffen, als codicariae. Gewi gehrt auch das hierher, da Valerius Corvinus als erster Messina bezwang und als erster aus der Familie der Valerier, weil er sich den Namen der eroberten Stadt beilegte, Messana hie, aber im Lauf der Zeit Messalla genannt wurde, da das einfache Volk die Buchstaben durcheinanderbrachte. Man wird wohl auch Verstndnis dafr haben, wenn sich einer dafr interessiert, da Lucius Sulla als erster im Circus Lwen loslie, whrend man sie sonst nur angekettet zeigte, da ihm Knig Bocchus Speerwerfer geschickt hatte, um sie zu erlegen. Sogar dies mag noch hingehen. Aber da Pompeius als erster im Circus einen Kampf gegen achtzehn Elefanten zeigte und dazu, wie in einer Schlacht, Verbrecher antreten lie, ist das noch zu etwas gut? Der erste Mann im Staat, der unter den Groen von einst, wie die Rede geht, durch besondere Qualitten herausragte, hielt es fr ein denkwrdiges Schauspiel, Menschen auf unerhrte Weise umzubringen. Sie kmpfen um ihr

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    Leben. Zu wenig! Sie werden zerfleischt. Zu wenig! Sie sollen von den tonnenschweren Kolossen zertrampelt werden! Besser wre es gewesen, das in Vergessenheit geraten zu lassen, damit nicht spter ein Mchtiger davon erfhrt und es Pompeius mignnt, da nur er so Unmenschliches ausfhrte. Ach, wie schwer verblendet uns doch groes Glck! Jener glaubte sich damals ber die Weltordnung stellen zu drfen, als er scharenweise unglckliche Menschen den unter einem anderen Himmelsstrich geborenen Ungetmen vorwarf, als er Krieg zwischen so grundverschiedenen Wesen ent-fesselte, als er vor den Augen der Rmer viel Blut vergo, er, der sie selbst bald zwingen sollte, noch mehr zu vergieen! Doch derselbe Mann wurde spter in Alexandria treulos hintergangen und lie sich von einem ganz erbrmlichen Sklaven erstechen. Da wurde ihm endlich bewut, wie grundlos er den stolzen Beinamen der Groe" fhrte. Um aber darauf zurckzukommen, wovon ich abge-schweift bin, und um am gleichen Gegenstand die vllig berflssige Grndlichkeit mancher Forscher zu erweisen: Der eben zitierte Autor berichtete, Metellus habe im Triumph ber die auf Sizilien besiegten Karthager hundertzwanzig erbeutete Elefanten mitgefhrt, Sulla habe als letzter Rmer die heilige Stadtgrenze vorgeschoben, was nach altem Brauch nur geschah, wenn in Italien, aber nicht anderswo, Land gewonnen worden war. Das zu wissen, ist ntzlicher als

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    da der Aventin sich auerhalb des Stadtgebiets befindet, was derselbe Mann versichert, und zwar entweder aus dem Grund, weil sich dorthin die Plebs abgesetzt habe, oder aber deshalb, weil damals, als Remus an jenem Ort Vogelschau hielt, die Zeichen ungnstig waren. Darauf folgt gleich noch eine Unzahl weiterer Nachrichten die entweder voll von Lgen sind oder zumindest so klingen. Denn gesetzt, da diese Leute das alles in gutem Glauben erzhlen, gesetzt, da sie sich fr die Richtigkeit des Geschriebenen verbrgen wessen Irrtmer wird denn dergleichen verringern? Wessen Begierden wird es unterdrcken? Wen wird es tapferer, wen gerechter, wen freigiebiger machen? Er sei noch im Zweifel, sagte oft unser lieber Fabianus, ob es nicht besser sei, sich berhaupt nicht wissenschaftlich zu bettigen, als sich in derlei Studien zu verheddern. 14 Ganz allein die haben Mue, die ihre Zeit der Philo-sophie widmen. Sie allein leben. Denn nicht nur auf ihre eigene Lebenszeit haben sie wohl acht, sondern sie schlagen ihr noch die ganze Ewigkeit hinzu. Alle Jahre, die vergingen, bevor sie auf die Welt kamen, gehren ihnen. Wenn wir nicht ganz undankbar sind, so sind jene hochberhmten Begrnder heiliger Lehren fr uns geboren, haben unseren Lebensweg vorgezeichnet. Zu

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    den herrlichsten Dingen, die aus tiefem Dunkel ans Licht geholt wurden, fhrt uns die Mhe anderer. Von keinem Jahrhundert sind wir ausgeschlossen, zu allen haben wir Zutritt, und wenn wir uns ein Herz fassen und die engen Grenzen menschlicher Schwche hinter uns lassen wollen, so haben wir reichlich, um uns darin zu ergehen, Zeit. Debattieren darf man mit Sokrates, in Frage stellen mit Karneades, mit Epikur ein ruhiges Leben fhren, Menschenlos mit den Stoikern berwinden, mit den Kynikern Grenzen berschreiten. Da die Natur uns an der ganzen Vergangenheit Anteil gibt, warum sollten wir uns da nicht von der nichtigen und flchtigen Spanne unseres kurzen Lebens aus mit ganzem Herzen in das versenken, was unermelich, was ewig, was uns mit Besseren gemeinsam ist? Die Narren, die von Verpflichtung zu Verpflichtung hetzen, die sich und anderen die Ruhe rauben wenn die es so richtig toll getrieben, wenn sie durch aller mglichen Leute Vorzimmer tglich die Runde gemacht und keine offene Tr ausgelassen, wenn sie den unterschiedlichsten Husern ihre bezahlte Morgenvisite abgestattet haben: Wie viele Leute aus der unerme-lichen, in vielerlei Begierden verstrickten Stadt konnten sie sehen? Wie viele wird's geben, bei denen man sie abweist, weil sie entweder schlafen oder schlemmen oder Knauser sind? Wie viele, die an ihnen, wenn sie sie lange haben warten lassen, in gespielter Hast vorbeirennen?

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    Wie viele werden sich den Gang durch das von Klienten verstopfte Atrium ersparen und durch eine versteckte Tr entwischen, als ob es nicht noch unhflicher wre, jemanden zu tuschen als ihn auszusperren? Wie viele werden vom gestrigen Rausch noch schlaftrunken und verkatert sein und fr jene armen Kerle, die auf ihren Schlaf verzichteten, nur um zu warten, bis ein anderer ausgeschlafen hat, kaum die Lippen regen? Erst wenn man ihnen ihren Namen tausendmal zugeflstert hat, werden sie ihn mit unglaublicher Arroganz tonlos wiederholen. Die Leute haben sich unseres Erachtens die rechte Be-schftigung gesucht, und wir drfen es ruhig sagen, die tglich mit Zenon, mit Pythagoras, Demokrit und den brigen groen Gelehrten wie Aristoteles und Theo-phrast mglichst vertrauten Umgang pflegen mchten. Keiner von diesen wird unabkmmlich sein, keiner wird den, der zu ihm kommt, nicht glcklicher und mit sich selbst zufriedener ziehen lassen, keiner wird es hinnehmen, da jemand von ihm mit leeren Hnden fortgeht. In der Nacht, am Tag und fr jedermann sind sie zu sprechen. 15 Von diesen wird dich keiner zwingen zu sterben, aber alle werden es dich lehren; von diesen wird dich keiner um Jahre deines Lebens bringen, sondern die seinen

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    dazugeben. Keiner ist darunter, mit dem zu reden riskant ist, keiner, dessen Freundschaft dich ins Ver-derben strzt, keiner, den zu ehren viel Geld kostet. Du kannst von ihnen alles mitnehmen, was du willst; es ist nicht ihre Schuld, wenn sich dein hchster Wunsch nicht erfllt. Welche Seligkeit, welch herrliches Alter erwartet den, der sich unter ihren Schutz gestellt hat! Er hat Gesprchspartner, mit denen er Kleinigkeiten ebenso wie Hochwichtigem nachgehen und die er in eigener Sache tglich um Rat fragen kann, von denen er die Wahrheit ohne krnkende Schrfe, Lob ohne Schmeichelei hrt und nach deren Vorbild er sich formen kann. Gewhnlich sagen wir, wir htten uns unsere Eltern nicht aussuchen knnen; der Zufall habe sie uns gegeben. In Wirklichkeit ist unsere Abkunft unserer freien Entscheidung berlassen. Die edelsten Geister haben Familien: Such dir heraus, in welche du aufgenommen werden willst. Du bekommst durch die Adoption nicht nur einen neuen Namen, sondern gerade die Gter, die man nicht wie ein schmutziger Geizhals und Knauser zu hten braucht: Sie werden mehr, an je mehr Leute man sie austeilt. Sie machen dir zur Ewigkeit den Weg frei und erheben dich an jenen Ort, von wo niemand herabgestoen werden kann. Das ist die einzige Mglichkeit, das Leben eines Sterblichen zu verlngern, ja ihn unsterblich zu

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    machen. Alle Ruhmestitel und Denkmler, die ein ehrgeiziger Mensch sich zuerkennen lie oder aus Stein errichtete, sind schnell dahin; alles vernichtet und beseitigt in ihrem Lauf die Zeit. Aber den unsterblichen Schpfungen der Philosophie kann sie nicht schaden. Keine Generation wird sie abschaffen, keine ihnen Abbruch tun. Die folgende und jede weitere wird etwas zu ihrer Hochschtzung beitragen, da sich ja die Mi-gunst gegen das kehrt, was nahe liegt, whrend wir das Ferne uneingeschrnkt bewundern. Eines weisen Mannes Leben whrt also lang; nicht die gleiche Grenze wie anderen ist ihm gesetzt. Er allein ist frei von dem, was die Menschheit bindet. Alle Jahrhunderte stehen ihm wie einem Gott zu Gebote. Vorbei ist irgendeine Zeit? Er ruft sie sich in Erinnerung. Sie ist da? Er wei sie zu nutzen. Sie will erst kommen? Er nimmt sie in Gedanken schon vorweg. Lang wird sein Leben dadurch, da er alle Zeit in eins zusammenfat. 16 Dagegen ist deren Leben uerst kurz und unruhig, die Vergangenes vergessen, sich um die Gegenwart nicht kmmern und vor der Zukunft frchten. Wenn ihr letztes Stndchen kommt, erkennen die Bedauerns-werten zu spt, da sie so lange, ohne etwas zu tun, geschftig waren. brigens brauchst du nicht zu glauben, es lasse sich

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    daraus schlssig erweisen, da sie ein langes Leben fhren, weil sie manchmal nach dem Tod rufen. In ihrer Unwissenheit sind sie das Opfer von Stimmungs-schwankungen, die sie gerade dem entgegentreiben, was sie frchten. Den Tod wnschen sie sich oft deshalb, weil sie Angst vor ihm haben. Auch das erlaubt nicht den Schlu, sie lebten lange, weil ihnen ein Tag oft lang erscheint, so da sie sich, bis die verabredete Zeit der Abendeinladung kommt, ber den trgen Gang der Stunden beklagen. Denn wenn ihnen einmal die Beschftigungen ausgegangen und sie der Mue berlassen sind, dann werden sie nervs und verstehen es nicht, sie einzuteilen, um mglichst viel davon zu haben. Daher trachten sie nach irgendeiner Ablenkung, und alle Zeit, die inzwischen noch vergeht, ist ihnen zuwider bei Gott, genauso, wie sie, wenn der Tag fr einen Gladiatorenkampf bekanntgegeben ist oder sie bei irgendeinem anderen Spektakel oder Vergngen den verabredeten Zeitpunkt erwarten, die Tage dazwischen berspringen mchten. Wenn sie sich auf etwas Hoffnungen machen, ist jeder Aufschub lang. Aber die Zeit, an der sie Gefallen finden, ist kurz, vergeht rasch und wird noch betrchtlich krzer durch ihre eigene Schuld. Sie jagen nmlich von einem zum andern und knnen es bei einer einzigen Vergngung nicht lange aushalten. Die Tage sind ihnen nicht lang, sondern verhat; doch wie kurz kommen ihnen dagegen die Nchte vor, die sie in den Armen von

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    Huren oder beim Wein hinbringen. Daher kommt auch der verrckte Einfall der Dichter, die mit ihren Fabeleien dem Wahn der Menschen noch Vorschub leisten: Sie bilden sich ein, Jupiter habe, von Liebeslust gelockt, einer Nacht die doppelte Lnge gegeben. Was ist das anderes als ein Ansporn fr unsere Ausschweifungen, wenn man als deren Erfinder die Gtter nennt und eine krankhafte Leidenschaft durch gttliches Vorbild entschuldigt und entfesselt? Mssen diesen Leuten nicht ihre Nchte uerst kurz vorkommen, fr die sie einen so hohen Preis zahlen? Den Tag verlieren sie im Warten auf die Nacht, die Nacht in Angst vor dem Tageslicht. 17 Gerade im Genu sind sie hektisch und wegen unter-schiedlicher ngste voll Unruhe, und auf dem Hhepunkt der Lust drngt sich ihnen die bange Frage auf: Wie lange noch?" Aus einer solchen Stimmung heraus haben Knige ber ihre Macht geweint, und nicht die Gre ihres Glcks machte sie froh, sondern dessen irgendwann bevorstehendes Ende entsetzte sie. Als er in der gewaltigen Weite des Blachfelds sein Heer sich lagern lie und sich nicht seine Zahl, sondern sein Ausma vor Augen fhrte, vergo der bermtige Perserknig Trnen, weil in hundert Jahren von so vielen jungen Mnnern keiner mehr am Leben sein werde. Dabei war eben er, der weinte, im Begriff, sie ins

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    Verhngnis zu fhren und die einen auf dem Meer, die anderen auf dem Lande, wieder andere im Kampf oder auf der Flucht zu verlieren und innerhalb ganz kurzer Zeit die zu verderben, um deren hundertstes Jahr er sich sorgte. Ja, sogar die Freuden derartiger Leute sind angst-erfllt! Sie haben nmlich keinen festen Grund, sondern werden infolge derselben Einbildungen, aus denen sie erwachsen, auch getrbt. Wie beschaffen sind dann aber erst die Zeiten, die nach ihrem eigenen Eingestndnis leidvoll sind, wenn schon auf die, in denen sie sich brsten und ber Menschenha erheben, zu wenig Verla ist? Gerade die herrlichsten Gaben des Schicksals schaffen Unruhe, und keinem Glck darf man weniger fest trauen als dem allergrten. Weitere Erfolge sind ntig, um den Erfolg zu sichern, und gerade wenn Gebete erhrt wurden, mu man beten. Alles nmlich, was von ungefhr kommt, hat keinen Bestand; je hher es sich erhebt, um so nher ist es seinem Untergang. Nun freut aber niemanden, was vergehen wird; demnach mssen zwangslufig die ein ganz beklagenswertes, nicht nur ein uerst kurzes Leben fhren, die sich mit groer Plage das verschaffen, was sie sich mit noch grerer erhalten. Mhsam erlangen sie, was sie sich wnschen; ngstlich umklammern sie, was sie erlangten. Whrenddessen achten sie nicht auf die unwider-bringlich vergehende Zeit; neue Beanspruchungen treten

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    an die Stelle der alten, Hoffnung weckt Hoffnung, Ehrgeiz der Ehrgeiz. Man sucht nicht dem Elend ein Ende zu machen, es wechseln nur seine Grnde. Unsere Karriere hat uns keine Ruhe gelassen? Noch mehr Zeit kostet uns die anderer Leute. Die anstrengende Bewerbung um Staatsmter haben wir aufgegeben? Dafr versuchen wir uns nun als Wahlhelfer. Dem lstigen Geschft des Anklgers haben wir entsagt? Das des Richters fllt uns zu. Aus der Rechtsprechung hat der sich zurckgezogen? Untersuchungsrichter ist er jetzt. Bei der gewerbsmigen Verwaltung fremden Vermgens ist jener alt geworden? Jetzt lt ihn sein eigener Besitz nicht los. Den Marius drckt der Soldatenstiefel nicht mehr? Nun bringt ihn das Konsulat auf Trab. Cincinnatus will seine Amtszeit als Diktator rasch hinter sich bringen? Man wird ihn vom Pflug zurckrufen. Gegen die Punier zieht, noch zu jung fr ein solches Unternehmen, Cornelius Scipio, besiegt Hannibal, besiegt Antiochos, fhrt ruhmreich sein eigenes Konsulat und brgt fr das seines Bruders. Wrde er nicht selbst Einhalt gebieten, stellte man ihn neben Jupiter! Die eigenen Brger werden ihren Retter im Parteienkampf zermrben, und nachdem er als Jngling gttergleiche Ehren von sich wies, wird im Alter das freiwillige Exil sein Stolz und seine Freude sein. Niemals wird es im Glck oder im Unglck keinen Grund zur Besorgnis geben. Unter Belastungen wird

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    man durchs Leben gestoen, nie hat man Mue, immer wnscht man sie. 18 Trenne dich also von der Masse, mein lieber Paulinus, und zieh dich, schon rger umgetrieben, als es der Zahl deiner Jahre entsprche, endlich in einen ruhigeren Hafen zurck! Denk daran, mit welchen Fluten du schon gerungen, welche Strme du teils im eigenen Haus bestanden, teils in der ffentlichkeit auf dich gezogen hast. Hinreichend hat sich in leiderfllten, unruhevollen Zeiten deine Kraft erwiesen und bewhrt. Erprobe nun, was sie in der Mue leistet! Der grere Teil deines Lebens und gewi der bessere war der Politik gewidmet. Etwas von deiner Zeit nimm auch fr dich! Ich will dich nicht zu trger, tatenloser Ruhe verlocken, nicht dazu, da du im Schlaf und bei den Genssen, die die Masse liebt, alle deine Energien erlschen lt. ,Ausruhen' ist das nicht! Du wirst grere Aufgaben finden als die, die du schon tatkrftig erledigt hast. Mit ihnen kannst du dich in sicherer Zurckgezogenheit beschftigen. Du freilich fhrst die Rechnungsbcher eines Welt-reichs so uneigenntzig wie die eines anderen, so gewissenhaft wie deine eigenen, so penibel, als ob sie jedem offen lgen. In einem Amt erwirbst du dir Zu-neigung, in dem es schwerfllt, Anfeindungen zu

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    meiden, aber trotzdem, das darfst du mir glauben, ist's noch besser, ber sein eigenes Leben Rechenschaft ablegen zu knnen als ber die staatliche Getreidever-sorgung. Diese deine geistige Spannkraft, die den grten Aufgaben gewachsen ist, widme nicht weiter einem Amt, das zwar ehrenvoll ist, aber fr ein glckliches Leben nicht die rechten Voraussetzungen schafft, und bedenke, da du nicht deshalb von frhester Jugend an alle mglichen Studien getrieben hast, damit dir eine Unmenge Getreide guten Gewissens anvertraut werden kann. Etwas Greres und Hervorragenderes hatte man sich von dir erhoffen drfen. Es wird nicht fehlen an Leuten, die sparsam wirtschaften und hart arbeiten knnen. Erheblich besser geeignet, um Lasten zu schleppen, sind dumme Ochsen als stolze Pferde. Wer hat diesen edlen Rennern je eine schwere Brde auf-gelegt? Bedenke ferner, wieviel Unmue es mit sich bringt, wenn du dich einer so gewaltigen Aufgabe stellst. Du hast es mit dem Magen der Leute zu tun, und kein Argument beeindruckt, keine gerechte Entscheidung besnftigt, keine Bitte bestimmt das Volk, wenn es hungert. Vor ganz kurzer Zeit, in jenen paar Tagen, als Caligula umkam und wenn es in der Unterwelt noch so etwas wie Bewutsein gibt sich darber malos rgerte, da er abtreten mute, whrend das rmische Volk am

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    Leben blieb, war noch fr hchstens sieben oder acht Tage Getreide vorhanden. Whrend er Schiffsbrcken baute und die Staatsfinanzen verjubelte, war das eingetreten, was selbst fr Belagerte das rgste Unheil ist: Nahrungsmangel! Fast mit dem Hungertod der Bevlkerung und mit dem einer Hungersnot folgenden allgemeinen Zusammenbruch endete Caligulas Versuch, den wahnsinnigen, barbarischen, zu seinem Unglck berheblichen Knig Xerxes nachzuahmen. Was empfanden damals die Leute, denen die staatliche Getreideversorgung anvertraut war, als sie auf Steinwrfe, Schwertstreiche, Brandstiftung und auf Caligula gefat sein muten? Mit uerster Verstellungs-kunst suchten sie die nur Eingeweihten bekannte ble Lage geheimzuhalten, und zwar mit gutem Grund: Manche Krankheiten mssen nmlich ohne Wissen des Patienten behandelt werden. Fr viele war es die Todesursache, da sie ihr Leiden kannten. 19 Zieh dich also zu diesen ruhigeren, sichereren, wichti-geren Ttigkeiten zurck! Meinst du, es sei dasselbe, ob du dafr sorgst, da ohne Einbue durch Betrug oder Schlamperei der Lieferanten das Getreide in die Speicher kommt, da es nicht durch Nsse Schaden nimmt und sich erhitzt, da Ma und Gewicht stimmt, oder ob du dich den folgenden metaphysischen Fragen zuwendest:

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    Woraus besteht Gott, was ist sein Vergngen, was sein Beruf, wie seine Gestalt? Welches Schicksal erwartet deinen Geist? Wohin wird die Natur uns, wenn wir aus dem Leib entlassen sind, versetzen? Was ist es, das in dieser Welt gerade das Schwerste in der Mitte hlt, es ber Leichtem schweben und das Feuer ganz hoch hin-auf steigen lt? Was lenkt die Gestirne auf ihrer Bahn? Dazu noch alles andere, unsagbar wundervoll. Willst du die Erde hinter dir lassen und das im Geiste schauen? Jetzt, solange das Blut noch warm und man noch frisch ist, mu man sich auf den Weg zum Besseren machen. Dir steht bei solcher Lebensweise eine Flle edler Bettigungen bevor, du wirst Vollkommenheit erstreben und erfahren, Leidenschaften vergessen, zu leben und zu sterben wissen und in allem tiefe Ruhe finden. 20 Alle Geschftigen befinden sich demgegenber in einer blen Lage, und am belsten sind die dran, die sich nicht einmal mit eigenen Geschften plagen, sondern nur, wenn ein anderer schlft, auch schlafen und nach eines anderen Tritt die Fe setzen. Sogar Liebe und Ha, was sich am allerwenigsten erzwingen lt, wird ihnen anbe-fohlen. Sollten solche Leute wissen wollen, wie kurz ihr eigenes Leben sei, mssen sie berlegen, zu welchem Teil es das ihre ist.

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    Siehst du also, da einer schon oft die Amtstracht angelegt hat, da auf dem Forum sein Name in aller Munde ist, so neide es ihm nicht: Dergleichen gewinnt man unter Verlust an Lebenszeit. Damit ein einziges Jahr als ihr Konsulatsjahr unter ihrem Namen luft, opfern sie alle ihre Jahre auf. Manche muten, ehe sie das letzte Ziel ihres Ehrgeizes erreichten, noch whrend sie sich auf den ersten Stufen abmhten, das Leben lassen, manchen wurde, als sie sich zu hchster Wrde unter tausendfacher Entwrdigung hochgearbeitet hatten, deprimierend bewut, da sie sich nur fr ihre Grabschrift geplagt hatten. Manche lie ihr hohes Alter, whrend sie es, als wren sie noch jung, fr neue Hoffnungen verplanten, bei groen und malosen Vorhaben kraftlos im Stich. Ein garstiges Bild gibt der ab, dem, whrend er vor Gericht fr ihm ganz unbe-kannte Kontrahenten hochbetagt eintritt und es auf den Beifall einfltiger Zuhrer abgesehen hat, die Luft wegblieb, ein trauriges jener, der vom Leben rascher als von der Arbeit erschpft mitten unter seinen Ver-pflichtungen zusammenbrach, ein trauriges auch einer, den, whrend er sich auf dem Sterbebett noch Abrechnungen vorlegen lie, sein lang hingehaltener Erbe auslachte. Ich bringe es nicht fertig, ein Beispiel, das mir eben in den Sinn kommt, auszulassen: Turannius war ein ungewhnlich gewissenhafter alter Mann. Als dieser nach Vollendung des neunzigsten Lebensjahrs von seinem Amt als Prokurator durch Caligula entbunden worden war, ohne da er darum ge-

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    beten htte, lie er sich aufbahren und wie einen Toten von seinem Gesinde, das ihn umstand, beklagen. Da bejam-merte das ganze Haus den Ruhestand seines greisen Herrn und beendete die Trauer erst dann, als ihm sein aufreibendes Amt zurckgegeben war. Ist's eine solche Freude, im Dienst zu sterben? Dieselbe Einstellung findet man bei den meisten. Lnger haben sie Verlangen nach Arbeit als die Befhigung dazu. Sie kmpfen gegen ihre physische Schwche an und halten das Alter nur aus dem einen Grund fr beschwerlich, weil es sie in Pension schickt. Nach dem Gesetz wird man vom fnfzigsten Lebensjahr an nicht mehr zum Militr eingezogen, ab dem sechzigsten nicht mehr in den Senat berufen. Schwerer erwirken die Menschen von sich selbst den Ruhestand als vom Gesetz. Mittlerweile, whrend sie fortgerissen werden und fortreien, whrend einer des anderen Ruhe strt, whrend sie im Wechsel unglcklich sind, bleibt ihr Leben ohne Ertrag, ohne Freude, ohne irgendeine Form von geistigem Fortschritt. Niemand hat den Tod vor Augen, niemand macht sich keine weitreichenden Hoffnungen; manche planen sogar fr die Zeit nach ihrem Tod: gewaltige Gebirge von Grabmlern, Stiftungen von Bauten fr die Allgemein-heit, am Scheiterhaufen Gladiatorenkmpfe, ein aufwen-diges Leichenbegngnis. Dabei sollte ihre Bestattung, da sie ja nur ganz kurze Zeit gelebt haben, wahrhaftig wie ein Kinderbegrbnis im Schein von Fackeln und Kerzen erfolgen.