Skript zur Vorlesung Analysis 1...Skript zur Vorlesung Analysis 1 Wintersemester 2012/2013 Prof. Dr....

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Skript zur Vorlesung Analysis 1 Wintersemester 2012/2013 Prof. Dr. Benjamin Schlein Diese Notizen sind eine Zusammenfassung der Vorlesung “Analysis 1”, die ich im Wintersemester 2011-2012 an der Universit¨ at Bonn gehalten habe, und sie sind nur als Hilfsmittel f¨ ur die Studenten dieser Vorlesung gemeint. Die Notizen wurden aus verschiedenen Quellen zusammengestellt, z.B. aus den folgenden B¨ uchern: O. Forster. Analysis 1, Vieweg Verlag. S. Hildebrandt. Analysis 1, Springer Verlag. K. Knigsberger. Analysis 1, Springer Verlag. C. Blatter. Analysis 1, Springer Verlag. Inhaltsverzeichnis 1 Grundbegriffe 3 1.1 Logik ..................................... 3 1.2 Mengen .................................... 4 1.3 Funktionen .................................. 5 1.4 Relationen ................................... 7 2 Zahlen 9 2.1 Die nat¨ urlichen Zahlen ............................ 9 2.2 Die rationalen Zahlen ............................ 11 2.3 Die reellen Zahlen .............................. 13 2.4 Abz¨ ahlbare und ¨ uberabz¨ ahlbare Mengen .................. 17 2.5 Die komplexen Zahlen ............................ 20 2.6 Die Vektorr¨ aume R m ............................. 23 3 Konvergenz von Folgen 25 3.1 Konvergenz: Definition und elementare Eigenschaften ........... 25 3.2 Monotone Folgen, Limessuperior und Limesinferior ............ 30 3.3 aufungspunkte und Teilfolgen ....................... 32 3.4 Cauchy-Folgen ................................ 33 3.5 Uneigentliche Grenzwerte .......................... 34 4 Reihen 35 4.1 Definition und elementare Eigenschaften .................. 35 4.2 Konvergenzkriterien und Anwendungen .................. 37 4.3 Umordnungen von Reihen .......................... 44 4.4 Reihen mit abz¨ ahlbaren Indexmengen ................... 47 1

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Skript zur Vorlesung Analysis 1

Wintersemester 2012/2013

Prof. Dr. Benjamin Schlein

Diese Notizen sind eine Zusammenfassung der Vorlesung “Analysis 1”, die ich imWintersemester 2011-2012 an der Universitat Bonn gehalten habe, und sie sind nurals Hilfsmittel fur die Studenten dieser Vorlesung gemeint. Die Notizen wurden ausverschiedenen Quellen zusammengestellt, z.B. aus den folgenden Buchern:

• O. Forster. Analysis 1, Vieweg Verlag.

• S. Hildebrandt. Analysis 1, Springer Verlag.

• K. Knigsberger. Analysis 1, Springer Verlag.

• C. Blatter. Analysis 1, Springer Verlag.

Inhaltsverzeichnis

1 Grundbegriffe 31.1 Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31.2 Mengen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41.3 Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51.4 Relationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

2 Zahlen 92.1 Die naturlichen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92.2 Die rationalen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112.3 Die reellen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132.4 Abzahlbare und uberabzahlbare Mengen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172.5 Die komplexen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202.6 Die Vektorraume Rm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

3 Konvergenz von Folgen 253.1 Konvergenz: Definition und elementare Eigenschaften . . . . . . . . . . . 253.2 Monotone Folgen, Limessuperior und Limesinferior . . . . . . . . . . . . 303.3 Haufungspunkte und Teilfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323.4 Cauchy-Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333.5 Uneigentliche Grenzwerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

4 Reihen 354.1 Definition und elementare Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354.2 Konvergenzkriterien und Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374.3 Umordnungen von Reihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444.4 Reihen mit abzahlbaren Indexmengen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

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5 Metrische Raume 505.1 Konvergenz auf metrischen Raumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505.2 Offene und abgeschlossene Mengen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545.3 Kompaktheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

6 Stetigkeit 616.1 Definition und elementare Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . 616.2 Grenzwerte von Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646.3 Zwischenwertsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 686.4 Stetigkeit und Topologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 696.5 Stetige Funktionen auf kompakten Mengen . . . . . . . . . . . . . . . . 706.6 Funktionenfolgen und Stetigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

7 Potenzreihen und Elementarfunktionen 747.1 Potenzreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 757.2 Die Exponentialfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 777.3 Der Logarithmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 797.4 Hyperbolische Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807.5 Trigonometrische Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

8 Differentialrechnung 868.1 Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 868.2 Ableitungen und Optimierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 928.3 Mittelwertsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 928.4 Hohere Ableitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 958.5 Konvexitat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 978.6 Taylor Polynome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1008.7 Taylorreihen und analytische Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

9 Riemann’sches Integral 1119.1 Definition und elementare Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1119.2 Hauptsatz der Integralrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1219.3 Integrationsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1239.4 Integration von rationalen Funktionen: Partialbruchzerlegung . . . . . . 1259.5 Vertausch von Grenzubergang und Integral . . . . . . . . . . . . . . . . 1299.6 Uneigentliche Integrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

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1 Grundbegriffe

1.1 Logik

In der Mathematik versucht man die Wahrheit von Aussagen zu uberprufen.Axiom vom ausgeschlossenen Dritten: Jede Aussage ist entweder wahr oder falsch.Triviales Beispiel: die Aussage 1 > 0 ist wahr, die Aussage 1 > 2 ist falsch.Ein weniger triviales Beispiel: Die Aussage

a > b ⇒ a+ 1 > b+ 1

ist wahr, unabhangig von der Wahl der Zahlen a, b. Diese Aussage besagt nicht, ob a > bwahr ist; sie besagt nur, dass die Implikation wahr ist.

Fur zwei Aussagen A,B definieren wir die weitere Aussagen:

¬A ist die Verneigung von A

A ∧B ist die Aussage: A und B

A ∨B ist die Aussage: A oder B (oder beide)

A ⇒ B ist die Aussage: A impliziert B

A ⇐⇒ B ist die Aussage: A genau dann wenn B

Diese Aussagen werden durch die folgende Wahrheitstafel definiert (w steht fur wahr, ffur falsch)

A B ¬A A ∧B A ∨B A⇒ B A ⇐⇒ Bw w f w w w ww f f f w f ff w w f w w ff f w f f w w

Bemerke, noch einmal, dass die Wahrheit von A ⇒ B nichts uber die Wahrheit von Abesagt. Falls A falsch ist, so ist die Aussage A⇒ B immer wahr.

Satz 1.1. Es gelten die Aussagen

¬(A ∧B) ⇐⇒ ¬A ∨ ¬B¬(A ∨B) ⇐⇒ ¬A ∧ ¬BA⇒ B ⇐⇒ ¬B ⇒ ¬A .

Beweis. Betrachte verschiedene Falle.

Es werden oft Aussagen untersucht, die von einer Variablen abhangen. Z.B. die Wahrheitder Aussage

n+ 5 ≥ n2

fur n ∈ N, hangt von dem Wert von n ab. Die Aussage ist wahr fur n = 0, 1, 2, sie istfalsch fur n ≥ 3. Aussagen der Form A(n), die von einem Parameter n abhangen (im

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Beispiel n ∈ N, im Allgemeinen kann der Parameter in irgendeiner Menge sein) heissenAussagenformen.

Zur Formulierung von mathematischen Aussagen werden oft die Quantoren

∃ ≡ es existiert

∃! ≡ es existiert genau ein

∀ ≡ fur alle

benutzt. Z.B. die AussageA(x) ∀x ∈ R

trifft zu, falls die Aussageform A(x) wahr ist, fur alle x ∈ R. Die Aussage

∃x ∈ R : A(x)

trifft dagegen zu, falls ein x ∈ R existiert, so dass A(x) stimmt.

Bemerkung: Es gilt¬ (A(x) ∀x ∈ X) ⇐⇒ ∃x ∈ X : ¬A(x)

1.2 Mengen

Eine Menge ist eine ungeordnete Zusammenfassung von Elementen, Objekten. ZweiMengen sind gleich, wenn sie die selben Elemente enthalten. Man kann Mengen durchAngaben von allen Elementen oder durch eine Aussage definieren. Z.B.:

M = {0, 1, 2} oder M = {n ∈ N : n+ 5 > n2}

Besonderes Beispiel: ∅ bezeichnet die leere Menge, die kein Element enthalt.

Die Notation x ∈ A bedeutet, dass x Element der Menge A ist. Die Notation A ⊂ Bbedeutet, dass A eine Teilmenge von B ist. Diese Aussage trifft zu, falls

x ∈ A ⇒ x ∈ B

Beachte, dass A ⊂ B wahr ist, falls A = B. Bemerke auch, dass ∅ ⊂ A, fur alle MengenA. Ferner gilt

A = B ⇐⇒ A ⊂ B ∧ B ⊂ A

Konstruktion von Mengen: Seien A und B zwei Mengen. Dann definieren wir

A ∪B := {x : x ∈ A ∨ x ∈ B} = Vereinigung von A und B

A ∩B := {x : x ∈ A ∧ x ∈ B} = Durchschnitt von A und B

A\B := {x : x ∈ A ∧ x 6∈ B} = Differenz

A∆B := (A\B) ∪ (B\A) = Symmetrische Differenz

Sind alle Menge unter Betrachtung Teilmenge einer gemeinsame Menge X, so bezeichnenwir mit Ac := X\A das Komplement von A in X. Bemerke, dass

(A ∪B)c = Ac ∩Bc und (A ∩B)c = Ac ∪Bc

Diese Beziehungen werden als Morgan’sche Regeln bezeichnet.

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Definition 1.2. Sei M eine Menge. Dann bezeichnet

P (M) = {A : A ⊂M}

die Potenzmenge von M ; das ist die Menge aller Teilmengen von M . P (M) ist nie leer,weil sie immer die leere Menge enthalt. Manchmal wird P (M) auch mit 2M bezeichnet,weil, falls m <∞ die Anzahl Elementen in M bezeichnet, so enthalt P (M) 2m Elemente.

Beispiel: Sei M = {0, 1}. Dann gilt P (M) = {∅, {0}, {1}, {0, 1}}.

Fur zwei Mengen A,B, definieren wir das Produkt (oder das Kreuzprodukt) derMengen A und B als die neue Menge

A×B := {(x, y) : x ∈ A ∧ y ∈ B}

Elemente der Produktmenge A × B sind geordnete Paare (x, y) wobei x ∈ A und y ∈B. Zwei Paare (x1, y1) und (x2, y2) sind genau dann gleich, wenn x1 = x2 und y1 =y2. Bemerke, dass (1, 2) 6= (2, 1) (dagegen stimmen die zwei Mengen {1, 2} und {2, 1}uberein). Also A×B 6= B ×A. Bespiel:

R× R = {(x, y) : x ∈ R, y ∈ R}

ist die euklidische Ebene.

1.3 Funktionen

Definition 1.3. Seien M und N zwei Mengen. Eine Funktion f : M → N ist eineAbbildung, eine Vorschrift, die jedem m ∈M genau einen Wert f(m) ∈ N zuordnet. Mheisst der Definitionsbereich von f , N der Zielbereich. Die Bildmenge oder der Werte-bereich von f ist die Menge

Ran f ≡ f(M) = {f(m) : m ∈M}

und besteht aus allen Werten in N , die tatsachlich angenommen werden.

Ein einfaches Beispiel ist die Identitatsfunktion. Sei M eine Menge. Dann bezeichnetidM : M →M die Funktion idM (x) = x fur alle x ∈M .

Ein anderes Beispiel von Funktionen sind Folgen. Sei M eine Menge. Eine Folge aufM ist eine Abbildung f : N→M definiert auf der Menge der naturlichen Zahlen. Mankann eine Folge als eine strukturierte Liste von Elementen aus M interpretieren. Manbenutzt manchmal die Notation (fn)n∈N.

Sei nun f : M → N eine Funktion. Dann definieren wir fur X ⊂M , Y ⊂ N

f(X) = {f(x) ∈ N : x ∈ X} ≡ Bild von X

f−1(Y ) = {x ∈M : f(x) ∈ Y } ≡ Urbild von Y

Das definiert zwei Abbildungen φ1 : P (M)→ P (N) und φ2 : P (N)→ P (M) (φ1 bildetjede Teilmenge X ⊂ M in f(X) ⊂ N ab, φ2 bildet dagegen jede Teilmenge Y ⊂ Y inf−1(Y ) ab).

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Beispiel: Seien M = {1, 2, 3, 4, 5} und N = {1, 2, 3}. Wir definieren die Funktionf : M → N durch die Angaben f(1) = f(2) = f(4) = 1 und f(3) = f(5) = 2. fist wohldefiniert, weil jedem m ∈ M genau ein Wert zuordnet wird. Die Bildmenge istf(M) = {1, 2}. Weiter

f−1({1}) = {1, 2, 4}, f−1({2}) = {3, 5}, f−1({3}) = ∅

Gegeben Funktionen f : M → N und g : N → P so kann man die Verknupfungg ◦ f : M → P durch die Angabe

(g ◦ f)(x) = g(f(x))

definieren.

Satz 1.4. Die Verknupfung von Funktionen ist assoziativ, d.h.

f ◦ (g ◦ h) = (f ◦ g) ◦ h

Bemerkung: Die Verknupfung von Funktionen ist dagegen im Allgemeinen nicht kom-mutativ, d.h. f ◦ g 6= g ◦ f .

Definition 1.5. Eine Funktion f : M → N heisst surjektiv, falls f(M) = N , d.h. fallsZielbereich und Bildmenge ubereinstimmen und jeder Wert in N angenommen wird. fheisst injektiv, falls

f(x) = f(y) ⇒ x = y

f heisst bijektiv, falls f surjektiv und injektiv ist.

Ist f : M → N bijektiv, so

∀ n ∈ N ∃! m ∈M mit f(m) = n

Man kann also in diesem Fall eine neue Funktion durch f−1 : N →M durch die Angabe

f−1(n) = m falls f(m) = n

definieren. Die Funktion f−1 heisst die Inverse von f . Sie erfullt f ◦ f−1 = idM undf−1 ◦ f = idN (diese zwei Eigenschaften charakterisieren f−1 eindeutig). Beachte: DasUrbild f−1(Y ) einer Teilmenge Y ⊂ N ist immer wohldefiniert. Die inverse Funktionf−1 dagegen ist nur wohldefiniert, falls f bijektiv ist.

Sei f : M → N eine Funktion. Dann definiert

G(f) := {(x, f(x)) ∈M ×N : x ∈M}

den Graphen der Funktion f . Per Definition G(f) ⊂M ×N .

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1.4 Relationen

Definition 1.6. Sei M eine Menge. Eine Relation auf M ist eine Teilmenge R vonM ×M . Man schreibt x ∼ y oder x ∼R y und man sagt x sei in Relation mit y bezuglichR, falls (x, y) ∈ R.

Beispiel: Der Graph jeder Funktion f : M → M ist eine Relation. Graphen vonFunktionen sind spezielle Relationen mit der Eigenschaft, dass fur alle x ∈ M , (x, y) ∈G(f) genau fur ein y ∈M stimmt. Im Allgemeinen ist das fur Relationen nicht der Fall.

Eine wichtige Rolle spielen sogenannten Aquivalenzrelationen.

Definition 1.7. Sei M eine Menge. Eine Teilmenge R ⊂ M ×M heisst eine Aquiva-lenzrelation, falls:

i) x ∼R x fur alle x ∈M (R heisst in diesem Fall reflexiv).

ii) x ∼R y ⇒ y ∼R x, fur alle x, y ∈M (R heisst dann symmetrisch).

iii) x ∼R y und y ∼R z ⇒ x ∼R z, fur alle x, y, z ∈M (R heisst dann transitiv).

Beispiel: Sei M eine Menge. Dann ist R = {(x, x) : x ∈M} eine Aquivalenzrelation.

Definition 1.8. Sei R eine Aquivalenzrelation auf einer Menge M . Fur m ∈M definiertdann

[m] := {x ∈M : x ∼R m}

die Aquivalenzklasse von m. Ein beliebiges x ∈ [m] heisst ein Reprasentant der Aquiva-lenzklasse [m]. Wir definieren die Quotientenmenge von M bezuglich R als die Mengealler Aquivalenzklassen, d.h.

M/∼ = {[m] : m ∈M}

Satz 1.9. Sei R eine Aquivalenzrelation auf einer Menge M . Dann gilt

[x] ∩ [y] 6= ∅ ⇒ [x] = [y]

Es folgt, dass M =⋃

[m]∈M/∼[m] eine disjunkte Zerlegung von M definiert.

Eine andere Art von Relationen die in der Analysis eine sehr wichtige Rolle spielensind sogenannte Ordnungsrelationen.

Definition 1.10. Eine Relation R auf M heisst eine Ordnungsrelation, falls

i) x ∼R x fur alle x ∈M (reflexiv).

ii) x ∼R y und y ∼R z ⇒ x ∼R z fur alle x, y, z ∈M (transitiv).

iii) x ∼R y und y ∼R x ⇒ x = y fur alle x, y ∈M (identiv).

Ist R eine Ordnungsrelation, so schreiben wir x � y statt x ∼R y.

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Eine Menge M , versehen mit einer Ordnungsrelation �, heisst eine geordnete Menge.Eine Ordnung auf M heisst total, falls, fur alle x, y ∈M entweder x � y oder y � x gilt.

Beispiele: (R,≤) ist eine total geordnete Menge. Fur eine beliebige Menge M ist(P (M),⊂) eine geordnete, aber im Allgemeinen nicht total geordnete Menge.

Definition 1.11. Sei (M,�) eine geordnete Menge, A ⊂ M , A 6= ∅. m ∈ A heisstmaximal in A, falls

(x ∈ A) ∧ (m � x) ⇒ x = m

m ∈ A heisst minimal in A, falls

(x ∈ A) ∧ (x � m) ⇒ x = m

Bemerke, dass, im Allgemeinen, maximale und minimale Elemente weder existierennoch eindeutig sein mussen. Ist aber die Ordnung auf M total, so sind maximale undminimale Elemente, falls sie existieren, eindeutig. In der Tat, sind x1, x2 ∈ A zweimaximale Elemente von A ⊂ M fur eine total geordnete Menge M , so muss entwederx1 � x2 oder x2 � x1 gelten. Gilt x1 � x2, so finden wir durch Anwendung der Tatsache,dass x1 maximal ist, x2 = x1. Gilt dagegen x2 � x1, so folgt aus der Maximalitat vonx2, dass x1 = x2. Also x1 = x2 muss auf jedem Fall gelten. Analog kann man dieEindeutigkeit von minimalen Elementen zeigen.

Definition 1.12. Sei (M,�) eine geordnete Menge, A ⊂M , A 6= ∅. m ∈M heisst eineobere Schranke fur A, falls x � m fur alle x ∈ A. m ∈M heisst eine untere Schranke furA, falls m � x fur alle x ∈ A. Die Menge A heisst nach oben (bzw. unten) beschrankt,falls eine obere (bzw. untere) Schranke existiert.

Bemerke, obere und untere Schranken fur eine Menge A, im Gegensatz zu maximalenund minimalen Elementen, mussen nicht in der Menge A enthalten sein.

Sei nun (M,�) eine total geordnete Menge und A ⊂M eine nach oben beschrankteMenge. Sei

B = {x ∈M : x ist obere Schranke fur A}

Nach Voraussetzung B 6= ∅. Enthalt B ein minimales Element x ∈ B, so heisst xdas Supremum von A und wird mit x = supA bezeichnet. Aus der Eindeutigkeit vonmaximalen und minimalen Elementen (in total geordneten Mengen), erhalten wir, dassdas supA, falls es existiert, eindeutig ist. Im Allgemeinen muss das Supremum x = sup Anicht zur Menge A gehoren (per Definition gehort supA zur Menge der obere Schrankenvon A). Gehort x = supA zu der Menge A, dann heisst x das Maximum von A undwird mit maxA bezeichnet.

Analog kann man das Infimum von A, bezeichnet mit inf A, als die grosste untereSchranke von A definieren. Ist inf A ∈ A, so heisst inf A das Minimum von A, bezeichnetmit minA.

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2 Zahlen

2.1 Die naturlichen Zahlen

Wir kennen die naturlichen Zahlen vom Zahlen. Alle Eigenschaften der naturlichen Zah-len lassen sich aus der Nachfolge-Abbildung ν(n) = n+ 1 herleiten. Das ist die Idee derPeano-Axiome, die die Einfuhrung der naturlichen Zahlen formalisieren.

Definition 2.1 (Peano Axiome). Die naturlichen Zahlen bilden eine Menge N mit einemausgezeichneten Element 0 und mit einer Abbildung ν : N → N mit den folgendenEigenschaften:

P1) ν ist injektiv und 0 6∈ Ran ν.

P2) Prinzip der vollstandigen Induktion: Ist A ⊂ N, s.d. 0 ∈ A und, s.d.

n ∈ A ⇒ ν(n) ∈ A

so ist A = N.

Die Zahlen ν(0), ν(ν(0)), . . . werden als 1, 2, . . . bezeichnet.

Alle Eigenschaften von N lassen sich aus den Peano-Axiomen herleiten. Z.B. konnenwir auf N eine Ordnung definieren: Wir sagen k ≤ m, falls m = k oder falls m durchwiederholte Anwendung von ν auf k erreicht werden kann. Es ist einfach, sich zu uber-zeugen, dass dann ≤ eine (totale) Ordnungsrelation definiert. Aus den Axiomen folgt,dass 0 ≤ n, ∀n ∈ N. Auch die Summe auf N lasst sich durch wiederholte Anwendungvon der Abbildung ν definieren.

Satz 2.2 (Wohlordnungsprinzip). Jede nicht leere Teilmenge M ⊂ N hat ein Minimum.

Beweis. Wir betrachten die Menge

A = {k ∈ N : k ≤ m, ∀m ∈M}

der unteren Schranken von M . Wir wissen, dass 0 ∈ A, weil 0 ≤ m, ∀m ∈ N. AusAnnahme wissen wir, dass M nicht leer ist; d.h. ∃m0 ∈M . Dann gilt m0 + 1 6∈ A. AlsoA 6= N. Das Prinzip der vollstandigen Induktion besagt, dass

A 6= N ⇒ (0 6∈ A) ∨ ¬((n ∈ A) ⇒ (n+ 1) ∈ A)

Da aber 0 ∈ A, erhalten wir

¬((n ∈ A) ⇒ (n+ 1) ∈ A) ⇐⇒ ∃n0 ∈ A : (n0 + 1) 6∈ A

Wir behaupten nun, n0 ist das gesuchte Minimum von M . Um diese Behauptung zuzeigen, bemerken wir, dass

(n0 + 1) 6∈ A ⇒ ∃p ∈M : p < n0 + 1 ⇐⇒ ∃p ∈M : p ≤ n0

Da aber n0 ∈ A, muss n0 ≤ p. Also n0 = p ∈ M . Das impliziert, dass k ≤ n0 fur allek ∈ A. D.h. n0 ist ein maximales Element von A. D.h. n0 = inf M . Da n0 ∈M ist alson0 = minM .

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Die Peano-Axiome liefern eine nutzliche Methode, um die Wahrheit von Aussagenformenuber N zu beweisen.

Proposition 2.3 (Induktiver Beweis). Es sei A(n) eine Aussageform uber N. TrifftA(0) zu und gilt die Aussage

A(n) ⇒ A(n+ 1) fur alle n ∈ N

so trifft A(n) fur alle n ∈ N zu.

Beweis. Sei B = {n ∈ N : A(n) trifft zu}. Wegen (P2) folgt aus

(0 ∈ B) ∧ (n ∈ B ⇒ (n+ 1) ∈ B) ,

dass B = N.

Der Beweis von A(0) heisst die Induktionsverankerung. Der Beweis der ImplikationA(n)⇒ A(n+ 1) ist der Induktionschritt.

Verallgemeinerungen: Induktive Beweise konnen auch mit n = n0 > 0 beginnen.D.h. es gilt:

A(n0) ∧ (A(n) ⇒ A(n+ 1) fur alle n ≥ n0) ⇒ A(n) fur alle n ≥ n0

Bei dem Induktionsschritt kann man auch die Gultigkeit aller Aussagen A(k) fur k ≤ nannehmen. D.h.

A(0) ∧ (A(0) ∧ · · · ∧A(n) ⇒ A(n+ 1) fur alle n ∈ N) ⇒ A(n) fur alle n ∈ N

Beispiele:

• Fur n ≥ 1 sei A(n) die Aussage, dass

1 + 3 + 5 + · · ·+ (2n− 1) = n2

Um A(n) fur alle n ∈ N zu zeigen, genugt es zu bemerken, dass A(1) zutrifft unddass A(n) ⇒ A(n + 1) fur alle n ∈ N zutrifft. Die Verankerung ist klar. Um denSchritt zu zeigen, nehmen wir an, dass A(n) zutrifft und wir zeigen A(n+1). Dazubemerken wir, dass

1+3+· · ·+(2(n+1)−1) = 1+3+· · ·+(2n−1)+(2n+1) = n2+(2n+1) = (n+1)2

wobei wir die Annahme A(n) in der zweite Gleichheit benutzt haben.

• Wir behaupten, jedes n ∈ N kann als Produkt von Primzahlen geschrieben werden.Um diese Behauptung zu beweisen, definieren wir fur n ∈ N\{0}, A(n) als dieAussage, dass n als Produkt von Primzahlen geschrieben werden kann. A(1) trifftoffenbar zu (weil 1 eine Primzahl ist). Wir nehmen nun an, dass A(1)∧ · · · ∧A(n)zutrifft (d.h., dass A(k) fur alle k ≤ n zutrifft) und wir zeigen, dass A(n + 1)zutrifft. Dazu unterscheiden wir zwei Falle: Ist (n+ 1) eine Primzahl, so sind wirfertig. Ist dagegen (n+ 1) keine Primzahl, so existieren p, q ∈ N mit n+ 1 = p · q.Da aber p, q < n sind, folgt aus der Induktionsannahme, dass p und q als Produktvon Primzahlen faktorisiert werden konnen. Aus n + 1 = p · q konnen wir dannauch n als Produkt von Primzahlen schreiben.

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Das Prinzip der vollstandigen Induktion kann man benutzen, um induktive (oder re-kursive) Definitionen zu formulieren. n!, gennant n Fakultat, wird als die Multiplikationaller ganzen Zahlen zwischen 1 und n definiert, d.h.

n! = 1 · 2 · 3 · · · · · n

mit der Konvention, dass 0! = 1. Dieselbe Grosse kann man auch induktiv wie folgtdefinieren: Man setzt 0! = 1 und (n+ 1)! = (n+ 1) · n! fur alle n ∈ N. D.h., (n+ 1)! istdurch Verwendung von n! definiert, n! durch Verwendung von (n−1)!, usw. Die Tatsache,dass in dieser Weise n! wirklich fur jede n ∈ N definiert wird, ist eine Folgerung aus demPrinzip der vollstandigen Induktion.

Proposition 2.4 (Rekursive Definitionen). Sei S eine Menge (im Beispiel oben S = N)und s0 ∈ S (im Beispiel s0 = 1). Fur jedes n ∈ N sei Fn : S → S eine Funktion(oben Fn(m) = (n + 1) · m). Dann existiert genau eine Funktion f : N → S mit denEigenschaften f(0) = s0 und f(n+ 1) = Fn(f(n)) (im Beispiel f(n) = n!).

Z.B. fur eine Folge (an)n∈N mit Werten in irgendeiner Menge, wo eine Additiondefiniert ist, definieren wir die Summe

∑nj=0 aj fur alle n ∈ N durch die rekursive

Definition0∑j=0

aj := a0 und

n+1∑j=0

aj :=

n∑j=0

aj + an+1

Ahnlich fur eine Folge (aj)j∈N mit Werten in irgendeiner Menge, wo eine Multiplikationdefiniert ist, definieren wir

∏nj=0 aj durch die rekursive Definition

0∏j=0

aj := a0 undn+1∏j=0

aj :=n∏j=0

aj · an+1

2.2 Die rationalen Zahlen

Problem bei den naturlichen Zahlen: Summe und Multiplikation konnen im Allgemeinennicht invertiert werden. Gegeben n,m ∈ N ist es i.A. nicht moglich, x, y ∈ N mitn = m+ x und n = m · y zu finden. Aus diesem Grund erweitert man die Menge N undbetrachtet grossere Zahlensysteme.

Man fuhrt zunachst die Menge der ganzen Zahlen Z = {. . . ,−2,−1, 0, 1, 2, . . . } ein.Auf Z ist die Summe invertierbar. Die Multiplikation ist aber immer noch nicht inver-tierbar. So geht man weiter und fuhrt die Menge der rationalen Zahlen Q ein.

Damit man auf Q die Multiplikation invertieren kann, muss Q Zahlen der Form p/qfur alle p ∈ Z und q ∈ Z\{0} enthalten (x = p/q bezeichnet die Losung der Gleichungp = x ·q). Man konnte also uberlegen, Q als den Kreuzprodukt Z× (Z\{0}) einzufuhren.Das Problem damit ist aber, dass die Darstellung p/q nicht eindeutig ist (weil z.B. dieGleichungen p = xq und 2p = x2q die selbe Losung haben). Das bedeutet, wir musseneinige Elemente in Z× (Z\{0}) miteinander identifizieren. Auf der Menge Z× (Z\{0})definieren wir dazu die Relation

(p1, q1) ∼ (p2, q2) :⇐⇒ p1 · q2 = p2 · q1

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Es ist einfach zu uberprufen, dass ∼ eine Aquivalenzrelation definiert. Die Aquivalenz-klasse

[(p, q)] = {(r, s) ∈ Z× (Z\{0}) : rq = sp}

enthalt genau alle Paare (r, s) mit der Eigenschaft p/q = r/s, also alle Paare, die dieselberationale Zahl darstellen sollen. Deswegen definieren wir

Q = (Z× (Z\{0}))/∼ = {[p/q] : p ∈ Z, q ∈ Z\{0}}

Auf Q kann man dann eine Ordnung sowie eine Addition, eine Multiplikation, eineSubtraktion (die Inverse der Addition) und eine Division (die Inverse der Multiplikation)definieren. Alle bekannten Rechenregeln in Q werden dann aus dem folgenden Theoremzusammengefasst.

Theorem 2.5. Q ist ein geordneter Korper.

Das Theorem werden wir nicht beweisen, aber wir wollen zumindest seine Bedeutungerklaren.

Definition 2.6. Eine Menge K, versehen mit einer Addition + : K×K → K und einerMultiplikation · : K ×K → K heisst ein Korper, falls:

A1) x+ y = y + x ∀ x, y ∈ K (Kommutativitat).

A2) x+ (y + z) = (x+ y) + z ∀ x, y, z ∈ K (Associativitat).

A3) ∃ 0 ∈ K (Null) mit x+ 0 = x ∀ x ∈ K (Existenz eines neutralen Elements).

A4) ∀ x ∈ K ∃ y ∈ K mit x+ y = 0.

M1) x · y = y · x, ∀ x, y ∈ K (Kommutativitat).

M2) x · (y · z) = (x · y) · z ∀ x, y, z ∈ K (Associativitat).

M3) ∃ ein Element 1 6= 0 so dass x ·1 = x ∀ x ∈ K (Existenz eines neutrales Elements).

M4) ∀x 6= 0 ∃y ∈ K mit x · y = 1 (Existenz der Inverse).

D) x · (y + z) = x · y + x · z, ∀x, y, z ∈ K (Distributivitat).

Bemerkungen:

• Die neutralen Elemente sind eindeutig. Gibt es in der Tat 0, 0′ ∈ K mit a+ 0 = aund a+ 0′ = a fur alle a ∈ K, so gilt insbesondere 0′ + 0 = 0′, 0 + 0′ = 0. Aus derKommutativitat folgt, dass 0 = 0′ (ahnlich ist 1 eindeutig).

• Fur beliebige x ∈ K ist die additive Inverse eindeutig. Existieren in der Tat y1, y2 ∈K mit x+ y1 = x+ y2 = 0, so muss

y1 = y1 + 0 = y1 + (x+ y2) = (y1 + x) + y2 = (x+ y1) + y2 = 0 + y2 = y2

Die eindeutige y ∈ K mit x+y = 0 bezeichnet man mit −x. Fur beliebige a, b ∈ Kdefinieren wir dann die Subtraktion a− b := a+ (−b).

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• Ahnlich zeigt man die Eindeutigkeit der multiplikativen Inverse zu jeder x ∈K\{0}. Die eindeutige multiplikative Inverse zu x ∈ K\{0} bezeichnet man mit1/x. Fur beliebige a, b ∈ K, mit b 6= 0 definieren wir dann die Division a/b =a · (1/b).

• Die Rechenregeln −(−a) = a, 1/(1/a) = a (fur a 6= 0), 0 · a = 0, (−1) · a = −a,(−1) · (−1) = 1, a · (b− c) = ab− ac, a · b = 0⇒ a = 0 ∨ b = 0 folgen alle aus denAxiomen von Korpern.

Definition 2.7. Ein geordneter Korper ist ein Korper K, versehen mit einer totalenOrdnung, bezeichnet mit ≤, mit folgenden Kongruenzeigenschaften

O1) a ≤ b ⇒ a+ c ≤ b+ c, fur alle a, b, c ∈ K.

O2) (a ≤ b) ∧ (0 ≤ c) ⇒ ac ≤ bc, fur alle a, b, c ∈ K.

Die Notation a ≥ b bedeutet b ≤ a, a < b bedeutet a ≤ b und a 6= b, a > b bedeutet b < a.

Die folgenden bekannten Rechenregeln fur Ungleichungen folgen aus den Axiomenvon geordneten Korpern (Beweis: Ubung). Seien a, b, c ∈ K. Dann

• a ≤ b ⇐⇒ a+ c ≤ b+ c.

• a < b ⇐⇒ a+ c < b+ c.

• a < b ⇐⇒ 0 < b− a. Insbesondere a < 0 ⇐⇒ 0 < −a.

• a > 0 ∧ b > 0 ⇒ ab > 0.

• a 6= 0 ⇒ a2 > 0.

• 1 > 0.

• a > 0 ⇒ 1/a > 0.

Auf geordneten Korpern kann man den absoluten Betrag

|a| :={a falls a ≥ 0−a falls a < 0

definieren. Aus der Rechenregel folgt, dass |a| ≥ 0 fur alle a ∈ K.Aus Theorem 2.5 folgt, dass alle beschriebenen Rechenregeln auf Q gelten.

2.3 Die reellen Zahlen

Auf Q sind Addition und Multiplikation invertierbar. Das bedeutet, es ist immer moglichauf Q lineare Gleichungen zu losen. Mit anderen Worten, fur beliebige a ∈ Q\{0} undb ∈ Q gibt es genau eine Losung x ∈ Q der Gleichung ax + b = 0. Schon bei quadra-tischen Gleichungen ist aber die Lage mit rationalen Zahlen nicht so befriedigend, wiebei linearen Gleichungen.

Satz 2.8.√

2 6∈ Q, d.h. es existiert keine x ∈ Q mit x2 = 2.

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Beweis. Der Satz wird durch Widerspruch bewiesen. Wir nehmen an, es existiert x ∈ Qmit x2 = 2. Dann existiert q ∈ N\{0} mit q · x ∈ Z. Setze

M = {q ∈ N\{0} : q · x ∈ Z}

Da M 6= ∅, impliziert das Wohlordnungprinzip (Satz 2.2), dass M ein Minimum hat.Sei g ∈M das minimale Element und p = g ·x ∈ Z. Dann gilt x = p/g. Die Minimalitatvon g impliziert, dass p und g Teilerfremde sind. Es gilt

2 = p2/g2 ⇒ p2 = 2g2

Das impliziert, dass p2 gerade ist. Deswegen muss auch p gerade sein (weil (2n+ 1)2 =4n2 + 4n+ 1 immer ungerade ist). Das bedeutet, dass ein m ∈ Z mit p = 2m existiert.Dann

4m2 = (2m)2 = p2 = 2g2 ⇒ g2 = 2m2

Also ist auch g gerade. Das ergibt einen Widerspruch zu der Tatsache, dass g, p teiler-fremd sind (oder, aquivalent, ein Widerspruch zur Minimalitat von g in M).

Die rationalen Zahlen haben also bei√

2 eine “Lucke”. Es ist einfach, sich zu uber-zeugen, dass die rationalen Zahlen viele Lucken haben. Wegen dieser Lucken gibt esSchwierigkeiten mit Q. Eine erste Schwierigkeit ist, dass einfache quadratische Glei-chungen, wie x2 = 2 (und viele Gleichungen hoherer Ordnung) keine Losung haben.Ausser dieser algebraischen Schwierigkeit gibt es auch analytische Schwierigkeiten mitden rationalen Zahlen; wir werden sie diskutieren, wenn wir den Begriff von Konvergenzvon Folgen betrachten werden. Es gibt also mehrere Grunde, um die rationalen Zahlenzu erweitern und die “Lucken” zu fullen. Dazu fuhren wir die reellen Zahlen ein.

Definition 2.9. Eine totalgeordnete Menge (M,�) heisst ordnungsvollstandig, falls diefolgende Bedingung erfullt ist: Sind A,B ⊂M mit a � b fur alle a ∈ A und b ∈ B, dannexistiert c ∈M mit a � c fur alle a ∈ A und c � b fur alle b ∈ B.

Bemerkung: Q ist nicht ordnungsvollstandig. Mit A = {x ∈ Q : x > 0 und x2 < 2} undB = {x ∈ Q : x > 0 und x2 > 2}, existiert kein c ∈ Q mit a ≤ c ≤ b fur alle a ∈ A undb ∈ B. Wurde so ein c existieren, dann ware c =

√2.

Satz 2.10. Es existiert ein ordnungsvollstandig geordneter Korper und dieses Objekt isteindeutig bis auf den Isomorphismus.

In Satz 2.10 bedeutet der Ausdruck “eindeutig bis auf den Isomorphismus”, dass falls(K1,+1, ·1,≤1) und (K2,+2, ·2,≤2) zwei ordnungsvollstandig geordnete Korper sind, somussen sie isomorph sein. Zwei geordnete Korper (K1,+1, ·1,≤1), (K2,+2, ·2,≤2) heissenisomorph, falls eine Bijektion φ : K1 → K2 existiert, mit

φ(a+1 b) = φ(a) +2 φ(b), φ(a ·1 b) = φ(a) ·2 φ(b), a ≤1 b ⇒ φ(a) ≤2 φ(b)

D.h. falls eine Bijektion φ existiert, die alle relevanten Strukturen von K1 auf den ent-sprechenden Strukturen auf K2 abbildet.

Wir werden in der Vorlesung Satz 2.10 nicht beweisen. Ein Beweis kann zB. in demBuch von Blatter gefunden werden.

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Definition 2.11. Wir bezeichnen mit R den eindeutig ordnungsvollstandig geordnetenKorper.

Bemerkung: Man kann N, Z und Q mit Teilmengen von R identifizieren. Aus den Korpe-raxiomen folgt in der Tat die Existenz von 0, 1 ∈ R. Durch wiederholte Anwendung derAddition mit 1 bekommt man dann N ⊂ R. Aus der Existenz der additiven Inversenfolgt die Existenz von Z ⊂ R. Aus der Existenz der multiplikativen Inverse folgt danndie Existenz von Q ⊂ R. Die Ordnung auf R ist aus den Axiomen der geordneten Korper(siehe Def. 2.7) mit der Ordnung auf Q vertraglich (und damit auch mit der Ordnungauf N und Z).

Seien a, b ∈ R, mit a < b. Wir benutzen die Notationen

(a; b) = {x ∈ R : a < x < b}[a; b] = {x ∈ R : a ≤ x ≤ b}(a; b] = {x ∈ R : a < x ≤ b}[a; b) = {x ∈ R : a ≤ x < b}

Proposition 2.12 (Supremumprinzip). Jede nicht leere nach oben beschrankte Teil-menge A ⊂ R hat ein Supremum.

Beweis. Sei A ⊂ R nicht leer und nach oben beschrankt. Sei

B = {b ∈ R : a ≤ b fur alle a ∈ A} = {Menge aller oberen Schranken von A}

Dann gilt a ≤ b fur alle a ∈ A und alle b ∈ B. Die Ordnungsvollstandigkeit von Rimpliziert, dass c ∈ R mit a ≤ c ≤ b fur alle a ∈ A, b ∈ B existiert. c ≥ a fur allea ∈ A bedeutet, dass c eine obere Schranke von A ist, d.h. c ∈ B. c ≤ b fur alle b ∈ Bimpliziert, dass c ein minimales Element von B ist. Das bedeutet, dass c = sup A.

Ahnlich hat jede nach unten beschrankte Teilmenge von R ein Infimum. Um Supremazu berechnen, ist das folgende Kriterium oft wichtig.

Proposition 2.13. Sei A ⊂ R nicht leer und nach oben beschrankt. Dann ist s = sup Agenau dann, wenn a ≤ s fur alle a ∈ A und ∀ ε > 0 existiert ein a ∈ A mit s−ε < a ≤ s.

Beweis. Sei s = sup A. Dann ist s eine obere Schranke von A, und also a ≤ s fur allea ∈ A. Wir behaupten nun, dass ∀ ε > 0 existiert a ∈ A mit s− ε < a ≤ s. Wenn nicht,so wurde ε > 0 existieren, s.d. a ≤ s − ε fur alle a ∈ A. Dann ware s − ε eine obereSchranke fur A, in Widerspruch zur Tatsache, dass s die kleinste obere Schranke ist.

Nehmen wir nun an, dass fur alle a ∈ A a ≤ s und dass ∀ε > 0 ein a ∈ A mits − ε < a ≤ s existiert. Wir behaupten, dass s = sup A. Die Bedingung a ≤ s furalle a ∈ A impliziert, dass s eine obere Schranke ist. Wir mussen noch zeigen, dass sdie minimale obere Schranke ist. Nehmen wir an, es existiert eine obere Schranke t < s.Dann gilt a ≤ t und deswegen auch a ≤ s−(s−t) fur alle a ∈ A. Setzen wir ε = s−t > 0,so existiert kein a ∈ A mit s− ε < a, in Widerspruch zur Annahme.

Ein ahnliches Kriterium gilt naturlich auch fur das Infimum. Wir benutzen die No-tationen sup A = +∞, falls A nach oben unbeschrankt ist und inf A = −∞, falls Anach unten unbeschrankt ist. Weiter schreiben wir sup ∅ = −∞ und inf ∅ = +∞.

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Satz 2.14 (Archimedes Prinzip). N ⊂ R ist nach oben unbeschrankt.

Beweis. Nehmen wir an, N ⊂ R ist nach oben beschrankt. Sei s = sup N. Dann existiertfur jeden ε > 0 n ∈ N mit s− ε < n ≤ s. Insbesondere, fur ε = 1 finden wir s− 1 < n,d.h. s < n+ 1, in Widerspruch zu der Tatsache, dass s = sup N.

Korollar 2.15. Fur alle ε > 0 existiert n ∈ N\{0} mit

0 < 1/n < ε

Proposition 2.16. Sei x ∈ R. Dann ∃!n ∈ Z mit n ≤ x < n+ 1.

Beweis der Existenz. Nehmen wir zunachst an x ≥ 0. Sei M = {j ∈ N : j > x}. Dannist M 6= ∅. Wir setzen m = min {j ∈ N : j > x}. Es gilt x < m, und deswegen m ≥ 1.Also m − 1 ∈ N und (m − 1) 6∈ M (sonst ware m nicht das Minimum). Es folgt, dassx ≥ (m− 1). Den Fall x < 0 kann man ahnlich behandeln.

Proposition 2.17. Seien x, y ∈ R, mit x < y. Dann existiert r ∈ Q mit x < r < y.

Beweis. Sei q ∈ N\{0} mit 0 < 1/q < (y − x). Dann ist qy > qx + 1. Sei nun p ∈ Zmit (p − 1) ≤ qx < p. Dann ist qy > (p − 1) + 1 = p. Das bedeutet, dass qx < p < qy.Division mit q gibt x < (p/q) < y.

Bemerkung: Es folgt aus Prop. 2.17, dass fur jedes x ∈ R und ε > 0 ein r ∈ Q mit|x− r| < ε existiert. Man sagt deswegen, dass Q dicht in R liegt.

Bemerkung: Gilt x < y, so existieren unendlich viele r ∈ Q zwischen x, y ∈ R. Man kannnamlich x < · · · < r3 < r2 < r1 < y rekursiv definieren.

Nun kommen wir zuruck zur Frage, die die Einfuhrung von R motivierte.

Proposition 2.18. Es existiert c ∈ R, c > 0, mit c2 = 2.

Beweis. SeiA = {x ∈ R : (x ≥ 0) ∧ (x2 ≤ 2)}

A ist offenbar nach oben beschrankt. Sei c = sup A. Wir behaupten, dass c2 = 2.Nehmen wir an, c2 < 2. Wir wahlen nun 0 < ε < 1 mit ε < (2− c2)/(2c+ 1). Dann gilt

(c+ ε)2 = c2 + 2cε+ ε2 ≤ c2 + (2c+ 1)ε ≤ 2 .

Deswegen (c+ ε) ∈ A, im Widerspruch zur Tatsache, dass c eine obere Schranke fur Aist. Nehmen wir nun an, dass c2 > 2. Fur 0 < ε < (c2 − 2)/2c gilt

(c− ε)2 = c2 − 2εc+ ε2 > c2 − 2εc > 2

Das impliziert, dass (c− ε) eine obere Schranke fur A ist, in Widerspruch zur Tatsache,dass c die kleinste obere Schranke von A ist. Es folgt, dass c2 = 2.

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Bemerkung (siehe Ubungen): Sei a ∈ R, mit a > 0, und p ∈ N\{0}. Dann existiert genauein reelles x > 0 mit xp = a.

Zu gegebenem x ∈ R, existiert n ∈ Z mit n ≤ x < n + 1. n ist der ganzzahlige Teilvon x. Sei nun x0 = x − n. Per Definition x0 ∈ [0; 1). Wir zeigen nun, wie die Zahl x0durch eine Dezimalbruchdarstellung beschrieben werden kann. Die Bezeichnung

x0 = 0.a1a2a3 . . .

fur eine Folge a : N→ {0, 1, . . . , 9} bedeutet, dass

x0 = a1 · 10−1 + a2 · 10−2 + . . .

(Wir werden spater in der Vorlesung unendliche Summen genauer betrachten). Es gibtein kleines Problem mit der Beschreibung von reellen Zahlen in [0, 1) durch Folgen mitWerten in {0, 1, . . . , 9}. Z.B. die Folge (4, 9, 9, 9, . . . ) und die Folge (5, 0, 0, . . . ) entspre-chen der selben Zahl, weil

90 ∗ 0.499 · · · = 100 ∗ 0.4999 · · · − 10 ∗ 0.4999 · · · = 45

und deswegen 0.499 · · · = 45/90 = 0.5. Wir sagen eine Folge a : N → {0, 1, . . . , 9} istzulassig, falls es unendlich viele j ∈ N mit aj 6= 9 gibt. Dann ist die Folge (4, 9, 9, . . . )nicht zulassig, wahrend die Folge (5, 0, 0, . . . ) zulassig ist. Wir bezeichnen die Menge derzulassigen Folgen mit A. Dann ist die Behauptung, dass jedes x0 ∈ [0, 1) genau einerzulassigen Folge in A zugeordnet werden kann.

Definition 2.19 (Dezimalbruchdarstellung). Sei x0 ∈ [0, 1). Wir definieren x1 = 10x0und wir bezeichnen mit a1 den ganzzahligen Teil von x1. Offenbar ist a1 ∈ {0, 1, . . . , 9}.Wir setzen dann x1 = x1 − a1 ∈ [0, 1). Rekursiv, fur beliebige n ∈ N, definieren wirxn+1 = 10xn, an+1 = ganzzahligen Teil von xn+1 und xn+1 = xn+1−an+1. Das definiertdie Folge A(x) = (a1, a2, . . . ). Es ist einfach, sich zu uberzeugen, dass die konstruierteFolge A(x) immer zulassig ist. Das heisst, wir haben eine Abbildung A : [0, 1) → Adefiniert.

Satz 2.20. Die Abbildung A : [0, 1) → A, die die Dezimalbruchdarstellung von reellenZahlen in [0, 1) definiert, ist bijektiv.

2.4 Abzahlbare und uberabzahlbare Mengen

Wie kann man die Kardinalitat von unendlichen Mengen vergleichen?

Definition 2.21. Wir sagen, zwei Mengen A und B haben die gleiche Kardinalitat (sindgleichmachtig), falls eine Bijektion φ : A→ B existiert.

Ist A eine nicht leere endliche Menge, so existiert eine n ∈ N und eine Bijektion φ :A→ {1, 2, . . . , n} (das kann als Definition fur eine endliche Menge genommen werden).Die Zahl n ist dann eindeutig bestimmt und wird als die Kardinalitat von A bezeichnet.

Definition 2.22. Eine Menge A heisst unendlich abzahlbar, falls sie mit N gleichmachtigist. A heisst abzahlbar, falls sie endlich oder unendlich abzahlbar ist.

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Eine Bijektion N → A kann als eine Aufzahlung der Elemente von A interpretiertwerden. Abzahlbare Mengen sind Mengen, deren Elemente in einer strukturierten Listeorganisiert werden konnen.

Beispiele:

• Die Abbildung φ : N → {n2 : n ∈ N} bildet N auf der Menge der Quadratzahlenbijektiv ab. Deswegen ist die Menge der Quadratzahlen mit N gleichmachtig.

• Z ist abzahlbar. 0,−1, 1,−2, 2,−3, 3, . . . ist eine Aufzahlung der Elemente vonZ. Mit anderen Worten, die Funktion f : N → Z, die durch f(2n) = n undf(2n− 1) = −n definiert wird, ist eine Bijektion.

Wir diskutieren nun einige wichtige Rechenregeln fur Abzahlbarkeit.

Proposition 2.23. Alle Teilmengen von N sind abzahlbar.

Beweis. Sei A ⊂ N. Ist A nach oben beschrankt, so ist A endlich. Ist A nach obenunbeschrankt, so definieren wir die Funktion φ : N → A rekursiv durch φ(0) = min Aund

φ(n+ 1) = min {a ∈ A : a > φ(n)}.

Die Funktion ist wohldefiniert, weil jede nichtleere Teilmenge von N ein Minimum hat(die Teilmenge {a ∈ A : a > φ(n)} ist nicht leer, weilA unbeschrankt ist). Wir behauptennun φ ist bijektiv. φ ist offenbar injektiv, weil φ(n+1) > φ(n) fur alle n ∈ N. Wir zeigennun die Surjektivitat. Sei a ∈ A und setze

B = {n ∈ N : φ(n) ≥ a}

B ist nicht leer. Deswegen existiert m = min B. Es gilt φ(m) ≥ a (weil m ∈ B).Anderseits, falls m > 0, ist (m− 1) ∈ N (ist dagegen m = 0, so muss φ(0)−minA ≤ a;das gibt φ(0) = a und zeigt, dass a ∈ Ran φ). Da (m−1) 6∈ B (das wurde der Minimalitatvon m widersprechen), muss φ(m− 1) < a. Nach Definition von φ gilt aber

φ(m) = min {b ∈ A : b > φ(m− 1)} ⇒ φ(m) ≤ a

Hier benutzen wir, dass a ∈ A. Also a = φ(m) und φ ist injektiv.

Verallgemeinerung: Jede Teilmenge einer abzahlbaren Menge ist abzahlbar.

Proposition 2.24. Sei B abzahlbar und ψ : B → A surjektiv. Dann ist A abzahlbar.

Beweis. O.B.d.A. durfen wir annehmen, dass B ⊂ N (weil B sich bijektiv auf einerTeilmenge von N abbilden lasst). Fur a ∈ A definieren wir

φ(a) = min {b ∈ B : ψ(b) = a}

Dann ist φ : A → B ⊂ N. φ offenbar injektiv. φ bildet also A auf der TeilmengeB′ = Ran φ ⊂ B bijektiv ab. D.h. A ist mit B′ gleichmachtig. Da B′ ⊂ B ⊂ N, ist Bsicher abzahlbar. Also ist A auch abzahlbar.

Satz 2.25. Das Produkt N× N ist abzahlbar.

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Beweis. Es ist einfach, die Elemente von N× N in einer Liste zu organisieren.

Verallgemeinerung: Seien A1, . . . , An abzahlbare Mengen. Dann ist A1 × · · · × Anauch abzahlbar.

Beweis. Wir konnen O.B.d.A. annehmen, dass A1, . . . , An ⊂ N. Wir benutzen nun dieInduktion uber n. Fur n = 2, impliziert A1, A2 ⊂ N, dass A1 × A2 ⊂ N × N sicherabzahlbar ist. Nehmen wir nun an, dass A1 × · · · ×An abzahlbar ist. Dann ist aber

A1 × · · · ×An+1 = (A1 × · · · ×An)×An+1

als Produkt zweier abzahlbarer Mengen, nach der Uberlegung fur n = 2, abzahlbar.

Eine Folgerung von Satz 2.25 ist die Abzahlbarkeit von Q.

Satz 2.26. Q ist abzahlbar.

Beweis. Z,Z\{0} sind beide abzahlbar. Z × Z\{0} ist auch abzahlbar. Die Abbildungφ : Z × Z\{0} → Q, die durch φ(p, q) = p/q definiert ist, ist surjektiv. Also ist Q auchabzahlbar.

Eine andere interessante Bemerkung ist, dass abzahlbare Vereinigungen abzahlbarerMengen wieder abzahlbar sind.

Satz 2.27. Fur alle n ∈ N, sei An eine abzahlbare Menge. Dann ist auch

∞⋃n=1

An

abzahlbar.

Beweis. Fur jede n ∈ N existiert Bn ⊂ N und eine Bijektion φn : Bn → An. Nun setzenwir

B := {(n,m) ∈ N× N : m ∈ Bn}

Es gilt B ⊂ N × N, also ist B abzahlbar. Wir definieren nun die Abbildung φ : B →⋃∞n=1An durch die Angabe φ(n,m) = φn(m). Die Abbildung ist surjektiv, deswegen ist⋃∞n=1An abzahlbar.

Anwendung: Sei

S0 = {(ai)i∈N : ai ∈ Z fur alle i ∈ N und, s.d. ein n ∈ N existiert, mit ai = 0 ∀i ≥ n}

die Menge der Folgen mit Werten in Z, die nur endlich viele nicht verschwindendeElemente haben. Wir behaupten, S0 ist abzahlbar. Sei, in der Tat, S(n) = {(ai)i∈N ∈S0 mit ai = 0 ∀ i > n}. Dann ist S(n) mit Z × · · · × Z (n Kopien) gleichmachtig. S(n)

ist deswegen fur alle n ∈ N abzahlbar. Da

S0 =∞⋃n=1

S(n)

ist auch S0 als Vereinigung abzahlbar vieler abzahlbarer Mengen abzahlbar.Welche Mengen sind nicht abzahlbar?

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Satz 2.28 (Cantor). Sei M eine Menge. Dann sind M und P (M) nicht gleichmachtig.

Beweis. Wir beweisen den Satz indirekt durch Widerspruch. Nehmen wir an φ : M →P (M) ist eine Bijektion. Setze

B = {x ∈M : x 6∈ φ(x)}

Dann gilt φ(y) 6= B fur alle y ∈M . Ist in der Tat y ∈ φ(y), so ist per Definition y 6∈ B,und deswegen ist φ(y) 6= B. Ist anderseits y 6∈ φ(y), so ist per Definition y ∈ B. Auchin diesem Fall ist φ(y) 6= B. Das impliziert, dass im Widerspruch zur Annahme φ nichtsurjektiv ist.

Definition 2.29. Eine nicht abzahlbare Menge heisst uberabzahlbar.

Z.B.: P (N) ist eine uberabzahlbare Menge.

Proposition 2.30. R ist uberabzahlbar.

Beweis. P (N) ist uberabzahlbar. Sei {0, 1}N die Menge der Folgen mit Werten 0 und 1.Wir definieren nun eine Abbildung φ : P (N)→ {0, 1}N wie folgt:

(φ(X))i = 1 falls i ∈ X, (φ(X))i = 0 sonst

Es ist einfach zu sehen, dass φ eine Bijektion ist. Deswegen ist {0, 1}N uberabzahlbar.Sei nun X0 ⊂ [0, 1) die Teilmenge aller reellen Zahlen in [0, 1) deren Dezimalbruchdar-stellung nur die Zahlen 0 und 1 enthalt (erinnere, die Dezimalbruchdarstellung einerreellen Zahl x ∈ [0, 1) ist eine Folge A(x) = (a1, a2, . . . ), wobei aj ∈ {0, 1, . . . , 9} fur allej ∈ N (und aj 6= 9 fur unendlich viele n)). Dann gibt es eine Bijektion {0, 1}N → X0. Esfolgt, dass X0 uberabzahlbar ist. Da R ⊃ X0, ist auch R uberabzahlbar.

Tatsache: R ist mit X0 gleichmachtig.

Frage: Ist die Kardinalitat von R die kleinste uberabzahlbare Kardinalitat? Oder gibtes Teilmengen von R, die nicht abzahlbar sind, aber die nicht mit R gleichmachtig sind?

Kontinuumhypothese (Cantor): jede Teilmenge von R ist entweder abzahlbar oder gleich-machtig mit R selbst.

P. Cohen (1960): Weder die Kontinuumhypothese noch ihre Verneigung lassen sich aufGrund der ublichen Axiome der Mengelehre beweisen.

2.5 Die komplexen Zahlen

Die Ordnungsvollstandigkeit von R ist fur die Analysis sehr nutzlich. Wir werden indieser Vorlesung meistens mit reellen Zahlen arbeiten. Manchmal gibt es aber mit R al-gebraische Schwierigkeiten, die mit der Tatsache zu tun haben, dass in R viele Polynomekeine Nullstellen haben. Aus diesem Grund ist es manchmal nutzlich, komplexe Zahlenzu betrachten.

Einer der Grunde, die reellen Zahlen einzufuhren war, dass man in R die Gleichungx2 = 2 (und allgemeiner, die Gleichung xp = a, fur beliebige a > 0 und p ∈ N\{0}) losenkann (was nicht in Q moglich war). Es bleiben aber viele quadratische Gleichungen (und

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naturlich auch Gleichungen hoherer Ordnung), die in R keine Losung haben. Z.B. hatdie Gleichung x2 = −1 keine Losung auf R. Um dieses Problem zu losen, fuhren wir diekomplexen Zahlen ein.

Die komplexen Zahlen bilden einen Korper, den wir mit C bezeichnen, welcher Renthalt, und der auch ein Element i, mit der Eigenschaft i2 = −1, enthalt. Es ist einfachzu sehen, dass der kleinste Korper mit diesen Eigenschaften aus allen Zahlen der Formx+ iy, mit x, y ∈ R, besteht:

C = {x+ iy : x, y ∈ R}

versehen mit der Summe

(x1 + iy1) + (x2 + iy2) = (x1 + x2) + i(y1 + y2)

und der Multiplikation

(x1 + iy1) · (x2 + iy2) = (x1x2 − y1y2) + i(x1y2 + x2y1) .

Formell, wird C als das Produkt

C = R× R = {(x, y) : x, y ∈ R}

definiert. Summe und Multiplikation werden dann durch

(x1, y1) + (x2, y2) = (x1 + x2, y1 + y2)

und(x1, y1) · (x2, y2) = (x1x2 − y1y2, x1y2 + x2y1)

gegeben.

Proposition 2.31. C, versehen mit den Operationen +, · ist ein Korper.

Beweis. Die Null ist aus (0, 0) gegeben. Die additive Inverse ist aus −(x, y) = (−x,−y)gegeben, die Eins aus (1, 0). Die einzige Eigenschaft, die nicht ganz trivial ist, ist dieExistenz der multiplikativen Inverse. Aus

1

x+ iy=

(x− iy)

(x+ iy)(x− iy)=

x

x2 + y2− i y

x2 + y2

konnen wir raten, dass

(x, y)−1 =

(x

x2 + y2,−y

x2 + y2

)falls x2 + y2 6= 0 (d.h. falls (x, y) 6= (0, 0)). Man kann dann in der Tat zeigen, dass(x, y)−1 die Inverse von (x, y) ist.

Bemerkung: Es gibt auf C keine Ordnung (unmoglich, weil i2 = −1 < 0).

Die Abbildung R 3 x→ (x, 0) ∈ C identifiziert R mit einer Teilmenge (sogar einemUnterkorper) von C. Wir definieren dann i = (0, 1). Per Definition gilt i2 = (0, 1)·(0, 1) =

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(−1, 0). Statt (x, y) werden wir einfach x+ iy schreiben; diese Schreibweise hilft bei derBerechnung von Produkten von komplexen Zahlen.

Gegeben z = x+ iy, sagt man x ist der Realteil von z, y der Imaginarteil. Sie werdenmit x = Re z und y = Im z bezeichnet. Die komplexe Konjugierte von z ist dann ausz = x− iy gegeben. Es gelten dann die Regeln:

• z1 + z2 = z1 + z2.

• z1 · z2 = z1 · z2.

• zz = zz = x2 + y2 ≥ 0 (insbesondere ist zz ∈ R).

Definition 2.32. Der Absolutbetrag von z = x+ iy ∈ C wird durch

|z| =√zz =

√x2 + y2

definiert.

Es gelten die Eigenschaften:

• |z1 · z2| = |z1||z2|.

• |z| = 0 ⇐⇒ z = 0.

• Fur x ∈ R ist |x|C = |x|R.

• |Re z| ≤ |z|.

• |Im z| ≤ |z|.

• Dreieckungleichung: |z1 + z2| ≤ |z1|+ |z2|.

Da C = R × R, lassen sich komplexe Zahlen auf der euklidischen Ebene darstellen.Die x-Achse ist die reelle Achse, die y-Achse die imaginare Achse. Die geometrischeBedeutung der Summe ist dann einfach zu beschreiben: Die Summe z1 + z2 ist ausder vektoriellen Summe der Vektoren in R2, die z1, z2 zugeordnet sind. Die komplexeKonjugation entspricht geometrisch der Spiegelung um die x-Achse. |z| ist einfach der(euklidische) Abstand zwischen z und dem Ursprung 0. Allgemeiner: |z1 − z2| gibt deneuklidischen Abstand zwischen z1 und z2.

Um die Multiplikation geometrisch zu interpretieren, fuhren wir Polarkoordinatenein. Fur z ∈ C sei r = |z| der Abstand zu 0 und ϕ ∈ [0, 2π] der Winkel zwischen derreellen Achse und z. Dann

z = r (cosϕ+ i sinϕ)

Die Multiplikation von z1 = r1(cosϕ1 + i sinϕ1) und z2 = r2(cosϕ2 + i sinϕ2) ist aus

z1 · z2 = r1r2 [(cosϕ1 cosϕ2 − sinϕ1 sinϕ2) + i (cosϕ1 sinϕ2 + sinϕ1 cosϕ2)]

= r1r2 [cos(ϕ1 + ϕ2) + i sin(ϕ1 + ϕ2)]

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gegeben. Also ist der Abstand von z1 · z2 zum Ursprung aus der Mulitplikation derAbstande |z1||z2| gegeben. Der Winkel zwischen z1 · z2 und der x-Achse ist dagegen ausder Summe der Winkel ϕ1 und ϕ2 gegeben.

Wir werden nach Einfuhrung der Exponentialfunktion sehen, dass eiϕ = cosϕ +i sinϕ. D.h., ist r = |z| und ϕ der Winkel zwischen z und der x-Achse, so gilt z = reiϕ.Eine wichtige Eigenschaft der Exponentialfunktion ist exey = ex+y. Das gibt eine ande-re, einfachere Erklarung der Tatsache, dass bei der Multiplikation von zwei komplexenZahlen die Winkel addiert werden sollen. Die Darstellung z = reiϕ erlaubt uns auch dieGleichung wp = z, fur gegebene z ∈ C zu losen. Ist z = reiϕ, fur r > 0 und ϕ ∈ [0, 2π),so ist w = r1/peiϕ/p offenbar eine Losung (weil (ex)n = enx fur jede n ∈ N, x ∈ R). Daaber (ϕ+ 2πj) den selben Winkel wie ϕ darstellt, ist

wj = r1/pei(ϕ+2πj)/p

fur jede j = 0, 1, . . . , (p − 1) eine Losung von der Gleichung wp = z (die Losung mitj = p ist aquivalent zur Losung mit j = 0, und so weiter). D.h. fur beliebige z ∈ C habenwir genau p Losungen der Gleichung wp = z (in R gibt es manchmal gar keine Losung,zB. falls p = 2 und z = −1). Allgemeiner kann man zeigen, dass jede polynomischeGleichung auf C mindestens eine Losung hat (das impliziert auch, dass jede polynomischeGleichung der Ordnung n genau n Losungen hat, falls man jede Losung mit der korrektenVielfachkeit zahlt). Das erklart die Nutzlichkeit der komplexen Zahlen.

Satz 2.33 (Fundamentalsatz der Algebra). Jedes Polynom

p(x) = anxn + an−1x

n−1 + · · ·+ a1x+ a0

mit komplexen Koeffizienten, von Grad n ≥ 1 (an 6= 0) hat mindestens eine Nullstellein C.

2.6 Die Vektorraume Rm

Der RaumRm = {x = (x1, . . . , xm) : xj ∈ R fur alle j = 1, . . . ,m}

besteht aus allen m-Tupeln von reellen Zahlen. Diese Raume spielen eine extrem wichtigeRolle in der Mathematik und in Anwendungen in naturlichen Wissenschaften (z.B. diePosition eines Teilchens wird durch einen Punkt x = (x1, x2, x3) ∈ R3 beschrieben,ihr Zustand wird durch die Position und die Geschwindigkeit, also durch einen Punkt(x1, x2, x3, v1, v2, v3) ∈ R6 beschrieben).

Auf Rm kann man eine Addition definieren. Fur x = (x1, . . . , xm), y = (y1, . . . , ym) ∈Rm setzen wir

x+ y = (x1 + y1, x2 + y2, . . . , xm + ym)

Man kann auf Rm auch eine skalare Multiplikation einfuhren. Ist α ∈ R und x =(x1, . . . , xm) ∈ Rm, so setzen wir

αx = (αx1, αx2, . . . , αxm) ∈ Rm

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Definition 2.34. Eine Menge V , versehen mit einer Addition + : V × V → V undeiner skalaren Multiplikation · : R× V → V heisst ein Vektorraum uber R, falls

• x+ y = y + x fur alle x, y ∈ V ..

• (x+ y) + z = x+ (y + z) fur alle x, y, z ∈ V .

• Es existiert 0 ∈ V mit x+ 0 = x fur alle x ∈ V .

• Fur alle x ∈ V existiert y ∈ V , bezeichnet mit −x, mit x+ y = 0.

• α · (β · x) = (αβ) · x, fur alle α, β ∈ R und alle x ∈ V .

• α · (x+ y) = α · x+ α · y fur alle α ∈ R, x, y ∈ V .

• (α+ β) · x = α · x+ β · x fur alle α, β ∈ R, x ∈ V .

• 1 · x = x fur alle x ∈ V .

Man kann ahnlich Vektorraume uber einen allgemeinen Korper K definieren.

Rm ist dann ein Vektorraum uber R, fur alle m ∈ N\{0} (und ahnlich ist Cm einVektorraum uber C). Bemerke, dass, fur m ≥ 2, Rm kein Korper ist, weil keine Mul-tiplikation von zwei Vektoren in Rm definiert ist (R2 ' C kann aber zu einem Korpergemacht werden). Auf Rm, m ≥ 2, ist keine Ordnung definiert.

Es ist sehr nutzlich, auf Rm eine Funktion zu definieren, die die Lange von Vektorenmisst. Fur x = (x1, . . . , xm) ∈ Rm setzen wir

‖x‖ =

m∑j=1

x2j

1/2

(1)

Dann hat die Funktion ‖.‖ : Rm → R die Eigenschaften

i) ‖x‖ ≥ 0 fur alle x ∈ Rn, mit ‖x‖ = 0 genau dann, wenn x = 0.

ii) ‖αx‖ = |α|‖x‖ fur alle α ∈ R und x ∈ Rm.

iii) ‖x+ y‖ ≤ ‖x‖+ ‖y‖ fur alle x, y ∈ Rm.

Eine Funktion ‖.‖ mit den Eigenschaften i)-ii)-iii) heisst eine Norm. Ein Vektorraum, inwelchem eine Norm definiert ist, heisst ein normierter Raum. Rm, versehen mit der Norm(1), ist ein Beispiel eines normierten Raumes. Bemerkung: Die Definition der Norm istnicht eindeutig. Z.B. auf Rm definiert

‖x‖p =

m∑j=1

|xj |p1/p

fur alle p > 1 eine Norm.

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3 Konvergenz von Folgen

Nachdem wir jetzt die notigen Werkzeuge eingefuhrt haben, beginnen wir die wichtigenBegriffe der Analysis zu betrachten. In diesem Kapitel untersuchen wir Folgen und ihreKonvergenz. Erinnere, dass eine Folge auf einer Menge M eine Funktion a : N → Mist. Wir schreiben ublicherweise an oder (an)n∈N, um die Elemente der Folge zu bezeich-nen. In diesem Kapitel werden wir Folgen auf R betrachten, d.h. Folgen a : N → R.Wir werden spater Folgen auf allgemeineren Raumen (sogenannten metrischen Raume)untersuchen.

Beispiele: Die einfachsten Folgen sind die konstanten Folgen, definiert durch an = c, furalle n ∈ N, und fur ein c ∈ R. Andere Beispiele sind an = n, oder an = 1/n. Manchmalwerden Folgen durch Summen definiert, z.B.

an = 1 +1

2+

1

3+ · · ·+ 1

n

oder

an = 1 +1

22+

1

32+ · · ·+ 1

n2

Diese Folgen heissen Reihen. Wir werden Reihen detaillierter im nachsten Kapitel be-trachten.

3.1 Konvergenz: Definition und elementare Eigenschaften

Einer der wichtigsten Begriffe der Analysis ist der Begriff von Konvergenz von Folgen.Betrachte z.B. die Folge an = 1/n. Falls wir n sehr gross wahlen, so kommt an immernaher zu 0 (obwohl an immer verschieden von 0 bleibt). In diesem Fall sagen wir, dassan gegen 0 konvergiert, also n gegen Unendlich strebt. Man braucht hier eine genaueremathematische Definition. Die Definition von Konvergenz ubersetzt, in der Sprache derMathematik, die Idee, dass an gegen a konvergiert (a = 0 im Beispiel oben), falls anbeliebig nah zu a kommt, fur n genugend gross.

Definition 3.1. Sei an eine Folge auf R. Wir sagen an konvergiert gegen a ∈ R, dassa der Limes der Folge an ist, oder dass a der Grenzwert von an ist, und wir schreibenan → a, oder limn→∞ an = a, falls

fur alle ε > 0 existiert n0 = n0(ε), s.d. n > n0 ⇒ |an − a| < ε .

Bemerkungen:

• Sei an eine Folge auf R. Dann gilt an → a genau dann, wenn an − a → 0 genaudann, wenn |an − a| → 0. Das folgt direkt aus der Definition.

• Wir haben

|an − a| < ε ⇐⇒ a− ε < an < a+ ε ⇐⇒ an ∈ (a− ε, a+ ε)

Der Absolutbetrag |an− a| misst den Abstand zwischen an und a. Die Bedingung|an − a| < ε besagt also, dass der Abstand zwischen an und a kleiner als ε ist. Da

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ε > 0 beliebig klein sein kann, bedeutet an → a, dass der Abstand zwischen anund a kleiner als eine beliebige Fehlergrenze ist, falls wir n gross genug wahlen.Wie gross n sein muss, wird aus n0 bestimmt. Bemerke, dass n0 von ε abhangt.Um so kleiner ε > 0 gewahlt wird, um so grosser wird (typischerweise) n0 sein.

Beispiele:

• Sei an = c fur alle n (an ist eine konstante Folge). Dann gilt an → c. In diesemFall gilt |an − c| < ε fur alle n ∈ N und alle ε > 0 (d.h. man kann immer n0 = 1wahlen).

• Sei an = 1/n. Dann an → 0.

Beweis. Sei ε > 0 fest gewahlt. Nach Satz 2.14 existiert n0 ∈ N\{0} mit n0 >(1/ε). Fur n > n0 gilt

0 ≤ an =1

n<

1

n0< ε

Das impliziert |an| < ε, fur alle n > n0.

• Sei an = n1/n. Wir behaupten, dass an → 1.

Beweis. Sei ε > 0 fest. Dann gilt

(1+ε)n =n∑j=0

(n

j

)εj = 1+nε+

n(n− 1)

2ε2+· · ·+εn ≥ n(n− 1)

2ε2 = n

[(n− 1)ε2

2

]

Ist (n− 1)ε2/2 > 1, so gilt

(1 + ε)n > n ⇒ n1/n < (1 + ε)

Da fur alle n ∈ N ist n1/n > 1 folgt, dass

1 < n1/n < 1 + ε

falls (n− 1)ε2/2 > 1. Also|n1/n − 1| < ε

falls (n − 1)ε2/2 > 1. Um diese Bedingung zu erfullen, wahlen wir einfach n >1+(2/ε2). Zusammenfassend setzen wir n0(ε) = 1+(2/ε2). Dann impliziert n > n0,dass |n1/n − 1| < ε. Da ε > 0 beliebig ist, folgt die Behauptung.

• Sei an = (−1)n. Die Folge oszilliert zwischen 1 und −1. Sie konvergiert nicht.

• Die Folge an = n wird immer grosser, da n gegen Unendlich strebt. Also konvergiertsie nicht.

Die erste wichtige Eigenschaft von Konvergenz ist die Eindeutigkeit des Grenzwertes.

Proposition 3.2. Jede Folge hat hochstens einen Grenzwert.

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Beweis. Nehmen wir an, an → a und an → a′, mit a, a′ ∈ R und a 6= a′. Sei ε = |a−a′|/2.Fur an → a, existiert n0 mit |an − a| < ε fur alle n > n0. Fur an → a′, existiert auchn1 mit |an − a′| < ε fur alle n > n1. Also, fur n > max {n0, n1}, gilt |an − a| < ε und|an − a′| < ε. Dann muss aber

|a− a′| = |a− an + an − a′| ≤ |a− an|+ |an − a′| < 2ε = |a− a′|

was unmoglich ist.

Eine andere wichtige Eigenschaft von konvergenten Folgen auf R ist ihre Beschrankt-heit.

Definition 3.3. Eine Folge an in R heisst nach unten beschrankt, falls b ∈ R existiert,mit b ≤ an fur alle n ∈ N. Sie heisst nach oben beschrankt, falls b ∈ R existiert,mit an ≤ b fur alle n ∈ N. Sie heisst beschrankt, falls sie nach unten und nach obenbeschrankt ist, d.h. falls b > 0 existiert, mit |an| < b fur alle n ∈ N.

Proposition 3.4. Jede konvergente Folge ist beschrankt.

Beweis. Sei an eine Folge, mit an → a. Per Definition existiert mit ε = 1 n0 ∈ N mit|an − a| < 1 fur alle n > n0. Das impliziert, dass

|an| = |a+ (an − a)| ≤ |a|+ |an − a| ≤ |a|+ 1

fur alle n > n0. Also

|an| ≤ max {|a1|, |a2|, . . . , |an0 |, |a|+ 1}

fur alle n ∈ N.

Ordnungsrelationen (aber nicht strikte Ordnungsrelationen) werden durch den Limeserhalten.

Lemma 3.5. Seien an und bn zwei Folgen, mit an → a und bn → b und mit an ≤ bn furalle n ∈ N (eigentlich genugt es, dass ein n0 ∈ N existiert, mit an ≤ bn fur alle n > n0).Dann gilt a ≤ b.

Beweis. Nehmen wir an a > b. Dann setzen wir ε = (a− b)/2 > 0. Fur an → a, existiertn1 ∈ N mit |an − a| < ε fur alle n > n1. Fur bn → b, existiert n2 ∈ N mit |bn − b| < εfur alle n > n2. Fur n ≥ max{n1, n2} gilt also

bn = b+ (bn − b) < b+ ε =a+ b

2= a− ε < an

in Widerspruch zur Annahme an ≤ bn fur alle n ∈ N.

Bemerkung: Gilt an → a, bn → b und an < bn fur alle n ∈ N, so muss a < b nichtgelten. Im Allgemeinen kann man aus an < bn fur alle n ∈ N nur folgen, dass a ≤ b (z.B.an = 1/n > 0 fur alle n ∈ N, aber limn→∞ an = 0).

Wir untersuchen nun die Beziehung zwischen Limes und den Korperoperationen, dieauf R definiert sind.

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Proposition 3.6. Nehmen wir an, an und bn sind zwei Folgen in R, mit an → a undbn → b. Dann gilt:

i) an + bn → a+ b.

ii) an − bn → a− b.

iii) anbn → ab.

iv) Ist bn 6= 0 fur alle n ∈ N, und b 6= 0, so gilt auch

an/bn → a/b

v) Ist an ≥ 0 fur alle n ∈ N, p ∈ Z und q ∈ N\{0}, dann gilt

ap/qn → ap/q

Beweis. i) Sei ε > 0 fest. Dann existiert n1 ∈ N s.d. |an − a| < ε/2 fur alle n > n1,und n2 ∈ N s.d. |bn − b| < ε/2 fur alle n > n2. Fur n > max{n1, n2} gilt also

|(an + bn)− (a+ b)| ≤ |(an − a) + (bn − b)| ≤ |an − a|+ |bn − b| < ε .

ii) Ahnlich.

iii) an → a impliziert, dass an beschrankt ist. D.h. es existiert c > 0 mit |an| ≤ c furalle n ∈ N. Dann

|anbn − ab| = |anbn − anb+ anb− ab| ≤ |an(bn − b)|+ |b(an − a)|≤ |an||bn − b|+ |b||an − a| ≤ c|bn − b|+ |b||an − a|

(2)

Sei nun ε > 0 fest. Dann existiert n1 ∈ N mit |an − a| < ε/(2|b|) fur alle n > n1.Weiter existiert n2 ∈ N mit |bn− b| < ε/(2c) fur alle n > n2. Fur n > max{n1, n2}folgt aus (2), dass |anbn − ab| < ε.

iv) Es genugt zu zeigen, dass 1/bn → 1/b (dann folgt iv) aus iii)). Aus bn → b folgt,dass ein n1 ∈ N existiert, mit |bn − b| ≤ |b|/2 fur alle n > n1. Das impliziert, dass

|bn| = |b+ (bn − b)| ≥ |b| − |bn − b| ≥ |b| − |b|/2 = |b|/2

fur alle n > n1. Also haben wir, wieder fur n > n1,∣∣∣∣ 1

bn− 1

b

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣b− bnbbn

∣∣∣∣ =1

|b||bn||bn − b| ≤

2

|b|2|bn − b| (3)

Sei nun ε > 0 fest. Dann finden wir n2 ∈ N mit

|bn − b| <|b|2

fur alle n > n2. Wir setzen nun n0 = max{n1, n2}. Fur n > n0 gilt, aus (3),∣∣∣∣ 1

bn− 1

b

∣∣∣∣ < ε

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v) Ubung.

Beispiele: Sei

an =n2 + 3n+ 5

3n2 + 8n+ 1

Dann, nach Division mit n2,

an =1 + (3/n) + (5/n2)

3 + (8/n) + (1/n2)

Fur 3/n → 0, 5/n2 → 0, 8/n → 0 und (1/n2) → 0, folgt aus Proposition 3.6, dassan → 1/3. Sei nun

bn = n

(√1 +

1

n− 1

)Rechenregeln konnen nicht direkt angewandt werden, weil n nicht konvergiert. Wirschreiben bn um:

bn = n

(√1 + 1

n − 1)·(√

1 + 1n + 1

)(√

1 + 1n + 1

) = n1 + 1

n − 1√1 + 1

n + 1=

1√1 + 1

n + 1

Aus den Rechenregeln folgt nun, dass bn → 1/2.

Lemma 3.7. Seien an und bn zwei Folgen, so dass an → 0 und bn beschrankt ist (brauchtnicht zu konvergieren). Dann gilt anbn → 0.

Beweis. Ubung.

Proposition 3.8. Seien an, bn, cn Folgen auf R, mit an → a, bn → a, und, s.d. n0 ∈ Nexistiert, mit

an ≤ cn ≤ bnfur alle n > n0. Dann gilt cn → a.

Beweis. Sei ε > 0 fest. Dann existiert n1 ∈ N mit |an − a| < ε fur alle n > n1 undn2 ∈ N mit |bn − a| < ε fur alle n > n2. Fur alle n > max{n0, n1, n2} gilt also

a− ε < an ≤ cn ≤ bn < a+ ε

Das bedeutet, dass |cn − a| < ε fur alle n > n0.

Ein wichtiges Beispiel fur konvergierende Folgen ist qn, fur |q| < 1. Es gilt dannqn → 0. Eigentlich konvergiert qn gegen Null, schneller als jede Potenz von n. Mitanderen Worten: npqn → 0, fur beliebige p ∈ N.

Lemma 3.9. Sei |q| < 1 und p ∈ N. Dann gilt npqn → 0.

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Beweis. O.B.d.A q > 0 (sonst schreibe q = −r, fur ein r > 0; aus nprn → 0 folgtauch np(−r)n = (−1)nnprn → 0 aus Lemma 3.7). Wir betrachten zunachst den Fallp = 1. Aus q < 1 folgt, dass 1/q > 1. D.h. wir finden r > 0 mit 1/q = 1 + r. Dann istq = 1/(1 + r) und

0 ≤ nqn = n1

(1 + r)n=

n

1 + nr + n(n−1)2 r2 + · · ·+ rn

≤ 2n

n(n− 1)r2=

2

r21

n− 1→ 0

Also nqn → 0. Fur p > 1 setzen wir r = q1/p. Dann gilt 0 < r < 1, q = rp und qn = rnp.Das impliziert, dass

npqn = nprnp = (nrn)p

Fur nrn → 0, folgt aus Anwendung von Prop. 3.6, dass npqn → 0. Fur p = 0 schreibenwir

qn =1

nnqn

Fur nqn → 0 und 1/n→ 0, es folgt, dass qn → 0.

3.2 Monotone Folgen, Limessuperior und Limesinferior

Definition 3.10. Eine Folge an heisst monoton wachsend, falls m > n impliziert, dassam ≥ an. Sie heisst streng monoton wachsend, falls m > n impliziert, dass am > an.Sie heisst monoton fallend, falls n > m impliziert, dass an ≤ am und streng monotonfallend, falls n > m impliziert, dass an < am.

Proposition 3.11. Eine monoton wachsende Folge ist genau dann konvergent, wennsie nach oben beschrankt ist. Eine monoton fallende Folge ist genau dann konvergent,wenn sie nach unten beschrankt ist.

Beweis. Wir wissen schon, dass jede konvergente Folge beschrankt ist (nach oben undnach unten beschrankt). Zu zeigen bleibt, dass jede nach oben beschrankte monotonwachsende Folge und jede nach unten beschrankte monoton fallende Folge konvergiert.Sei z.B. an monoton wachsend mit an ≤ b fur alle n ∈ N und fur ein b ∈ R. Die Menge

A = {an : n ∈ N} ⊂ R

ist nach oben beschrankt. Also existiert a = supA. Dann gilt an ≤ a fur alle n ∈ N. Furgegebenes ε > 0 existiert weiter (aus der Charakterisierung des Supremum in Proposition2.13) ein n0 ∈ N mit

a− ε < an0 ≤ a

Da aber an monoton wachsend ist, muss

a− ε < an0 ≤ an ≤ a

fur alle n ≥ n0. Das impliziert, dass |an − a| ≤ ε fur alle n ≥ n0. Da ε > 0 beliebigist, folgt, dass an → a. Ahnlich zeigt man, dass jede nach unten beschrankte monotonfallende Folge konvergiert.

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Wir definieren nun den Begriff von Limessuperior und Limesinferior. Sei dazu aneine beschrankte Folge mit |an| ≤ b fur alle n ∈ N. Dann setzen wir

an := sup {aj : j ≥ n} und

an := inf {aj : j ≥ n}

Es gilt −b ≤ an ≤ an ≤ b fur alle n ∈ N. Also sind an und an beschrankte Folgen. Weiterist an monoton fallend und an monoton wachsend. Es folgt, dass an und an konvergieren.

Definition 3.12. Der Limessuperior einer beschrankten Folge an wird durch

lim supn→∞

an := limn→∞

an

definiert. Der Limesinferior einer beschrankten Folge an wird durch

lim infn→∞

an := limn→∞

an

definiert. Limessuperior und Limesinferior existieren immer fur beschankte Folgen.

Besipiel: Sei an = (−1)n(1 + 1/n). Dann gilt an = (1 + 1/n), falls n gerade und an =(1 + 1/(n+ 1)), falls n ungerade. Es folgt lim supn→∞ an = 1. Analog an = −(1 + 1/n),falls n ungerade und an = −(1 + 1/(n+ 1)), falls n gerade. Also lim infn→∞ an = −1.

Satz 3.13. Sei an eine beschrankte Folge. Dann gilt

lim infn→∞

an ≤ lim supn→∞

an

Die Folge an ist genau dann konvergent, falls

lim infn→∞

an = lim supn→∞

an

In diesem Fall gilt auch

limn→∞

an = lim infn→∞

an = lim supn→∞

an

Beweis. Sei an = sup{aj : j ≥ n}, an = inf{aj : j ≥ n}. Da an ≥ an fur alle n ∈ N, folgtaus Lemma 3.5, dass

lim infn→∞

an = limn→∞

an ≤ limn→∞

an = lim supn→∞

an .

Zweiter Teil: Ubung.

Definition 3.14. Sei A(n) eine Aussageform uber N. Wir sagen A(n) gilt fur fast allen ∈ N falls sie falsch ist, fur hochstens endlich viele n ∈ N, d.h. falls {n : ¬A(n)} eineendliche Menge ist.

Bemerkung: Mit dem Begriff von Aussagen A(n) die fur fast alle n ∈ N gelten, kannman die Definition von Konvergenz von Folgen umformulieren. Sei an eine Folge auf R.Dann gilt an → a genau dann, wenn fur alle ε > 0, |an − a| < ε fur fast alle n ∈ N.

Die folgende Charakterisierung vom Limessuperior ist nutzlich:

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Satz 3.15. Sei an eine beschrankte Folge. Dann gilt a = lim supn→∞ an genau dann,wenn fur alle ε > 0, an ≤ a + ε fur fast alle n ∈ N und es gibt unendlich viele n ∈ Nmit an > a− ε.

Beweis. Nehmen wir zunachst an, a = lim supn→∞ an. Dann gilt an = sup{aj : j >n} → a. Daher existiert, fur alle ε > 0, ein n0 ∈ N mit |an − a| < ε fur alle n > n0.Insbesondere

an ≤ sup{aj : j ≥ n} < a+ ε

fur alle n > n0. Das bedeutet, dass an < a + ε fur fast alle n ∈ N. Wir mochten nochzeigen, dass an > a − ε fur unendlich viele n ∈ N. Ware das nicht der Fall, so mussten1 ∈ N existieren, mit an ≤ a− ε fur alle n > n1. Das wurde implizieren, dass

an = sup{aj : j > n} ≤ a− ε

fur alle n > n1 in Widerspruch zur Tatsache, dass an → a.Anderseits nehmen wir an, dass fur alle ε > 0, an ≤ a+ε fur fast alle n ∈ N und es gibt

unendlich viele n ∈ N mit an > a−ε. Wir behaupten dann, dass a = lim supn→∞ an. Umdie Behauptung zu zeigen, bemerken wir, dass an ≤ a+ ε fur fast alle n ∈ N impliziert,dass ein n1 ∈ N mit an ≤ a+ ε fur alle n > n1 existiert. Dann ist aber

an = sup{aj : j > n} ≤ a+ ε

fur alle n > n1. Andererseits impliziert die Annahme, dass an > a−ε fur unendlich vielen, dass an = sup{aj : j ≥ n} > a−ε fur alle n ∈ N. Wir haben gezeigt, dass |an−a| < εfur alle n > n1; d.h. an → a.

Bemerkung: Eine analoge Charakterisierung gilt naturlich auch fur den Limesinferior.

3.3 Haufungspunkte und Teilfolgen

Definition 3.16. Sei an eine Folge in R, nicht notwendigerweise beschrankt. Wir sagenb ∈ R ist einen Haufungspunkt von an falls, fur alle ε > 0, |an − b| < ε fur unendlichviele n ∈ N.

Bemerkung: Die Definition von Haufungspunkt sollte mit der Definition von Limesverglichen werden. b ist Limes von an falls |an − b| < ε fur fast alle n ∈ N, b ist dagegenHaufungspunkt, falls |an − b| < ε fur unendlich viele n ∈ N.

Beispiel: Die Folge an = (−1)n konvergiert nicht, sie hat aber die Haufungspunkte±1.

Es folgt aus Satz 3.15, dass fur jede beschrankte Folge lim supn→∞ an ein Haufungs-punkt ist. Analog ist lim infn→∞ an auch ein Haufungspunkt (die zwei konnten naturlichubereinstimmen, falls die Folge konvergiert).

Korollar 3.17. Jede beschrankte Folge auf R besitzt mindestens einen Haufungspunkt.Weiter, eine beschrankte Folge konvergiert genau dann, wenn sie nur einen Haufungs-punkt besitzt.

Haufungspunkte, also insbesondere Limessuperior und Limesinferior, sind Grenzwer-te von Teilfolgen.

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Definition 3.18. Sei an eine Folge. Eine Teilfolge von an ist eine Folge der Form anj ,wobei 1 ≤ n1 < n2 < . . . . Mit anderen Worten: eine Teilfolge der Folge a : N → R isteine Folge der Form a ◦ φ : N→ R, wobei φ : N→ N eine strikt monotone Abbildung ist(d.h. φ(n1) < φ(n2) falls n1 < n2).

Beispiel: Ist an eine Folge, so ist a2n die Teilfolge, die aus den geraden Elementenvon an besteht.

Proposition 3.19. Sei an eine Folge mit an → a. Dann konvergiert jede Teilfolge vonan auch gegen a.

Beweis. Sei ε > 0 fest gewahlt. Dann existiert n0 mit |an − a| < ε fur alle n > n0. Alsogilt fur i > n0, ni ≥ i > n0 und deswegen |ani−a| < ε. Das impliziert, dass ani → a.

Bemerkung: Ist an nicht konvergent, so konnten trotzdem konvergente Teilfolgenexistieren. Z.B. an = (−1)n konvergiert nicht, aber a2n → 1 und a2n+1 → −1.

Proposition 3.20. Sei an eine Folge auf R (nicht unbedingt beschrankt). Dann ist bein Haufungspunkt von an genau dann, wenn eine Teilfolge nj : N → N mit anj → bexistiert.

Beweis. Sei b ein Haufungspunkt. Wir wahlen n1 ∈ N mit |an1 − b| < 1 und dannrekursiv nj > nj−1 mit |anj − b| < 1/j (das ist sicher moglich, weil es unendlich vielen mit |an − b| < 1/j existieren). Dann ist j → anj eine Teilfolge von an und offenbaranj → b. Anderseits, nehmen wir an, dass eine Teilfolge anj mit anj → b existiert. Wirbehaupten dann, dass b ein Haufungspunkt von an ist. In der Tat, fur anj → b, gibt es,fur ein beliebiges ε > 0, ein j0 ∈ N, mit |anj − b| < ε fur alle j > j0. Das bedeutet,dass |an − b| < ε fur alle n ∈ {nj0+1, nj0+2, . . . }. D.h. |an − b| < ε fur unendlich vielen ∈ N.

Da fur jede beschrankte Folge, lim supn→∞ an ein Haufungspunkt ist, bekommen wirdas folgende Korollar:

Korollar 3.21 (Satz von Bolzano-Weierstrasse). Jede beschrankte Folge auf R besitzteine konvergente Teilfolge.

3.4 Cauchy-Folgen

Sei an eine Folge auf R, mit an → a, und ε > 0. Dann existiert ein n0 ∈ N mit|an − a| < ε/2 fur alle n > n0. Fur n,m ∈ N mit n,m > n0 gilt also

|an − am| ≤ |an − a+ a− am| ≤ |an − a|+ |am − a| < ε

Definition 3.22. Eine Folge an heisst eine Cauchy-Folge, falls fur alle ε > 0 n0 ∈ Nexistiert mit

n,m > n0 ⇒ |an − am| < ε

Die Idee ist, dass bei Cauchy-Folgen Abstande zwischen Elementen der Folge kleinerwerden, als eine beliebige Fehlergrenz ε > 0. Wir haben schon bewiesen, dass jedekonvergente Folge eine Cauchy-Folge ist. Wir zeigen nun, dass auf R auch die umgekehrteAussage gilt.

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Satz 3.23 (Cauchy-Kriterium). Eine Folge an auf R ist genau dann konvergent, wennsie eine Cauchy-Folge ist.

Beweis. Der Beweis ist in zwei Schritte unterteilt.

Schritt 1: an Cauchy impliziert, dass an beschrankt ist.Beweis: Sei ε = 1. Dann existiert n0 ∈ N mit |an − am| < 1 fur alle n,m > n0. Dasbedeutet, dass |an − an0+1| < 1 fur alle n > n0. Also

|an| = |an0+1 + (an − an0+1)| ≤ |an0+1|+ 1

fur alle n > n0. Das impliziert, dass

|an| ≤ max {|a1|, . . . , |an0 |, |an0+1|+ 1}

fur alle n ∈ N.

Schritt 2: Sei an eine Cauchy-Folge, und b ein Haufungspunkt von an. Dann konvergiertan → b.Beweis: Sei ε > 0 fest. Da an eine Cauchy-Folge ist, existiert n0 ∈ N mit |an−am| < ε/2fur alle n,m > n0. Da b ein Haufungspunkt ist, folgt, dass |an − b| < ε/2 fur unendlichviele n ∈ N. Insbesondere existiert sicher n1 > n0 mit |an1 − b| < ε/2. Das impliziert,dass, fur beliebige n > n0,

|an − b| ≤ |an − an1 |+ |an1 − b| < ε

Also an → b, wie behauptet.

Schritt 1 impliziert, dass an mindestens einen Haufungspunkt hat. Schritt 2 impliziertalso, dass an konvergiert.

3.5 Uneigentliche Grenzwerte

Viele Folgen, wie zum Beispiel an = n, konvergieren nicht, weil sie ins Unendlichedivergieren. Es ist manchmal nutzlich, die reellen Zahlen mit plus und minus unendlichzu erweitern, und Folgen wie an = n als konvergente Folgen in den erweiterten reellenZahlen zu betrachten.

Definition 3.24. Wir definieren die abgeschlossene reelle Achse

R = R ∪ {−∞,+∞}

Wir erweitern die Ordnung auf R durch

a <∞, fur alle a ∈ Ra > −∞ fur alle a ∈ R−∞ <∞

Bemerke, dass R kein Korper ist.

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Definition 3.25 (Uneigentliche Grenzwerte). Die Folge an in R konvergiert gegen +∞(man sagt auch, sie divergiert gegen +∞), falls fur alle M ∈ R n0 ∈ N existiert, so dassan > M fur alle n > n0. Ahnlich definiert man die Bedeutung von an → −∞.

Eigenschaften von uneigentlichen Grenzwerten.

• Sei an → +∞, bn → b ∈ R ∪ {+∞}. Dann gilt an + bn → +∞. Analog, fallsan → −∞ und bn → b ∈ R ∪ {−∞}, so gilt an + bn → −∞. Gilt an → +∞ undbn → −∞, so gibt es keine allgemeine Rechenregel, um den Limes von an + bn zubestimmen.

• Sei an → +∞, bn → b. Ist b > 0, so gilt anbn → +∞. Ist b < 0, so gilt anbn → −∞.Ist b = 0, so gibt es keine allgemein gultige Rechenregel, um den Limes von anbnzu finden.

• Sei an → ±∞ (d.h. an → +∞ oder an → −∞). Dann gilt 1/an → 0.

• Eine monotone Folge in R hat immer einen (eigentlichen oder uneigentlichen)Grenzwert.

• Fur eine beliebige Folge an in R definieren wir an = sup{aj : j > n} ∈ R undlim supn→∞ an = limn→∞ an. Ahnlich kann man auch den Limesinferior einer be-liebigen Folge in R definieren. Limessuperior und Limesinferior existieren immer.Eine Folge an konvergiert, im eigentlich oder uneigentlichen Sinne, genau dann,wenn lim supn→∞ an = lim infn→∞ an.

• Wir sagen +∞ ist Haufungspunkt von an, falls fur alle M ∈ R gilt an > M furunendlich viele n ∈ N. Jede Folge in R hat dann mindestens einen (eigentlichenoder uneigentlichen) Haufungspunkt.

4 Reihen

Reihen sind ein besonderes Beispiel von Folgen, die durch Summen definiert werden.

4.1 Definition und elementare Eigenschaften

Sei (an)n∈N eine Folge auf R. Der Ausdruck∑aj oder

∑j aj oder

∑∞j=0 aj heisst eine

Reihe, mit Gliedern an. Die Reihe ist als Grenzwert von endlichen Summen zu verstehen.

Definition 4.1. Sei an eine Folge auf R. Wir setzen, fur jede n ∈ N,

sn = a0 + a1 + · · ·+ an =n∑j=0

aj

sn heisst die Folge der Partialsummen. Ist sn konvergent, so sagen wir, dass die Reihe∑∞j=0 aj konvergiert, und wir setzen

∞∑j=0

aj := limn→∞

sn = limn→∞

n∑j=0

aj

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Falls sn → ±∞, so sagen wir dass die Reihe∑∞

j=0 aj divergiert gegen ±∞. Ist∑∞

j=0 aj

weder konvergent noch nach ±∞ divergent, so sagen wir∑∞

j=0 aj existiert nicht. Ahn-lich, konnen wir auch Reihen

∑∞j=1 aj, oder allgemeiner Reihen der Form

∑∞j=n0

ajdefinieren.

Bemerke, dass die Frage, ob eine Folge konvergiert oder nicht, per Difinition nur vondem asymptotischen Verhalten von an abhangt. Mit anderen Worten:

∞∑j=0

aj konvergiert, g.d.w.

∞∑j=m

aj konvergiert

fur ein beliebiges m ∈ N.Beispiele:

• Die geometrische Reihe: Sei q ∈ R. Dann gilt

sn =n∑j=0

qj = 1 + q + q2 + · · ·+ qn =1− qn+1

1− q

Ist |q| < 1, so konvergiert qn+1 → 0, und deswegen sn → 1/(1−q). Also konvergiertfur |q| < 1 die geometrische Reihe

∞∑j=0

qj =1

1− q

• Die harmonische Reihe: Wir untersuchen hier die Reihe

∞∑j=1

1

j

Fur n ∈ N setzen wir

sn = 1 +1

2+ · · ·+ 1

n=

n∑j=1

1

j

Wir bemerken

s2n − sn =1

n+ 1+

1

n+ 2+ · · ·+ 1

2n≥ n · 1

2n=

1

2

Das bedeutet, die Folge sn kann keine Cauchy-Folge sein. Deswegen ist sn divergent(man kann zeigen, dass sn logarithmisch wachst). Also divergiert die harmonischeReihe.

Eine erste wichtige Bemerkung ist, dass an → 0 eine notwendige Bedingung ist,damit die Reihe

∑an konvergiert.

Proposition 4.2. Ist die Reihe∑∞

j=0 aj konvergent, so gilt an → 0.

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Beweis. Sei

sn =

n∑j=0

aj

die Folge der Partialsummen. Die Konvergenz der Reihe bedeutet, dass sn konvergiert.Sei s = limn→∞ sn. Dann gilt

an+1 = sn+1 − sn → s− s = 0

(weil die Folge sn+1 → s und weil der Grenzwert der Differenz zweier konvergentenFolgen gleich zur Differenz der Grenzwerte ist). an+1 → 0 impliziert auch, dass an →0.

Folgerung: Fur |q| ≥ 1 konvergiert die Folge qn nicht gegen Null. Deswegen ist indiesem Fall die Reihe

∑n q

n nicht konvergent (falls q > 0 divergiert die Reihe nach +∞,falls q < 0 existiert

∑∞j=0 q

j nicht).

Bemerkung: an → 0 ist notwendig, aber nicht hinreichend fur die Konvergenz derReihe

∑an. Z.B. die harmonische Reihe divergiert, obwohl 1/n→ 0.

Die folgende Proposition folgt aus Proposition 3.6 (angewandt auf der Folge derPartialsummen).

Proposition 4.3. Seine∑an,

∑bn konvergenten Reihen und α ∈ R beliebig.

• Die Reihe∑

(an + bn) konvergiert, und

∞∑j=0

(aj + bj) =

∞∑j=0

aj +

∞∑j=0

bj

• Die Reihe∑αan konvergiert, und

∞∑j=0

αaj = α∞∑j=0

aj

4.2 Konvergenzkriterien und Anwendungen

Satz 4.4. Sei an ≥ 0 fur alle n ∈ N. Dann konvergiert die Reihe∑

n an genau dann,wenn die Folge sn = a0 + a1 + · · ·+ an der Partialsummen beschrankt ist.

Beweis. Da an ≥ 0 fur alle n, ist die Folge sn monoton steigend. Aus Proposition 3.11konvergiert dieFolge sn genau dann wenn sie nach oben beschrankt ist.

Eine analoge Aussage gilt offenbar fur Reihen mit an ≤ 0 fur alle n ∈ N (in diesemFall ist die Folge der Partialsummen monoton fallend).

Das Cauchy-Kriterium fur die Folge der Partialsummen impliziert das folgende Cauchy-Kriterium fur Reihen.

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Satz 4.5 (Cauchy-Kriterium fur Reihen). Die Reihe∑an konvergiert genau dann, wenn

∀ ε > 0 ∃ n0 ∈ N, s.d.

∣∣∣∣∣∣m∑

j=n+1

aj

∣∣∣∣∣∣ < ε fur alle n0 < n < m

Beweis. Nach der Definition konvergiert die Reihe∑an g.d.w. die Folge sn =

∑nj=0 aj

konvergiert. Aus dem Cauchy-Kriterium fur Folgen, ist die Konvergenz von sn aberaquivalent zur Bedingung, dass sn eine Cauchy-Folge ist: Fur alle ε > 0 existiert n0 ∈ Nmit |sm− sn| < ε. Da |sn− sm| = |sm− sn|, genugt es |sm− sn| < ε fur alle n0 < n < mzu uberprufen. Dann ist aber

|sm − sn| =

∣∣∣∣∣∣m∑

j=n+1

aj

∣∣∣∣∣∣Definition 4.6. Eine Reihe

∑an heisst absolut konvergent, falls

∑|an| konvergiert.

Proposition 4.7. Jede absolut konvergente Reihe ist auch konvergent. Weiter gilt (ver-allgemeinerte Dreiecksungleichung):∣∣∣∣∣∣

∞∑j=0

aj

∣∣∣∣∣∣ ≤∞∑j=0

|aj |

Beweis. Sei∑|an| konvergent. Aus dem Cauchy-Kriterium fur Reihen, existiert fur alle

ε > 0 n0 ∈ N mit∑m

j=n+1 |aj | < ε fur alle n0 < n < m. Nach der Dreiecksungleichungist ∣∣∣∣∣∣

m∑j=n+1

aj

∣∣∣∣∣∣ ≤m∑

j=n+1

|aj | < ε

fur alle n0 < n < m. Also erfullt∑an die Cauchy-Bedingung und konvergiert deswegen.

Um die verallgemeinerte Dreiecksungleichung zu zeigen, setzen wir sn =∑n

j=0 aj . Da∑an konvergiert, gilt sn → s :=

∑∞j=0 aj . Wir haben∣∣∣∣∣∣

∞∑j=0

aj

∣∣∣∣∣∣ = |s| ≤ |sn|+ |s− sn| ≤n∑j=0

|aj |+ |s− sn| ≤∞∑j=0

|aj |+ |s− sn|

Da die linke Seite unabhangig von n ist, konnen wir n beliebig gross wahlen. Fur n→∞konvergiert aber |s− sn| → 0. Das ergibt die gewunschte Ungleichung.

Bemerkung: Absolute Konvergenz ist hinreichend fur Konvergenz, aber nicht notwen-dig. Wir werden bald sehen, dass konvergente Reihen existieren, die aber nicht absolutkonvergieren.

Proposition 4.8 (Majorantenkriterium). Sei∑cn eine konvergente Reihe positiver

Glieder, und sei |an| < cn fur fast alle n ∈ N. Dann ist∑an absolut konvergent.

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Beweis. O.B.d.A konnen wir annehmen, dass |an| < cn fur alle n ∈ N (weil Konver-genznur von asymptotischen Verhalten abhangt). Die Folge

∑|an| konvergiert genau

dann wenn sie beschrankt ist. Es gilt

sn =n∑j=0

|aj | ≤n∑j=0

cj ≤∞∑j=0

cj

fur alle n ∈ N. Da die rechte Seite unabhangig von n ist, ist die Folge sn beschrankt.

Anwendung: Die Folge∞∑j=0

1

j!

konvergiert. In der Tat, fur j ≥ 1, haben wir

1

(j + 1)!=

1

j + 1

1

j!≤ 1

2

1

j!≤ 1

221

(j − 1)!≤ · · · ≤ 1

2j

Also1

j!≤ 1

2j−1= 2

1

2j

fur alle j ≥ 1 (der Fall j = 1 wird separat behandelt). Da die Reihe∑

2(1/2)n konver-giert, konvergiert wegen dem Majorantenkriterium auch

∑1/n!.

Definition 4.9. Wir setzen

e :=∞∑j=0

1

j!

e wird als Euler’sche Zahl bezeichnet.

Bemekrung: es gilt (1 +

1

n

)n→ e

Beweis: Ubung.

Ahnlich zum Majorantenkriterium haben wir das folgende Vergleichskriterium.

Proposition 4.10 (Vergleichskriterium). Seien an, bn > 0 fur fast alle n ∈ N.

i) Ist

lim supn→∞

bnan

<∞

und∑an konvergent, so ist auch

∑bn konvergent.

ii) Ist

lim infn→∞

bnan

> 0

und∑an divergent, so ist auch

∑bn divergent.

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Beweis. i) Fur lim supn→∞(bn/an) < ∞ existieren r > 0 und n0 ∈ N mit bn < ran furalle n > n0 (man kann z.B. r = lim supn→∞(bn/an)+1 wahlen). Da

∑cn, mit cn = ran,

konvergiert, folgt aus dem Majorantenkriterium, dass∑bn konvergiert. Der Beweis von

ii) geht analog (man braucht hier ein Minorantenkriterium: Sei cn eine Folge positiverZahlen, s.d.

∑cn nach ∞ divergiert. Sei |an| > cn fur fast alle n ∈ N. Dann ist

∑an

nicht absolut konvergent).

Beispiel: Wir betrachten die Reihe

∞∑j=0

1√j2 + 1

Wir mochten bn = 1/√n2 + 1 mit an = 1/n vergleichen. Da

bnan

=n√

n2 + 1=

1√1 + (1/n2)

→ 1

gilt

lim infn→∞

bnan

= 1 > 0

Da∑an divergiert, muss auch

∑bn divergieren.

Proposition 4.11 (Wurzelkriterium). Sei an eine Folge auf R. Gilt

lim supn→∞

|an|1/n < 1

so konvergiert die Reihe∑an absolut. Ist dagegen

lim infn→∞

|an|1/n > 1

so ist die Reihe∑an nicht absolut konvergent.

Beweis. Aus lim sup |an|1/n < 1 folgt, dass 0 < q < 1 existiert, mit |an|1/n ≤ q furalle n > n0. Das impliziert, dass |an| ≤ qn fur fast alle n. Die Konvergenz von

∑qn

impliziert nach Majorantenkriterium die Konvergenz von∑|an|. Die zweite Aussage

kann man ahnlich zeigen.

Satz 4.12 (Quotientenkriterium). Ist an 6= 0 fur fast alle n ∈ N, und

lim supn→∞

|an+1||an|

< 1

so konvergiert∑an absolut.

Beweis. Es existieren 0 < q < 1 und n0 ∈ N mit

|an+1||an|

≤ q

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fur alle n > n0. Also|an0+1||an0 |

≤ q ⇒ |an0+1| ≤ q |an0 |

Ein Schritt weiter

|an0+2||an0+1|

≤ q ⇒ |an0+2| ≤ q|an0+1| ≤ q2|an0 |

Nach j Schritten|an0+j | ≤ qj |an0 |

Das gibt|an| ≤ qn−n0 |an0 |

fur alle n > n0. Da∑qn−n0 |an0 | konvergiert, folgt aus dem Majorantenkriterium, dass∑

|an| konvergiert.

Beispiel: Wir betrachten die Reihe

∞∑j=0

(j!)2

(2j)!

Es giltan+1

an=

((n+ 1)!)2 (2n)!

(n!)2 (2n+ 2)!=

(n+ 1)2

(2n+ 2)(2n+ 1)→ 1

4< 1

Aus dem Quotientenkriterium ist also die Reihe konvergent.In vielen Situationen kann das Quotientenkriterium nicht weiter helfen. Z.B. falls

an = 1/nα, α ∈ Q und positiv. Dann gilt

an+1

an=

(n+ 1)α=

(1− 1

n+ 1

)α→ 1

Wir kommen spater auf dieses Beispiel zuruck.

Proposition 4.13 (Teleskopsumme). Sei bn eine Folge auf R, und an = bn − bn−1, furalle n ≥ 1. Dann konvergiert die Reihe

∑an g.d.w. die Folge bn konvergiert. In diesem

Fall∞∑j=1

aj = limn→∞

bn − b0

Beweis. Es gilt

n∑j=1

aj =n∑j=1

(bj − bj−1) = (b1 − b0) + (b2 − b1) + · · ·+ (bn − bn−1) = bn − b0

41

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Beispiel: Sei bn = −1/(n+ 1) und

an = bn − bn−1 = − 1

n+ 1+

1

n=

1

n(n+ 1)

Fur bn → 0, folgt, dass∑an konvergiert, und

∞∑n=1

1

n(n+ 1)= 1

Mit dem Vergleichskriterium folgt, dass auch∑∞

n=1(1/n2) konvergiert.

Proposition 4.14 (Cauchy’s Verdichtungssatz). Sei an eine monoton fallende Folgepositiver Zahlen. Dann konvergiert

∑n an genau dann, wenn

∑2ka2k konvergiert.

Beweis. Da an > 0 fur alle n ∈ N ist die Reihe∑an konvergent g.d.w. die Folge

sn =∑n

j=1 aj beschrankt ist. Das ist aber aquivalent (da sn monoton wachsend ist) zurBeschranktheit der Teilfolge

s2k−1 =2k−1∑j=1

aj

Wir setzen

b` =2`−1∑j=2`−1

aj

Dann gilt

s2k−1 =

2k−1∑j=1

aj =

k∑`=1

b`

Da aj monoton fallend ist, und weil b` die Summe von 2`−1 Gliedern ist, haben wir auch

2`−1a2` ≤ b` ≤ 2`−1a2`−1

Wir erhalten, dassk∑`=1

2`−1a2` ≤k∑`=1

b` ≤k∑`=1

2`−1a2`−1

und deswegen

1

2

k∑`=1

2`a2` ≤ s2k−1 ≤ a1 +k−1∑`=1

2`a2`

Es folgt, dass die Folge s2k−1 genau dann beschrankt ist, wenn die Reihe∑∞

`=1 2`a2`konvergiert.

Anwendung: Sei α = p/q eine rationale Zahl mit p, q ∈ N\{0}. Dann betrachtenwir die Folge

∑1/nα. Wir wissen schon, dass die Folge divergiert fur α = 1, und dass

42

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sie konvergiert fur α = 2. Mit Hilfe von Cauchy’s Verdichtungsatz, konvergiert∑

1/nα

genau dann, wenn∞∑n=1

2n1

2αn=∞∑n=1

(1

2α−1

)nkonvergiert. Das ist aber genau dann der Fall, falls

(1/2α−1) < 1 ⇐⇒ 2α−1 > 1 ⇐⇒ α > 1

Wir haben somit gezeigt, dass die Reihe∑

1/nα genau dann konvergiert, falls α > 1.

Alternierende Reihen sind Reihen, deren Glieder alternierende Vorzeichen haben.

Proposition 4.15 (Leibnitz). Sei an eine monoton fallende Folge positiver Zahlen, mitan → 0. Dann konvergiert die alternierende Reihe

∞∑j=1

(−1)j−1aj = a1 − a2 + a3 − a4 + . . . .

Beweis. Wir zeigen zunachst, dass, fur alle n ∈ N,

0 ≤ a1 − a2 + · · · ± an ≤ a1 (4)

In der Tat, ist n = 2m gerade, so gilt

a1 − a2 + · · · − a2m = (a1 − a2) + · · ·+ (a2m−1 − a2m) ≥ 0

und

a1 − a2 + · · · − a2m = a1 − (a2 − a3)− · · · − (a2m−2 − a2m−1)− a2m ≤ a1

weil die Folge an monoton fallend ist. Ist anderseits n = 2m+ 1 ungerade, so haben wir

a1 − a2 + · · ·+ a2m+1 = (a1 − a2) + · · ·+ (a2m−1 − a2m) + a2m+1 ≥ 0

unda1 − a2 + · · ·+ a2m+1 = a1 − (a2 − a3)− · · · − (a2m − a2m+1) ≤ a1

Das zeigt (4) und impliziert auch, dass

0 ≤ an+1 − an+2 + an+3 − · · · ± am ≤ an+1

fur alle n < m. Wir erhalten also∣∣∣∣∣∣m∑

j=n+1

(−1)jaj

∣∣∣∣∣∣ ≤ an+1

fur alle n < m. Die Konvergenz an → 0 impliziert also, dass die Reihe∑

(−1)jaj dieCauchy-Bedingung erfullt, und also, dass sie konvergiert.

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Beispiel: Die alternierende harmonische Reihe

∞∑j=1

(−1)j−11

j= 1− 1

2+

1

3− . . .

konvergiert. Wir werden spater sehen, dass der Grenzwert log 2 ist (log bezeichnet dennaturlichen Logarithmus mit Basis e). Da

∑(1/n) divergiert, ist die alternierende har-

monische Reihe ein Beispiel einer konvergierenden, aber nicht absolut konvergierenden,Reihe.

Satz 4.16 (Cauchy-Schwarz Ungleichung). Seien an, bn Folgen auf R, mit∑

n a2n und∑

n b2n konvergent. Dann ist

∑n anbn absolut konvergent, und

∞∑n=0

|an| |bn| ≤

( ∞∑n=0

a2n

)1/2 ( ∞∑n=0

b2n

)1/2

Beweis. Fur jede α > 0, haben wir

2|an||bn| ≤ αa2n + α−1b2n

Wir summieren uber n ∈ N und bekommen

2∑n

|an||bn| ≤ α∑n

a2n + α−1∑n

b2n

Die Wahl

α =

(∑n b

2n

)1/2(∑

n a2n)1/2

zeigt den Satz.

4.3 Umordnungen von Reihen

Wir untersuchen in diesem Abschnitt, ob die Konvergenz und der Wert einer Reihe vonder Ordnung der Glieder abhangt. Andert sich der Wert der Glieder, falls wir sie ineine andere Ordnung summieren. Fur endliche Summen wissen wir naturlich, dass dieOrdnung der Summanden keine Rolle spielt. Wir werden sehen, dass das bei unendlichenReihen nicht immer der Fall ist.

Satz 4.17 (Umordnungsatz). Sei∑an eine absolut konvergente Reihe und φ : N→ N

eine Bijektion. Dann ist∑aφ(j) absolut konvergent, und

∞∑j=0

aφ(j) =∞∑j=0

aj

Notation: Sei∑

n an eine Reihe und X ⊂ N. Dann definieren wir∑

n∈X an als dieReihe

∑n a

Xn , wobei aXn = an, falls n ∈ X und sonst aXn = 0.

Zum Beweis von Satz 4.17 benutzen wir das Resultat vom folgenden Lemma.

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Lemma 4.18. Sei∑an absolut konvergent. Dann ist auch

∑n∈X an absolut konvergent,

fur alle X ⊂ N. Weiter, falls X1, X2 ⊂ N mit X1 ∩X2 = ∅, so gilt∑n∈(X1∪X2)

an =∑n∈X1

an +∑n∈X2

an (5)

Beweis. Die absolute Konvergenz von∑

n∈X an folgt aus dem Majorantenkriterium,weil |aXn | ≤ |an| fur alle n ∈ N. Die Gleichung (5) folgt, weil aX1∪X2

n = aX1n + aX2

n furalle n ∈ N (das folgt indem man die Falle n ∈ X1, n ∈ X2, n ∈ (X1 ∪ X2)

c separatuntersucht).

Wir kommen nun zum Beweis des Umordnungsatzes.

Beweis von Satz 4.17. Sei ε > 0. Da∑an absolut konvergent ist, finden wir m0 ∈ N

mit∞∑

j=m0+1

|aj | < ε

Das ist moglich, weil die Folge der Partialsummen sn =∑n

j=0 |aj | gegen s =∑∞

j=0 |aj |konvergiert; das bedeutet, dass s− sn =

∑∞j=n+1 |aj | → 0. Wir setzen nun

n0 = max{φ−1(0), φ−1(1), . . . , φ−1(m0)}

Es folgt, dass{0, 1, . . . ,m0} ⊂ {φ(0), φ(1), . . . , φ(n0)}

Wir behaupten nun, dass ∣∣∣∣∣∣n∑j=0

aφ(j) −∞∑j=0

aj

∣∣∣∣∣∣ < ε (6)

fur alle n > n0. In der Tat, fur n > n0, setze

Xn = {φ(0), φ(1), . . . , φ(n)}

Dann gilt ∑j∈Xn

aj =

n∑j=1

aφ(j)

Aus Lemma 4.18 haben wir∞∑j=0

aj =∑j∈Xn

aj +∑j∈Xc

n

aj

D.h.∞∑j=1

aj −n∑j=1

aφ(j) =∑j∈Xc

n

aj

Das gibt, aus der verallgemeinerten Dreiecksungleichung∣∣∣∣∣∣∞∑j=1

aj −n∑j=1

aφ(j)

∣∣∣∣∣∣ ≤∑j∈Xc

n

|aj | ≤∞∑

j=m0+1

|aj | < ε

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Hier haben wir benutzt, dass {0, 1, . . . ,m0} ⊂ {φ(0), φ(1), . . . , φ(n0)} ⊂ Xn, und des-wegen Xc

n ⊂ {0, 1, . . . ,m0}c = {m0 + 1,m0 + 2, . . . }. Das zeigt (6) und impliziert, dass∑aφ(j) gegen den Grenzwert

∑∞j=0 aj konvergiert. Absolute Konvergenz folgt ahnlich

durch Anwendung dieses Arguments auf der Reihe∑|aφ(j)|.

Proposition 4.19 (Riemann). Sei∑an eine konvergente, aber nicht absolut konver-

gente, Reihe und sei σ ∈ R beliebig. Es existiert dann eine Bijektion φ : N→ N mit

∞∑j=1

aφ(j) = σ

Es gibt auch Bijektionen, s.d. die Reihe∑∞

j=0 aφ(j) gegen +∞ oder −∞ divergiert (Be-

weis: Ubung).

Auf Grund der letzten Proposition sagt man manchmal, dass absolut konvergierendeReihen unbedingt konvergent sind, wahrend konvergierende, aber nicht absolut konver-gierende Reihe, nur bedingt konvergieren (die Konvergenz hangt in diesem Fall namlichvon der Wahl der Ordnung der Glieder ab).

Beweis. Wir definieren a+n = max{an, 0} und a−n = max{−an, 0}. Dann gilt an = a+n−a−nund |an| = a+n + a−n . Waren die zwei Reihen

∑a+n und

∑a−n beide konvergent, so ware

auch∑

(a+n + a−n ) konvergent, und∑an ware absolut konvergent. Also mindestens eine

der zwei Reihen∑a+n und

∑a−n muss nach ∞ divergieren. Wir behaupten nun, dass

beide Reihen divergieren. In der Tat, falls zB.∑a+n konvergiert und

∑a−n divergiert,

so wurden∑j=0

aj =n∑j=0

a+j −n∑j=0

a−j

gegen −∞ divergieren, im Widerspruch zur Konvergenz von∑an.

Wir setzen

I+ = {n ∈ N : an ≥ 0}I− = {n ∈ N : an < 0}

Es gilt I+ ∩ I− = ∅ und I+ ∪ I− = N. Weiter, I+ und I− sind beide unendliche Mengen,weil sonst

∑j∈I+ aj =

∑a+j oder

∑j∈I− aj = −

∑a−j konvergieren wurde.

Fur gegebene σ ∈ R definieren wir nun rekursiv eine Funktion φ : N → N. Istσ ≥ 0, so setzen wir φ(0) = min I+. Ist dagegen σ < 0, so definieren wir φ(0) = min I−.Angenommen φ(0), . . . , φ(n) sind schon gewahlt, definieren wir φ(n+ 1) wie folgt. Sei

sn = aφ(0) + · · ·+ aφ(n)

Gilt sn ≤ σ, so setzen wir

φ(n+ 1) = min{n ∈ I+ : n > φ(j) fur alle j mit φ(j) ∈ I+}

Ist dagegen sn > σ, so definieren wir

φ(n+ 1) = min{n ∈ I− : n > φ(j) fur alle j mit φ(j) ∈ I−}

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Mit anderen Worten: φ(n + 1) ist das erste noch nicht benutzte Element von I+, fallssn ≤ σ und das erste noch nicht benutzte Element von I− falls sn > σ. Die Funktion φist wohldefiniert, weil I+, I− unendliche Mengen sind. Wir behaupten nun, dass φ eineBijektion ist. φ ist offenbar injektiv, weil nur noch nicht benutzte Elemente von I+, I−benutzt werden. Um zu zeigen, dass φ auch surjektiv ist, mussen wir zeigen, dass fur allen ∈ N mit φ(n) ∈ I+ ein m > n existiert mit φ(m) ∈ I− und, umgekehrt, fur jede n ∈ Nmit φ(n) ∈ I− ein m > n existiert mit φ(m) ∈ I+. Das impliziert, dass, fruher oderspater, alle Elemente von I+ und von I− benutzt werden. Nehmen wir an φ(n) ∈ I+.Falls kein m > n mit φ(m) ∈ I− existiert, dann ware φ(m) ∈ I+ fur alle m > n. Dannware aber

sm = aφ(0) + · · ·+ aφ(n−1) + aφ(n) + · · ·+ aφ(m) ≤ σ

fur alle m > n, wobei φ(n), . . . , φ(m) ∈ I+. Da aber∑

j∈I+ aj = ∞, und weil aφ(0) +· · ·+ aφ(n−1) eine von m unabhangige Konstante ist, wurde dann sm →∞ als m→∞,in Gegensatz zu sm ≤ σ fur alle m > n. Wir haben gezeigt, dass φ eine Bijektion ist.

Nun behaupten wir, dass

sn =

n∑j=1

aφ(j) → σ

Sei ε > 0. Dann existiert m1 ∈ N mit |am| < ε fur alle m > m1. Wir setzen

n1 = max{φ−1(0), φ−1(1), . . . , φ−1(m1)}

Fur n > n1 ist φ(n) > m1 und deswegen |aφ(n)| < ε. Wir behaupten nun, dass, fur allen > n1,

|sn − σ| ≤ max{|sn−1 − σ|, ε} (7)

Das folgt aus der Bemerkung, dass aus Konstruktion von φ nur einer der folgendenFalle auftreten kann: 1) sn−1 ≤ sn ≤ σ oder σ ≤ σn ≤ σn−1, 2) sn−1 ≤ σ ≤ snoder sn ≤ σ ≤ sn−1. Im Fall 1) gilt |sn − σ| ≤ |sn−1 − σ|. Im Fall 2) gilt dagegen|sn − σ| ≤ |sn − sn−1| ≤ |aφ(n)| < ε. Sei nun n2 = min{n > n1 : sn−1 ≤ σ ≤ sn} < ∞.Dann |sn2 − σ| < ε und, durch wiederholte Anwendung von (7), |sn − σ| < ε fur allen > n2. Das zeigt, dass sn → σ.

4.4 Reihen mit abzahlbaren Indexmengen

Sei I eine abzahlbare Menge. Wir nennen eine Funktion a : I → R eine Folge mitIndexmenge I (wird oft mit (ai)i∈I bezeichnet). Wir untersuchen hier die Frage, ob∑

i∈I ai vernunftigt definiert werden kann, und, falls ja, wie diese Summe berechnetwerden kann. Ein typisches Beispiel sind Folgen an,m mit Indexmengen N × N; wannkann man

∑(n,m)∈N×N an,m definieren, und wie kann man dann die Summe berechnen?

Definition 4.20. Sei (ai)i∈I eine Folge mit abzahlbarer Indexmenge I. Existiert eineBijektion ψ : N→ I mit

∑∞n=0 |aψ(n)| <∞, dann definieren wir

∑i∈I

ai :=∞∑n=0

aψ(n)

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Die Definition ist in diesem Fall unabhangig von der Wahl der Bijektion ψ. Ist namlichϕ : N→ I eine andere Bijektion, so ist, aus Satz 4.17,

∞∑n=1

aϕ(n) =∞∑n=1

aψ(ψ−1◦ϕ(n)) =∞∑n=1

aψ(n)

weil ψ−1 ◦ ϕ : N→ N eine Bijektion ist, und weil die Folge aψ(n) absolut konvergent ist.In diesem Fall heisst die Funktion a : I → R (die Folge (ai)i∈I) summierbar.

Um Reihen mit abzahlbaren Mengen I zu berechnen, ist es manchmal nutzlich, I alsabzahlbare Vereinigung von disjunkten Mengen I1, I2, . . . zu schreiben, separat auf denverschiedenen Indexmengen Ij zu summieren, und schlussendlich die Resultaten uber jzu summieren. Dazu ist die nachste Proposition nutzlich.

Proposition 4.21. Sei I eine abzahlbare Menge, (ai)i∈I eine Folge mit Indexmenge I(eine Funktion auf I). Sei Ij ⊂ I, fur alle j ∈ N, s.d. I =

⋃∞j=0 Ij und Ii ∩ Im = ∅ fur

alle i 6= m. Dann gilt:

a) Sei ai uber I summierbar. Dann ai ist uber In summierbar, fur alle n ∈ N, dieReihe

∞∑n=0

(∑i∈In

ai

)ist absolut konvergent und

∞∑n=0

(∑i∈In

ai

)=∑i∈I

ai

b) Sei ai summierbar uber In, fur alle n ∈ N und sei die Reihe∑∞

n=0

(∑i∈In |ai|

)konvergent. Dann ist ai summierbar uber I.

Beweis. O.B.d.A. konnen wir annehmen, dass I = N (sonst finden wir eine Bijektionψ : N→ I und wir ersetzen ai durch die Folge aψ(n) mit Indexmenge N). a) Wir nehmenhier an, dass

∑∞i=0 |ai| < ∞. Das impliziert, dass

∑i∈In ai absolut konvergent ist, fur

alle n ∈ N. Weiter

m∑n=0

∣∣∣∣∣∑i∈In

ai

∣∣∣∣∣ ≤m∑n=0

∑i∈In

|ai| =∑

i∈I1∪···∪Im

|ai| ≤∑i∈I|ai|

Die rechte Seite gibt eine obere Schranke, unabhangig aus m. Das impliziert, dass dieReihe

∑∞n=0

(∑i∈In ai

)absolut konvergent ist, und, dass

∞∑n=0

∣∣∣∣∣∑i∈In

ai

∣∣∣∣∣ ≤∑i∈I|ai| .

Wir mochten nun zeigen, dass

∞∑n=0

(∑i∈In

ai

)=∑i∈I

ai

48

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Dazu bemerken wir, dass∣∣∣∣∣∞∑i=0

ai −m∑n=0

∑i∈In

ai

∣∣∣∣∣ =

∣∣∣∣∣∣∞∑i=0

ai −∑

i∈I0∪···∪Im

ai

∣∣∣∣∣∣ =

∣∣∣∣∣∣∑

i∈(I0∪···∪Im)c

ai

∣∣∣∣∣∣ ≤∑

i∈(I0∪···∪Im)c

|ai|

Sei nun ε > 0 fest gewahlt. Dann existiert n0 ∈ N mit

∞∑j=n0+1

|aj | < ε

Wir finden dann m0 ∈ N mit

{0, 1, 2, . . . , n0} ⊂ I0 ∪ I1 ∪ · · · ∪ Im0

Dann gilt fur m > m0∣∣∣∣∣∞∑i=0

ai −m∑n=0

∑i∈In

ai

∣∣∣∣∣ ≤ ∑i∈(I0∪···∪Im)c

|ai| ≤∞∑

i=n0+1

|ai| < ε

Das zeigt Teil a). Nun zu b). Wir mussen zeigen, dass∑∞

i=0 |ai| konvergiert. Fur beliebiger ∈ N wahlen wir m ∈ N, s.d. {0, 1, . . . , r} ⊂ I0 ∩ I1 ∩ · · · ∩ Im. Dann gilt

r∑i=0

|ai| ≤∑

i∈I0∪···∪Im

|ai| =m∑n=0

∑i∈In

|ai| ≤∞∑n=0

∑i∈In

|ai|

Die rechte Seite ist eine obere Schranke, unabhangig von r. Das impliziert, dass∑

i∈I |ai| <∞.

Sei a : N × N → R eine Folge (an,m)(n,m)∈N×N mit Indexmenge N × N. Um dieSummierbarkeit von an,m zu uberprufen, untersuchen wir, ob

∞∑n=0

( ∞∑m=0

|an,m|

)<∞

Dann impliziert Prop. 4.21, Teil b), dass an,m summierbar ist, und dass

∑(n,m)∈N×N

an,m =

∞∑n=0

( ∞∑m=0

an,m

)

Im Fall an,m = anbm heisst∑

n,m anbm das Cauchy-Produkt der Reihen∑

n an und∑m bm.

Satz 4.22. Seien∑

n an und∑

m bm absolut konvergent.

a) anbm ist summierbar uber N× N.

b) Es gilt ∑(n,m)∈N×N

anbm =

( ∞∑n=0

an

)( ∞∑m=0

bm

)=

∞∑k=0

k∑j=0

ajbk−j

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Beweis. Fur n ∈ N sei In = {(n, 0), (n, 1), . . . }. Dann ist anbm summierbar uber In, furalle n ∈ N (weil

∑bm absolut konvergent ist) und

∞∑n=0

( ∞∑m=0

|anbm|

)=∞∑n=0

|an|∞∑m=0

|bm| <∞ .

Proposition 4.21, Teil b), impliziert, dass anbm summierbar uber N×N ist. Proposition4.21, Teil a), impliziert auch, dass

∑(n,m)∈N×N

anbm =

( ∞∑n=0

an

)( ∞∑m=0

bm

)

Um die zweite Gleichheit in b) zu zeigen, setzen wir Ik = {(n,m) : n + m = k}. Wirbemerken, dass

N× N =∞⋃k=0

Ik

und dass Ik ∩ I` = ∅ fur alle k 6= `. Proposition 4.21, Teil a), impliziert also,dass

∑(n,m)∈N×N

anbm =

∞∑k=0

∑(n,m)∈Ik

anbm =

∞∑k=0

k∑j=0

ajbk−j

5 Metrische Raume

5.1 Konvergenz auf metrischen Raumen

Um den Begriff von Konvergenz zu definieren, braucht man nicht unbedingt, dass dieFolge Werte auf R annimmt. Die Definition von Konvergenz kann in der Tat einfachverallgemeinert werden zu Raumen, in denen man Abstande zwischen Punkten messenkann. In der Mathematik heisst eine Funktion, die den Abstand zwischen Punkten misst,eine Metrik, und ein Raum, in welchem eine Metrik definiert ist, ein metrischer Raum.Auf R war bis jetzt der Abstand zwischen x und y durch |x − y| gegeben; das ist einBeispiel einer Metrik. Nun nehmen wir die wichtigsten Eigenschaften des Absolutbetragsund wir verlangen axiomatisch, dass jede Metrik solche Eigenschaften hat.

Definition 5.1. Ein metrischer Raum ist eine Menge M , versehen mit einer Funktiond : M ×M → R, genannt Metrik, so dass

• d(x, y) ≥ 0 fur alle x, y ∈M und d(x, y) = 0 genau dann, wenn x = y.

• d(x, y) = d(y, x) (d ist symmetrisch).

• d(x, y) ≤ d(x, z) + d(z, y) (d erfullt die Dreiecksungleichung).

Beispiele.

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• M = R, mit d(x, y) = |x − y| ist ein metrischer Raum. Auch M = Q, mit derselben Metrik, definiert einen metrischen Raum.

• M = C, mit d(z, w) = |z − w|C ist ein metrischer Raum. Sind z = x1 + iy1 undw = x2 + iy2, so gilt d(z, w) = ((x1 − x2)2 + (y1 − y2)2)1/2.

• M = Rm. Fur x = (x1, . . . , xm), y = (y1, . . . , ym) ∈ Rm, definieren wir

d(x, y) = ‖x− y‖ =

m∑j=1

(xi − yi)21/2

(8)

Dann ist (M,d) ein metrischer Raum (d heisst der euklidische Abstand zwischen xund y). Allgemeiner, jeder normierte Raum (V, ‖.‖) (erinnere, dass ein normierterRaum ein Vektorraum versehen mit einer Norm ‖.‖ ist, der die Eigenschafteni)-ii)-iii) in Kapitel 2.6 hat) wird mit der Definition

d(x, y) = ‖x− y‖

ein metrischer Raum. Man nennt d die aus der Norm induzierte Metrik. Nicht alleMetriken sind durch eine Norm induziert; insbesondere konnen Metriken auf be-liebige Mengen definiert werden, wahrend Normen nur auf Vektorraumen sinnvollsind.

• Fur eine beliebige Menge M definiert

d(x, y) =

{0 falls x = y1 sonst

eine Metrik auf M (man nennt diese Metrik die diskrete Metrik auf M).

• Sei (M,d) ein metrischer Raum und N ⊂ M . Dann ist N , versehen mit der Ein-schrankung von d auf N ×N , ein metrischer Raum.

Wir definieren nun den Begriff von Konvergenz von Folgen auf metrischen Raumen.

Definition 5.2. Sei (M,d) ein metrischer Raum und a : N→M eine Folge auf M . Wirsagen an → a (fur ein a ∈M), falls fur alle ε > 0 ein n0 ∈ N existiert, mit d(an, a) < εfur alle n > n0.

Bemerkung: Es gilt an → a auf M genau dann, wenn d(an, a)→ 0 auf R.

Bemerkung: Die Konvergenz einer Folge hangt von der Wahl der Metrik ab. Z.B. fureine beliebige Menge M , versehen mit der diskreten Metrik d(x, y) = 0, falls x = y undd(x, y) = 1, sonst gilt an → a g.d.w. an = a fur fast alle n ∈ N. D.h. nur konstante Folgensind bzgl. der diskreten Metrik konvergent. Z.B. falls M = R, ist die Folge an = 1/nbzgl. der diskrete Metrik, nicht konvergent.

Viele Eigenschaften von Konvergenz, die wir aus Konvergenz von Folgen auf R ken-nen, lassen sich mit Hilfe der Eigenschaften, die wir in der Definition der Metrik verlangthaben, auf beliebige metrische Raume erweitern. Sei M ein metrischer Raum.

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• Jede Folge a : N → M hat hochstens einen Grenzwert. In der Tat, falls an → aund an → b mit a 6= b, so existiert n1 ∈ N und n2 ∈ N mit d(an, a) < ε/2 fur allen > n1 und d(an, b) < ε/2 fur alle n > n2. Also, fur n > max{n1, n2}, gilt

d(a, b) ≤ d(a, an) + d(an, b) < ε = d(a, b)

was einen Widerspruch ergibt.

• Sei a : N → M eine Folge auf M . a ∈ M heisst ein Haufungspunkt von an, fallsfur jede ε > 0, unendlich viele n ∈ N existieren, mit d(an, a) < ε. Es gilt: a ist einHaufungspunkt von an g.d.w. eine Teilfolge nj mit anj → a existiert. Der Beweisist ahnlich wie in Proposition 3.20.

• Eine Folge a : N → M auf M heisst eine Cauchy-Folge, falls fur alle ε > 0 einn0 ∈ N existiert, mit

n,m > n0 ⇒ d(an, am) < ε .

Jede konvergente Folge auf M ist eine Cauchy-Folge.

Definition 5.3. Ein metrischer Raum M heisst vollstandig, falls jede Cauchy Folgekonvergiert.

Der Raum R ist vollstandig. Es ist einfach, Teilmengen von R zu finden, die nichtvollstandig sind. Z.B. auf M = (0; 1], versehen mit der Metrik d(x, y) = |x − y|, ist dieFolge an = 1/n eine Cauchy-Folge die nicht konvergiert. Q, versehen wieder mit derMetrik d(x, y) = |x− y|, ist nicht vollstandig. In der Tat, es ist einfach, eine Folge in Qzu konstruieren, die in R gegen

√2 konvergiert. Da sie in R konvergiert, ist eine solche

Folge offenbar eine Cauchy-Folge, die aber auf Q nicht konvergiert.Ein wichtiges Beispiel vom metrischen Raum ist der Raum Rm, fur m ∈ N.

Satz 5.4 (Konvergenz auf Rm). Sei M = Rm, versehen mit der Euklidischen Metrik

d(x, y) = ‖x− y‖ =

m∑j=1

(xj − yj)21/2

fur x = (x1, . . . , xm), y = (y1, . . . , ym). Sei an = (a1n, . . . , amn ) eine Folge auf Rm, und

a = (a1, . . . , am) ∈ Rm. Dann gilt an → a in Rm genau dann, wenn ajn → aj fur allej = 1, . . . ,m.

Beweis. Die Konvergenz an → a impliziert, dass

d(an, a) =

m∑j=1

(ajn − aj)2→ 0

Fur beliebiges j = 1, . . . ,m gilt

0 ≤ |ajn − aj | ≤ d(an, a)

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Das impliziert, dass |ajn − aj | → 0. Anderseits, nehmen wir an |ajn − aj | → 0 fur j =1, . . . ,m. Wir mochten zeigen, dass an → a. Sei dazu ε > 0 fest. Dann existiert n1 ∈ Nmit |a1n − a1| < ε/

√m fur alle n > n1. Analog gibt es fur jede j = 2, 3, . . . ,m nj ∈ N

mit |ajn − aj | < ε/√m fur alle n > nj . Fur n > n0 = max(n1, . . . , nm) gilt also

d(an, a) =

m∑j=1

(ajn − aj)21/2

<

n∑j=1

ε2/m

1/2

= ε

Der metrische Raum R2 ist per Definition der Norm ‖.‖ identisch mit dem metrischenRaum C, versehen mit der Metrik d(z, w) = |z−w|C. Satz 5.4 bedeutet, dass eine Folgezn auf C gegen z ∈ C genau dann konvergiert, wenn Re zn → Re z, und Im zn → Im z.Somit ist die Frage, ob eine Folge auf Rm oder auf C konvergiert, auf die Untersuchungder Konvergenz von Folgen auf R reduziert. Damit erhalten wir die Rechenregel furKonvergenz von Folgen auf Rm und C. Seien an, bn Folgen auf Rm mit an → a undbn → b, und αn eine Folge auf R mit αn → α. Dann gilt

an + bn → a+ b, an − bn → a− b und αnan → αa .

Sind an und bn Folgen auf C, so gilt

an + bn → a+ b, an − bn → a− b und anbn → ab

Ist bn 6= 0 fur alle n ∈ N und b 6= 0, so gilt auch an/bn → a/b.

Eine Folge an auf Rm heisst beschrankt, falls eine Konstante C > 0 mit ‖an‖ ≤ C furalle n ∈ N existiert (eine Folge an auf C ist beschrankt falls |an|C ≤ C fur alle n ∈ N).Ahnlich wie auf R (siehe Korollar 3.21), ist jede konvergente Folge auf Rm beschrankt.Anderseits, wie schon auf R, hat jede beschrankte Folge auf Rm (oder auf C) mindestenseine konvergente Teilfolge.

Satz 5.5 (Satz von Bolzano-Weierstrass auf Rm). Jede beschrankte Folge auf Rm hateine konvergente Teilfolge.

Beweis. Sei an = (a1n, . . . , amn ) eine beschrankte Folge auf Rm. Dann ist ajn, fur jedes

j = 1, . . . ,m eine beschrankte Folge auf R. Da a1n eine beschrankte Folge auf R ist,existiert aus Korollar 3.21 eine Teilfolge n1,j und ein a1, mit a1n1,j

→ a1. Nun definiert

a2n1,jeine beschrankte Folge auf R; deswegen existiert n2,j , Teilfolge von n1,j , und a2 ∈ R

mit a2n2,j→ a2. Da n2,j eine Teilfolge von n1,j ist, gilt wieder a1n2,j

→ a1. Rekursiv finden

wir eine Teilfolge nm,j und a1, . . . , am ∈ R mit a`nm,j→ a` fur alle ` = 1, . . . ,m. Das

impliziert, dass anm,j → (a1, . . . , am).

Ahnlich wie R, ist der metrische Raum Rm vollstandig fur jedes m ∈ N (damit istauch C vollstandig).

Satz 5.6 (Cauchy-Kriterium auf Rm). Sei an eine Folge auf Rm. Dann ist an genaudann konvergent, wenn an eine Cauchy-Folge ist.

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Beweis. Ahnlich wie im Fall m = 1. Zunachst zeigt man, dass Cauchy-Folgen immerbeschrankt sind. Satz 5.5 impliziert dann, dass jede Cauchy-Folge eine konvergente Teil-folge hat. Dann zeigt man, dass eine Cauchy-Folge mit einer konvergenten Teilfolgekonvergent ist (wie im Schritt 2 vom Beweis von Satz 3.23).

Da auf Rm (und auf C) eine Addition definiert ist (das ist auf allgemeinen metrischenRaumen nicht der Fall), kann man auf Rm und auf C, wie auf R, Reihen betrachten. Seia : N → Rm eine Folge auf Rm. Ein Ausdruck

∑∞j=0 aj heisst eine Reihe, mit Gliedern

an. Fur n ∈ N definieren wir die n-te Partialsumme

sn = a0 + · · ·+ an =n∑j=0

aj

Dann ist s : N→ Rm eine Folge auf Rm. Ist die Folge konvergent, so definieren wir

∞∑j=0

aj = limn→∞

sn = limn→∞

n∑j=0

aj

Eine Reihe∑∞

j=0 aj auf Rm heisst absolut konvergent, falls∑∞

j=0 ‖aj‖ (Reihe auf R)konvergiert. Wie auf R, gilt (hier ist die Vollstandigkeit von Rm wichtig)

∞∑n=0

an absolut konvergent ⇒∞∑n=0

an konvergent

Das bedeutet, dass die verschiedenen Kriterien, die wir fur die absolute Konvergenz vonReihen auf R diskutiert haben, auch auf Rm und auf C gelten.

5.2 Offene und abgeschlossene Mengen

Sei M ein metrischer Raum mit Metrik d, a ∈M und r > 0. Dann ist

Br(a) := {x ∈M : d(x, a) < r}

die offene Kugel von Radius r um a. Fur M = R, ist Br(a) das offene Interval Br(a) =(a − r; a + r). Fur M = C, Br(a) = Kreisscheibe von Radius r um a (ohne Rand). IstM = Rm und a = (a1, . . . , am) ∈M , so ist

Br(a) =

x = (x1, . . . , xm) ∈ Rm :m∑j=1

(xj − aj)2 < r2

Definition 5.7. Eine Menge G ⊂M heisst offen, falls fur alle x ∈ G existiert ε > 0, s.d.Bε(x) ⊂ G. D.h. G ist offen, falls fur jeden x ∈ G, alle Punkte in G sind, die genugendnahe bei x liegen. Eine Menge F ⊂M heisst abgeschlossen, falls ihr Komplement F c =M\F offen ist.

Beispiel: M = R mit der ublichen Metrik, die aus dem Absolutbetrag definiert wird,a < b. Dann ist

(a; b) = {x ∈ R : a < x < b}

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eine offene Menge. Dagegen ist

[a; b] = {x ∈ R : a ≤ x ≤ b}

nicht offen (die Bedingung ist bei x = a und x = b nicht erfullt). Da

[a; b]c = (−∞; a) ∪ (b;∞)

offen ist, ist [a; b] eine abgeschlossene Menge. Insbesondere, die Menge {x}, die aus einemeinzigen Punkt x ∈ R besteht, ist abgeschlossen.

Bemerkung: M, ∅ sind immer offen und abgeschlossen.

Bemerkung: Welche Mengen offen und abgeschlossen sind, hangt von der Wahl der Me-trik ab. Z.B. fur eine belibige Menge M , versehen mit der diskreten Metrik d(x, y) = 0,falls x = y und d(x, y) = 1, falls x 6= y, ist Bε(x) = {x} fur alle ε < 1. Das impliziert,dass alle Teilmengen von M offen sind. Deswegen sind auch alle Teilmengen von Mabgeschlossen.

Proposition 5.8. Die offene Kugel Br(a) ist fur alle a ∈ M und r > 0 offen. Dieabgeschlossene Kugel {x ∈M : d(x, a) ≤ r} ist dagegen abgeschlossen.

Beweis. Sei x ∈ Br(a). Dann d(x, a) < r. Wir wahlen ε = r − d(x, a) und behaupten,dass Bε(x) ⊂ Br(a). In der Tat,

y ∈ Bε(x) ⇒ d(y, x) < ε ⇒ d(a, y) ≤ d(a, x) + d(x, y) < d(a, x) + ε = r ⇒ y ∈ Br(a)

Um zu zeigen, dass {x ∈M : d(x, a) ≤ r} abgeschlossen ist, bemerken wir, dass

M\{x ∈M : d(x, a) ≤ r} = {x ∈M : d(x, a) > r}

Sei nun x ∈M s.d. d(x, a) > r und ε = d(x, a)− r. Dann behaupten wir, dass Bε(x) ⊂{x ∈ M : d(x, a) > r}. In der Tat, ist y ∈ Bε(x), so gilt aus der Dreiecksungleichungd(y, a) ≥ d(a, x)− d(x, y) > d(a, x)− ε = r.

Satz 5.9. Sei M ein metrischer Raum.

i) G1, G2 ⊂M offen. Dann ist auch G1 ∩G2 offen.

ii) Gi offen, fur alle i in eine beliebige Indexmenge I (braucht nicht abzahlbar zusein). Dann ist

⋃i∈I Gi offen.

iii) F1, F2 ⊂M abgeschlossen. Dann ist auch F1 ∪ F2 abgeschlossen.

iv) Fi abgeschlossen, fur alle i in eine beliebige Indexmenge I (braucht nicht abzahlbarzu sein). Dann ist

⋂i∈I Fi abgeschlossen.

Bemerkung: durch wiederholte Anwendung von Teil i), es folgt, dass

G1, . . . , Gn offen ⇒n⋂j=1

Gj ist offen

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Also besagen i) und ii), dass endliche Durchschnitte und beliebige Vereinigungen von of-fenen Mengen offen sind. Analog implizieren iii) und iv), dass endliche Vereinigungen undbeliebige Durchschnitte von abgeschlossenen Mengen abgeschlossen sind. UnendlicheDurchschnitte offener Mengen brauchen nicht offen zu sein. Z.B. Gn = (−1/n; 1/n) ⊂ R(versehen mit der ublichen Metrik) ist offen fur alle n ∈ N, aber

∞⋂n=1

Gn = {0}

ist abgeschlossen. Analog brauchen unendliche Vereinigungen abgeschlossener Mengennicht abgeschlossen zu sein. Z.B.

⋃x∈(0,1){x} = (0, 1) ist offen.

Beweis. i) Sei x ∈ G1 ∩G2. Dann

x ∈ G1 ⇒ ∃ r1 > 0 : Br1(x) ⊂ G1

x ∈ G2 ⇒ ∃ r2 > 0 : Br2(x) ⊂ G2

Sei r = min(r1, r2). Dann gilt Br(x) ⊂ Br1(x) ⊂ G1 und Br(x) ⊂ Br2(x) ⊂ G2. Also,Br(x) ⊂ G1 ∩G2. ii) Sei

x ∈⋃i∈I

Gi

Dann existiert i ∈ I mit x ∈ Gi. Also existiert r > 0 mit Br(x) ⊂ Gi. Das impliziert,dass Br(x) ⊂

⋃i∈I Gi. iii) Wir benutzen die Morgan’sche Regel

(F1 ∪ F2)c = F c1 ∩ F c2 .

F1, F2 abgeschlossen impliziert, dass F c1 , Fc2 offen sind. Teil i) impliziert, dass F c1 ∩ F c2

offen ist. Deswegen ist F1 ∪ F2 abgeschlossen. iv) Aus der Morgan’schen Regel:(⋂i∈I

Fi

)c=⋃i∈I

F ci

Fi abgeschlossen impliziert, dass F ci offen ist, fur alle i ∈ I. Teil ii) impliziert also, dass⋃i∈I F

ci offen ist, und deswegen, dass

⋂i∈I Fi abgeschlossen ist.

Definition 5.10. Sei M ein metrischer Raum, A ⊂M , a ∈ A. A heisst eine Umgebungvon a, falls eine offene Menge G mit a ∈ G und G ⊂ A existiert (wir konnen immerG = Bε(a) wahlen, fur genugend kleines ε > 0).

Bemerkungen: Die offene Kugel Br(a) ist eine Umgebung von a, fur alle r > 0. EineMenge B ⊂M ist genau dann offen, wenn B eine Umgebung jedes Punktes in B ist.

Proposition 5.11. Sei M ein metrischer Raum, (xn)n∈N eine Folge in M , a ∈ M .Dann xn → a g.d.w. fur jede Umgebung U von a, xn ∈ U fur fast alle n ∈ N.

Bemerkung: Diese Charakterisierung von Konvergenz benutzt die Metrik nicht direkt(die Metrik wird nur in der Definition von offenen Mengen und von Umgebungen be-nutzt). Das erlaubt den Begriff von Konvergenz auf sogenannte topologische Raume zuerweitern, wo keine Metrik vorhanden ist, sondern nur eine Topologie (die Topologiedefiniert, welche Mengen offen sind).

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Beweis. Sei xn → a und U eine Umgebung von a. Dann existiert ε > 0 mit Bε(a) ⊂ U .Weiter existiert n0 ∈ N mit d(xn, a) < ε fur alle n > n0. Das bedeutet, dass xn ∈Bε(a) ⊂ U fur alle n > n0. Also xn ∈ U fur fast alle n ∈ N. Anderseits, nehmen wiran, dass fur jede Umgebung U von a, xn ∈ U fur fast alle n ∈ N. Wir mochten zeigen,dass xn → a. Sei dazu ε > 0. Dann ist Bε(a) eine Umgebung von a, und deswegenxn ∈ Bε(a) fur fast alle n ∈ N. Das bedeutet, es existiert n0 ∈ N mit d(xn, a) < ε furalle n > n0.

Anderseits kann man auf metrischen Raumen abgeschlossene (und deswegen auchoffene) Mengen durch Untersuchung von Konvergenz von Folgen identifizieren.

Proposition 5.12. Sei M ein metrischer Raum, A ⊂ M . Folgende Aussagen sindaquivalent.

a) A ist abgeschlossen.

b) (xn)n∈N eine Folge in A, die gegen a ∈M konvergiert, dann ist a ∈ A.

Beweis. a) ⇒ b): Sei A abgeschlossen, und xn eine Folge in A mit xn → a in M . Wirbehaupten, dass a ∈ A. Ware namlich a ∈ Ac, dann impliziert Ac offen, dass ε > 0existiert, mit Bε(a) ⊂ Ac. Fur xn → a existiert n0 ∈ N mit xn ∈ Bε(a) ⊂ Ac fur allen > n0, im Gegensatz zur Annahme xn ∈ A fur alle n ∈ N.

b) ⇒ a): Wir zeigen, dass ¬ a) ⇒ ¬ b). Sei A nicht abgeschlossen, dann ist Ac nichtoffen. Also, es existiert a ∈ Ac mit Bε(a) ∩A 6= ∅ fur jede ε > 0. Fur jede n ∈ N findenwir also xn ∈ B1/n(a) ∩ A. Dann gilt xn ∈ A fur alle n ∈ N, xn → a, aber a ∈ Ac. Daszeigt ¬ b).

Definition 5.13. Sei M ein metrischer Raum, A ⊂ M . Wir definieren dann den Ab-schluss A von A durch

A =⋂{F : F abgeschlossen und F ⊃ A}

Ahnlicherweise ist das Innere A◦ von A durch

A◦ =⋃{G : G offen und G ⊂ A}

definiert. Aus Satz 5.9 folgt, dass A abgeschlossen ist, und dass A◦ offen ist. A ist diekleinste abgeschlossene Menge, die A enthalt. A◦ ist dagegen die grosste offene Menge,die in A enthalten ist.

Bemerkung: Ist A abgeschlossen, so gilt A = A. Ist A offen, dann ist A◦ = A. Es giltimmer A◦ ⊂ A ⊂ A.

Bemerkung: Fur jede A ⊂M gilt (A)c = (Ac)◦. Beweis: Ubung.

Proposition 5.14. Sei M = R mit der ublichen Metrik. Dann gilt Q◦ = ∅ und Q = R.

Beweis. Sei G ⊂ R eine nicht leere offene Menge, a ∈ G. Dann (a − ε; a + ε) ⊂ G furε > 0 klein genug. Aber (a− ε; a+ ε) enthalt eine irrationale Zahl, fur beliebige ε > 0.Also G 6⊂ Q. Deswegen ist die einzige offene Menge G ⊂ Q die leere Menge, und Q◦ = ∅.Aus der Bemerkung oben folgt, dass Q = R.

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Definition 5.15. Sei M ein metrischer Raum, A ⊂ M . Der Rand ∂A von A ist dieMenge aller x ∈M s.d. jede Umgebung von x A und Ac schneidet, d.h.

∂A = {x ∈M : Bε(x) ∩A 6= ∅ und Bε(x) ∩Ac 6= ∅ fur alle ε > 0}

Beispiel: Ist M = R2 und A = B1(0), dann ist ∂A = {(x, y) ∈ R2 : x2 + y2 = 1} derEinheitskreis. Ist M = R und A = Q, so gilt ∂Q = R.

Bemerkung: Es gilt ∂A = A\A◦. Beweis: Ubung.

5.3 Kompaktheit

Als wir Folgen auf R betrachtet haben, haben wir gelernt, dass beschrankte Folgenimmer konvergente Teilfolgen besitzen (Bolzano-Weierstrass). Diese Eigenschaft ist sehrnutzlich in der Analysis. Es stellt sich die Frage, wann man auf allgemeinen metrischeRaumen auf die Existenz von konvergenten Teilfolgen schliessen kann. Da Cauchy-Folgenmit konvergenten Teilfolgen konvergent sind, ist diese Frage auch mit der Vollstandigkeitvom metrischen Raum verbunden.

Definition 5.16. Sei M ein metrischer Raum. Eine Teilmenge A ⊂ M heisst folgen-kompakt, falls jede Folge in A eine in A konvergente Teilfolge besitzt (eine konvergenteTeilfolge, deren Limes in A enthalten ist).

Beispiel: Der abgeschlossene Intervall [0; 1] ist folgenkompakt. In der Tat, jede Folgeauf [0; 1] besitzt aus Bolzano-Weierstrass eine in R konvergente Teilfolge. Da [0; 1] ab-geschlossen ist, muss die Teilfolge in [0; 1] konvergieren. Ahnlich werden wir sehen, dassjede abgeschlossene und beschrankte Teilmenge von Rm folgenkompakt ist.

Auf metrischen Raumen ist der Begriff von Folgenkompaktheit mit dem Begriff vonKompaktheit (oder Uberdeckungskompaktheit) aquivalent.

Definition 5.17. Sei M ein metrischer Raum und A ⊂ M . Eine offene Uberdeckungvon A ist eine Familie (Gi)i∈I offener Mengen Gi, mit

A ⊂⋃i∈I

Gi .

Eine Teilmenge A ⊂M heisst kompakt, falls jede offene Uberdeckung von A eine endlicheTeiluberdeckung enthalt. D.h:

A ⊂⋃i∈I

Gi, Gi offen fur alle i ∈ I ⇒ ∃ i1, . . . , in ∈ I : A ⊂n⋃j=1

Gij

Beispiele:

• Sei M = R und A = {1, 1/2, 1/3, . . . }. Fur n ∈ N sei Gn = (1/(n + 1); 2). Dannist Gn offen fur alle n ∈ N, und

A ⊂⋃n∈N

Gn

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Also ist (Gn)n∈N eine offene Uberdeckung von A. Wir behaupten, es existiert keineendliche Teiluberdeckung. In der Tat, nehmen wir an, dass A ⊂ Gn1 ∪ · · · ∪Gnm .Dann, mit n0 = max{n1, . . . , nm} wir haben Gnj ⊂ Gn0 fur alle j = 1, . . . ,m.Deswegen ist Gn1 ∪ · · · ∪ Gnm = Gn0 . Aber A ⊂ Gn0 kann offenbar nicht gelten.Also ist A nicht kompakt.

• Sei wieder M = R, und A = {0, 1, 1/2, 1/3, . . . }. Wir behaupten A ist kompakt.Sei in der Tat (Gi)i∈I eine offene Uberdeckung von A. Da 0 ∈ A existiert i0 ∈ Imit 0 ∈ Gi0 . Da Gi0 offen ist, existiert n0 ∈ N mit 1/n ∈ Gi0 fur alle n > n0. Furjede 1 ≤ j ≤ n0 finden wir ij ∈ I mit 1/j ∈ Gij . Dann ist aber

A ⊂n0⋃j=0

Gij

Wir haben also eine endliche Teiluberdeckung gefunden. Das zeigt, dass A kompaktist.

Theorem 5.18. Sei M ein metrischer Raum. Dann ist A ⊂ M genau dann kompakt,wenn A folgenkompakt ist.

Beweis. “⇐”: Sei A folgenkompakt und (Gi)i∈I eine offene Uberdeckung von A. FurB ⊂ A werden wir sagen, dass B uberdeckbar ist, falls n ∈ N und i1, . . . , in ∈ Iexistieren, mit B ⊂ Gi1∪· · ·∪Gin . Bemerke, dass B ⊂ Gi impliziert, dass B uberdeckbarist. Weiter, falls B1, . . . , Bm uberdeckbar sind, so ist auch B1 ∪ · · · ∪ Bm uberdeckbar.Wir mussen zeigen, dass A uberdeckbar ist. Wir werden dazu das folgende Hilflemmabenutzen.

Lemma 5.19. Sei A folgenkompakt. Dann existieren m ∈ N und y1, . . . , ym ∈ A mit

A ⊂ Bε(y1) ∪Bε(y2) ∪ · · · ∪Bε(ym)

fur ein beliebiges ε > 0.

Beweis des Lemmas. Nehmen wir an, die Behauptung sei falsch fur ein ε > 0. Dannwahlen wir y1 ∈ A beliebig, und rekursiv

yn ∈ A\ (Bε(y1) ∪ · · · ∪Bε(yn−1))

Das ist moglich, weil die Menge nie leer wird (sonst ware A ⊂ Bε(y1) ∪ · · · ∪ Bε(ym)).Die rekursiv definierte Folge yn ist, s.d. d(yn, ym) > ε fur alle n 6= m. Der Abstandzwischen zwei Elementen irgendeiner Teilfolge ist immer grosser als ε. Es existiert alsokeine Teilfolge, die das Cauchy-Kriterium erfullt. Deswegen hat yn keine konvergenteTeilfolge, in Widerspruch zur Annahme.

Zuruck zum Beweis von der Implikation “⇐” von Theorem 5.18. Wir nehmen an, A

ist nicht uberdeckbar. Aus dem Hilfslemma, mit ε = 1, finden wir y(1)1 , . . . , y

(1)m1 ∈ A mit

A ⊂ B1(y(1)1 ) ∪ · · · ∪B1(y

(1)m1

)

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A nicht uberdeckbar impliziert, dass fur mindestens ein j ∈ {1, . . . ,m1}, A ∩ B1(y(1)j )

nicht uberdeckbar ist. Wir setzen x1 = y(1)j . Aus dem Hilfslemma mit ε = 1/2 folgt, dass

A ⊂ B1/2(y(2)1 ) ∪ . . . B1/2(y

(2)m2

)

fur geeignete y(2)1 , . . . , y

(2)m2 ∈ A. Da A ∩ B1(x1) nicht uberdeckbar ist, existiert j ∈

{1, . . . ,m2} mit A ∩ B1(x1) ∩ B1/2(y(2)j ) nicht uberdeckbar. Wir setzen x2 = y

(2)j . Re-

kursiv, finden wir eine Folge (xn)n∈N, s.d. xn ∈ A und

A ∩B1(x1) ∩ · · · ∩B1/n(xn)

nicht uberdeckbar ist, fur jede n ∈ N. Da A folgenkompakt ist, hat die Folge xn einenHaufungspunkt x. Es gilt

x ∈ A ⊂⋃i∈I

Gi

Also existiert i0 ∈ I mit x ∈ Gi0 . Da Gi0 offen ist, existiert ε > 0 mit B2ε(x) ⊂ Gi0 . Dax ein Haufungspunkt ist, finden wir n ∈ N mit 1/n < ε und xn ∈ Bε(x) (weil unendlichviele xn in Bε(x)) liegen. Dann gilt

B1/n(xn) ⊂ Bε+1/n(x) ⊂ B2ε(x) ⊂ Gi0

Deswegen istA ∩B1(x0) ∩B1/2(x1) ∩ · · · ∩B1/n(xn) ⊂ Gi0

sicher uberdeckbar, in Widerspruch zur Annahme.

“⇒”: Sei A kompakt und (xn) eine Folge auf A. Wir behaupten, es existiert x∗ ∈ AHaufungspunkt von xn (d.h. fur alle ε > 0 existieren unendlich viele n ∈ N mit xn ∈Bε(x

∗)). Falls nicht, so gabe es fur jede x ∈ A ein εx > 0 mit xn ∈ Bεx(x) fur nur endlichviele n ∈ N. Da Bεx(x) offen ist, gibt

A ⊂⋃x∈A

Bεx(x)

eine offene Uberdeckung von A. Da A kompakt ist, existiert eine endliche Teiluber-deckung. D.h. es existieren y1, . . . , ym ∈ A mit

A ⊂m⋃j=1

Bεyj (yj)

Da jede Bεyj (yj) nur endlich viele Elemente der Folge xn enthalt, gibt es in A nurendlich viele Elemente von dieser Folge, was ein Widerspruch ist. Die Existenz einesHaufungspunktes in A impliziert die Existenz einer in A konvergenten Teilfolge.

Die Kompaktheit von A ⊂ M impliziert, dass A abgeschlossen ist, und dass jedeabgeschlossene Teilmenge von A kompakt ist.

Satz 5.20. Sei M ein metrischer Raum und A ⊂M kompakt. Dann ist A abgeschlossen.Ist weiter B ⊂ A abgeschlossen, dann ist B kompakt.

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Beweis. Sei xn eine Folge in A, mit xn → x in M . Aus Kompaktheit folgt, dass xn einein A konvergente Teilfolge hat. Also existiert Teilfolge xnj und y ∈ A, mit xnj → y. Esfolgt aus Proposition 3.19, dass x = y ∈ A. Also ist A abgeschlossen. Sei nun B ⊂ Aabgeschlossen und xn eine Folge in B. Da A kompakt ist, hat xn eine in A konvergenteTeilfolge xnj → x ∈ A. Da B abgeschlossen ist, muss aber x ∈ B. Deswegen ist Bkompakt.

Kompakte metrische Raume sind immer vollstandig.

Satz 5.21. Sei M ein metrischer Raum. Ist M kompakt, dann ist M vollstandig.

Beweis. Sei xn eine Cauchy-Folge auf M . Da M kompakt ist (und deswegen auch fol-genkompakt) existiert eine Teilfolge nj , s.d. xnj in M konvergiert. Sei x = limj→∞ xnj .Wir behaupten, dass xn → x. In der Tat

d(xn, x) ≤ d(xn, xnj ) + d(xnj , x)

wird kleiner als ein beliebiges ε > 0 falls j und n genugend gross sind (weil xn eineCauchy-Folge ist und weil xnj → x).

Fur Teilmengen von Rm (und deswegen auch von C) gibt es eine sehr einfache Cha-rakterisierung von Kompaktheit und Folgenkompaktheit. Erinnere, dass eine TeilmengeA ⊂ Rm beschrankt ist, falls ein C > 0 existiert, mit ‖x‖ ≤ C, fur alle x ∈ A.

Satz 5.22 (Satz von Heine-Borel). A ⊂ Rm ist kompakt g.d.w. A beschrankt und abge-schlossen ist.

Beweis. Ist A kompakt, so folgt aus Satz 5.20, dass A abgeschlossen ist. Ware A nichtbeschrankt, so konnten wir eine Folge xn konstruieren, mit ‖xn‖ ≥ n. xn hat dann keinekonvergente Teilfolge. Anderseits, falls A beschrankt ist, so folgt aus Satz 5.5 (Bolzano-Weierstrass), dass jede Folge xn auf A eine konvergente Teilfolge hat. Da A abgeschlossenist, muss der Limes der konvergenten Teilfolge in A liegen. Also ist A folgenkompaktund also kompakt.

6 Stetigkeit

6.1 Definition und elementare Eigenschaften

Wir betrachten in dieser Sektion Funktionen f : M1 →M2 zwischen metrischen Raumen.Bemerke, dass, falls f nur auf einer Teilmenge A ⊂ M1 definiert ist, kann man A alsmetrischen Raum mit der von M1 induzierten Metrik betrachten. Deswegen werden wirannehmen, f ist auf dem vollen metrischen Raum M1 definiert. Wir fuhren nun denwichtigen Begriff der Stetigkeit von Funktionen zwischen metrischen Raumen ein.

Definition 6.1. Seien (M1, d1), (M2, d2) zwei metrische Raume und f : M1 →M2 eineFunktion. f heisst stetig an der Stelle a ∈ M1, falls fur jede Folge (xn)n∈N in M1, mitxn → a bezuglich d1 gilt f(xn) → f(a) bezuglich d2. Die Funktion f heisst stetig, fallssie steig an der Stelle a ist, fur jede a ∈M1.

Beispiele.

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• Sei f : R→ R durch f(x) = xm, fur ein m ∈ N, definiert. Dann ist f stetig. In derTat, falls xn → a in R, so folgt aus der Rechenregel fur Konvergenz von Folgen, dassxmn → am. Auch f : R+ → R, definiert durch f(x) = xp/q, fur p ∈ Z, q ∈ N\{0} iststetig (hier ist R+ = {x ∈ R : x > 0}).

• Die Funktion f : R → R, die durch f(x) = 0 fur x ≤ 0 und f(x) = 1 fur x > 0definiert wird, ist an der Stelle x = 0 nicht stetig. Sei zB. xn = 1/n. Es giltf(xn) = 1 fur alle n ∈ N und also f(xn) → 1. Da aber f(0) = 0, folgt, dassf(xn) 6→ f(0).

Proposition 6.2. Seien M1,M2 metrische Raume.

• Konstante Funktionen sind stetig.

• Seien f : M1 → M2 stetig an der Stelle a ∈ M1 und g : M2 → M3 stetig an derStelle f(a). Dann ist g ◦ f : M1 →M3 stetig an der Stelle a.

Beweis. i) Sei f(x) = c ∈ M2 fur alle x ∈ M1. Fur jede Folge xn mit xn → a in M1,gilt f(xn) = f(a) fur alle n ∈ N. Insbesondere f(xn) → f(a). ii) Gilt xn → a in M1,so impliziert die Stetigkeit von f an der Stelle a, dass f(xn) → f(a) in M2. Nun aberimpliziert die Stetigkeit von g an der Stelle f(a), dass g(f(xn))→ g(f(a)).

Fur Funktionen f : M → R mit Werten in R erhalten wir auch die folgendenRechenregeln.

Proposition 6.3. Sei M ein metrischer Raum und seien f, g : M → R stetig an derStelle a ∈ M . Dann sind auch die Funktionen f + g : M → R und fg : M → R, diedurch (f + g)(x) = f(x) + g(x) und (fg)(x) = f(x)g(x) definiert werden, stetig an derStelle a ∈M . Ist g(a) 6= 0, so ist auch f/g : M → R stetig an der Stelle a.

Beweis. Folgt aus den Rechenregeln fur Folgen.

Eine besondere Rolle spielen Funktionen auf R oder auf C mit Werten in R oder inC. Beispiele solchen Funktionen sind Polynomen, namlich Funktionen der Typ

p(x) = anxn + an−1x

n−1 + · · ·+ a1x+ a0

fur n ∈ N, x ∈ R oder x ∈ C und Koeffizienten a0, . . . , an ∈ R oder in C.

Proposition 6.4. Polynomen sind uberall stetig. Rationale Funktionen, d.h. Funktionender Form p(x)/q(x) fur zwei Polynome p, q sind stetig auf {x : g(x) 6= 0}.

Beweis. Folgt aus Proposition 6.3.

Die intuitive Idee ist, dass eine Funktion f genau dann stetig ist, wenn eine kleineAnderung von x ∈ M1 nur eine kleine Anderung von f(x) verursacht. Diese Idee wirdim folgenden Kriterium mathematisch genau ausgedruckt.

Satz 6.5 (Weierstrass ε − δ Kriterium). Seien M1,M2 metrische Raume und a ∈ M1.Dann ist f : M1 → M2 genau dann an der Stelle a stetig , wenn fur alle ε > 0t δ > 0existier, s.d.

d1(x, a) < δ ⇒ d2(f(x), f(a)) < ε

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Beweis. Sei f stetig an der Stelle a ∈M1. Nehmen wir an, das ε− δ Kriterium sei nichterfullt. Dann gibt es ε0 > 0, s.d. fur alle δ > 0 ein x ∈M1 existiert, mit d1(x, a) < δ undd2(f(x), f(a)) ≥ ε0. Insbesondere fur jede n ∈ N finden wir xn ∈M1 mit d1(xn, a) < 1/nund d2(f(xn), f(a)) > ε0. Dann ist xn eine Folge auf M1 mit xn → a aber f(xn) 6→ f(a),in Widerspruch zur Stetigkeit von f an der Stelle a. Sei nun das ε− δ Kriterium an derStelle a ∈ M1 erfullt. Wir behaupten, f ist stetig an der Stelle a. Sei xn eine Folge inM1, mit xn → a, und sei ε > 0 gegeben. Aus dem ε− δ Kriterium existiert δ > 0 mit

d1(xn, a) < δ ⇒ d2(f(xn), f(a)) < ε

Fur xn → a existiert n0 ∈ N mit

n > n0 ⇒ d1(xn, a) < δ

Also gilt fur alle n ∈ N mit n > n0, d2(f(xn), f(a)) < ε. Das zeigt, dass f(xn) → f(a).Also ist f stetig an der Stelle a.

Beispiele.

• Sei M = Q und f : M → R, mit f(x) = 0, falls x2 < 2 und f(x) = 1, falls x2 > 2.Dann ist f uberall stetig. Fur beliebige a ∈ Q, ist δ = |a−

√2| > 0. Dann gilt, fur

ein beliebiges ε > 0,

|x− a| < δ ⇒ f(x) = f(a) ⇒ |f(x)− f(a)| = 0 < ε

• Die Funktion f : R\{0} → R, die durch f(x) = 1/x definiert ist, ist uberall stetig.Seien, in der Tat, a 6= 0 und ε > 0 gegeben. Fur |x| > |a|/2 gilt

|f(x)− f(a)| =∣∣∣∣1x − 1

a

∣∣∣∣ =1

|a||x||x− a| ≤ 2

|a|2|x− a|

Wir setzen also δ = min(|a|/2, ε|a|2/2). Dann

|x− a| < δ ⇒ |x| > |a|/2 ∧ |x− a| < ε|a|2/2 ⇒ |f(x)− f(a)| < ε

• Sei f : R→ R durch

f(x) =

{0 falls x ∈ R\Q1/q falls x = p/q und p, q Teilerfremd sind

definiert. Dann gilt: f ist stetig an der Stelle a, fur alle a ∈ R\Q und f ist unstetigan der Stelle a, fur alle a ∈ Q. Beweis: Sei a ∈ R\Q. O.B.d.A. nehmen wir an, dassa > 0. Wir finden n ∈ N, mit a < n. Sei nun ε > 0 gegeben. Wir finden Q ∈ N+

mit 1/Q < ε. Dann setzen wir

δ := min{|a− p/q| : p, q ∈ N mit 1 ≤ q ≤ Q und 0 ≤ p ≤ 2nq}

Da a 6∈ Q, gilt δ > 0. Ist nun |x − a| < δ, dann unterscheiden wir zwei Falle: Istx ∈ R\Q, dann gilt f(x) = 0 = f(a), und also |f(x)−f(a)| < ε. Ist dagegen x ∈ Q,so gilt x = p1/q1 fur geeignete p1, q1 ∈ N (δ < |a| = a und |x− a| < δ implizieren,

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dass x > 0 ist). Aus Definition von δ muss entweder q1 > Q sein, oder q1 ≤ Qund p1 > 2nq1. Im zweiten Fall ware aber x = p1/q1 > 2n > 2a und deswegen|x − a| > a im Widerspruch zur Annahme, dass |x − a| < δ < a. Also, es mussq1 > Q gelten, und deswegen f(x) = 1/q1 < 1/Q < ε. Da f(a) = 0, krigen wirauch in diesem Fall, dass |f(x) − f(a)| < ε. Das ε − δ Kriterium ist also erfullt.Der Beweis der Unstetigkeit von f an a, fur alle a ∈ Q ist als Ubung gelassen.

6.2 Grenzwerte von Funktionen

Definition 6.6. Sei M ein metrischer Raum und A ⊂M . Ein Punkt a ∈M heisst einHaufungspunkt von A, falls fur jede Umgebung U von a gilt

(U\{a}) ∩A 6= ∅

Man nennt U\{a} eine punktierte Umgebung von a.

Beispiele. M = R, A = R. Jedes x ∈ R ist Haufungspunkt von R. M = R, A = Q.Jedes x ∈ R ist Haufungspunkt von Q. Analog M = R, A = R\Q. Jeder Punkt in R istHaufungspunkt von R\Q. M = R, A = Z. Kein Punkt in R ist Haufungspunkt von Z.

Bemerkung. Ist a ein Haufungspunkt von A so, enthalt jede Umgebung von a unendlichviele Elemente von A. Ware namlich U eine Umgebung von a, mit

(U\{a}) ∩A = {b1, . . . , bn}

endlich, dann wurde mit ε = min{d(a, b1), . . . , d(a, bn)} > 0,

(Bε(a)\{a}) ∩A = ∅

gelten, in Widerspruch zur Tatsache, dass a ein Haufungspunkt von A ist.

Proposition 6.7. Sei M ein metrischer Raum und A ⊂ M . Dann ist a ∈ M einHaufungspunkt von A g.d.w. eine Folge (xn)n∈N in A\{a} mit xn → a existiert.

Beweis. Ubung

Definition 6.8. Seien (M1, d1), (M2, d2) metrische Raume, A ⊂ M1 und a ∈ M1 einHaufungspunkt von A. Sei f : A\{a} →M2. Wir schreiben

limx→a,x∈A

f(x) = b

falls fur alle ε > 0 ein δ > 0 existiert, s.d.

x ∈ A ∧ 0 < d1(x, a) < δ ⇒ d(f(x), b) < ε

Gemass dieser Definition ist es moglich, dass a ein Haufungspunkt von zwei verschie-denen Mengen A,B ⊂M ist, mit limx→a,x∈A f(x) 6= limx→a,x∈B f(x).

Verlangen wir, dass A eine Umgebung von a ist, dann ist der Limes limx→a,x∈A f(x)unabhangig aus der Wahl vonA. Es ist in der Tat klar, dass furA1 ⊂ A2 gilt limx→a,x∈A1 f(x) =b gdw. limx→a,x∈A2 f(x) = b. Anderseits, fur zwei beliebige Umgebungen A1, A2 von aist A1 ∩A2 wieder eine Umgebung. Da A1 ∩A2 ⊂ A1 und A1 ∩A2 ⊂ A2 ist

limx→a,x∈A1

f(x) = b ⇐⇒ limx→a,x∈A1∩A2

f(x) = b ⇐⇒ limx→a,x∈A2

f(x) = b

Wir benutzen diese Bemerkung um limx→a f(x) zu definieren.

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Definition 6.9. Die Schreibweise

limx→a

f(x) = b

bedeutet, dass eine Umgebung A von a, mit f definiert auf A\{a} existiert, und dass

limx→a,x∈A

f(x) = b

Bemerkung: Fur limx→a f(x) gelten die ublichen Rechenregeln fur Grenzwerten. Ins-besondere ist der Grenzwert, falls er existiert, eindeutig. Weiter, falls f, g reelwertigeoder complexwertige Funktionen sind, dann sind Grenzwerte von Summen und Multi-plikationen durch Summen und Multiplikationen der Grenzwerte gegeben (ahnlich furSubtraktion und Division, falls der Nenner nicht Null ist).

Proposition 6.10. Seien M1,M2 metrische Raume, A ⊂M1 und a ∈ A ein Haufungs-punkt von A. Eine Funktion f , definiert auf A, ist stetig an der Stelle a gdw. limx→a f(x)existiert und

limx→a

f(x) = f(a)

Beweis. Folgt aus dem ε− δ-Kriterium.

Proposition 6.11 (Fortsetzung durch Stetigkeit). Sei M ein metrischer Raum und aein Haufungspunkt von M . Sei f mindestens auf M\{a} definiert und es existiere

limx→a

f(x) =: b

Wir definieren eine neue Funktion f auf M durch

f(x) =

{f(x) falls x 6= ab falls x = a

Dann ist f stetig an der Stelle a.

Beweis. Sei ε > 0 fest gewahlt. Fur limx→a f(x) = b existiert δ > 0, s.d.

0 < d(x, a) < δ ⇒ d(f(x), b) < ε (9)

Wir behaupten nun, dass d(x, a) < δ impliziert, dass d(f(x), f(a)) = d(f(x), b) < ε. Umdiese Behauptung zu zeigen, unterscheiden wir zwei Falle. Ist d(x, a) < δ und x 6= a,so gilt 0 < d(x, a) < δ und f(x) = f(x). Aus (9) erhalten wir, dass d(f(x), b) < ε.Anderseits, gilt x = a, dann ist f(x) = b, und deswegen d(f(x), b) = 0 < ε.

Beispiel: Sei

f(x) =x2 − 1

x− 1

fur alle x ∈ R\{1}. Es giltlimx→1

f(x) = 2

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Die Funktion

f(x) =

{x2−1x−1 falls x 6= 1

2 falls x = 1

ist stetig an der Stelle x = 1. Da f als rationale Funktion stetig auf R\{1}, ist f stetigauf R (in diesem Fall ist es einfach zu sehen, dass f(x) = x+ 1, fur alle x ∈ R).

Wir kommen nun zuruck zur Definition 6.8 von limx→a,x∈A f(x) fur eine beliebigeMenge A mit der Eigenschaft, dass a ein Haufungspunkt von A ist. Wir verlangen hiernicht, dass A eine Umgebung von a ist. Eine Anwendung dieser Definition sind einseitigeGrenzwerte fur Funktionen auf R.

Definition 6.12. Sei f : A → M , fur eine Teilmenge A ⊂ R und ein beliebiger metri-scher Raum M . Wir schreiben

limx↑a

f(x) = b

falls r > 0 existiert, s.d. f auf dem Intervall (a− r; a) definiert ist und

limx→a,x∈(a−r;a)

f(x) = b

Ahnlich bedeutet die Schreibweise

limx↓a

f(x) = b,

dass ein r > 0 existiert, s.d. f auf (a; a+ r) definiert ist, und dass

limx→a,x∈(a;a+r)

f(x) = b

Proposition 6.13. Sei f eine Funktion einer reellen Veranderlichen, die in einerUmgebung von a ∈ R definiert ist. Dann existiert limx→a f(x) g.d.w. limx↑a f(x) undlimx↓a f(x) existieren, und

limx↑a

f(x) = limx↓a

f(x)

In diesem Fall gilt auch

limx→a

f(x) = limx↑a

f(x) = limx↓a

f(x)

Beweis. Ubung.

Bemerkung: Es folgt aus der Proposition, dass eine Funktion f einer reellen Veranderli-chen genau dann stetig an der Stelle a ist, wenn limx↑a f(x) und limx↓a f(x) existieren,und

limx↑a

f(x) = limx↓a

f(x) = f(a)

Definition 6.14. Eine Funktion f : [a; b]→ R heisst monoton wachsend, falls a ≤ x1 ≤x2 ≤ b impliziert, dass f(x1) ≤ f(x2). f heisst monoton fallend, falls a ≤ x1 ≤ x2 ≤ bimpliziert, dass f(x1) ≥ f(x2).

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Fur monotone Funktionen existieren immer einseitige Grenzwerte.

Proposition 6.15. Sei f : [a; b]→ R monoton wachsend, a < c < b. Dann

f(c−) := limx↑c

f(x) = sup {f(x) : x < c}

f(c+) := limx↓c

f(x) = inf {f(x) : x > c}

und f(c−) ≤ f(c) ≤ f(c+).

Bemerkung: Es folgt, dass eine monotone Funktion f : [a; b]→ R an der Stelle a < c < bgenau dann stetig ist, falls f(c−) = f(c+).

Beweis. Sei s = sup{f(x) : x < c} und ε > 0. Dann es existiert xε < c mit f(xε) > s−ε.Fur xε < x < c, haben wir

s− ε < f(xε) ≤ f(x) ≤ s

Also, mit δ = c− xε haben wir

x ∈ (c− δ, c) ⇒ |f(x)− s| < ε

Da ε > 0 beliebig ist, folgt, dasslimx↑c

f(x) = s

Analog kann man zeigen, dass

limx↓c

f(x) = inf{f(x) : x > c}

Wie fur Folgen, kann man auch fur Funktionen uneigentliche Grenzwerte definieren.Sei f : A→M fur eine Teilmenge A ⊂ R und ein beliebiger metrischer Raum M . Dannbedeutet die Schreibweise

limx→+∞

f(x) = b,

dass ein r0 ∈ R existiert, s.d. f fur alle x > r0 definiert ist, und, dass fur alle ε > 0 einr > r0 existiert, mit d(f(x), b) < ε fur alle x > r. Analog wird die Schreibweise

limx→−∞

f(x) = b

definiert. Sei nun M ein metrischer Raum und f eine reelwertige Funktion, definiert aufeiner Teilmenge von M . Die Schreibweise

limx→a,x∈A

f(x) = +∞

bedeutet, dass a ∈M ein Haufungspunkt von A ⊂M ist, dass f mindestens auf A\{a}definiert ist, und dass fur alle r ∈ R δ > 0 existiert, s.d.

x ∈ A und 0 < d(x, a) < δ ⇒ f(x) > r

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Die Notationlimx→a

f(x) = +∞

bedeutet dagegen, dass eine Umgebung A von a ∈M existiert, s.d. f auf A\{a} definiertist, und dass

limx→a,x∈A

f(x) = +∞

Analog ist die Bedeutung von limx→a,x∈A f(x) = −∞ und von limx→a f(x) = −∞definiert.Beispiele: Es gilt

limx↓0

1

x= +∞, lim

x↑0

1

x= −∞, lim

x→0

1

xexistiert nicht, lim

x→0

1

x2= +∞

6.3 Zwischenwertsatz

In dieser Sektion betrachten wir reel-wertige Funktionen einer reellen Veranderlichen.

Satz 6.16. Sei f : [a; b] → R stetig, mit f(a) < 0 < f(b). Dann existiert c ∈ (a; b) mitf(c) = 0. Die Behauptung gilt auch falls f(b) < 0 < f(a).

Beweis. Sei A = {x ∈ [a; b] : f(x) < 0}.

f(a) < 0, f stetig ⇒ ∃ δ1 > 0 : f(x) < 0 fur alle x ∈ [a; a+ δ1]

D.h. [a; a+δ1] ⊂ A. Ahnlicherweise existiert δ2 > 0 mit [b−δ2; b]∩A = ∅. Sei c = supA.Dann gilt a + δ1 ≤ c ≤ b − δ2. Wir behaupten f(c) = 0. Nehmen wir an, f(c) > 0.Dann existiert, wegen Stetigkeit, η > 0 mit f(x) > 0 auf [c − η, c + η]. Das impliziert,dass A∩ [c− η; c] = ∅, in Widerspruch zu c = supA. Anderseits, falls f(c) < 0, existiertη > 0 mit f(x) < 0 auf [c− η, c+ η]. Das impliziert, dass c+ η ∈ A, in Widerspruch zuc = supA. Es bleibt nur die Moglichkeit, dass f(c) = 0.

Proposition 6.17. Sei f : [a; b]→ R streng monoton wachsend und stetig. Sei c = f(a)und d = f(b). Dann ist f : [a; b] → [c; d] bijektiv, und f−1 : [c; d] → [a; b] ist stetig. Mitanderen Worten: Die Umkehrabbildung einer stetigen, streng monotonen Funktion iststetig.

Beweis. f streng monoton wachsend impliziert, dass f injektiv ist, und dass c ≤ f(x) ≤d fur alle a ≤ x ≤ b. Wir behaupten nun, dass f : [a; b]→ [c; d] surjektiv ist. Sei c < y0 <d, und setze g(x) = f(x)− y0. Dann g ist stetig auf [a; b], g(a) = f(a)− y0 = c− y0 < 0und g(b) = f(b)− y0 = d− y0 > 0. Der Zwischenwertsatz impliziert, dass ein x0 ∈ (a; b)existiert, mit g(x0) = 0, d.h. mit f(x0) = y0. Um die Stetigkeit der Inverse zu zeigen,wenden wir das ε − δ Kriterium an. Sei y0 ∈ (c; d) und ε > 0 gegeben. Wir setzenx0 = f−1(y0) ∈ (a; b). O.B.d.A. konnen wir annehmen, dass a < x0 − ε < x0 + ε < b(sonst ersetzen wir die Fehlergrenze ε > 0 durch ein ε < ε klein genug). Sei x1 = x0− ε,x2 = x0 + ε,y1 = f(x1), y2 = f(x2). Aus der Monotonie von f folgt, dass y1 < y0 < y2und dass f : [x1;x2]→ [y1; y2] bijektiv. Wir wahlen δ > 0 so klein, dass (y0−δ; y0 +δ) ⊂(y1; y2). Dann

|y − y0| < δ ⇒ y ∈ (y1; y2) ⇒ f−1(y) ∈ (x0;x1) ⇒ |f−1(y)− f−1(y0)| < ε

Das zeigt die Stetigkeit von f−1 an der Stelle y0, fur jede y0 ∈ (c; d). Stetigkeit von f−1

an der Stelle c und an der Stelle d kann analog gezeigt werden.

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6.4 Stetigkeit und Topologie

In dieser Sektion geben wir eine neue Charakterisierung der Stetigkeit von Funktionenzwischen metrischen Raumen, die nicht direkt von den Metriken abhangt, sondern nurdavon, was offene Mengen sind. Diese Charakterisierung erlaubt es, den Begriff vonStetigkeit auf topologischen Raumen zu verallgemeinern, wo keine Metrik vorhandenist, sondern nur eine Topologie, die bestimmt, welche Mengen offen sind.

Proposition 6.18. Seien (M1, d1), (M2, d2) metrische Raume, und f : M1 →M2.

a) f ist stetig an der Stelle a ∈ M1 g.d.w. fur jede Umgebung U von f(a), f−1(U)eine Umgebung von a ist.

b) f ist uberall auf M1 stetig g.d.w.

G ⊂M2 offen ⇒ f−1(G) ⊂M1 offen

Beweis. a) Wir nehmen zunachst an, f ist stetig an der Stelle a. Sei U ⊂ M2 eineUmgebung von f(a). Dann existiert ε > 0, s.d. Bε(f(a)) ⊂ U . Nach dem ε−δ-Kriteriumexistiert δ > 0, s.d.

d1(x, a) < δ ⇒ f(x) ∈ Bε(f(a)) ⇒ f(x) ∈ U ⇒ x ∈ f−1(U)

Das bedeutet, dass Bδ(a) ⊂ f−1(U). D.h. f−1(U) eine Umgebung von a ist. Nehmenwir nun an, dass, fur jede Umgebung U von f(a), f−1(U) eine Umgebung von a ist.Wir mochten dann zeigen, dass f stetig an der Stelle a ist. Wir zeigen dafur, dassdas ε − δ Kriterium erfullt ist. Sei ε > 0 fest. Bε(f(a)) ist eine Umgebung von f(a).Aus Annahme, ist f−1(Bε(f(a))) eine Umgebung von a. D.h. es existiert δ > 0, s.d.Bδ(a) ⊂ f−1(Bε(f(a))). Wir erhalten:

d1(x, a) < δ ⇒ x ∈ Bδ(a) ⇒ x ∈ f−1(Bε(f(a)))

⇒ f(x) ∈ Bε(f(a)) ⇒ d2(f(x), f(a)) < ε

Also ist f stetig an der Stelle a. b) Sei f stetig und G ⊂M2 offen. Wir behaupten, dassf−1(G) offen ist. Sei dafur a ∈ f−1(G). Dann ist f(a) ∈ G. Da G offen ist, existierteine Umgebung U von f(a) mit U ⊂ G. Aus a) ist f−1(U) ⊂ f−1(G) eine Umge-bung von a. Da a ∈ f−1(G) beliebig ist, es folgt, dass f−1(G) offen ist. Nehmen wirnun an, dass f−1(G) offen ist, fur alle G ⊂ M2 offen. Wir behaupten, dass f uber-all stetig ist. Sei a ∈ M1 und ε > 0 beliebig. Bε(f(a)) ist eine offene Menge in M2.Aus Annahme, f−1(Bε(f(a))) ist offen. Da a ∈ f−1(Bε(f(a))), existiert δ > 0 mitBδ(a) ⊂ f−1(Bε(f(a))). Das bedeutet

d1(x, a) < δ ⇒ x ∈ Bδ(a) ⇒ x ∈ f−1(Bε(f(a)))

⇒ f(x) ∈ Bε(f(a)) ⇒ d2(f(x), f(a)) < ε

Also f ist stetig an der Stelle a, fur alle a ∈M1.

Bemerkung: Es folgt aus der Proposition, dass f : M1 → M2 stetig ist g.d.w. f−1(F )abgeschlossen ist, fur alle abgeschlossenen F ⊂M2.

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6.5 Stetige Funktionen auf kompakten Mengen

Wir haben schon gesehen, dass der Begriff von Kompaktheit sehr nutzlich ist, wannman die Konvergenz von Folgen untersucht. Auf kompakten metrischen Raumen (oder,aquivalent, auf kompakten Teilmengen von metrischen Raumen) hat namlich jede Folgeeine konvergente Teilfolge. Wir werden in dieser Sektion sehen, dass der Begriff vonKompaktheit auch bei der Untersuchung von stetigen Funktionen nutzlich ist; stetigeFunktionen auf kompakten Mengen haben namlich wichtige zusatzliche Eigenschaften.

Die erste Bemerkung ist, dass stetige Funktionen kompakte Mengen auf kompaktenMengen abbilden.

Proposition 6.19. Seien M1,M2 metrische Raume. A ⊂M1 kompakt, und f : A→M2

stetig. Dann ist f(A) ⊂M2 kompakt.

Beweis. Sei (yn) eine Folge in f(A). Dann finden wir fur alle n ∈ N ein xn ∈ A mitf(xn) = yn. Das definiert eine Folge (xn) in A. Da A kompakt ist (und deswegen auchfolgenkompakt), existiert eine Teilfolge nj und eine x ∈ A mit xnj → x. Da f stetigist, erhalten wir ynj = f(xnj ) → f(x) ∈ f(A). Wir haben gezeigt, dass jede Folge inf(A) eine in f(A) konvergente Teilfolge hat. Also ist f(A) folgenkompakt und deswegenkompakt.

Der nachste Satz vom Maximum spielt eine sehr wichtige Rolle in der Analysis, ins-besondere in der Untersuchung partieller Differentialgleichungen. Er besagt, dass stetigereelwertige Funktionen auf kompakten Mengen das Supremum und das Infimum anneh-men. Diese Aussage ist offenbar falsch, falls man stetige Funktionen auf nicht kompaktenMengen untersucht (z.B. die Funktion f(x) = 1/x ist auf (0; 1) stetig, aber sie ist nichtbeschrankt, und sie nimmt den Wert sup{f(x) : x ∈ (0; 1)} =∞ nicht an).

Satz 6.20 (Satz vom Maximum). Sei A ein kompakter metrischer Raum und f : A→ Rstetig. Dann ist f beschrankt auf A und f nimmt supx∈A f(x) unf infx∈A f(x) an. D.h.es existieren xmin, xmax ∈ A mit

f(xmin) ≤ f(x) ≤ f(xmax),

fur alle x ∈ A.

Beweis. Wir zeigen zunachst, dass f nach oben beschrankt ist. Nehmen wir an, f istnicht nach oben beschrankt. Dann finden wir, fur alle n ∈ N, xn ∈ A, mit f(xn) ≥ n.(xn) definiert eine Folge in A. Da A kompakt ist, existiert eine Teilfolge nj und x ∈ Amit xnj → x. Da f stetig ist, muss f(xnj ) → f(x) ∈ R konvergieren, was naturlich derAnnahme f(xnj ) ≥ nj → ∞ widerspricht. Analog kann man zeigen, f ist nach untenbeschrankt. Wir zeigen nun, dass f den Wert

s = sup{f(x) : x ∈ A}

annimmt. Aus der Definition von Supremum finden wir, fur alle n ∈ N, ein xn ∈ Amit s − (1/n) ≤ f(xn) ≤ s. (xn) definiert dann eine Folge auf A. Da A kompakt ist,existiert eine Teilfolge nj und ein x ∈ A mit xnj → x. Da f stetig ist, gilt f(xnj )→ f(x).Aus Wahl von xn gilt auch f(xnj ) → s. Das impliziert, dass f(x) = s, und zeigt dieBehauptung. Analog zeigt man, dass das Infimum angenommen wird.

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Definition 6.21. Seien (M1, d1) und (M2, d2) metrische Raume. Eine Funktion f :M1 →M2 heisst gleichmassig stetig falls, fur alle ε > 0 δ > 0 existiert, s.d.

d1(x, y) < δ ⇒ d2(f(x), f(y)) < ε

Bemerkung: Vergleiche diese Definition mit dem ε−δ Kriterium in Satz 6.5. Die Differenzzwischen Stetigkeit und gleichmassiger Stetigkeit, ist, dass fur stetige Funktionen, δdarf von x (und naturlich auch von ε) abhangen. Bei gleichmassig stetige Funktionen,dagegen, δ nur von ε abhangen darf, nicht von x. Dasselbe δ muss fur alle x ∈M1 gelten.

Beispiele: Die Funktion f(x) = x2 auf [0; 1] ist gleichmassig stetig, weil

|x2 − y2| = |x− y||x+ y| ≤ 2|x− y| ≤ ε falls |x− y| ≤ ε/2 =: δ

und δ ist unabhangig aus x. Die Funktion f(x) = x2 auf [0; +∞) ist dagegen nichtgleichmassig stetig, weil fur feste |x − y| kann |x2 − y2| = |x − y||x + y| beliebig grosswerden, indem wir x (und y, damit |x− y| fest bleibt) genugend gross wahlen.

Satz 6.22. Eine stetige Funktion auf einer kompakten Menge ist gleichmassig stetig.

Beweis. Sei A kompakt (mit Metrik d1), (M2, d2) ein beliebiger metrischer Raum ,f : A→M2 stetig und ε > 0. Fur jedes x ∈ A finden wir ein δx > 0 s.d.

d1(x, y) < δx ⇒ d2(f(x), f(y)) < ε/2

Wir definieren Gx = Bδx/2(x). (Gx)x∈A ist eine offene Uberdeckung von A. Da A kom-pakt ist, existiert eine endliche Teiluberdeckung. D.h. es existieren x1, . . . , xn ∈ A mit

A ⊂ Gx1 ∪ · · · ∪Gxn

Wir setzen nun δ = (1/2) min{δx1 , . . . , δxn}. Wir behaupten nun, dass,fur beliebigex, y ∈ A,

d1(x, y) < δ ⇒ d2(f(x), f(y)) < ε .

In der Tat, fur beliebige x ∈ A existiert j ∈ {1, . . . , n} mit x ∈ Gxj . Dann gilt d1(x, xj) <δxj/2 und also d2(f(x), f(xj)) < ε/2. Gilt weiter d1(x, y) < δ, so muss auch d1(x, y) <δxj/2 und

d1(y, xj) ≤ d1(y, x) + d1(x, xj) < δxj

Deswegen gilt auchd2(f(y), f(xj)) < ε/2

Wir finden, dass

d2(f(x), f(y)) ≤ d2(f(x), f(xj)) + d2(f(xj), f(y)) < ε

Das zeigt die Behauptung.

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6.6 Funktionenfolgen und Stetigkeit

Wir betrachten in dieser Sektion Folgen von Funktionen. Sei A eine beliebige Mengeund (M,d) ein metrischer Raum. Eine Funktionenfolge ist eine Folge (fn)n∈N, wobei furjedes n ∈ N, fn : A → M eine Funktion auf A ist, mit Werten auf M . Wir sagen dieFunktionenfolge fn konvergiert punktweise gegen eine Funktion f : A → M , falls, furalle x ∈ A, fn(x)→ f(x) (wir benutzen hier die metrische Struktur auf M).

Beispiel: Sei A = M = [0; 1] (mit der Standardmetrik d(x, y) = |x − y|). Fur n ∈ N seifn : A → M durch fn(x) = xn definiert. Fur 0 ≤ x < 1 gilt xn → 0, als n → ∞. Furx = 1 gilt xn → 1. Es gilt also fn → f punktweise, wobei

f(x) =

{0 falls 0 ≤ x < 11 falls x = 1

In diesem Beispiel ist A = [0; 1] ein metrischer Raum. Fur alle n ∈ N ist die Funktionfn stetig. Dagegen ist f nicht stetig. Das Beispiel zeigt, dass Stetigkeit bei punktweiserKonvergenz nicht erhalten bleibt.

Definition 6.23. Die Folge fn : A→M konvergiert gleichmassig auf A gegen f : A→M , falls

∀ ε > 0 ∃n0 ∈ N : ∀n > n0,∀x ∈ A ⇒ d(fn(x), f(x)) < ε.

Gleichmassig bedeutet, dass n0 unabhangig von x ist. Aquivalent: fn konvergiert gleichmassiggegen f , falls die reelle Folge

supx∈A

d(fn(x), f(x))→ 0

Bemerkung: fn → f gleichmassig impliziert insbesondere, dass fn → f punktweise.

Beispiel: Die Funktionenfolge fn(x) = xn auf [0; 1/2] konvergiert gleichmassig gegen 0.In der Tat

supx∈[0;1/2]

xn = 2−n → 0

Dagegen konvergiert die Funktionenfolge fn(x) = xn auf [0; 1] nicht gleichmassig. Neh-men wir an, es existiert f : [0; 1]→ [0; 1] mit fn → f gleichmassig. Dann musste fn → fauch punktweise. D.h. es musste f(x) = 0 fur 0 ≤ x < 1 und f(1) = 1 gelten. Da aber

supx∈[0;1]

|xn − f(x)| ≥(

1− 1

n2

)n→ 1

ist die Konvergenz nicht gleichmassig.

Proposition 6.24. Seien M1,M2 metrische Raume, und, fur alle n ∈ N, fn : M1 →M2

stetig. Sei f : M1 →M2, s.d. fn → f gleichmassig. Dann ist f stetig.

Bemerkung: Die Proposition besagt, dass Stetigkeit bei gleichmassiger Konvergenz er-halten bleibt. Hier ist naturlich wichtig, dass der Definitionsbereich auch ein metrischerRaum ist, sonst macht der Begriff Stetigkeit keinen Sinn.

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Beweis. Sei x0 ∈ M1. Wir zeigen, dass f stetig an der Stelle x0 ist. Sei ε > 0 fest. Esexistiert n0 ∈ N mit

supx∈M1

d2(fn0(x), f(x)) < ε/3

Da fn0 stetig an der Stelle x0 ist, existiert ein δ > 0 s.d.

d1(x, x0) < δ ⇒ d2(fn(x), fn(x0)) < ε/3

Also gilt fur x ∈M1 mit d1(x, x0) < δ

d2(f(x0), fn(x)) ≤ d2(f(x0), fn0(x0)) + d2(fn0(x0), fn0(x)) + d2(fn0(x), f(x))

≤ 2 supx∈M1

d2(fn0(x), f(x)) + d2(fn0(x0), fn0(x)) < ε

Proposition 6.25 (Cauchy-Kriterium fur Funktionenfolge). Sei A eine Menge, (M,d)ein vollstandiger metrischer Raum, und fn : A→M eine Funktionenfolge. Die Folge fnkonvergiert gleichmassig g.d.w.

∀ ε > 0 ∃n0 ∈ N : ∀n,m > n0,∀x ∈ A ⇒ d(fn(x), fm(x)) < ε (10)

Bemerkung: Die Bedingung (10) ist aquivalent zu:

∀ε > 0, ∃n0 ∈ N : ∀n,m > n0 ⇒ supx∈A

d(fn(x), fm(x)) < ε

Beweis. Die Tatsache, dass gleichmassige Konvergenz das Cauchy-Kriterium impliziertist Standard. Wir zeigen, dass das Cauchy-Kriterium (10) die gleichmassige Konvergenzimpliziert. Aus der Cauchy-Bedingung folgt, dass fur alle x ∈ A, fn(x) eine Cauchy-Folgeauf M ist. Da M vollstandig ist, ist fur jedes feste x ∈ A, die Folge fn(x) konvergent.Wir bezeichnen den Grenzwert mit f(x). Wir haben gezeigt, dass fn(x)→ f(x) fur allex ∈ A (bis jetzt haben wir nur punktweise Konvergenz bewiesen). Sei nun ε > 0. Dannexistiert n0 ∈ N mit

d(fn(x), fm(x)) < ε

fur alle n,m > n0, und fur alle x ∈ A. Wir halten nun n und x fest und lassen m→∞streben. Fur fm(x)→ f(x) muss auch

d(fn(x), f(x)) < ε

fur alle n > n0 und x ∈M . Also, fn → f gleichmassig.

Sei M ein metrischer Raum. Wir sagen eine Funktion f : M → R ist beschrankt,falls

supx∈M|f(x)| <∞

Wir bezeichnen mit C0b (M) den Raum aller stetigen und beschrankten Funktionen f :

M → R. Auf C0b (M) kann man eine Addition und eine Multiplikation mit Skalaren aus

R definieren. Fur f, g ∈ C0b (M) und α ∈ R setzen wir namlich

(f + g)(x) := f(x) + g(x) und (αf)(x) = αf(x)

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Dann sind f+g und αf wieder beschrnkt (aus der Dreiecksungleichung) und stetig, alsowieder in C0

b (M). Damit hat C0b (M) die Struktur eines Vektorraumes. Auf C0

b (M) kannman auch eine Norm durch

‖f‖C0b (M) = sup

x∈M|f(x)|

definieren. Es ist dann einfach zu uberprufen, dass die Eigenschaften unten (1) erfulltsind (und also, dass ‖.‖C0

b (M) eine Norm ist). Damit wird C0b (M) zu einem normierten

Raum. Die Norm induziert wie immer eine Metrik auf C0b (M), die wir mit

d∞(f, g) = ‖f − g‖C0b (M)

bezeichnen. Damit ist C0b (M) auch ein metrischer Raum. Konvergenz im Sinne der

Metrik d∞ ist mit gleichmassiger Konvergenz aquivalent, d.h. eine Funktionenfolge fnin C0

b (M) konvergiert gleichmassig gegen f ∈ C0b (M) g.d.w. d∞(fn, f) → 0. Es folgt

aus Proposition 6.25, dass jede Cauchy-Folge auf C0b (M) (bzgl. d∞) konvergiert (bzgl.

d∞). D.h. C0b (M), versehen mit der Metrik d∞, ist ein vollstandiger metrischer Raum.

Analog kann man den Raum C0b (M ;C) (oder allgemeiner, den Raum C0

b (M ;Rm)) derbeschrankten und stetigen Funktionen auf dem metrischen Raum M , mit Werten auf C(bzw. auf Rm) definieren. Auch C0

b (M ;C) (und C0b (M ;Rm)), versehen mit der Metrik

d∞ definiert mit dem komplexen Absolutbetrag (bzw. mit der Euklidischen Norm aufRm), ist ein vollstandiger metrischer Raum.

Wir haben auf dem Raum C0b (M) eine Struktur eingefuhrt, die ahnlich zu der Struk-

tur von Rm ist. Es gibt aber einen wichtigen Unterschied: das Theorem von Bolzano-Weierstrass gilt auf C0

b (M) nicht. Die Folge fn(x) = xn auf M = [0; 1] ist ein Beispieleiner beschrankten Folge, die in C0

b (M) keine konvergente Teilfolge hat. Folgich existie-ren auf C0

b (M) beschrankte und abgeschlossene Teilmengen, die nicht folgenkompakt(oder, aquivalent dazu, kompakt) sind.

7 Potenzreihen und Elementarfunktionen

Ein wichtiges Beispiel von Funktionenfolgen mit Werten auf Rm (insbeondere auf Roder auf C) sind Funktionenreihen. Sei M ein metrischer Raum und, fur jede n ∈ N, seifn : M → Rm eine Funktion auf M , mit Werten in Rm. Wir sagen die Funktionenreihe∑∞

j=0 fj(x) konvergiert punktweise, falls die Partialsummenfolge sn(x) =∑n

j=0 fj(x)punktweise konvergiert. Wir sagen

∑∞j=0 fj(x) konvergiert gleichmassig, falls die Parti-

alsummenfolge sn(x) gleichmassig konvergiert.

Satz 7.1 (Majorantenkriterium). Sei (fn)n∈N eine Folge von Rm-wertigen Funktio-nen auf einem metrischen Raum M . Es existiere eine konvergente Reihe

∑nmn mit

|fn(x)| ≤ mn fur alle n ∈ N und alle x ∈M . Dann

• konvergiert die Reihe∑

n fn gleichmassig.

• konvergiert fur jedex x ∈M , die Reihe∑

n fn(x) absolut.

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Beweis. Wir benutzen das Cauchy-Kriterium in Proposition 6.25. Sei

sn(x) =

n∑j=0

fj(x)

und m,n ∈ N mit m > n. Dann

sm(x)− sn(x) =

m∑j=n+1

fj(x)

Da∑

nmn konvergiert, finden wir, fur jede ε > 0, ein n0 ∈ N mit

m∑j=n+1

mj < ε

fur alle m > n > n0. Also gilt fur m > n > n0

‖sm(x)− sn(x)‖ ≤m∑

j=n+1

‖fj(x)‖ ≤m∑

j=n+1

mj < ε (11)

fur alle x ∈M . Aus Proposition 6.25 folgt, dass sn gleichmassig konvergiert. Gleichung(11) impliziert auch, dass

∑n ‖fn(x)‖ konvergiert, d.h., dass

∑n fn(x) fur alle x ∈ M

absolut konvergiert.

7.1 Potenzreihen

Ein wichtiges Beispiel von Funktionenreihen sind Potenzreihen. Potenzreihen sind Funk-tionenreihen der Form

∑n anx

n, mit Konstanten an. Allgemeiner, Potenzreihen mit Mit-telpunkt x0 sind Funktionenreihen der Form

∑n an(x−x0)n. Der naturliche Bereich fur

Potenzreihen sind die komplexen Zahlen C; die Konstanten an, sowie die Veranderlichex werden aus C gewahlt. Potenzreihen werden also Funktionenreihen auf C sein, mitWerten in C. Um zu erinnern, dass die Veranderliche komplex ist, werden wir z statt xschreiben.

Der Konvergenzbereich der Potenzreihe∑

n anzn ist definiert als die Menge {z ∈ C :∑∞

n=0 anzn konvergiert}.

Der Konvergenzradius der Potenzreihe∑

n anzn ist definiert als

ρ :=1

lim supk→∞ |ak|1/k. (12)

mit der Konvention, dass 1/∞ = 0 und, dass 1/0 =∞.

Satz 7.2. Sei der Konvergenzradius ρ der Potenzreihe∑

n anzn wie in (12) definiert.

a) Fur |z| < ρ konvergiert∑

n anzn absolut.

b) Fur |z| > ρ ist die Folge akzk unbeschrankt. Die Reihe

∑n anz

n divergiert.

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c) Fur 0 < r < ρ ist die Potenzreihe∑

n anzn auf {z ∈ C : |z| < r} gleichmassig

konvergent.

d)∑∞

n=0 anzn ist stetig auf {z ∈ C : |z| < ρ}.

Beweis. Sei

r < ρ =1

lim supk→∞ |ak|1/k

Dann giltlim supk→∞

(rk|ak|)1/k < 1

Nach dem Wurzelkriterium ist die Reihe∑

k |ak|rk konvergent. Fur |z| ≤ r gilt |akzk| ≤|ak|rk. Nach dem Majorantenkriterium in Satz 7.1 ist die Potenzreihe

∑n anz

n auf{z ∈ C : |z| ≤ r} gleichmassig konvergent. Aus Satz 7.1 folgt auch, dass fur alle z mit|z| ≤ r,

∑n anz

n absolut konvergiert. Das zeigt a) und c). Um b) zu zeigen, bemerkenwir, dass, fur |z| > ρ,

lim supk→∞

|akzk|1/k > 1

Das impliziert, dass die Folge akzk unbeschrankt ist, und also, dass die Folge

∑n anz

n

nicht konvergiert. Schlussendlich beweisen wir d). Sei |z| < ρ. Wir wahlen r > 0 mit|z| < r < ρ. Da sn(z) =

∑nj=0 ajz

j stetig auf {z ∈ C : |z| ≤ r} fur alle n ∈ N (Polynome

sind stetig) ist, und da sn gleichmassig konvergiert, ist der Limes∑∞

j=0 ajzj stetig auf

{z ∈ C : |z| ≤ r} (nach Proposition 6.24).

Besondere Falle sind

• ρ = 0. In diesem Fall divergiert die Potenzreihe∑

n anzn fur alle z 6= 0.

• ρ = ∞. In diesem Fall konvergiert die Potenzreihe∑

n anzn fur alle z ∈ C (und

die Konvergenz ist gleichmassig auf jeder beschrankten Teilmenge von C).

Sei ρ der Konvergenzradius der Potenzreihe∑

n anzn. Wir setzen D = {z ∈ C : |z| <

ρ}. Der Abschluss von D ist dann D = {z ∈ C : |z| ≤ ρ}. Es gilt

D ⊂ Konvergenzbereich von∑n

anzn ⊂ D

Das Verhalten der Potenzreihe∑

n anzn auf der Kreislinie ∂D = {z ∈ C : |z| = ρ} hangt

von der besonderen Potenzreihe ab.Beispiele:

•∑∞

k=0 zk hat Konvergenzradius ρ = 1. Die Reihe konvergiert fur alle |z| < 1. Fur

|z| ≥ 1, ist zk 6→ 0. Also divergiert die Reihe fur alle |z| ≥ 1.

•∑∞

k=0 zk/k hat Konvergenzradius ρ = 1. Die Reihe konvergiert fur alle |z| < 1.

Fur z = 1 ist die Reihe die harmonische Reihe und divergiert. Fur z = −1 ist dieReihe die alternierende harmonische Reihe und konvergiert (eigentlich konvergiertdie Reihe fur alle |z| = 1, ausser z = 1).

•∑∞

k=0 zk/k2 hat Konvergenzradius ρ = 1. Die Reihe konvergiert fur alle |z| ≤ 1.

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Der Konvergenzradius kann auch durch das Quotientenkriterium berechnet werden.

Proposition 7.3. Sei ρ der Konvergenzradius der Potenzreihe∑

n anzn, definiert in

(12). Es gilt

ρ = limk→∞

|ak||ak+1|

falls der Grenzwert existiert (oder falls der Limes ∞ ist).

Beweis. Wir nehmen an, der Grenzwert limk→∞ |ak|/|ak+1| existiert. Sei 0 < |z| <limk→∞ |ak|/|ak+1|. Dann gilt

1 < limk→∞

|ak||z|k

|ak+1||z|k+1

und

1 > limk→∞

|ak+1||z|k+1

|ak||z|k= lim

k→∞

|ak+1zk+1|

|akzk|Das Quotientenkriterium impliziert, dass

∑k akz

k konvergiert. Analog impliziert dasQuotientenkriterium, dass die Reihe divergiert, falls |z| > limk→∞ |ak|/|ak+1|. Das zeigt,dass ρ = limk→∞ |ak|/|ak+1|.

7.2 Die Exponentialfunktion

Wir definieren die Exponentialfunktion exp : C→ C durch

exp(z) =

∞∑j=0

zj

j!

fur alle z ∈ C. Der Konvergenzradius der Reihe ist aus Proposition 7.3 aus

ρ = limk→∞

(k + 1)!

k!= lim

k→∞(k + 1) =∞

gegeben. Das heisst, die Reihe konvergiert absolut fur alle z ∈ C, und die Konvergenzist gleichmassig auf jeder beschrankten Teilmenge von C. Aus 7.2 folgt auch, dass dieExponentialfunktion auf C stetig ist. Es gilt exp(0) = 1. Eine wichtige Eigenschaft derExponentialfunktion ist, dass

exp(z1 + z2) = exp(z1) exp(z2) fur alle z1, z2 ∈ C (13)

In der Tat, aus Satz 4.22 uber Cauchy-Produkte von Reihen, gilt

exp(z1) exp(z2) =

( ∞∑i=0

zi

i!

) ∞∑j=0

zj

j!

=

∞∑n=0

(n∑

m=0

zm1m!

zn−m2

(n−m)!

)

=∞∑n=0

1

n!

(n∑

m=0

(n

m

)zm1 z

n−m2

)

=

∞∑n=0

(z1 + z2)n

n!

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Aus (13) folgt, dass

exp(z) exp(−z) = exp(0) = 1 ⇒ exp(−z) =1

exp(z)

Insbesondere exp(z) 6= 0, fur alle z ∈ C.Sei nun x ∈ R. Dann gilt offenbar exp(x) ∈ R. Fur x ≥ 0 ist

exp(x) = 1 + x+x2

2!+ . . .

positiv und streng monoton wachsend (weil jeder Summand monoton wachsend istund alle Summanden, ausser dem ersten streng monoton wachsend sind). Da offenbarexp(x) ≥ 1 + x gilt exp(x)→∞, fur x→∞. Da exp(x) ≥ xp+1/(p+ 1)! gilt sogar

exp(x)

xp→∞

Fur x → ∞, fur beliebige p ∈ N. D.h. die Exponentialfunktion divergiert schneller alsjede Potenz von x, im Limes x→∞. Wir betrachten nun x < 0.

exp(x) =1

exp(−x)

ist die Exponentialfunktion auch auf (−∞; 0) streng monoton wachsend. In der Tat, furx1 < x2 < 0 gilt 0 < −x2 < −x1. Also exp(−x2) < exp(−x1) und deswegen

exp(x1) =1

exp(−x1)<

1

exp(−x2)= exp(x2)

Als x→ −∞ gilt −x→∞ und also exp(−x)→∞. Deswegen

exp(x) =1

exp(−x)→ 0

Es folgt, dass die exp : R → R+ = {x ∈ R : x > 0} bijektiv ist (Injektivitat folgt ausstrenger Monotonie, Surjektivitat aus Stetigkeit und aus dem Zwischenwertsatz).

Sei nun x ∈ R. Wir behaupten, dass

(exp(x))α = exp(αx) (14)

fur alle α ∈ Q (linke Seite ist wohldefiniert, weil exp(x) > 0 ist). In der Tat, fur p ∈ Ngilt

(exp(x))p = (exp(x)) · (exp(x)) . . . (exp(x)) = exp(x+ x+ · · ·+ x) = exp(px)

Fur α = p = −1,−2, . . . gilt weiter

(exp(x))p =1

(exp(x))−p=

1

exp(−px)= exp(px)

Fur p ∈ Z und q ∈ N\{0} gilt dann(exp

(p

qx

))q= exp

(qp

qx

)= exp(px)

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und deswegen

exp

(p

qx

)= exp(px)1/q .

Da die rechte Seite von (14) sinnvoll fur alle α ∈ C ist, kann man sie benutzen, umdie linke Seite fur α ∈ C\Q zu definieren. Fur beliebige x ∈ R und z ∈ C setzen wir also

(exp(x))z := exp(zx) (15)

Fur exp : R→ (0;∞) bijektiv, definiert die letze Gleichung az fur alle a ∈ (0; +∞) undz ∈ C. Die Funktion az hat dann die folgenden Eigenschaften:

(a · b)z = az · bz, az1+z2 = az1 · az2 , a−z = 1/az

Wie schon in Definition 4.9, bezeichnen wir mit

e := exp(1) =∞∑j=0

1

j!

die Euler’sche Zahl. Gemass der Definition (15) gilt dann exp(z) = ez, fur alle z ∈ C.

Proposition 7.4. Die Euler’sche Zahl e ist irrational.

Beweis. Nehmen wir an e ∈ Q. Dann existieren p ∈ N und q ∈ N\{0} mit e = p/q. Esgilt

q!e = q!(p/q) = p(q − 1)! ∈ N

Anderseits

q!e = q! +q!

2!+ · · ·+ q!

q!+

1

q + 1+

1

(q + 1)(q + 2)+ . . .

Die Summe der ersten (q+1) Termen in offenbar in Z. Damit q!e auch in Z sein kann,mussauch die Summe

1

q + 1+

1

(q + 1)(q + 2)+ · · · ∈ Z

sein. Das ist aber unmoglich, weil q ≥ 1 und deswegen

0 <1

q + 1+

1

(q + 1)(q + 2)+ · · · < 1

q + 1+

1

(q + 1)2+

1

(q + 1)3+ . . .

≤ 1

2+

1

22+

1

23+ · · · =

∞∑j=1

1

2j= 1.

7.3 Der Logarithmus

Die Funktion exp : R→ (0;∞) ist streng monoton wachsend und bijektiv. Wir definierendie Logarithmusfunktion, also die Inverse dieser Funktion. D.h. log : (0;∞) → R istdurch

log x = y falls exp(y) = x

definiert. Da exp streng monoton wachsend ist, folgt aus Proposition 6.17, dass log strengmonoton wachsend und stetig ist. Es gilt

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• exp(0) = 1 ⇒ log(1) = 0.

• exp(1) = e ⇒ log(e) = 1.

• expx→∞, als x→∞ impliziert, dass log x→∞, als x→∞.

• Fur x → ∞ log x gegen ∞ langsamer konvergiert, als jede Potenz von x, gilt furjede α > 0

limx→∞

log x

xα= 0

In der Tat, sei y = log x. Dann ist x = ey und xα = (ey)α = eαy. Also

limx→∞

log x

xα= lim

y→∞

y

eαy= 0

• expx→ 0, als x→ −∞ impliziert, dass log x→ −∞, als x→ 0.

• Fur x→ 0 log x→ −∞ langsamer konvergiert, als jede Potenz von x konvergiertgegen 0, gilt fur jede α > 0

limx→0

xα log x = 0

In der Tat, sei y = log x. Dann ist x = ey und xα = eαy. Das impliziert

limx→0

xα log x = limy→−∞

yeαy = 0

• log(x · y) = log x+ log y, fur alle x, y > 0. In der Tat

log(xy) = log(elog xelog y

)= log

(elog x+log y

)= log x+ log y

• (exp(x))z = exp(zx) impliziert, dass fur jedes a > 0,

az = (exp(log a))z = exp(z log a)

Diese Formel definiert az, fur jedes z ∈ C und a > 0.

7.4 Hyperbolische Funktionen

Fur z ∈ C definieren wir die Funktionen

cosh(z) =ez + e−z

2, sinh(z) =

ez − e−z

2, tanh(z) =

sinh(z)

cosh(z)

Aus Definition der Exponentialfunktion gilt

cosh(z) =∞∑j=0

z2j

(2j)!, sinh(z) =

∞∑j=0

z2j+1

(2j + 1)!

Eigenschaften der hyperbolischen Funktionen:

• cosh(−z) = cosh z und sinh(−z) = − sinh z fur alle z ∈ C.

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• Sei nun x ∈ R. Fur x� 1 gilt coshx ' ex/2 und sinhx ' ex/2. Deswegen

limx→∞

coshx = limx→∞

sinhx =∞ und limx→∞

tanhx = 1

Fur x→ −∞ gilt coshx ' e−x/2 und sinhx ' −e−x/2. Wir erhalten

limx→−∞

coshx =∞, limx→−∞

sinhx = −∞, und limx→−∞

tanhx = −1

• Fur jedes z ∈ C giltcosh2 z − sinh2 z = 1

In der Tat

cosh2 z − sinh2 z =

(ez + e−z

2

)2

−(ez − e−z

2

)2

=1

4

(e2z + e−2z + 2− e2z − e−2z + 2

)= 1

• Fur x ∈ R sind die Funktionen ex und −e−x streng monoton wachsend. Deswegenist sinh(x) streng monoton wachsend.

• Da fur sinhx → −∞ x → −∞ und fur sinhx → ∞ x → ∞, ist sinh : R → Rbijektiv. Die Inverse Funktion wird mit arcsinh : R→ R bezeichnet. Es gilt

arcsinh(x) = log(x+

√x2 + 1

)Aus coshx = (1 + sinh2 x)1/2 folgt, dass coshx monoton wachsend auf [0;∞) ist.Da cosh 0 = 1 folgt, dass cosh : [0,∞)→ [1;∞) bijektiv ist. Die Inverse Funktionwird mit arccosh : [1;∞)→ [0;∞) bezeichnet. Es gilt

arccosh(x) = log(x+

√x2 − 1

)7.5 Trigonometrische Funktionen

Fur z ∈ C definieren wir

cos z :=eiz + e−iz

2und sin z :=

eiz − e−iz

2i

Aus Definition der Exponentialfunktion folgt, dass

cos z =∞∑j=0

(−1)jz2j

(2j)!, sin z =

∞∑j=0

(−1)jz2j+1

(2j + 1)!

Also cos(−z) = cos z und sin(−z) = − sin z fur alle z ∈ C.

Fur t ∈ R gilt exp(it) = exp(−it) (weil exp(z) = exp(z) fur alle z ∈ C). Deswegen

cos t =eit + e−it

2= Re eit, sin t =

eit − e−it

2i= Im eit ⇒ eit = cos t+ i sin t

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Aus|eit|2 = eite−it = e0 = 1

folgt, dass |eit| = 1 fur alle t ∈ R. Es folgt, dass cos2 t+ sin2 t = 1 fur alle t ∈ R.

Fur alle x, y ∈ R gelten die Additionsformeln

cos(x+ y) = cosx cos y − sinx sin y

sin(x+ y) = sinx cos y + sin y cosx

Sie folgen aus der Bemerkung, dass einerseits

ei(x+y) = cos(x+ y) + i sin(x+ y)

und anderseits

ei(x+y) = eixeiy = (cosx+ i sinx)(cos y + i sin y)

= (cosx cos y − sinx sin y) + i(cosx sin y + sinx cos y)

Satz 7.5. Es existiert eine Zahl π ∈ [2; 4] mit

cos(t+ 2π) = cos t, sin(t+ 2π) = sin t, fur alle t ∈ R

Beweis. Sei t ∈ (0; 1]. Die Termen in der Reihe fur cos und sin sind alternierend und ihrAbsolutbetrag ist monoton fallend. Also gilt, aus dem Beweis von Prop. 4.15

1− t2

2< cos t < 1− t2

2+t4

4!(16)

und

t− t3

3!< sin t < t

fur alle t ∈ (0; 1]. Insbesondere cos t, sin t > 0 fur alle t ∈ (0; 1]. Aus (16) folgt, mitt = 1/2, dass

cos(1/2) > 1− 1

8=

7

8und dass cos(1) < 1− 1/2 + 1/24 = 13/24. Da cos t stetig ist, folgt aus dem Zwischen-wertsatz, dass t0 ∈ [1/2, 1] mit cos t0 = 1/

√2 existiert (weil 13/24 < 1/

√2 < 7/8). Aus

sin2(t0) + cos2(t0) = 1 und sin t0 > 0 folgt, dass

sin t0 =√

1− cos2 t0 = 1/√

2

Also cos t0 = sin t0 = 1/√

2. Wir setzen π = 4t0. Dann gilt

eiπ/4 = cos t0 + i sin t0 =1√2

(1 + i)

Das gibt

eiπ/2 = (eiπ/4)2 =1

2(1 + i)2 = i ⇒ eiπ = −1 ⇒ e2iπ = 1

Das bedeutet, dassei(t+2π) = eite2iπ = eit

fur alle t ∈ R, und deswegen

cos(t+ 2π) = cos t, sin(t+ 2π) = sin t

fur alle t ∈ R.

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Aus dem Beweis folgt auch, dass eiπ = −1 und eiπ/2 = i. Das gibt

ei(π+t) = −eit = − cos t− i sin t

undei(π/2−t) = eiπ/2e−it = ie−it = i(cos t− i sin t) = sin t+ i cos t

Deswegen giltcos(t+ π) = − cos t, und sin(t+ π) = − sin t

und auchcos(π/2− t) = sin t und sin(π/2− t) = cos t

Proposition 7.6. Die Funtkion t → eit = cos t + i sin t bildet das Interval [0; 2π) aufder Kreislinie {z = x+ iy : x2 + y2 = 1} bijektiv ab.

Beweis. Schritt 1: cos t, sin t > 0 fur 0 < t < π/2.

Wir haben die Behauptung fur 0 < t ≤ 1 schon bewiesen. Da wir aus Definitionπ/4 < 1 wissen, dass cos t, sin t > 0 fur t ∈ (0;π/4]. Nun, fur t ∈ (π/4;π/2) ist π/2− t ∈(0;π/4). Deswegen gilt, fur t ∈ (π/4;π/2),

cos t = sin(π/2− t) > 0, und sin t = cos(π/2− t) > 0 .

Schritt 2: sin t ist streng monoton wachsend auf [0;π/2].

Um die Behauptung zu zeigen, bemerken wir, dass wir fur beliebige s, t ∈ R

sin s = sin

(s+ t

2+s− t

2

)= sin

(s+ t

2

)cos

(s− t

2

)+ cos

(s+ t

2

)sin

(s− t

2

)sin t = sin

(s+ t

2− s− t

2

)= sin

(s+ t

2

)cos

(s− t

2

)− cos

(s+ t

2

)sin

(s− t

2

)haben. Durch Subtraktion folgt, dass

sin s− sin t = 2 cos

(s+ t

2

)sin

(s− t

2

)Nun gilt fur 0 ≤ t < s ≤ π/2 0 < (s + t)/2 < π/2 und 0 < (s − t)/2 < π/2. Aus derletzen Gleichung und aus Schritt 1 folgt, dass sin s− sin t > 0.

Schritt 3: Die Abbildung t → eit = cos t + i sin t bildet [0;π/2] bijektiv auf {x + iy :x2 + y2 = 1, mit x, y ≥ 0} ab.

Da sin t streng monoton wachsend ist, ist die Injektivitat der Abbildung klar. Umdie Surjektivitat zu zeigen, benutzen wir, dass sin(0) = 0, sin(π/2) = 1. Sei u+ iv ∈ Cmit u2 + v2 = 1 und u, v ≥ 0 gegeben. Da v ∈ [0; 1] und sin stetig ist, folgt aus demZwischenwertsatz, dass t0 ∈ [0;π/2] mit sin t0 = v existiert. Dann ist (da cos t0 > 0 ausSchritt 1)

cos t0 =√

1− sin2 t0 =√

1− v2 = u .

D.h. u+ iv = cos t0 + i sin t0.

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Schritt 4: die Abbildung t → eit = cos t + i sin t bildet [0; 2π) bijektiv auf {x + iy :x2 + y2 = 1}.

Aus Schritt 3 und aus cos(−t) = cos t und sin(−t) = − sin t folgt, dass t → eit

das Interval [−π/2; 0] bijektiv auf {x + iy : x2 + y2 = 1, x ≥ 0, y ≤ 0} abbildet. DieseBemerkung impliziert, dass die Abbildung t → eit einerseits das Interval [π/2;π] auf{x + iy : x2 + y2 = 1, x ≤ 0, y ≥ 0} (weil cos(t + π) = − cos t und sin(t + π) = − sin t),und anderseits das Interval [3π/2; 2π] auf {x + iy : x2 + y2 = 1, x ≥ 0, y ≤ 0} (weilcos(t + 2π) = cos t und sin(t + 2π) = sin t) bijektiv abbildet. Aus Schritt 3 folgt auch,dass t → eit [π; 3π/2] bijektiv auf {x + iy : x2 + y2 = 1, mit x, y ≤ 0} abbildet (weilcos(t+ π) = − cos t und sin(t+ π) = − sin t).

Definition 7.7. Eine Funktion f : R→ C heisst periodisch, falls ein p 6= 0 existiert mit

f(t+ p) = f(t), fur alle t ∈ R

heisst p dann eine Periode von f . Die Fundamentalperiode von f ist die kleinste positivePeriode. Ist die Funktion f periodisch und stetig, dann existiert die Fundamentalperiode.Ein Fundamentalbereich ist ein Intervall der Form [x;x+ p), wobei p die Fundamental-periode ist.

Die Funktionen t→ eit, t→ cos t, t→ sin t sind periodisch, weil

ei(t+2π) = eit, cos(t+ 2π) = cos t, sin(t+ 2π) = sin t

fur alle t ∈ R. Aus Proposition 7.6 folgt, dass 2π die Fundamentalperiode von t → eit

ist (aus Injektivitat kann kein 0 < T < 2π mit eiT = 1) existieren. Da

eit = cos t+ i sin t = cos t+ i cos(π/2− t)

ist jede Periode von cos t auch eine Periode von eit. Das zeigt, dass 2π die Fundamen-talperiode von cos t ist. Ahnlich ist 2π die Fundamentalperiode von sin t.

Aus der Injektivitat von t→ eit auf [0; 2π) folgt auch, dass

eit = 1 ⇐⇒ t = 2πn, fur ein n ∈ Zeit = −1 ⇐⇒ t = π(2n+ 1), fur ein n ∈ Zeit = i ⇐⇒ t = π/2 + 2πn, fur ein n ∈ Zeit = −i ⇐⇒ t = 3π/2 + 2πn, fur ein n ∈ Z

Das impliziert, dass

sin t = 0 ⇐⇒ t = πn fur ein n ∈ Z

cos t = 0 ⇐⇒ t = π

(n+

1

2

)fur ein n ∈ Z

Da sin t streng monoton wachsend auf [0;π/2] ist und sin(−t) = − sin t folgt, dasssin t streng monoton wachsend auf [−π/2;π/2] ist, mit sin(−π/2) = −1 und sin(π/2) =

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1. Es folgt, dass sin : [−π/2;π/2] → [−1; 1] bijektiv. Wir bezeichnen die Inverse Funk-tion mit arcsin : [−1; 1] → [−π/2;π/2]. Da sin stetig und streng monoton wach-send ist, ist, wegen Proposition 6.17, arcsin auch stetig und monoton wachsend. Dacos t = sin(π/2 − t) = − sin(t − π/2) folgt, dass cos : [0;π] → [−1; 1] streng monotonfallend und bijektiv ist. Die inverse Funktion bezeichnen wir mit arccos : [−1; 1]→ [0;π].Aus den Eigenschaften von cos folgt, dass arccos stetig und streng monoton fallend ist.

Fur t ∈ R, t 6= (n+ 1/2)π, wir definieren

tan t :=sin t

cos t

Auf [0;π/2) gilt sin t, cos t ≥ 0, sin t ist streng monoton wachsend, cos t ist streng mo-noton fallend. Es folgt, dass tan t ≥ 0 und streng monoton wachsend auf [0;π/2] ist.tan 0 = 0 und

limt↑π/2

tan t = +∞

implizieren, dass t → tan t [0;π/2) bijektiv auf [0;∞) abbildet. Aus sin(−t) = − sin tund cos(−t) = cos t folgt, dass tan(−t) = tan t. Deswegen bildet t → tan t (−π/2; 0]bijektiv auf (−∞; 0] ab. Es folgt, dass t→ tan t monoton wachsend auf (−π/2;π/2) istund (−π/2;π/2) bijektiv auf R abbildet. Aus der Stetigkeit von sin und cos folgt auch,dass t→ tan t stetig auf (−π/2;π/2) ist. Die inverse Abbildung x→ arctan(x) bildet Rbijektiv und stetig auf (−π/2;π/2) ab.

Fur z ∈ C mit |z| = 1 existiert, wegen Proposition 7.6, genau ein ϕ ∈ [0; 2π) mitz = eiϕ. Fur beliebige z ∈ C mit z 6= 0 existiert ϕ ∈ [0; 2π) mit

z

|z|= eiϕ ⇒ z = |z|eiϕ

Man nennt z = reiϕ die Polardarstellung der komplexen Zahl z. r = |z| ≥ 0 ist dabeieindeutig bestimmt. ϕ ist dagegen nur modulo 2π eindeutig, weil ei(ϕ+2nπ) = eiϕ fur allen ∈ Z. Jedes ϕ mit z = reiϕ heisst ein Argument von z. Fur jedes z 6= 0, und beliebigeα ∈ R existiert genau ein Argument von z in [α;α + 2π) und genau ein Argument vonz in (α;α+ 2π]. Insbesondere existiert genau ein Argument ϕ ∈ (−π;π]; man nennt daseindeutige Argument von z in (−π;π] den Hauptwert des Arguments arg z. Sei z = x+iy,mit x > 0. Ist z = reiϕ = r(cosϕ+ i sinϕ) so muss r = (x2 + y2)1/2 und

x = r cosϕ, y = r sinϕ ⇒ tanϕ = y/x ⇒ ϕ = arctan(y/x)

Aus der Definition von arctan ist ϕ ∈ (−π/2;π/2) der Hauptwert des Arguments von z.Eine kurze Uberlegung zeigt, dass

arg(x+ iy) =

arctan(y/x), falls x > 0arctan(y/x) + π, falls x < 0, y ≥ 0arctan(y/x)− π, falls x < 0, y < 0π/2, falls x = 0, y > 0−π/2, falls x = 0, y < 0

Die Funktion arg z ist auf C\(−∞, 0] stetig.

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Die Polardarstellung z = reiϕ ist besonders nutzlich, um Potenzen und Wurzeln vonkomplexen Zahlen zu berechnen. Fur ein beliebiges p ∈ N\{0} und z = reiϕ ist

wn = r1/pei(ϕ+2πn)/p

fur n ∈ Z eine p-Wurzel von z, weil offenbar wpn = z. Sind n,m ∈ Z mit n −m = jp,fur ein j ∈ Z, dann ist e2iπn/p = e2iπm/p, und also wn = wm. Das bedeutet, dass es furjedesz ∈ C\{0} genau p verschiedene komplexe Zahlen w0, w1, . . . wp−1 mit wpj = z gibt.Die Berechnung der Wurzeln w0, . . . , wp wird in Polarkoordinaten auf die Berechnungder p-ten Wurzel r1/p der positiven reellen Zahl r > 0 zuruckgefuhrt.

8 Differentialrechnung

8.1 Grundbegriffe

Wir betrachten in dieser Sektion Funktionen f : A → Rm, definiert in einer Teilmen-ge A ⊂ R, mit Werten in Rm. Fur diese Funktionen definieren wir den Begriff vonDifferenzierbarkeit und von Ableitung.

Definition 8.1. Sei f eine Rm-wertige Funktion, definiert in einer Umgebung von x0 ∈R. Wir sagen, f ist an der Stelle x0 differenzierbar, falls der Limes

f ′(x0) = limh→0

f(x0 + h)− f(x0)

h

existiert. In diesem Fall heisst f ′(x0) die Ableitung von f an der Stelle x0. Fur f ′(x0)wird manchmal auch die Bezeichnung df/dx(x0) benutzt. Sei G ⊂ R eine offene Menge.Eine Funktion f : G → Rm heisst differenzierbar auf G, falls f differenzierbar an derStelle x0 ist, fur alle x0 ∈ G.

Bemerkung: Differenzierbar ist fur Funktionen f : G → Rm definiert, unter derAnnahme, dass G eine offene Menge ist. Diese Annahme garantiert, dass fur jedes x0 ∈G, die Funktion f in einer Umgebung von x0 definiert ist (damit ist der Limes sinnvoll).Um Stetigkeit von f : A → M zu definieren, braucht man dagegen nicht, dass A offenist.

Da (f(x0 + h) − f(x0))/h die mittlere Zuwachsrate von f im Intervall [x0;x0 + h](oder im Intervall [x0 + h;x0], falls h < 0) ist, kann man die Ableitung f ′(x0) als diemomentane Zuwachsrate bezeichnen. Ist f reelwertig, dann ist f ′(x0) die Steigung derTangente zum Graph von f im Punkt (x0; f(x0)). Nimmt f Werte in Rm, so ist f ′(x0)(falls es existiert) auch ein Vektor in Rm; geometrisch beschreibt x → f(x) eine Kurvein Rm, und f ′(x0) ist ein Tangentenvektor zu dieser Kurve, im Punkt f(x0) (die Langevon f ′(x0), d.h. ‖f ′(x0)‖Rm gibt die “Geschwindigkeit” der Parametrisierung der Kurve.

Proposition 8.2. Sei f eine Rm-wertige Funktion, definiert in einer Umgebung vonx0 ∈ R. Ist f differenzierbar an der Stelle x0, so ist f auch stetig an der Stelle x0.

Beweis. Es gilt

f(x0 + h)− f(x0) =f(x0 + h)− f(x0)

h· h

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Fur h→ 0 konvergiert (f(x0 + h)− f(x0))/h→ f ′(x0). Also

limh→0

f(x0 + h)− f(x0) = 0 ⇒ limh→0

f(x0 + h) = f(x0)

Das impliziert die Stetigkeit von f an der Stelle x0.

Die Umkehrung von Proposition 8.2 gilt nicht; Stetigkeit von f an der Stelle x0impliziert nicht, dass f an der Stelle x0 differenzierbar ist. Zum Beispiel, die Funktionf : R→ R, die durch f(x) = |x| definiert ist, ist stetig auf R aber, da

limh→0

|h|h

nicht existiert, ist sie nicht differenzierbar an der Stelle x = 0. Tatsache: Es existierenuberall stetige Funktionen, die nirgends differenzierbar sind.

Bemerkung: Sei f : G → Rm eine Rm-wertige Funktion, definiert auf G ⊂ R. Dannexistieren Funktionen fj : G→ R, fur j = 1, . . . ,m, mit f(x) = (f1(x), f2(x), . . . , fm(x)).Die Funktion f ist an der Stelle x0 ∈ G differenzierbar g.d.w. fj an der Stelle x0, fur allej = 1, . . . ,m differenzierbar ist. Das folgt naturlich aus der Bemerkung, dass eine Folge

an = (a(1)n , a

(2)n , . . . , a(m)n) auf Rm genau dann konvergiert, wenn jede Komponente a

(j)n

konvergiert. In diesem Sinn kann die Frage, ob eine Rm-wertige Funktion differenzierbarist, immer auf die Differenzierbarkeit von R-wertigen Funktionen zuruckgefuhrt werden.

Satz 8.3. Seien f, g reelwertige Funktionen definiert in einer Umgebung von x0 ∈ R.Seien f, g differenzierbar an der Stelle x0. Dann

a) ist f + g differenzierbar an der Stelle x0 und (f + g)′(x0) = f ′(x0) + g′(x0).

b) ist f · g differenzierbar an der Stelle x0 und (fg)′(x0) = f ′(x0)g(x0) + f(x0)g′(x0).

c) ist g(x0) 6= 0, so ist f/g differenzierbar an der Stelle x0, und(f

g

)′(x0) =

f ′(x0)g(x0)− f(x0)g′(x0)

g2(x0)

Beweis. a) folgt aus Linearitat des Limes. Um b) zu zeigen, bemerken wir, dass

(f · g)(x0 + h)− (f · g)(x0)

h=f(x0 + h)g(x0 + h)− f(x0)g(x0 + h)

h

+f(x0)g(x0 + h)− f(x0)g(x0)

h

=f(x0 + h)− f(x0)

hg(x0 + h) + f(x0)

g(x0 + h)− f(x0)

h→ f ′(x0)g(x0) + f(x0)g

′(x0)

wo wir benutzt haben, dass f und g differenzierbar an der Stelle x0 sind (und deswegenist g stetig an der Stelle x0, d.h. g(x0 +h)→ g(x0), fur h→ 0). Um c) zu zeigen, genugt

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es, den Fall f = 1 zu betrachten. Der allgemeine Fall folgt dann aus b), indem wir f/gals f · (1/g) schreiben. Fur f = 1 finden wir

1

h

(1

g(x0 + h)− 1

g(x0)

)=g(x0)− g(x0 + h)

hg(x0)g(x0 + h)

= − g(x0 + h)− g(x0)

h

1

g(x0)g(x0 + h)

→ − g′(x0)

g2(x0)

weil g differenzierbar ist, und also, insbesondere, stetig.

Wir berechnen nun die Ableitung von elementaren R-wertigen Funktionen.

• Die Ableitung der konstanten Funktion f(x) = c ist f ′(x) = 0.

• Sei f(x) = x. Dann

f ′(x) = limh→0

f(x+ h)− f(x)

h= lim

h→0

x+ h− xh

= 1

fur alle x ∈ R.

• Sei f(x) = xn, fur n ∈ N. Wir behaupten, dass f ′(x) = nxn−1 (insbesondere istf uberall auf R differenzierbar). Das zeigen wir durch Induktion. Die Behauptunggilt fur n = 1. Nehmen wir an, die Behauptung gilt fur n ≤ m, fur ein m ∈ N. Wirzeigen sie fur n = m+ 1:

d

dxxm+1 =

d

dxx · xm = 1 · xm + x

d

dxxm = xm +mxm = (m+ 1)xm

wo wir die Induktionsannahme benutzt haben. Es folgt, mit Satz 8.3, dass Po-lynome immer auf R uberall differenzierbar sind, und dass rationale Funktionenuberall dort differenzierbar sind, wo der Nenner nicht verschwindet.

• Sei f(x) = x−n = 1/xn, fur ein n ∈ N. Dann ist f differenzierbar an der Stelle x,fur alle x ∈ R, mit x 6= 0. Fur x 6= 0 es gilt weiter f ′(x) = −n/xn+1 = −nx−n−1.Das heisst die Formel (d/dx)xn = nxn−1 gilt eigentlich fur alle n ∈ Z. Das folgtaus Satz 8.3 (Teil c)), weil

d

dxx−n =

d

dx

1

xn=−nxn−1

x2n= − n

xn+1

• Sei f(x) = exp(x) die Exponentialfunktion, definiert auf R. Wir behaupten, dassf uberall differenzierbar ist, und dass f ′(x) = exp(x). In der Tat

limh→0

ex+h − ex

h= lim

h→0exeh − 1

h= ex (17)

weileh − 1

h=

∞∑n=1

hn−1

n!=

∞∑n=0

hn

(n+ 1)!

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Die Potenzreihe∑hn/(n+ 1)! konvergiert auf |h| ≤ 1 gleichmassig und ist deswe-

gen stetig als gleichmassige Limes stetiger Funktionen. Das bedeutet

limh→0

eh − 1

h= lim

h→0

∞∑n=0

hn

(n+ 1)!= 1 (18)

und zeigt (17).

• Sei f(x) = log x, fur x > 0. Wir behaupten, f ist auf (0;∞) differenzierbar, undf ′(x) = 1/x. Beweis: Wir bemerken, dass

limx→1

log x

x− 1= 1 (19)

In der Tat, mit z = log x ist x = ez. Da log x stetig an der Stelle 1 ist, finden wir

limx→1

log x

x− 1= lim

z→0

z

ez − 1=

1

limz→0ez−1z

= 1

Aus (19) erhalten wir, fur x > 0,

limh→0

log(x+ h)− log x

h= lim

h→0

log(1 + h/x)

h=

1

xlimh→0

log(1 + h/x)

h/x=

1

x

• Die Funtkionen sin und cos sind auf R differenzierbar. Weiter (sin)′(x) = cos(x)und (cos)′(x) = − sinx. Wir haben

sinx =eix − e−ix

2i, und cosx =

eix + e−ix

2

Wir bemerken, dass, ahnlich wie in (18),

limh→0

eih − 1

ih= 1 und lim

h→0

e−ih − 1

ih= −1

Das gibt

limh→0

sin(x+ h)− sinx

h= lim

h→0

ei(x+h) − e−i(x+h) − eix + e−ix

2ih

= limh→0

ei(x+h) − eix

2ih− limh→0

e−i(x+h) − e−ix

2ih

=eix

2limh→0

eih − 1

ih− e−ix

2limh→0

e−ih − 1

ih

=eix + e−ix

2= cosx

Analog kann man zeigen, dass (cos)′(x) = − sinx. Satz 8.3 impliziert dann, dasstanx = sinx/ cosx an der Stelle x differnzierbar, fur alle x 6= (n + 1/2)π, fur einn ∈ Z.

Die folgende Proposition wird nutzlich sein.

89

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Proposition 8.4. Sei f eine Rm-wertige Funktion, definiert auf einer Umgebung U vonx0 ∈ R. Dann ist f differenzierbar an der Stelle x0 ∈ R g.d.w. eine Rm-wertige Funktionk existiert, definiert auf U und stetig an der Stelle x0, mit

f(x) = f(x0) + k(x)(x− x0)

fur alle x ∈ U . Dann gilt k(x0) = f ′(x0).

Beweis. Fur x 6= x0 muss

k(x) =f(x)− f(x0)

x− x0(20)

Die Behauptung ist aquivalent zur folgenden Aussage: f ist differenzierbar an der Stellex0 g.d.w. die Funktion k, definiert auf U\{x0} durch (20), eine stetige Fortsetzung aufx = x0 besitzt. Das folgt aber aus Proposition 6.11, weil k eine stetige Fortsetzung inx = x0 g.d.w. der Limes

limx→x0

f(x)− f(x0)

x− x0(21)

existiert, hat. In diesem Fall gibt (21) den Wert der stetigen Fortsetzung an der Stellex0; also k(x0) = f ′(x0).

Die Kettenregel erlaubt uns die Ableitung von verknupften Funktionen zu berechnen.

Proposition 8.5 (Kettenregel). Sei f eine reelwertige Funktion, definiert in einer Um-gebung von x0 ∈ R. Sei g eine Rm-wertige Funktion, definiert in einer Umgebung vony0 = f(x0). Sei f differenzierbar an der Stelle x0 und g differenzierbar an der Stelle y0.Dann ist g ◦ f differenzierbar an der Stelle x0 und

(g ◦ f)′(x) = g′(f(x0))f′(x0)

Beweis. Aus Proposition 8.4 folgt, dass

g(y)− g(y0) = k(y)(y − y0)

fur eine Funktion k (definiert in einer Umgebung von y0 = f(x0)) mit k(y0) = g′(y0).Also

g(f(x0 + h))− g(f(x0))

h= k(f(x0 + h))

f(x0 + h)− f(x0)

h→ k(f(x0)) f

′(x0)

fur h → 0 (weil k stetig an der Stelle f(x0) ist und f differenzierbar an der Stelle x0,und also insbesondere stetig ist).

Beispiele: Sei f(x) = xα = exp(α log x) definiert fur x ∈ (0;∞) und fur ein α ∈ R. Danngilt

d

dxxα = exp(α log x)

α

x= αxα−1

Ein anderes Beispiel: f(x) = xx = exp(x log x). Also

d

dxxx = exp(x log x) (log x+ 1) = xx(log x+ 1)

90

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Proposition 8.6 (Differenzierbarkeit der Umkehrfunktion). Sei I ⊂ R ein Intervall.f : I → R stetig und streng monoton. Sei x0 ∈ I◦ (nicht ein Endpunkt des Intervals)und f an der Stelle x0 differenzierbar, mit f ′(x0) 6= 0. Dann ist f−1 definiert in einerUmgebung von f(x0) und an der Stelle f(x0) differenzierbar mit

(f−1)′(f(x0)) =1

f ′(x0)

Beweis. Sei g = f−1. Da f differenzierbar an der Stelle x0 ist, finden wir k, stetig ander Stelle x0, mit k(x0) = f ′(x0) und

f(x)− f(x0) = k(x)(x− x0)

in einer Umgebung von x0. Wir setzen y0 = f(x0). Dann ist x0 = g(y0). Wir setzen auchx = g(y0 + h). Es gilt

y0 + h = f(x) = f(x0) + k(x)(x− x0) = y0 + k(g(y0 + h))(g(y0 + h)− g(y0))

Das gibtg(y0 + h)− g(y0)

h=

1

k(g(y0 + h))

Fur h → 0, nach Stetigkeit von g and der Stelle y0, gilt g(y0 + h) → g(y0). Da k stetigist, gilt auch k(g(y0 + h))→ k(g(y0)). Also

limh→0

g(y0 + h)− g(y0)

h=

1

k(g(y0))=

1

f ′(x0)

Insbesondere der Limes existiert.

Beispiel: Sei exp : R → (0;∞) streng monoton wachsend und differenzierbar. Die In-verse Funktion ist log : (0;∞) → R. Aus Proposition 8.6 folgt, dass log auf (0;∞)differenzierbar ist, und

(log)′(expx) =1

expx⇒ (log)′(y) =

1

y

fur alle y ∈ R, wie wir schon bewiesen hatten.

Beispiel: Sei f(x) = tanx. f : (−π/2;π/2)→ R streng monoton wachsend und differen-zierbar, mit f ′(x) = tan2 x+ 1. Die Inverse Funktion ist arctan : R→ (−π/2;π/2). Furbeliebige x ∈ R ist arctan an der Stelle x differenzierbar, mit

(arctan)′(tanx) =1

tan2 x+ 1⇒ (arctan)′(y) =

1

y2 + 1

fur alle y ∈ R.

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8.2 Ableitungen und Optimierung

Sei f reelwertig, definiert auf A ⊂ R. Wir sagen x0 ∈ A ist an der Stelle x0 lokalmaximal (bzw. minimal), falls eine Umgebung U von x0 mit f(x) ≤ f(x0) (bzw. mitf(x) ≥ f(x0)) fur alle x ∈ U ∩ A existiert. Wir sagen f ist lokal extremal an der Stellex0 falls sie entweder lokal maximal oder lokal minimal an der Stelle x0 ist.

Proposition 8.7. Sei f eine reelwertige Funktion, definiert in einer Umgebung vonx0 ∈ R. Sei f an der Stelle x0 differenzierbar, mit f ′(x0) 6= 0. Dann ist f an der Stellex0 nicht extremal.

Beweis. Nehmen wir z.B. an, dass f ′(x0) > 0. Dann existiert δ > 0 s.d.

f(x0 + h)− f(x0)

h> 0 fur alle h ∈ R mit 0 < |h| < δ.

Dann gilt f(x0 + h) − f(x0) > 0, d.h. f(x0 + h) > f(x0), falls 0 < h < δ, und f(x0 +h) − f(x0) < 0, d.h. f(x0 + h) < f(x0), falls −δ < h < 0. Also x0 kann weder einlokales Maximum noch ein lokales Minimum sein. Analog kann man der Fall f ′(x0) < 0betrachten.

Folgerung: Nehmen wir an, wir suchen das (globale) Maximum einer stetigen Funktionf : [a; b]→ R. Das Maximum existiert aus dem Satz des Maximums. Das Maximum istsicher auch ein lokales Maximum. Alle Punkte x ∈ (a; b) mit f ′(x) 6= 0 konnen deswegennicht das globale Maximum sein. Die einzigen bleibenden Kandidaten sind: a, b, allePunkte in (a; b), wo f ′(x) = 0, und alle Punkte in (a; b), wo f nicht differenzierbar ist.

Beispiel: Welches Rechteck mit Umfang p hat den grossten Flacheninhalt? Seien x, y diezwei Kantenlangen. Es muss gelten: 0 ≤ x, y ≤ p/2 und 2(x+y) = p. Das gibt y = p/2−x.Der Flacheninhalt des Rechtecks ist dann A = xy = x(p/2 − x). Um den maximalenFlacheninhalt zu finden, mussen wir das Maximum der Funktion A(x) = x(p/2 − x),definiert auf dem Intervall [0; p/2], finden. A ist uberall in (0; p/2) differenzierbar, mitA′(x) = p/2−2x. A′(x) = 0 genau dann, wenn x = p/4. Mogliche Maxima sind A(0) = 0,A(p/2) = 0 und A(p/4) = p2/16 > 0. Wir schliessen, dass das Maximum p2/16 ist, waseinem Quadrat entspricht.

8.3 Mittelwertsatz

Satz 8.8 (Satz von Rolle). Sei f : [a; b] → R stetig, mit f(a) = f(b) = 0. Sei fdifferenzierbar auf (a; b). Dann existiert mindestens ein ξ ∈ (a; b) mit f ′(ξ) = 0.

Beweis. Ist f(x) = 0 fur alle x ∈ [a; b], so ist die Behauptung offenbar erfullt. Wirkonnen also annehmen, es existiert mindestens ein x ∈ (a; b) mit f(x) > 0 oder mitf(x) < 0. Nehmen wir zum Beispiel, an es gibt x ∈ (a; b) mit f(x) > 0. Nach dem Satzvom Maximum existiert ξ ∈ [a; b] mit

f(ξ) = sup{f(x) : x ∈ [a; b]}

Da f(a) = f(b) = 0 ist a < ξ < b. Da f differenzierbar an der Stelle ξ ist, mussf ′(ξ) = 0.

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Bemerkung: Satz 8.8 gilt allgemeiner, falls f(a) = f(b) (man braucht nicht, dass f(a) =f(b) = 0).

Satz 8.9 (Mittelwertsatz). Sei f : [a; b]→ R stetig, differenzier auf (a; b). Dann existiertξ ∈ (a; b) mit

f ′(ξ) =f(b)− f(a)

b− aBeweis. Wir definieren

h(x) = (b− a)(f(x)− f(a))− (f(b)− f(a))(x− a)

Dann gilt: h ist stetig auf [a; b] und differenzierbar auf (a; b), h(a) = h(b) = 0. Aus Satz8.8 folgt, dass ein ξ ∈ (a; b) existiert mit

0 = h′(ξ) = (b− a)f ′(ξ)− (f(b)− f(a)) ⇒ f ′(ξ) =f(b)− f(a)

b− a

Bemerkung: Allgemeiner gilt f, g : [a; b] → R stetig und auf (a; b) differenzierbar, mitg′(x) 6= 0 fur alle x ∈ (a; b). Dann existiert ξ ∈ (a; b) mit

f(b)− f(a)

g(b)− g(a)=f ′(ξ)

g′(ξ)

Beweis: Ubung.

Bemerkung: Mittelwertsatz ist i.A. falsch fur Funktionen mit Werten auf Rm, m > 1,oder auf C. Sei zum Beispiel f(x) = exp(ix). Es gilt f(0) = f(2π) = 1. Also (f(2π) −f(0))/(2π−0) = 0. Andererseits gilt f ′(x) = i exp(ix). Deswegen existiert kein ξ ∈ [0; 2π]mit f ′(ξ) = 0.

Proposition 8.10. Sei f : [a; b] → Rm stetig, differenzierbar auf (a; b). Es gelte‖f ′(x)‖ ≤M fur alle x ∈ (a; b). Dann gilt ‖f(b)− f(a)‖ ≤M |b− a|.

Beweis. O.B.d.A konnen wir annehmen, dass f(b) 6= f(a). Wir setzen dann c = f(b)−f(a), und

h(x) = c · (f(x)− f(a)) =m∑j=1

cj(fj(x)− fj(a))

h ist dann eine reelwertige stetige Funktion, differenzierbar auf (a; b), mit h(a) = 0,h(b) = ‖f(b)− f(a)‖2, und h′(x) = c · f ′(x) =

∑mj=1 cjf

′j(x). Aus Cauchy-Schwarz, folgt

|h′(x)| ≤ ‖c‖‖f ′(x)‖ ≤M‖c‖

fur alle x ∈ (a; b). Aus dem Mittelwertsatz fur h, existiert ein ξ ∈ (a; b) mit

h(b)− h(a)

b− a= h′(ξ)

Also

‖f(b)− f(a)‖2 = |h(b)− h(a)| ≤ |h′(ξ)||b− a| ≤M |b− a|‖f(b)− f(a)‖

Wir dividieren links und rechts durch ‖f(b) − f(a)‖ und bekommen ‖f(b) − f(a)‖ ≤M |b− a|.

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Korollar 8.11. Sei f : [a; b]→ Rm stetig, mit f ′(x) = 0 fur alle x ∈ (a; b). Dann ist fkonstant auf [a; b].

Beweis. Sei a < x < b. Aus der letze Proposition, angewandt auf [a;x] folgt ‖f(x) −f(a)‖ = 0, und also f(x) = f(a).

Proposition 8.12. Sei f : [a; b] → R stetig, differenzierbar auf (a; b). Dann ist fmonoton wachsend (bzw. fallend) auf [a; b] g.d.w. f ′(x) ≥ 0 (bzw. f ′(x) ≤ 0) fur allex ∈ (a; b).

Beweis. Ist f wachsend, dann gilt f(x0 + h)− f(x0) ≥ 0 fur alle x0 ∈ (a; b) und h > 0klein genug. Das impliziert, dass (f(x0 + h) − f(x0))/h ≥ 0 fur alle h > 0 klein genug,und also (weil wir angenommen haben, dass der Limes existiert, dass

f ′(x0) = limh→0

f(x0 + h)− f(x0)

h≥ 0

Anderseits, falls f ′(x) ≥ 0 fur alle x ∈ (a; b), so gilt wegen dem Mittelwertsatz auf demIntervall [x; y], mit a ≤ x ≤ y ≤ b,

f(y)− f(x) = f ′(ξ)(y − x) ≥ (y − x) ≥ 0

Das zeigt, dass f monoton wachsend ist. Analog kann man die Behauptung fur monotonfallende Funktionen anwenden.

Das Beispiel f(x) = x3 zeigt, dass f streng monoton wachsend sein kann, obwohlein x existiert (in diesem Beispiel x = 0) mit f ′(x) = 0. Ist f monoton wachsend abernicht streng monoton wachsend auf [a; b], dann gibt es a ≤ c < d ≤ b mit f(c) = f(d).Wegen der Monotonie muss dann f(x) = f(c) fur alle x ∈ [c; d]. Also f ′(x) = 0 fur allex ∈ (c; d). D.h. monoton wachsende Funktionen die nicht streng monoton wachsend sind,sind auf einem Intervall konstant; das impliziert, dass die Ableitung auf einem Intervallpositiver Lange verschwinden muss.

Proposition 8.13. Sei f : [a; b]→ R stetig, differenzierbar auf (a; b). Dann ist f strengmonoton wachsend auf [a; b] g.d.w. f ′(x) ≥ 0 fur alle x ∈ (a; b) und es gibt kein Intervallpositiver Lange, wo f ′ verschwindet.

Satz 8.14 (Satz von Bernoulli-de L’ Hopital). Seien f, g differenzierbar auf (a; b) (a =−∞ ist hier zugelassen). Sei g(x) 6= 0 und g′(x) 6= 0 fur alle x ∈ (a; b). Es gelte

limx↓a

f(x) = limx↓a

g(x) = 0

und es existiere der Limes

limx↓a

f ′(x)

g′(x)= λ ∈ R ∪ {±∞}

Dann gilt

limx↓a

f(x)

g(x)= λ

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Bemerkungen: Es gibt eine analoge Version des Satzes von Bernoulli-L’Hopital fur denlinkseitigen Limes. Die Aussage gilt auch, falls limx↓a f(x) = limx↓a g(x) = +∞ oderlimx↓a f(x) = limx↓a g(x) = −∞ (Beweis: Ubung). Der Satz gilt i.A. nicht fur komplex-wertige Funktionen.

Beweis. Wir behandeln nur den Fall λ ∈ R. Sei ε > 0. Dann existiert x0 ∈ (a; b) mit∣∣∣∣f ′(x)

g′(x)− λ

∣∣∣∣ < ε fur alle a < x < x0

Nach der ersten Bemerkung nach Satz 8.9 gilt, fur beliebige a < x1 < x0:

f(x)− f(x1)

g(x)− g(x1)=f ′(ξ)

g′(ξ)

fur ein ξ ∈ (x1;x0). Also ∣∣∣∣f(x)− f(x1)

g(x)− g(x1)− λ∣∣∣∣ < ε

Fur alle a < x1 < x < x0. Wir lassen nun x1 → a streben; dann f(x1) → 0 undg(x1)→ 0. Es folgt, dass ∣∣∣∣f(x)

g(x)− λ

∣∣∣∣ < ε

fur alle a < x < x0.

Anwendung: Wir berechnen

limx→0

1

sinx− 1

x= lim

x→0

x− sinx

x sinx= lim

x→0

1− cosx

sinx+ x cosx= lim

x→0

sinx

2 cosx− x sinx= 0

wobei wir den Satz von Bernoulli-L’ Hopital zwei Mal angewandt haben.

8.4 Hohere Ableitungen

Wir bezeichnen mit f ′′, mit f (2) oder mit d2f/dx2 die zweite Ableitung von f , d.h.,die Ableitung von f ′. Rekursiv definieren wir f (n) = (f (n−1))′. Statt f (n) benutzenwir manchmal auch die Notation dnf/dxn. Genauer: f (n) ist an der Stelle x0 ∈ Rdefiniert, wenn f (n−1)(x) in einer Umgebung von x0 definiert ist, und wenn die Funktionx→ f (n−1)(x) an der Stelle x0 differenzierbar ist. In diesem Fall sagen wir, dass f an derStelle x0, n-mal differenzierbar ist. Ist f an der Stelle x n-mal differenzierbar, fur allex in einer offenen Menge G ⊂ R, dann sagen wir f ist auf G n-mal differenzierbar. Istweiter x→ f (n)(x) stetig auf G, dann sagen wir f ist auf G n-mal stetig differenzierbar.Fur eine offene Menge G ⊂ R, definieren wir

Cn(G) := {f : fdefiniert, reelwertig, n-mal stetig differenzierbar auf G}

mit der Konvention, dass C0(G) = C(G) die Menge der stetigen Funktionen auf G ist(wir bezeichnen dagegen mit Cb(G) die Menge der stetigen und beschrankten Funktionenauf G). Wir bezeichnen mit Cn(G;C) die Menge der komplex-wertigen n-mal stetigen,differenzierbaren Funktionen auf G.

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Da die Existenz von f (m) die Stetigkeit von f (m−1) impliziert, und deswegen auchdie Existenz von f (j), fur alle 0 ≤ j ≤ m, haben wir die Inklusionen

C0(G) ⊃ C1(G) ⊃ . . .

Wir setzen

C∞(G) =∞⋂n=0

Cn(G)

Ist f ∈ C∞(G), dann sagen wir, dass f auf G beliebig oft differenzierbar ist.

Aus Definition ist klar: f ∈ Cm(G) g.d.w. f ∈ C1(G) und f ′ ∈ Cm−1(G).

Proposition 8.15. Seien f, g ∈ Cm(G). Dann gilt f + g, fg ∈ C(m−1(G).

Beweis. Die Tatsache f + g ∈ Cm ist klar. Wir zeigen nun, dass

f, g ∈ Cm ⇒ fg ∈ Cm

durch Induktion uber m. Fur m = 1 folgt die Behauptung aus (fg)′ = f ′g + fg′. Wirnehmen nun an, die Behauptung gilt fur m = n− 1, und wir zeigen sie fur m = n. Dazubemerken wir, dass

f, g ∈ Cn ⇒ f, g ∈ C1 ⇒ fg ∈ C1

mit (fg)′ = f ′g + fg′. Da f ′ ∈ Cm−1 und g ∈ Cm ⊂ Cm−1 folgt aus der Induktionsa-annahme, dass f ′g ∈ Cm−1. Analog ist fg′ ∈ Cm−1. Wir erhalten, dass (fg)′ ∈ Cm−1.Das zeigt, dass fg ∈ Cm.

Proposition 8.16. Sei G ⊂ R offen, f ∈ Cm(G), f(G) ⊂ H ⊂ R offen, und g ∈Cm(H). Dann ist g ◦ f ∈ Cm(G).

Beweis. Wir benutzen Induktion. Fur m = 1 folgt die Behauptung aus der Kettenregel,mit (g ◦ f)′(x) = g′(f(x))f ′(x). Nehmen wir nun an, die Behauptung gilt fur m = n− 1;wir zeigen sie fur m = n. wir bemerken, dass

f, g ∈ Cm ⇒ f, g ∈ C1 ⇒ g ◦ f ∈ C1, mit (g ◦ f)′ = (g′ ◦ f)f ′

Aus g ∈ Cm folgt, dass g′ ∈ Cm−1. Da auch f ∈ Cm ⊂ Cm−1, gilt aus Induktionsan-nahme g′ ◦ f ∈ Cm−1. Aus der Proposition 8.15 folgt auch, dass (g′ ◦ f)f ′ ∈ Cm−1.

Proposition 8.17. Sei I ein offenes Intervall, f ∈ Cm(I), f ′(x) 6= 0 fur alle x ∈ I(d.h. f ist streng monoton). Dann ist f−1 ∈ Cm(f(I)).

Beweis. Wir benutzen wieder Induktion nach m. Fur m = 1 folgt die Behauptung ausProposition 8.6. Wir nehmen nun an, die Bahauptung gilt fur m = n− 1 und wir zeigensie fur m = n. Ist f ∈ Cm, dann ist insbesondere f ∈ C1 und also f−1 ∈ C1. Da(f−1)′ = j ◦ f ′ ◦ f−1, wobei j(t) = 1/t beliebig oft differenzierbar ist, f ′ ∈ Cm−1 undf−1 ∈ Cm−1 (aus Induktionsannahme), folgt aus Prop. 8.16, dass (f−1)′ ∈ Cm−1, also,dass f−1 ∈ Cm.

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Wir haben bis jetzt den Raum Cm(G) fur G ⊂ R offen definiert. Auf Cm(G) kannman die Struktur eines Vektorraumes einfuhren (Funktionen werden punktweise sum-miert und mit skalaren λ ∈ R multipliziert). Es gibt aber auf Cm(G) keine naturlicheNorm (die Supremum-Norm muss nicht endlich sein; z.B. 1/x ∈ C∞((0; 1)) ist nicht be-schrankt). Es ist deswegen nutzlich, weitere Raume zu definieren. Fur −∞ < a ≤ b <∞setzen wir

Cm([a; b]) :={f ∈ Cm((a; b)) : f (j) kann auf [a; b] stetig fortgesetzt werden,

fur alle j = 1, . . . ,m}

Die stetige Funktion φ : (a; b) → R ist auf [a; b] stetig erganzbar g.d.w. limx↓a φ(x)und limx↑b φ(x) existieren (und endlich sind). Da [a; b] ⊂ R kompakt ist, ist f (j) ∈Cm−j([a; b]) ⊂ C0([a; b]) sicher beschrankt. Auf Cm([a; b]) kann man nun, ahnlich wiewir auf Cb(M) gemacht haben, Normen einfuhren. Fur f ∈ Cm([a; b]) setzen wir

‖f‖Cm([a;b]) :=m∑j=0

‖f (j)‖C0([a;b]) =m∑j=0

supx∈[a;b]

|f (j)(x)|

Cm([a; b]), versehen mit der Norm ‖.‖Cm([a;b]), ist ein normierter Raum. Die Norm aufCm([a; b]) induziert die Metrik definiert aus

d(f, g) = ‖f − g‖Cm([a;b])

fur alle f, g ∈ Cm([a; b]). Cm([a; b]), versehen mit dieser Metrik ist dann ein vollstandigermetrischer Raum (Beweis: Ubung).

8.5 Konvexitat

Definition 8.18. Eine reelwertige Funktion f auf einem Intervall I heisst konvex, falls

f(αx+ (1− α)y) ≤ αf(x) + (1− α)f(y)

fur alle x, y ∈ I, und falls 0 ≤ α ≤ 1. f heisst streng konvex, falls

f(αx+ (1− α)y) < αf(x) + (1− α)f(y)

fur alle x, y ∈ I, mit x 6= y und alle 0 < α < 1. Die Funktion f heisst konkav, bzw.streng konkav, falls −f konvex, bzw. streng konvex ist.

Geometrisch bedeutet Konvexitat, dass das Geradenstuck zwischen zwei beliebigenPunkten (x, f(x)) und (y, f(y)) auf dem Graphen von f oberhalb des Graphen von fselbst liegt.

Fur differenzierbare und zwei-mal differenzierbare Funktionen gibt es einfache Kri-teria fur Konvexitat.

Lemma 8.19. Seif konvex auf I. Dann ist

m(x, y) =f(y)− f(x)

y − x(die Steigung der Sekante) monoton wachsend in x fur y fest, und monoton wachsendin y fur x fest, fur alle x < y.

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Beweis. Sei x < z < y. Dann gilt

m(x, z) ≤ m(x, y) ≤ m(z, y)

Um die erste Ungleichung zu zeigen, schreiben wir z = αx+ (1−α)y, fur ein α ∈ (0; 1).Aus Konvexitat gilt

f(z) ≤ αf(x) + (1− α)f(y)

Also

m(x, z) =f(z)− f(x)

z − x≤ (α− 1)f(x) + (1− α)f(y)

(α− 1)x+ (1− α)y=f(y)− f(x)

y − x= m(x, y)

Die zweite Ungleichung folgt analog.

Proposition 8.20. Sei f konvex auf dem Intervall I, und x ∈ I◦. Dann existieren

f ′(x+) := limh↓0

f(x+ h)− f(x)

h

f ′(x−) := limh↑0

f(x+ h)− f(x)

h

f ist an der Stelle x stetig und f ′(x−) ≤ f ′(x+). Weiter, fur x, y ∈ I◦ mit x < y, gilt

f ′(x+) ≤ f(y)− f(x)

y − x≤ f ′(y−)

Beweis. Nach Lemma 8.19 ist (f(x + h) − f(x))/h monoton wachsend in h fur x fest,fur h > 0. Da

f(x)− f(y)

x− y= m(y, x) ≤ m(y, x+ h) ≤ m(x, x+ h) =

f(x+ h)− f(x)

h

fur jedes y < x ist der Bruch (f(x+ h)− f(x))/h nach unten beschrankt. Es folgt, dassder Limes

limh↓0

f(x+ h)− f(x)

h

existiert. Analog existiert der linkseitige Limes. Die anderen Aussagen folgen direkt ausLemma 8.19.

Proposition 8.21. Sei f differenzierbar auf dem offenen Intervall I. Dann ist f konvexauf I g.d.w. f ′ monoton wachsend auf I ist. Ist ferner f zweimal differenzierbar auf I,dann ist f konvex g.d.w. f ′′ ≥ 0.

Beweis. Sei f konvex. Aus Proposition 8.20 gilt f ′(x+) ≤ f ′(y−) fur alle x < y. Da fdifferenzierbar ist, gilt f ′(x) = f ′(x+) ≤ f ′(y−) = f ′(y). Das zeigt, dass f ′ monotonwachsend ist. Sei nun f ′ monoton wachsend. Wir zeigen, dass f konvex ist. Es genugtzu zeigen, dass

f(αx+ (1− α)y) ≤ αf(x) + (1− α)f(y)

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fur alle x < y und α ∈ (0; 1). Sei also z = αx+ (1− α)y. Dann gilt α = (y − z)/(y − x)und 1− α = (z − x)/(y − x). Also

αf(x) + (1− α)f(y)− f(z) =(y − z)f(x) + (z − x)f(y)

y − x− (y − z)f(z) + (z − x)f(z)

y − x

=(y − z)(f(x)− f(z)) + (z − x)(f(y)− f(z))

y − x(22)

Aus dem Mittelwertsatz existieren ξ1 ∈ (x; z) und ξ2 ∈ (z; y) mit

f(x)− f(z) = f ′(ξ1)(x− z) und f(y)− f(z) = f ′(ξ2)(y − z)

Aus (22) folgt, dass

αf(x) + (1− α)f(y)− f(z) =(z − x)(y − z)

y − x(f ′(ξ2)− f ′(ξ1)

)≥ 0

weil f ′ monoton wachsend ist. Falls f zweimal differenzierbar ist, so ist f ′ monotonwachsend g.d.w. f ′′ ≥ 0.

Definition 8.22. Sei f definiert in einer Umgebung von x0 ∈ R und konvex. EineStutzfunktion von f an der Stelle x0 ist eine lineare Funktion φ(x) = φ(x0) +m(x−x0)mit φ(x0) = f(x0) und φ(x) ≤ f(x) fur alle x in dem Definitionsbereich von f .

Bemerkung: Ist f zweimal differenzierbar, so ist f streng konvex auf I g.d.w. f ′′(x) ≥ 0auf I und es gibt kein Intervall positiver Lange, wo f ′′ verschwindet.

Proposition 8.23. Sei f konvex auf einem Intervall I, x0 ∈ I◦ und m ∈ R mit f ′(x−0 ) ≤m ≤ f ′(x+0 ). Dann ist

φ(x) = f(x0) +m(x− x0)

eine Stutzfunktion von f an der Stelle x0.

Bemerkung: Ist f differenzierbar an der Stelle x0, dann ist die Tangente mit Steigungf ′(x0) die einzige Stutzfunktion.

Beweis. Fur x > x0 gilt, nach Proposition 8.20,

f ′(x+0 ) ≤ f(x)− f(x0)

x− x0⇒ f(x) ≥ f(x0) + f ′(x+0 )(x− x0) ≥ f(x0) +m(x− x0)

Fur x < x0 gilt ahnlich , dass

f ′(x−0 ) ≥ f(x0)− f(x)

x0 − x⇒ f(x) ≥ f(x0) + f ′(x−0 )(x− x0) ≥ f(x0) +m(x− x0)

weil x− x0 < 0.

Proposition 8.24 (Jensen’sche Ungleichung). Sei f konvex auf dem Intervall I undseien x1, . . . , xn ∈ I, α1, . . . , αn ∈ [0; 1] mit α1 + · · ·+ αn = 1. Dann gilt

f(α1x1 + · · ·+ αnxn) ≤ α1f(x1) + · · ·+ αnf(xn)

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Bemerkung: Der Fall n = 2 ist genau die Definition von Konvexitat.

Beweis. O.B.d.A konnen wir annehmen, dass αi > 0 fur alle i = 1, . . . , n. Wir setzenx = α1x1 + · · · + αnxn. Ist x ein Endpunkt von I, dann mussen alle xi = x, und dieBehauptung ist trivial. Wir konnen also annehmen, dass x ∈ I◦. Nach Proposition 8.23existiert m ∈ R, s.d.

φ(x) = f(x) +m(x− x) ≤ f(x)

fur alle x ∈ I. Also

f(x) = φ(x) = φ

(n∑i=1

αixi

)= f(x) +m

(n∑i=1

αixi − x

)

=m∑i=1

αi (f(x) +m(xi − x)) =m∑i=1

αiφ(xi) ≤n∑i=1

αif(xi)

wo wir die Tatsache benutzt haben, dass∑

i αi = 1.

Bemerkung: Ist f streng konvex auf I, dann gilt

f

(n∑i=1

αixi

)<

n∑i=1

αif(xi)

falls es mindestens zwei Indizes i 6= j, mit αi, αj 6= 0 und xi 6= xj gibt.

8.6 Taylor Polynome

Satz 8.25 (Taylor’sche Approximation mit Lagrange’schen Restglied). Sei f ∈ Cm−1([a;x])und m-mal differenzierbar auf (a;x). Dann existiert ξ ∈ (a;x) mit

f(x) = f(a) + f ′(a)(x− a) + · · ·+ f (m−1)(a)

(m− 1)!(x− a)m−1 +

f (m)(ξ)

m!(x− a)m

Es gilt naturlich eine analoge Aussage fur x < a und f ∈ Cm−1([x; a]), m-mal auf (x; a)differenzierbar.

Bemerkung: Es ist wichtig zu bemerken, dass ξ von x abhangt.Bemerkung: Man nennt

pm−1(x) = f(a) + f ′(a)(x− a) + · · ·+ f (m−1)(a)

(m− 1)!(x− a)m−1

das (m − 1)-te Taylor’sche Polynom fur f um x = a. Die Taylor-Polynome geben eineApproximation fur f in der Nahe von x = a. Der Fehler dieser Approximation hatgemass Satz 8.25 die Form

f(x)− pm−1(x) =f (m)(ξ)

m!(x− a)m

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Beweis. Wir definieren c ∈ R durch die Gleichung

f(x)− pm−1(x) = c(x− a)m

m!

Wir mussen zeigen, dass ξ ∈ (a;x) mit c = f (m)(ξ) existiert. Dazu definieren wir

h(t) = f(t) + f ′(t)(x− t) + · · ·+ f (m−1)(t)

(m− 1)!(x− t)m−1 + c

(x− t)m

m!− f(x)

Aus Annahme ist h stetig auf [a;x] und differenzierbar auf (a;x). Es gilt offenbar h(x) =0 und, aus Definition von c, h(a) = 0. Der Satz von Rolle impliziert, dass ein ξ ∈ (a;x)mit h′(ξ) = 0 existiert. Da aber

h′(t) =(x− t)m−1

(m− 1)!

(f (m)(t)− c

)impliziert h′(ξ) = 0, dass f (m)(ξ) = c.

Es folgt aus dem Satz, dass pm−1 eine gute Approximation von f in der Nahe vonx = a gibt. Der Fehler konvergiert gegen Null, fur x → a, mindestens so schnell wie(x− a)m.

Korollar 8.26. Sei f ∈ Cm−1([a; b]), m-mal differenzierbar auf (a; b), mit |f (m)(t)| ≤Mfur alle t ∈ (a; b). Dann gilt

|f(x)− pm−1(x)| ≤M (x− a)m

m!

fur alle x ∈ (a; b).

Ist weiter f (m) stetig, dann verschwindet die Differenz f − pm schneller als (x− a)m.

Korollar 8.27. Sei f ∈ Cm([a; b]). Dann gilt

limx↓a

|f(x)− pm(x)|(x− a)m

= 0

Beweis. Wir haben

f(x)− pm(x) = f(x)− pm−1(x)− f (m)(a)

m!(x− a)m =

(x− a)m

m!

(f (m)(ξx)− f (m)(a)

)Fur ein geeignete a < ξx < x. Das gibt

|f(x)− pm(x)|(x− a)m

=1

m!

∣∣∣f (m)(ξx)− f (m)(a)∣∣∣→ 0

als x→ a, weil f (m) ist, aus Annahme, stetig.

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Es ist nutzlich, hier die Landau’schen O, o Symbole einzufuhren. Wir betrachteneinen Grenzubergang x→ a (oder x→∞, x→ −∞). Die Schreibweise ψ(x) = O(h(x))fur x→ a bedeutet, dass

|ψ(x)/h(x)| ≤ C <∞

bleibt beschrankt im Limes x→ a. Die Schreibweise ψ(x) = o(h(x)) fur x→ a bedeutet,dass

|ψ(x)/h(x)| → 0

fur x→ a. ZB. (4x+ 1)/(x2 − 3x+ 5) = O(1/x) oder (4x+ 1)/(x2 − 3x+ 5) = o(1) furx→∞. Die zwei letzten Korollare konnen dann wie folgt umgeschrieben werden:

• Sei f ∈ C(m−1)([a; b]), mit f (m) beschrankt auf [a; b]. Dann gilt

f(x)− pm−1(x) = O((x− a)m)

im Limes x ↓ a.

• Sei f ∈ Cm([a; b]). Dann gilt, fur x ↓ a,

f(x)− pm(x) = o((x− a)m) .

Analoge Aussagen gelten offenbar fur den linksseitigen Limes.

Eine Anwendung der Approximation von f durch Polynome ist die folgende Cha-rackterisierung von lokaler Extremalstelle.

Proposition 8.28. Sei f m-mal stetig differenzierbar in einer Umgebung von a ∈ R.Es sei f ′(a) = f ′′(a) = · · · = f (m−1)(a) = 0 aber f (m)(a) 6= 0. Dann

a) Ist m gerade und f (m)(a) > 0, dann ist a ein lokales Minimum von f .

b) Ist m gerade und f (m)(a) < 0, dann ist a ein lokales Maximum von f .

c) Ist m ungerade, dann ist a keine lokale Extremalstelle.

Im Fall c) (falls m ≥ 3) wechselt auch das Vorzeichen von f ′′ an der Stelle x = a.

Bemerkung: Man nennt einen Punkt a, wo das Vorzeichen von f ′′ wechselt, einen Wen-depunkt. Die Funktion wechselt an einem Wendepunkt von konvex zu konkav oder vonkonkav zu konvex. Die Tangenten sind auf einer Seite der Wendepunkt unterhalb desGraphen und auf der andere Seite der Wendepunkt oberhalb des Graphen der Funktion.Ein Wendepunkt a ∈ R mit f ′(a) = 0 heisst ein Sattelpunkt.

Beweis. Aus Satz 8.25 folgt, dass, fur alle x in einer punktierten Umgebung von aξx ∈ (x; a) existiert, falls x < a und ξx ∈ (a;x), falls x > a, mit

f(x) = f(a) +f (m)(ξx)

m!(x− a)m

Da f (m) stetig an der Stelle a ist, hat f (m)(ξx) dasselbe Vorzeichen wie f (m)(a) fur |x−a|klein genug. Ist m gerade, dann ist (x − a)m > 0; deswegen hat f(x) − f(a) dasselbe

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Vorzeichen wie f (m)(a), fur |x− a| klein genug. Das zeigt die Behauptungen a) und b).Ist dagegen m ungerade, so wechselt das Vorzeichen von (x− a)m bei x = a. Deswegenwird auch das Vorzeichen von f(x)− f(a) bei x = a wechseln, und x = a ist weder einlokales Maximum noch ein lokales Minimum. Wir behaupten, dass in diesem Fall (furm ≥ 3) auch das Vorzeichen von f ′′(x) in x = a wechseln wird. In der Tat, f ∈ Cm(I)(wobei I ein Intervall um a ist) impliziert, dass f ′′ ∈ Cm−2(I). Deswegen finden wir furx ∈ I ξx mit

f ′′(x) = f ′′(a) +f ′′′(a)

1!(x− a) + · · ·+ f (m)(ξx)

(m− 2)!(x− a)m−2 =

f (m)(ξx)

(m− 2)!(x− a)m−2

Fur |x − a| klein genug, hat f (m)(ξx) dasselbe Vorzeichen wie f (m)(a). Da m ungeradeist, ist auch m−2 ungerade. Das Vorzeichen von (x−a)m−2 wird also bei x = a wechseln,und so wird auch das Vorzeichen von f ′′(x).

8.7 Taylorreihen und analytische Funktionen

Nehmen wir nun an, dass f ∈ C∞(I) fur ein offenes Interval I um einen Punkt a ∈ R.Wir konnen dann Taylor Polynome

pm(x) =m∑j=0

f (j)(a)

j!(x− a)j

beliebiger Ordnung definieren. Satz 8.25 und seine Korollare implizieren, pm gibt, mitsteigenden m, eine Approximation von f neben a, die immer genauer wird.

Es ist dann naturlich sich zu fragen, ob man m→∞ streben lassen kann. D.h. mankann sich fragen, ob die Taylorreihe

∑∞m=0 f

(m)(a)(x − a)m/m! konvergiert (in einerUmgebung von x = a) und, falls ja, ob sie die Funktion f darstellt. Die Antwort zudiesen Fragen hangt von der Funktion f ab. Wir betrachten einige Beispiele:

• Sei f(x) = exp(x). Dann gilt f (n)(x) = exp(x) fur alle n ∈ N. Also f (n)(0) = 1 furalle n. Die Taylor-Reihe um x = 0 ist gerade

∑n≥0 x

n/n!. Der Konvergenzradiusder Taylorreihe ist ∞ und, aus Definition von exp(x), stellt die Taylorreihe dieFunktion f dar, fur alle x ∈ R. Man kann auch die Taylorreihe von exp(x) uma 6= 0 betrachten. Sie ist aus

∞∑n=0

exp(a)

n!(x− a)n = exp(a)

∞∑n=0

(x− a)n

n!= exp(a) exp(x− a) = exp(x)

gegeben. Also hat, fur alle a ∈ R, die Taylorreihe von f(x) = exp(x) um x = aKonvergenzradius ∞ und stellt die Funktion f(x) dar, fur alle x ∈ R.

• Die Situation ist ahnlich fur die Funktionen sinx und cosx.

• Sei nun f(x) = (1 + x)α, fur ein α 6= 0, 1, 2, . . . . f ∈ C∞(I) fur eine Umgebung Ivon 0 (zB. fur I = (−1; 1)). Wir untersuchen die Taylorreihe fur f um x = 0. Esgilt

f (j)(x) = α(α− 1) . . . (α− j + 1)(1 + x)α−j ⇒ f (j)(0) = α(α− 1) . . . (α− j + 1)

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Die Taylorreihe fur f um x = 0 ist also aus

∞∑j=0

α(α− 1) . . . (α− j + 1)

j!xj

definiert. Fur beliebige α 6= 0 und j ∈ N fuhren wir die Bezeichnung(α

j

):=

α(α− 1) . . . (α− j + 1)

j!

ein (fur α ∈ N ist das der gewohnliche binomiale Koeffizient). Der Konvergenzra-dius der Taylorreihe ist

ρ = limj→∞

(αj

)(αj+1

) = limj→∞

∣∣∣∣ j + 1

α− j

∣∣∣∣ = 1

Die Taylorreihe konvergiert also fur alle |x| < 1. Stellt die Taylorreihe die Funktionf dar? Die Antwort ist ja, d.h.

∞∑j=0

j

)xj = (1 + x)α

gilt fur alle |x| < 1. Wir zeigen die Behauptung fur alle −1/4 < x ≤ 1/4. Aus Satz8.25 haben wir

(1 + x)α =n−1∑j=0

j

)xj +

f (n)(ξ)

n!xn

fur ein ξ ∈ (−1/4; 1/4). Fur n > α gilt∣∣∣∣∣f (n)(ξ)n!

∣∣∣∣∣ =

n

)|(1 + ξ)α−n| ≤

(4

3

)n(αn

)Also, fur x ∈ (−1/4; 1/4), haben wir∣∣∣∣∣f (n)(ξ)n!

xn

∣∣∣∣∣ ≤ 1

3n

n

)=: an

Da ∣∣∣∣an+1

an

∣∣∣∣ =1

3

n− αn+ 1

→ 1

3< 1

konvergiert an → 0, fur n→∞. Das zeigt, dass

(1 + x)α =

∞∑j=0

j

)xj

fur alle |x| ≤ 1/4 (wie oben erwahnt, gilt die Formel eigentlich fur alle |x| < 1).Es folgt, dass die Taylorreihe fur f um x = 0 konvergiert und stellt die Funktionf in einer Umgebung von x = 0 dar.

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• Sei nun

f(x) =

{e−1/x, fur x > 00, fur x ≤ 0

Wir behaupten nun f ∈ C∞(R). Es ist klar, dass f ∈ C∞(R\{0}). Wir zeigen, dassf an der Stelle x = 0 beliebig oft differenzierbar ist. Dazu mussen wir beweisen,dass f (n)(0) = 0 fur alle j ∈ N (weil f (n)(x) = 0 fur alle x < 0, und, falls f (n)

stetig ist, muss auch f (n)(0) = 0). Fur n = 1 gilt

limh↓0

f(h)− f(0)

h= lim

h↓0

1

he−1/h = 0

Da

limh↑0

f(h)− f(0)

h= 0

es folgt, dass f an der Stelle 0 differenzierbar ist, und, dass f ′(0) = 0. Nehmen wirnun an f (m)(0) = 0 fur alle m ≤ n. Wir zeigen, dass f (n)(0) = 0. Dazu bemerkenwir, dass fur alle n ∈ N, ein Polynom pn existiert mit

dn

dxne−1/x = pn(1/x)e−1/x

fur alle x > 0 (diese Behauptung kann auch induktiv gezeigt werden). Also, furalle h > 0,

f (n)(h)− f (n)(0)

h=

1

hpn(1/h)e−1/h → 0

fur h ↓ 0. Das zeigt, dass

limh↓0

f (n)(h)− f (n)(0)

h= lim

h↑0

f (n)(h)− f (n)(0)

h= 0

Es folgt, dass f (n) differenzierbar an der Stelle x = 0 ist, und dass f (n+1)(0) = 0.Wir haben bewiesen, f ∈ C∞(R), mit f (n)(0) = 0 fur alle n ≥ 0. Die Taylorreihevon f ist also identisch Null. Der Konvergenzradius der Reihe ist unendlich, aberdie Reihe gibt in keiner Umgebung von 0 eine Darstellung von f(x) (trotzdem istdie Reihe eine gute Approximation fur f , weil f(x) = o(xn) fur x → 0, fur allen ≥ 0).

Im letzten Beispiel lasst sich die Funktion nicht durch die Taylorreihe darstellen.Ist es moglich, dass f durch eine andere Potenzreihe in einer Umgebung um x = 0darstellbar ist? Die Antwort ist nein. Lasst sich eine Funktion in einer Umgebung vonx = a durch eine Potenzreihe

∑∞n=0 an(x − a)n darstellen, dann ist insbesondere f

unendlich oft differenzierbar und an = f (n)(a)/n!. D.h. die Taylorreihe ist die einzigemogliche Potenzreihe, die die Funktion f darstellen kann. Formal ist es einfach, dieseTatsache zu verstehen. Gilt f(x) =

∑∞n=0 an(x − a)n in einer Umgebung von x = a,

dann, angenommen man kann Ableitungen mit der unendlichen Summe vertauschen,finden wir

f (j)(x) =∞∑n=j

ann(n− 1) . . . (n− j + 1)(x− a)n−j ⇒ f (j)(a) = ajj! ⇒ aj =f (j)(a)

j!

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und deswegen

f(x) =∞∑n=0

f (n)(a)

n!(x− a)n

Um dieses Argument prazise zu machen, mochten wir nun zeigen, dass die Ableitungeiner Funktionenreihe (einer Potenzreihe) gleich zum Limes der Ableitung der Partial-summen ist. Allgemeiner kann man fragen ob die Ableitung des Limes einer differenzier-baren Funktionenfolge gleich zum Limes der Ableitung der Funktionenfolge ist. Das istnicht immer der Fall, wie die folgenden Beispiele zeigen.

• Sei fn(x) = (1/n) sin(nx), x ∈ R. Dann gilt fn → 0 gleichmassig. Aber f ′n(x) =cos(nx) konvergiert nicht.

• Sei fn(x) = (x2+1/n2)1/2 auf R. Dann ist fn uberall differenzierbar. Aber fn(x)→|x| gleichmassig und |x| ist nicht differenzierbar an der Stelle x = 0.

Proposition 8.29. Sei I ⊂ R ein offenes Intervall. fn ∈ C1(I) eine Funktionenfolge,mit fn → f gleichmassig auf I und mit f ′n → g gleichmassig auf I. Dann ist f ∈ C1(I)und f ′ = g.

Bemerkung: Die Proposition bedeutet, dass

d

dxlimn→∞

fn(x) = limn→∞

dfndx

(x)

angenommen fn und die Ableitung f ′n konvergieren gleichmassig.

Beweis. fn ∈ C1 fur alle n impliziert, dass f ′n stetig fur alle n ∈ N. f ′n → g gleichmassigimpliziert, dass g stetig ist. Sei nun x0 ∈ I beliebig. Wir mochten zeigen, dass

limh→0

f(x0 + h)− f(x0)

h= g(x0)

Sei ε > 0 fest. Da g stetig ist, existiert δ > 0 mit |g(x0) − g(x)| < ε fur alle x mit|x−x0| < δ. Sei nun 0 < |h| < δ. Dann, aus dem Mittelwertsatz, existiert fur alle n ∈ Nein ξn, mit |ξn − x0| < δ und

fn(x0 + h)− fn(x0)

h= f ′n(ξn)

Das gibt∣∣∣f(x0 + h)− f(x0)

h− g(x0)

∣∣∣≤ 1

h|f(x0 + h)− fn(x0 + h)|+ 1

h|f(x0)− fn(x0)|+

∣∣f ′n(ξn)− g(x0)∣∣

≤ 2

hsupx|f(x)− fn(x)|+ sup

x|f ′n(x)− g(x)|+ |g(ξn)− g(x0)|

≤ 2

hsupx|f(x)− fn(x)|+ sup

x|f ′n(x)− g(x)|+ ε

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Da die linke Seite unabangig von n ist, konnen wir n→∞ streben lassen. Wir kriegen∣∣∣∣f(x0 + h)− f(x0)

h− g(x0)

∣∣∣∣ ≤ 2

hlimn→∞

supx|f(x)−fn(x)|+ lim

n→∞supx|f ′n(x)−g(x)|+ε = ε

fur alle h mit 0 < |h| < δ. Das zeigt die Behauptung.

Wir konnen nun das Resultat von Proposition 8.29 auf Potenzreihen anwenden.

Satz 8.30. Sei∑

n anzn eine Potenzreihe mit Konvergenzradius ρ > 0. Sei f(x) =∑∞

n=0 anxn, fur |x| < ρ. Dann

a) Die Potenzreihe∑∞

n=0(n+ 1)an+1xn hat den Konvergenzradius ρ.

b) Die Funktion f ist differenzierbar auf (−ρ; ρ), mit

f ′(x) =

∞∑n=0

(n+ 1)an+1xn

Bemerkung: Der Satz impliziert, dass konvergente Potenzreihen gliedweise differenziertwerden durfen.

Beweis. Es gilt lim supn→∞ |(n+ 1)an+1|1/n = lim supn→∞ |an|1/n. Das zeigt a). Um b)zu beweisen wahlen wir 0 < r < ρ. Wir bemerken, dass

sn(x) =n∑j=0

ajxj →

∞∑j=0

ajxj =: f(x)

gleichmassig in [−r; r], und dass

s′n(x) =n∑j=1

jajxj−1 =

n−1∑j=0

(j + 1)aj+1xj →

∞∑j=0

(j + 1)aj+1xj

gleichmassig in [−r; r]. Proposition 8.29 impliziert, dass f differenzierbar auf [−r; r], unddass f ′(x) =

∑∞j=0(j + 1)aj+1x

j ist.

Korollar 8.31. Sei ρ > 0 der Konvergenzradius der Potenzreihe∑

n≥0 anxn. Wir setzen

f(x) =∑

n≥0 anxn fur |x| < ρ. Dann f ∈ C∞((−ρ; ρ)),

f (j)(x) =

∞∑n=0

(n+ 1)(n+ 2) . . . (n+ j)an+jxn

fur alle |x| < ρ und alle j ∈ N. Insbesondere

f (j)(0) = j!aj ⇒ aj =f (j)(0)

j!

fur alle j ∈ N.

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Definition 8.32. Eine Funktion f , definiert in einer Umgebung von x0 ∈ R, heisstanalytisch an der Stelle x0, falls eine Potenzreihe mit f(x) =

∑n≥0 an(x − x0)

n furalle x in einer Umgebung von x0 existiert. Die Funktion f , definiert auf einem offenenGebiet G ⊂ R, heisst analytisch auf G, falls sie analytisch an der Stelle x ist, fur allex ∈ G.

Bemerkung: Es folgt aus Korollar 8.31, dass, falls f analytisch an der Stelle x0 ist, dannist f unendlich oft differenzierbar an der Stelle x0 und, dass die Potenzreihe

∑n an(x−

x0)n, die f in einer Umgebung von x0 darstellt, die Koeffizienten

an =f (n)(x0)

n!

hat. D.h., f ist analytisch an der Stelle x0 g.d.w. die Taylorreihe fur f an der Stelle x0Konvergenzradius ρ > 0 hat, und, falls sie die Funktion f in einer Umgebung von x0darstellt.

Bemerkung: Die Funktion f : R → R, definiert durch f(x) = e−1/x fur x > 0 undf(x) = 0 fur x ≤ 0, ist ein Beispiel einer Funktion f ∈ C∞(R), die aber in x = 0 nichtanalytisch ist. Fur eine beliebige offene Menge G ⊂ R haben wir die Inklusionen

C0(G) ⊃ C1(G) ⊃ C2(G) ⊃ · · · ⊃ C∞(G) ⊃ Menge der analytischen Funktionen auf G

Da per Definition die Summe von zwei analytischen Funktionen und das Produkt eineranalytische Funktion mit einer skalare λ ∈ R offensichtlich wieder analytisch sind, hatdie Menge der analytischen Funktionen die Struktur eines Vektorraumes.

Analytische Funktionen haben sehr schone Eigenschaften. Z.B. sind die Nullstelleneiner analytischen Funktion immer isoliert.

Proposition 8.33. Sei f analytisch an der Stelle x0, mit f(x0) = 0. Dann ist entwederf identisch Null in einer Umgebung von x0 oder es gibt eine Umgebung U von x0 mitf(x) 6= 0 fur alle x ∈ U\{0}.

Beweis. Nehmen wir an f , ist nicht identisch Null in einer Umgebung von x0. Da fanalytisch an der Stelle x0, gilt

f(x) =∞∑n=0

an(x− x0)n

in einer Umgebung von x0. f(x0) = 0 impliziert, dass a0 = 0. Da f nicht identisch Nullist, existiert m ∈ N\{0} mit an = 0 fur alle n < m aber am 6= 0. Dann ist

f(x) = (x− x0)m (am + am+1(x− x0) + . . . ) =: (x− x0)mg(x)

fur die Funktion

g(x) =∞∑j=0

am+j(x− x0)j

die analytisch an der Stelle x0 ist (der Konvergenzradius der Potenzreihe fur g istgleich zum Konvergenzradius der Potenzreihe fur f , und deswegen strikt positiv). Esgilt g(x0) = am 6= 0 und weil g stetig ist, ist g(x) 6= 0 in einer Umgebung von x0.Deswegen ist auch f(x) = (x− x0)mg(x) nicht Null fur alle x 6= x0 in einer Umgebungvon x0.

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Bemerkung: Die letze Proposition gilt fur C∞ Funktionen nicht. Z.B. die Funktion

f(x) =

{e−1/|x| sin(1/x), falls x 6= 00, falls x = 0

ist in C∞(R), hat aber an der Stelle x = 0 eine nicht isolierte Nullstelle.

Eine wichtige Folgerung aus der letzten Proposition ist das Identitatsprinzip furanalytische Funktionen.

Theorem 8.34 (Identitatsprinzip). Es seien f, g analytisch an der Stelle x0. Es existiereeine Folge xn mit xn 6= x0, xn → x0 und f(xn) = g(xn) fur alle n ∈ N. Dann istf(x) = g(x) in einer Umgebung von x0.

Beweis. Die Funktion f − g ist analytisch an der Stelle x0 und (f − g)(xk) = 0 fur allek ∈ N. Da f − g stetig ist, es folgt auch, dass f(x0) = g(x0). D.h. x0 ist eine nichtisolierte Nullstelle von f − g. Aus Proposition 8.33 muss f − g in einer Umgebung vonx0 identisch verschwinden.

Bemerkung: Analytische Funktionen konnen in naturlicher Weise auf komplexe Gebie-te erweitert werden. Die Untersuchung von komplex analytischen Funktionen ist dasHauptthema der Vorlesung komplexe Analysis (Funktionentheorie).

Proposition 8.35. Sei f analytisch an der Stelle x0, und es gelte f(x) =∑

n an(x−x0)nfur alle x mit |x− x0| < ρ. Dann ist f auch analytisch an der Stelle x1, fur alle x1 mit|x1 − x0| < ρ. Fur |x− x1| < ρ = ρ− |x1 − x0| gilt weiter

f(x) =∞∑j=0

bj(x− x0)j

mit den Koeffizienten

bj =∑n≥j

(n

j

)an(x1 − x0)n−j =

∞∑m=0

(j +m

j

)am+j(x1 − x0)m

Idee des Beweis. Aus dem Satz uber das Cauchy-Produkt zwei absolut konvergenterReihen finden wir

f(x) =∞∑n=0

an(x− x0)n =

∞∑n=0

an(x− x1 + x1 − x0)n

=

∞∑n=0

an

n∑j=0

(n

j

)(x1 − x0)n−j(x− x1)j

=∞∑j=0

∞∑n=j

(n

j

)an(x1 − x0)n−j

(x− x1)j =∞∑j=0

bj(x− x1)j

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Anwendung: Betrachte die Funktion f(x) = (1 + x)α, fur ein α 6∈ N. Wir haben schongezeigt, dass f analytisch an der Stelle x = 0 ist, mit

f(x) =∞∑j=0

j

)xj (23)

fur alle |x| ≤ 1/4. Wir behaupten nun, dass (23) fur alle |x| < 1 gilt. Um das zu zeigen,bemerken wir zunachst, dass, fur alle x0 > −1,

(1 + x0 + h)α = (1 + x0)α

(1 +

h

1 + x0

)α= (1 + x0)

α∞∑j=0

j

)(h

1 + x0

)j=∞∑j=0

j

)1

(1 + x0)j−αhj

fur alle |h| klein genug. Das bedeutet, dass

(1 + x)α =∞∑j=0

j

)1

(1 + x0)j−α(x− x0)j

fur alle x genugend nah bei x0, d.h. (1 +x)α ist analytisch auf (−1; +∞). Anderseits istdie Funktion g(x) =

∑∞j=0

(αj

)xj analytisch auf (−1; 1) (weil die Reihe Konvergenzradius

ρ = 1 hat). Also sind f und g analytisch auf (−1; 1) und sie sind identisch auf [−1/4; 1/4].Aus dem Identitatsprinzip folgt dann, dass f = g auf (−1; 1). In der Tat, nehmen wir an,dass f 6≡ g auf (−1;−1/4). Wir setzen dann x0 = sup {x ∈ (−1;−1/4) : f(x) 6= g(x)}.Aus Definition gilt dann f(x0 +1/n) = g(x0 +1/n) fur alle n ∈ N. Das Identitatsprinzipimpliziert, dass f = g in einer Umgebung von x0, in Widerspruch zur Definition von x0.Analog kann man zeigen, dass f ≡ g auf (1/2; 1).

Weitere Tatsache uber analytische Funktionen (ohne Beweis):

• Seien f, g analytisch an der Stelle x0. Dann ist auch das Produkt fg analytischan der Stelle x0 (auch hier verwendet man das Cauchy-Produkt zweier absolutkonvergenten Reihen).

• Ist f analytisch an der Stelle x0 und f(x0) 6= 0, dann ist 1/f analytisch an derStelle x0.

• Ist f analytisch an der Stelle x0 und g analytisch an der Stelle f(x0), dann ist g◦fanalytisch an der Stelle x0.

• Ist f analytisch an der Stelle x0 und invertierbar, und es gelte f ′(x0) 6= 0, dannist f−1 analytisch an der Stelle f(x0).

Die Beweise sind zum Teil komplizierte Ubungen in Umordnung von Reihen. Es gibtbessere Beweise mit den Methoden der komplexen Analysis.

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9 Riemann’sches Integral

9.1 Definition und elementare Eigenschaften

Ziel: fur eine Funktion f : [a; b] → [0;∞) mochten wir den Flacheninhalt von {(x, y) :a ≤ x ≤ b, 0 ≤ y ≤ f(x)} berechnen (und definieren).

Intuitive Konstruktion. Wir wahlen Punkte x0, x1, . . . , xn ∈ R, mit a = x0 < x1 <· · · < xn−1 < xn = b. Das zerlegt [a; b] in n Intervalle [x0;x1], [x1;x2], . . . , [xn−1;xn].Fur jede j = 1, . . . , n, wahlen wir einen Reprasentanten ξj ∈ [xj−1;xj ]. Die Flache von{(x, y) : xj−1 ≤ x ≤ xj , 0 ≤ y ≤ f(ξj)} ist ungefahr f(ξj)(xj−xj−1). Die gesamte Flachevon {(x, y) : a ≤ x ≤ b, 0 ≤ y ≤ f(x)} ist ungefahr aus der Riemann’sche Summe

n∑j=1

f(ξj)(xj − xj−1)

gegeben. Die Hoffnung ist dann, dass die Riemann’sche Summe konvergiert, da die Tei-lung unendlich fein wird. Das Integral ist dann als der Grenzwert der Riemann’scheSumme definiert.

Genaue Konstruktion. Wir betrachten ein kompaktes Intervall I = [a; b] und eine be-schrankte R-wertige Funktion f auf I. Eine Teilung von [a; b] ist eine endliche TeilmengeT = {x0 < x1 < · · · < xn−1 < xn} von [a; b], mit x0 = a und xn = b. Zu einer gegebenenTeilung T , definieren wir die Intervalle Ij = [xj−1, xj ], fur j = 1, 2, . . . , n. Es gilt

I = I1 ∪ I2 ∪ · · · ∪ InDie Intervalle Ij sind fast disjunkt, mit

Ij ∩ Ij+1 = {xj} und Ii ∩ Ij = ∅, falls i 6= j, j ± 1

Sei T eine Teilung von [a; b]. Eine zu T entsprechende Familie von Reprasentanten istein n-Tupel ξ = (ξ1, ξ2, . . . , ξn} mit ξj ∈ Ij fur alle j = 1, . . . , n. Fur gegebene TeilungT und Familie von Representanten ξ definieren wir die Riemann’sche Summe

S(T, ξ) =

n∑j=1

f(ξj)(xj − xj−1)

wobei (xj−xj−1) = |Ij | die Lange von Ij ist. Wir definieren nun die obere Riemann’scheSumme zur Teilung T :

S(T ) = supξS(T, ξ) =

n∑j=1

sup{f(x) : x ∈ Ij} |Ij |

Die untere Riemann’sche Summe zur Teilung T ist

S(T ) = infξS(T, ξ) =

n∑j=1

inf{f(x) : x ∈ Ij}|Ij |

Offenbar gilt S(T ) ≥ S(T ) fur alle Teilungen T von [a; b]. Intuitiv S(T ) ≤ Flacheninhalt ≤S(T ).

Wir sagen, eine Teilung T ′ ist eine Verfeinerung von T falls T ′ ⊃ T (eine feinereTeilung ist eine grossere Menge).

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Lemma 9.1. Wir haben die folgenden Eigenschaften:

a) Sei T ′ ⊃ T eine Verfeinerung von T . Dann gilt S(T ′) ≤ S(T ) und S(T ′) ≥ S(T ).

b) Es giltsupTS(T ) ≤ inf

TS(T )

Beweis. a) Es genugt, den Fall |T ′| = |T |+1 zu betrachten. Wir haben also T ′ = T∪{x},fur ein x ∈ [a; b]. Ist T = {x0 < x1 < · · · < xn−1 < xn}, dann gibt es ein k ∈ {1, 2, . . . , n}mit xk−1 < x < xk. Also T ′ = {x0 < x1 < · · · < xk−1 < x < xk < · · · < xn}. Es giltI ′j = Ij fur 1 ≤ j ≤ k − 1, I ′j+1 = Ij fur k + 1 ≤ j ≤ n, und Ik = I ′k ∪ I ′k+1. Da

supI′k

f ≤ supIk

f, supI′k+1

f ≤ supIk

f

finden wirsupI′k

f |I ′k|+ supI′k+1

f |I ′k+1| ≤ supIk

f(|I ′k|+ |I ′k+1|) = supIk

f |Ik|

Also

S(T ) = supI1

f |I1|+ · · ·+ supIk

f |Ik|+ · · ·+ supIn

f |In|

≥ supI′1

f |I ′1|+ · · ·+ supI′k

f |I ′k|+ supI′k+1

f |I ′k+1|+ · · ·+ supIn

f |In|

= S(T ′)

Ahnlich kann man zeigen, dass S(T ) ≤ S(T ′).b) Seien T1, T2 zwei Teilungen von [a; b]. Wir setzen T3 = T1 ∪ T2. T3 ist eine Verfei-

nerung von T1 und von T2. Aus a), und weil offenbar S(T ) ≤ S(T ) fur jede Teilung T ,bekommen wir

S(T1) ≤ S(T3) ≤ S(T3) ≤ S(T2)

Also S(T1) ≤ S(T2) fur jede zwei Teilungen T1, T2. Das impliziert, dass supT S(T ) ≤infT S(T ).

Definition 9.2. Die reelwertige beschrankte Funktion f auf [a; b] heisst Riemann inte-grierbar, falls

supTS(T ) = inf

TS(T ) .

In diesem Fall definieren wir das (Riemann’sche) Integral von f auf [a; b] durch∫ b

af(x)dx := sup

TS(T ) = inf

TS(T )

Bemerkungen. Wir benutzen auch die Notation∫ ba fdx oder einfach

∫ ba f fur das Integral

von f auf [a; b]. Das Differntial dx erinnert an der ∆x = xj−xj−1 in der Riemann’schenSumme; es hat aber keine Bedeutung im Integral. In Analysis 3 werden wir sehen, dasseine andere alternative Konstruktion des Integrals existiert, das Lebesgue-Integral. DerHauptvorteil des Lebesgue-Integrals ist, dass es fur allgemeinere Funktionen existiert(und dass es bessere Eigenschaften bezuglich Vertausch von Grenzwert und Integral hat).Wann das Riemann Integral existiert, stimmt es mit dem Lebesgue Integral uberein.

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Proposition 9.3. a) f ist genau dann integrierbar, wenn infT(S(T )− S(T )

)= 0.

b) Sei Tn eine Familie von Teilungen mit S(Tn)− S(Tn)→ 0, als n→∞. Dann istf integrierbar und

S(Tn)→∫ b

af(x)dx, und S(Tn)→

∫ b

af(x)dx

Weiter, falls ξ(n) eine beliebige Familie von Representanten zur Teilung Tn ist,haben wir

S(Tn, ξ(n))→

∫ b

af(x)dx

Bemerkung: Da S(T ) ≥ S(T ) fur alle T , die Bedingung inf(S(T )− S(T )

)= 0 ist mit

inf(S(T )− S(T )

)≤ 0 aquivalent.

Beweis. a) Nehmen wir an, die Bedingung inf(S(T )− S(T )

)= 0 ist erfullt. Dann

0 = inf(S(T )− S(T )

)≥ inf S(T )− supS(T )

und supS(T ) ≥ inf S(T ). Da die umgekehrte Ungleichung automatisch ist, gilt supS(T ) =inf S(T ). Das bedeutet, dass f integrierbar ist.

Nehmen wir nun an, f ist integrierbar. Sei nun ε > 0, T1, T2 zwei Teilungen mit

S(T1)− infTS(T ) ≤ ε/2

undsupTS(T )− S(T2) ≤ ε/2

Da f integriebar ist, ist inf S = supS. Also

S(T1)− S(T2) ≤ ε

Sei nun T3 = T1 ∪ T2. Da T3 eine Verfeinerung von T1, T2 ist, gilt S(T3) ≤ S(T1) undS(T3) ≥ S(T2). Deswegen

S(T3)− S(T3) ≤ S(T1)− S(T2) ≤ ε

Da ε > 0 beliebig, giltinfT

(S(T )− S(T )

)≤ 0

b) Aus S(Tn) − S(Tn) → 0 folgt, dass inf(S(T ) − S(T )) = 0. Aus a) folgt, dass fintegrierbar ist. Da

S(Tn) ≤∫ b

af(x)dx ≤ S(Tn)

wir finden, dass S(Tn)→∫ ba f(x)dx und auch S(Tn)→

∫ ba f(x)dx. Weiter, da

S(Tn) ≤ S(Tn, ξ(n)) ≤ S(Tn)

muss auch S(Tn, ξ(n))→

∫ ba f(x)dx.

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Es folgt aus der Proposition, dass um Integrale zu berechnen (und Integrierbarkeit zuprufen) es genugt, eine spezielle Folge von Teilungen zu betrachten, namlich eine Folgemit der Eigenschaft S(Tn) − S(Tn) → 0. Ist die Funktion integrierbar, so konvergierenobere und untere Summe gegen das Integral von f , fur beliebige Folgen von TeilungenTn, falls die Lange jedes Intervalls von Tn gegen Null strebt. Fur eine Teilung T von [a; b]setzen wir ‖T‖ = maxj=1,...,n |xj−xj−1|. D.h. ‖T‖ ist die Lange des grossten Intervalls inder Teilung. Fur eine beliebige Menge J und eine R-wertige Funktion f auf J definierenwir auch die Oszillation von f auf J durch

σ(f, J) = sup{f(x) : x ∈ J} − inf{f(x) : x ∈ J} = sup{|f(x)− f(y)| : x, y ∈ J}

Dann ist, fur eine beliebige Teilung T ,

S(T )− S(T ) =

n∑j=1

σ(f, Ij)|Ij |

Proposition 9.4. Sei f auf [a; b] integrierbar, und Tn eine Folge von Teilungen, mit‖Tn‖ → 0. Dann gilt∫ b

afdx = lim

n→∞S(Tn) = lim

n→∞S(Tn) = lim

n→∞S(Tn, ξ

(n))

wobei, fur alle n ∈ N, ξ(n) eine Familie von Reprasentanten zur Teilung Tn ist.

Beweis. Es genugt, die folgende Tatsache zu uberprufen: Ist T eine Teilung von [a; b],mit δ = minj=1,...,n |Ij |. Dann gilt

S(T ′)− S(T ′) ≤ 3(S(T ′)− S(T ′)

)(24)

fur alle Teilungen T ′ von [a; b] mit ‖T ′‖ = max |Ij | < δ. In der Tat, nehmen wir an (24)ist korrekt. Dann konnen wir wie folgt argumentieren. Da f integrierbar ist, finden wir,fur alle ε > 0, eine Teilung T mit

S(T )− S(T ) <ε

3

Wir setzen dann δ = min |Ij |, wobei Ij die zur Teilung T entsprechenden Intervalle sind.Da ‖Tn‖ → 0, fur n → ∞, finden wir N mit ‖Tn‖ ≤ δ, fur alle n > N . Gleichung (24)impliziert dann, dass

S(Tn)− S(Tn) < ε

fur alle n > N . Also S(Tn) − S(Tn) → 0, fur n → ∞. Proposition 9.3 zeigt dann dieBehauptung.

Es bleibt (24) zu zeigen. Wir bezeichnen mit Ij und I ′j die zu T und zu T ′ entspre-chenden Intervalle. Es gilt maxj |I ′j | < mink |Ik|. Deswegen schneidet jedes Intervall I ′jhochstens zwei I-Intervalle. Wir definieren εij = 1 falls Ii I

′j schneidet(fur jedes j gibt

es hochstens zwei Indizien i, mit εij 6= 0). Wir bemerken, dass

σ(f, I ′j) ≤∑i

εijσ(f, Ii)

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Deswegen finden wir

S(T ′)− S(T ′) =∑j

σ(f, I ′j)|I ′j | ≤∑j

(∑i

σ(f, Ii)

)|I ′j |

=∑i

σ(f, Ii)

∑j

εij |I ′j |

≤ 3∑i

σ(f, Ii)|Ii| = 3(S(T )− S(T ))

weil∑

j εij |I ′j | die gesamte Lange aller I ′-Intervalle ist, die Ii schneiden, was hochstens3|Ii| sein kann (weil die I ′-Intevalle alle kurzer als Ii sind).

Um die letzte Proposition anzuwenden, und Integrale mit Hilfe beliebige Folge vonTeilungen Tn, mit ‖Tn‖ → 0 zu berechnen, mussen wir zunachst wissen, ob f auf [a; b]integrierbar ist. Die folgende Proposition gibt eine erste wichtige hinreichende Bedingungfur Integrierbarkeit.

Proposition 9.5. Ist f stetig auf [a; b], so ist f integrierbar auf [a; b].

Beweis. Eine stetige Funktion auf [a; b] ist gleichmassig stetig. Sei ε > 0 fest. Dannexistiert δ > 0 mit

|x− y| ≤ δ ⇒ |f(x)− f(y)| ≤ ε

b− aSei nun T = {x0 < x1 < · · · < xn} eine Teilung mit |xj+1 − xj | < δ fur alle 1 ≤ j ≤ n.Dann gilt σ(f, Ij) ≤ ε/(b− a) fur alle j = 1, . . . , n und also

S(T )− S(T ) =n∑j=1

σ(f, Ij)|Ij | ≤ε

b− a

n∑j=1

|Ij | = ε

Das impliziert, dassinf(S(T )− S(T )

)≤ 0

und damit, dass f integrierbar ist.

Beispiel: Die Funktion f(x) = 1/x ist stetig auf [1; a]. Wir mochten das Integral∫ a

1

1

xdx

Wir wahlen die Teilung Tn = {aj/n : 0 ≤ j ≤ n}. Dann Ij = [a(j−1)/n, aj/n], j = 1, . . . , n.Da 1/x monoton fallend ist, gilt

sup{f(x) : x ∈ Ij} = a−(j−1)/n und inf{f(x) : x ∈ Ij} = a−j/n

Also

S(Tn) =n∑j=1

a−j/n(aj/n − a(j−1)/n =n∑j=1

(1− a−1/n) = n(1− a−1/n)

und

S(Tn) =n∑j=1

a−(j−1)/n(aj/n − a(j−1)/n = a1/nS(Tn)

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Sei f(t) = at. Dann gilt

S(Tn) = n(1− a−1/n) =f(0)− f(−1/n)

1/n→ f ′(0) = log a

fur n→∞. Da S(Tn) = a1/nS(Tn)→ log a, folgt, dass∫ a

1

1

xdx = log a

Beispiel: Sei

f(x) =

{1 falls x ∈ Q0 falls x ∈ R\Q

und [a; b] ⊂ R ein beliebiges Intervall. Es gilt σ(f, I) = 1 fur jedes Intervall I ⊂ R. Alsogilt, fur eine beliebige Teilung T von [a; b]

S(T )− S(T ) =n∑j=1

σ(f, Ij)|Ij | =n∑j=1

|Ij | = (b− a)

Die Funktion f ist deswegen nicht integrierbar.

Proposition 9.6. Sei a < b < c, und f eine beschrankte Funktion auf [a; c]. Dann istf integrierbar auf [a; c] g.d.w. f integrierbar auf [a; b] und auf [b; c] ist. In diesem Fallgilt ∫ c

afdx =

∫ b

afdx+

∫ c

bfdx

Beweis. Sei f integrierbar auf [a; b] und auf [b; c]. Wir finden Folgen T1,n und T2,n,Teilungen von [a; b] und, bzw. von [b; c], mit

S[a;b](T1,n)− S[a;b](T1,n)→ 0 und S[b;c](T2,n)− S[b;c](T2,n)→ 0

fur n→∞. Wir setzen T3,n = T1,n∪T2,n. Tn ist dann eine Folge von Teilungen von [a; c]mit

S[a;c](T3,n) = S[a;b](T1,n) + S[b;c](T2,n)

S[a;c](T3,n) = S[a;b](T1,n) + S[b;c](T2,n)

fur alle n. Das impliziert, dass f auf [a; c] integrierbar ist, weil

S[a;c](T3,n)− S[a;c](T3,n) =(S[a;b](T1,n)− S[a;b](T1,n)

)+(S[b;c](T2,n)− S[b;c](T2,n)

)→ 0

fur n→∞, und, dass∫ c

afdx = lim

n→∞S[a;c](T3,n) = lim

n→∞S[a;b](T1,n) + lim

n→∞S[b;c](T2,n)

Ubung: Zeige, dass f integrierbar auf [a; c] impliziert, dass f integrierbar auf [a; b] undauf [b; c] ist.

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Als Anwendung der letzten Proposition zeigen wir, dass jede auf [a; b] beschrankteFunktion, mit endlich vielen Unstetigkeitstellen, integrierbar ist.

Proposition 9.7. Sei f auf [a; b] beschrankt, mit endlich vielen Unstetigkeitstellen.Dann ist f auf [a; b] integrierbar.

Beweis. Seien y1 < y2 < · · · < ym−1 die Unstetigkeitstellen von f in (a; b). Wir setztenauch y0 = a und ym = b. Ist f integrierbar auf [yj−1; yj ] fur alle j = 1, . . .m, so ist fintegrierbar auf [a; b] (aus Proposition 9.6). Es genugt also zu zeigen, dass f stetig auf(a; b) und beschrankt auf [a; b] impliziert, dass f integrierbar auf [a; b] ist. Sei dazu M > 0s.d. |f(x)| ≤M auf [a; b]. Fur ein beliebiges ε > 0, ist f auf Iε := [a+(ε/8M); b−(ε/8M)]integrierbar, weil f stetig auf diesem Intervall ist. Es existiert also eine Teilung T vonIε mit

SIε(T )− SIε(T ) ≤ ε/2

Wir betrachten nun die Teilung T ′ = T ∪ {a; b} von [a; b]. Es gilt

S[a;b](T′)− S[a;b](T

′)

= (σ(f, [a; a+ (ε/8M)]) + σ(f, [b− (ε/8M); b]))ε

8M+ SIε(T )− SIε(T ) ≤ ε

weil σ(J ; f) ≤ 2M fur jede Menge J ⊂ [a; b]. Da ε > 0 beliebig ist, ist f auf [a; b]integrierbar.

Bemerkung: Die Bedingung fur Integrierbarkeit in der letzten Proposition ist hinrei-chend, aber nicht notwendig. Eine Menge N ⊂ R heisst eine Nullmenge, falls fur alleε > 0 eine endlich oder abzahlbare Familie {Ji} von offenen Intervallen existiert, mit

N ⊂⋃i

Ji und∑i

|Ji| ≤ ε

Jede abzahlbare Menge ist offenbar eine Nullmenge, aber es existieren auch uberabzahl-bare Nullmengen. Tatsache: Eine beschrankte Funktion f auf [a; b] ist genau dann auf[a; b] integrierbar, falls {x ∈ [a; b]; f unstetig an der Stelle x} eine Nullmenge ist.

Wir untersuchen nun elementare Eigenschaften vom Integral.

Proposition 9.8. Seien f, g integrierbar uber [a; b].

a) Fur alle α, β ∈ R ist αf + βg integrierbar auf [a; b] und∫ b

a(αf + βg) dx = α

∫ b

afdx+ β

∫ b

agdx

(Das Integral ist linear).

b) Gilt f(x) ≥ g(x) fur alle x ∈ [a; b], so ist∫ b

afdx ≥

∫ b

agdx

(Das Integral ist monoton).

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c) |f | ist integrierbar auf [a; b] und∣∣∣∣∫ b

afdx

∣∣∣∣ ≤ ∫ b

a|f |dx

(Dreiecksungleichung fur Integrale). Es folgt, dass max(f, g),min(f, g) integrierbarauf [a; b] sind.

Beweis: c) Aus der gewohnlichen Dreiecksungleichung gilt

||f(x)| − |f(y)|| ≤ |f(x)− f(y)|

D.h. die Oszillationen von |f | auf jedem Intervall J ⊂ R sind durch die Oszillationenvon f beschrankt:

σ(|f |, J) ≤ σ(f, J) for all J ⊂ R

AlsoS(|f |, T )− S(|f |, T ) ≤ S(f, T )− S(f, T )

fur alle Teilungen T . Das impliziert, dass

infT

(S(|f |, T )− S(|f |, T )

)≤ inf

T

(S(f, T )− S(f, T )

)= 0

und deswegen, dass |f | integrierbar ist. Die Dreiecksungleichung fur Integrale folgt aus−|f(x)| ≤ f(x) ≤ |f(x)| und aus der Monotonie des Integrals (Teil b), Beweis unten). DieIntegrierbarkeit von max(f, g) und min(f, g) folgt aus der Bemerkung, dass max(f, g) =(f + g)/2 + |f − g|/2 und min(f, g) = (f + g)/2− |f − g|/2, aus der Linearitat (Teil a),Beweis unten), und aus der Integrierbarkeit des Absolutbetrags.

a) Es genugt zu zeigen, dass

i)

∫(f + g)dx =

∫fdx+

∫gdx

ii)

∫(αf)dx = α

∫fdx fur alle α > 0

iii)

∫(−f)dx = −

∫fdx

Wir zeigen zunachst i). Fur eine beliebige Teilung T von [a; b] gilt

sup{f(x) + g(x) : x ∈ Ij} ≤ sup{f(x) : x ∈ Ij}+ sup{g(x) : x ∈ Ij}

AlsoS(f + g, T ) ≤ S(f, T ) + S(g, T )

AhnlicherweiseS(f + g, T ) ≥ S(f, T ) + S(g, T )

Seien nun T fn und T gn Folgen von Teilungen mit der Eigenschaften

S(f, T fn )− S(f, T fn )→ 0

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undS(f, T gn)− S(g, T gn)→ 0

fur n→∞. Sei nun Tn = T fn ∪ T gn . Dann gilt (da Tn eine Verfeinerung von T fn ist)

S(f, Tn)− S(f, Tn) ≤ S(f, T fn )− S(f, T fn )

und also S(f, Tn) − S(f, Tn) → 0, fur n → ∞. Ahnlicherweise S(g, Tn) − S(g, Tn) → 0,fur n→∞. Damit

S(f + g, Tn)− S(f + g, Tn) ≤ S(f, Tn) + S(g, Tn)− S(f, Tn)− S(g, Tn)

=(S(f, Tn)− S(f, Tn)

)+(S(g, Tn)− S(g, Tn)

)→ 0

Das zeigt, dass f + g integrierbar ist. Es gilt

S(f, Tn) + S(g, Tn) ≤ S(f + g, Tn) ≤∫ b

a(f + g)dxS(f + g, Tn) ≤ S(f, Tn) + S(g, Tn)

Da

S(f, Tn) + S(g, Tn)→∫ b

afdx+

∫ b

agdx und

S(f, Tn) + S(g, Tn)→∫ b

afdx+

∫ b

agdx

fur n→∞, folgt, dass ∫ b

a(f + g)dx =

∫ b

afdx+

∫ b

agdx

Wir beweisen nun ii). Offenbar gilt

S(αf, T ) = αS(f, T ), und S(αf, T ) = αS(f, T )

fur jede Teilung T . Ist Tn eine Folge von Teilungen, mit S(f, Tn)− S(f, Tn)→ 0, so giltauch

S(αf, Tn)− S(αf, Tn) = α(S(f, Tn)− S(f, Tn)

)→ 0

Damit ist αf integrierbar, und∫ b

aαfdx = lim

n→∞S(αf, Tn) = α lim

n→∞S(f, Tn) = α

∫ b

afdx

Um iii) zu zeigen, bemerken wir, dass

S(−f, T ) = −S(f, T ) und S(−f, T ) = −S(f, T )

fur jede Teilung T , weil sup(−f) = − inf f . Ist Tn eine Teilung mit S(f, Tn)−S(f, Tn)→0, so gilt auch

S(−f, Tn)− S(−f, Tn) = −S(f, Tn) + S(f, Tn)→ 0

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fur n→∞. Damit ist −f integrierbar, und∫ b

a(−f)dx = lim

n→∞S(−f, Tn) = − lim

n→∞S(f, Tn) = −

∫ b

afdx

Damit ist Teil a) bewiesen.b) Ist f ≥ g, so ist f − g ≥ 0 auf [a; b]. Da aus a) f − g integrierbar ist, muss∫ b

a(f − g)dx ≥ 0

(weil jede Riemannsche Summe positiv ist). Wieder aus a) folgt, dass∫ b

afdx−

∫ b

agdx =

∫ b

a(f − g)dx ≥ 0 ⇒

∫ b

afdx ≥

∫ b

agdx

Damit ist auch Teil b) gezeigt.

Die elementare Eigenschaften des Integrals aus der letzten Proposition haben einigeeinfache aber wichtige Folgerungen.

Satz 9.9. a) Konstante Funktionen sind integrierbar,∫ b

acdx = c(b− a)

b) Sei f integrierbar auf [a; b], und

m = inf{f(x) : x ∈ [a; b]}, M = sup{f(x) : x ∈ [a; b]}

Dann gilt

m(b− a) ≤∫ b

afdx ≤M(b− a)

c) (Mittelwertsatz fur Integrale). Ist f stetig auf [a; b], dann existiert ξ ∈ (a; b) mit∫ b

afdx = f(ξ)(b− a)

Beweis. a) f(x) = c impliziert, dass S(f, T ) = S(f, T ) = c(b − a) fur alle Teilungen T .Damit ist ∫ b

acdx = c(b− a)

b) Es gilt m ≤ f(x) ≤M fur alle x ∈ [a; b]. Die Monotonie des Integrals impliziert, dass

m(b− a) =

∫ b

amdx ≤

∫ b

afdx ≤

∫ b

aMdx = M(b− a)

c) Aus b) folgt, dass

m ≤ 1

b− a

∫ b

afdx ≤M

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Aus dem Satz von Maximum folgt, dass x0, x1 ∈ [a; b] mit f(x0) = m und f(x1) = Mexistiert. Aus dem Zwischenwertsatz, existiert ξ zwischen x0 und x1 mit

f(ξ) =1

b− a

∫ b

afdx

9.2 Hauptsatz der Integralrechnung

Satz 9.10 (Hauptsatz). Sei f stetig auf [a; b],

F (x) =

∫ x

af(t)dt

fur x ∈ (a; b].

a) F ist differenzierbar auf (a; b) mit F ′(x) = f(x).

b) Sei G stetig auf [a; b], differenzierbar auf (a; b) mit G′(x) = f(x). Dann gilt

F (x) = G(x)−G(a)

fur alle a < x ≤ b.

Beweis. a) Sei x0 ∈ (a; b) fest. Wir berechnen F ′(x0). Sei zunachst h > 0. Dann

F (x0 + h) =

∫ x0+h

afdt =

∫ x0

afdt+

∫ x0+h

x0

fdt = F (x0) + f(ξ)h

fur ein ξ ∈ (x0;x0 + h). Also

F (x0 + h)− F (x0)

h= f(ξ)→ f(x0)

fur h ↓ 0, aus Stetigkeit von f . Fur h < 0 haben wir ahnlich

F (x0 + h)− F (x0)

h=F (x0)− F (x0 − |h|)

|h|=

1

|h|

∫ x0

x0−|h|fdt = f(ξ)

fur ein x0 − |h| < ξ < x0. Die Stetigkeit von f zeigt, dass

limh↑0

F (x0 + h)− F (x0)

h= f(x0)

Damit ist F differenzierbar an der Stelle x0, mit F ′(x0) = f(x0).b) Es gilt G′(x) = f(x) = F ′(x). Also (F −G)′ = 0, und deswegen, G(x) = F (x) + c

fur eine Konstante c ∈ R, und alle x ∈ (a; b). Da limx↓a F (x) = 0, und (aus Stetigkeitvon G), limx↓aG(x) = G(a), gilt c = G(a). Damit ist F (x) = G(x) − G(a), fur allex ∈ (a; b).

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Man nennt eine Funktion G, stetig auf [a; b], differenzierbar auf (a; b), mit G′(x) =f(x) fur alle x ∈ (a; b), eine Stammfunktion von f auf [a; b]. Ist G eine Stammfunktioneiner stetigen Funktion f , so gilt∫ b

afdt = G(b)−G(a)

Beachte: Nicht stetige integrierbare Funktionen brauchen keine Stammfunktion zu haben(z.B. hat die integrierbare Funktion f , definiert durch f(x) = 0 fur x < 0 und f(x) = 1fur x ≥ 0, keine Stammfunktion auf [−1; 1]. Anderseits impliziert die Existenz einerStammfunktion vonf nicht, dass f integrierbar ist.

Bemerkung: Ist G eine Stammfunktion von f , dann ist auch G+ c, fur irgendeine Kon-stante c ∈ R, eine Stammfunktion von f . Alle Stammfunktionen von f haben diese Form.Wir definieren das unbestimmtes Integral von f , als die Familie aller Stammfunktionenvon f : ∫

fdx = G(x) + c

falls G′(x) = f(x). Manchmal ist es wichtig, das Intervall zu schreiben, wo die Relation

G′ = f gilt. Zusammenfassend: Das bestimmte Integral∫ ba fdx ist eine Zahl (Grenzwert

von Riemann’schen Summen). Das unbestimmte Integral∫fdx ist dagegen die Familie

aller Stammfunktionen von f . Gemass Hauptsatz ist die Berechnung des unbestimmtenIntegrals von grosser Hilfe in der Berechnung des bestimmten Integrals.Notation: Fur b < a setzen wir ∫ b

afdx := −

∫ a

bfdx

Fur b = a, dagegen, ∫ a

afdx := 0

Damit gilt ∫ b

afdx = G(b)−G(a)

falls f stetig ist, und falls G eine Stammfunktion von f ist, unabhangig von der Ordnungvon a, b.

Die Berechnung von unbestimmten Integralen ist nicht immer einfach. UnbestimmteIntegrale sind nicht immer durch die bekannten Elementarfunktionen darstellbar (dieAbleitung jeder durch Elementarfunktionen darstellbaren Funktion ist dagegen wiederdurch elementare Funktionen darstellbar). Ein wichtiges Beispiel einer Funktion, derenStammfunktion (die “error-function”) nicht elementar darstellbar ist, ist f(x) = e−x

2.

Hier sind dagegen einige einfache Beispiele, fur welche die Stammfunktion elementar

122

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darstellbar ist.

• d

dxxα = αxα−1 ⇒

∫xαdx =

xα+1

α+ 1+ c,

fur alle α 6= −1 und, falls α < 0, fur alle x 6= 0

• d

dxlog |x| = 1

x⇒∫

1

xdx = log |x|+ c, fur alle x 6= 0

• d

dxeλx = λeλx ⇒

∫eλxdx =

1

λeλx + c

• d

dxsinx = cosx ⇒

∫cosx dx = sinx+ c

• d

dxcosx = − sinx ⇒

∫sinxdx = − cosx+ c

• d

dxsinhx = coshx ⇒

∫coshx dx = sinhx+ c

• d

dxcoshx = sinhx ⇒

∫sinhx dx = coshx+ c

• d

dxarctanx =

1

1 + x2⇒∫

1

x2 + 1dx = arctanx+ c

• d

dxarcsinx =

1√1− x2

⇒∫

1√1− x2

dx = arcsinx+ c, fur x ∈ (−1; 1)

• d

dxarcsinh x =

1√1 + x2

⇒∫

1√1 + x2

dx = arcsinh x+ c

9.3 Integrationsmethoden

Es gibt zwei allgemeine Bemerkungen, die bei der Berechnung von Integralen nutzlichsein konnen; die Substitutionsformel und partielle Integration.

Satz 9.11 (Substitutionsformel). Sei f stetig und g stetig differenzierbar auf geeignetenIntervallen. Ist ∫

f(x)dx = F (x) + c

so ist ∫f(g(t))g′(t)dt = F (g(t)) + c (25)

Mit anderen Worten, falls f stetig auf [g(a); g(b)] ist, und g stetig differenzierbar auf[a; b], haben wir ∫ b

af(g(x))g′(x)dx =

∫ g(b)

g(a)f(t)dt

(Es ist hier nicht notig, dass g(b) > g(a)).

Beweis. Da F eine Stammfunktion von f ist, gilt F ′(x) = f(x). Aus der Kettenregelfolgt, dass

d

dxF (g(x)) = f(g(x))g′(x)

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D.h., F (g(x)) ist eine Stammfunktion von f(g(x))g′(x). Also∫ b

af(g(x))g′(x)dx = F (g(b))− F (g(a)) =

∫ g(b)

g(a)f(t)dt

Man kann den Faktor g′(t) in der Substitutionsformel (25) als die Transformationdes Differentials dt betrachten. Sei F eine Stammfunktion fur f . Um das Integral∫

f(g(t))g′(t)dt

zu berechnen, setzen wir x = g(t). Dann ist f(g(t)) = f(x), und dx = g′(t)dt. Damit∫f(g(t))g′(t)dt =

∫f(x)dx = F (x) + c = F (g(t)) + c

Beispiele: Mit Hilfe der Substitutionsformel berechnen wir die folgenden unbestimmtenIntegrale.

1) Fur a ∈ R fest, gilt ∫1

x2 + a2dx =

1

a2

∫1 + (x/a)2

dx

Sei y = x/a. Dann ist dx = (1/a)dx, und∫1

x2 + a2dx =

1

a

∫1

1 + y2dy =

1

aarctan y + c =

1

aarctan(x/a) + c

2) Wir untersuchen nun ∫tanx dx =

∫sinx

cosxdx

Sei y = cosx. Dann ist dy = − sinxdx und∫tanx dx = −

∫1

ydy = − log y + c = − log cosx+ c

3) Wir berechnen ∫x√

1 + x2 dx

indem wir t = 1 + x2 setzen. Dann ist dt = 2xdx und∫x√

1 + x2dx =1

2

∫t1/2dt =

1

3t3/2 + c =

1

3(1 + x2)3/2 + c

Proposition 9.12 (Partielle Integration). Seien u, v ∈ C1([a; b]). Dann gilt auf diesemIntervall ∫

u(x)v′(x)dx = u(x)v(x)−∫u′(x)v(x)dx

Es folgt ∫ b

au(x)v′(x)dx = u(b)v(b)− u(a)v(a)−

∫ b

au′(x)v(x)dx

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Beweis. Wir bemerken, dass

d

dx(u(x)v(x)) = u′(x)v(x) + u(x)v′(x)

Damit ∫u′(x)v(x)dx+

∫u(x)v′(x)dx = u(x)v(x) + c

Beispiele: Wir untersuchen das Integral von xex. Wir setzen u = x und v′ = ex. Dannist u′ = 1 und v = ex. Damit∫

xexdx = xex −∫exdx = xex − ex + c = ex(x− 1) + c

Ein anderes Beispiel ist das Integral von x2 sinx. Auch hier setzen wir u = x2 undv′ = sinx. Dann ist u′ = 2x und v = − cosx, und∫

x2 sinxdx = −x2 cosx+ 2

∫x cosxdx

Wir wenden noch ein Mal die partielle Integration an. Sei nun u = x und v′ = cosx.Dann gilt u′ = 1 und v = sinx, und∫

x cosxdx = x sinx−∫

sinxdx = x sinx+ cosx+ c

Also∫x2 sinxdx = −x2 cosx+ 2x sinx+ 2 cosx+ c = (2− x2) cosx+ 2x sinx+ c .

Auch mit Substitution und partieller Integration Stammfunktionen zu finden ist i.A.eine schwierige Aufgabe. Es gibt aber einige spezielle Methoden, die die Berechnung vonIntegralen von besonderen Klassen von Funktionen erlauben. Die wichtigste Klasse vonFunktionen, fur die man immer eine elementare Stammfunktion finden kann, bestehtaus allen rationalen Funktionen.

9.4 Integration von rationalen Funktionen: Partialbruchzerlegung

Das Integral einer rationalen Funktion kann immer mit der Methode der Partialbruchzer-legung berechnet werden. Eine rationale Funktion hat die Form p/q, wobei p, q Polynomesind. Es bezeichne degp und degq den Grad der Polynome p, q. Ist degp ≥ degq, so kannman p durch q teilen. Man findet Polynome r, s mit degs < degq und mit p = rq + s.Damit ist p/q = r+s/q. Das Integral von r kann sehr einfach berechnet werden; es bleibtdas Integral von s/q zu berechnen. Mit anderen Worten, es genugt, rationale Funktionenp/q zu betrachten, mit deg p < deg q.

Es lohnt sich, komplexe Zahlen zu benutzen, um die Polynome q und p zu faktori-sieren. Es existieren immer paarweise unterschiedliche z1, . . . , zn ∈ C, eine Konstante aund α1, . . . , αn ∈ N, mit

q(x) = an∏j=1

(x− zj)αj

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Die Zahlen z1, . . . , zn sind die Nullstellen von q; sie heissen die Pole der rationalenFunktion p/q. Der Exponent αj ist die Vielfachkeit oder die Ordnung, der Pol zj . Esgilt

∑nj=1 αj = degq. O.B.d.A konnen wir annehmen, dass p und q keine gemeinsame

Nullstelle haben (sonst kann man die zwei Faktoren kurzen). Unter dieser Annahmefinden wir, dass

limx→zj

(x− zj)αjp(x)

q(x)=: A 6= 0

Dann hatp(x)

q(x)− A

(x− zj)αj

hochstens einen Pol der Ordnung (m− 1) an der Stelle zj . In der Tat, sei das Polynomq so definiert, dass q(x) = (x− zj)αj q(x). Es gilt q(zj) 6= 0, und A = p(zj)/q(zj). Damit

p(x)

q(x)− A

(x− zj)αj=p(x)−Aq(x)

q(x)

Da der Numerator p(zj)− Aq(zj) = 0, hat p/q − A/(x− zj)αj hochstens einen Pol derVielfachkeit αj−1 in zj . Durch Wiederholung dieses Arguments, finden wir KonstantenA1, . . . , Aαj , s.d.

p(x)

q(x)−

αj∑`=1

A`(x− zj)`

keinen Pol an der Stelle zj hat. Wiederholen wir das Argument fur alle Pole, erhaltenwir: es existieren (eindeutig bestimmte) Konstanten A1,1, . . . , A1,α1 , . . . , An,1, An,αn mit

p(x)

q(x)=

n∑j=1

αj∑`=1

Aj,`(x− zj)`

Diese Darstellung der rationalen Funktion p/q heisst eine Partialbruchzerlegung. Inte-gration einer beliebigen rationalen Funktion wird somit auf das Problem der Berechnungder Integralen 1/(x−zj)k reduziert. Bemerke, dass auch fur reellen rationale Funktionen(d.h. rationale Funktionen mit reellen Keoffizienten), die Nullstellen zj des Polynoms qsind i.A. komplex. Nur auf C kann ein Polynom mit Sicherheit so einfach zerlegt wer-den. Wir mussen also komplex-wertige Funktionen integrieren. Wir definieren hier das(unbestimmte) Integral einer C-wertige Funktion f durch∫

fdx =

∫Re fdx+ i

∫Im fdx

(mit dieser Definition ist der Realteil von∫fdx gleich zu

∫Re fdx, und analog fur den

Imaginarteil). Fur k > 1 gilt, ahnlich wie im Fall zj ∈ R,∫1

(x− zj)kdx =

−1

k − 1

1

(x− zj)k−1+ c (26)

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Fur k = 1 schreiben wir zj = aj + ibj und wir berechnen∫1

x− zjdx =

∫1

(x− aj)− ibjdx

=

∫(x− aj) + ibj(x− aj)2 + b2j

dx

=

∫(x− aj)

(x− aj)2 + b2jdx+ ibj

∫1

(x− aj)2 + b2jdx

=1

2log((x− aj)2 + b2j

)+ i arctan

x− ajbj

= log |x− zj |+ i arctanx− Re zj

Im zj

(27)

Damit konnen wir das Integral (bestimmt oder unbestimmt) jeder rationalen Funktionberechnen. Zusammenfassend ist die Strategie um das Integral einer rationale Funktionzu bestimmen die folgende: Zunachst wird durch geeignete Division und Kurzung, dasProblem auf die Berechnung des Integrals von p/q reduziert, wobei deg p < deg q undp, q keine gemeinsamen Faktoren haben. Dann findet man alle Pole z1, . . . , zn von p/q,mit der entsprechenden Vielfachkeit αj . Angenommen q(x) = a

∏nj=1(x − zj)

αj , wirberechnen dann die Partialbruchzerlegung

p(x)

q(x)=

n∑j=1

αj∑`j=1

Aj,`j(x− zj)`

.

von p/q. Die Berechnung der Koeffizienten Aj,`j reduziert sich nach Koeffizientenver-gleich zur Losung eines linearen Systems. Schlussendlich benutzen wir (26) und (27),um das Integral jeder Term auszurechnen.

Als Beispiel betrachten wir die rationale Funktion

R(x) =1

(x2 + 1)2

Der Nenner hat die zwei Nullstellen x = ±i, beide mit Multiplizitat zwei. Es existierenalso Konstanten A,B,C,D ∈ C mit

R(x)

=A

x+ i+

B

(x+ i)2+

C

x− i+

D

(x− i)2

=A(x+ i)(x− i)2 +B(x− i)2 + C(x+ i)2(x− i) +D(x+ i)2

(x2 + 1)2

=A(x3 − ix2 + x− i) +B(x2 − 2ix− 1) + C(x3 + ix2 + x+ i) +D(x2 + 2ix− 1)

(x2 + 1)2

=x3(A+ C) + x2(−iA+B + iC +D) + x(A− 2iB + C + 2iD)− (iA+B − iC +D)

(x2 + 1)2

Wir bekommen also die 4 Gleichungen

A+ C = 0, −iA+B + iC +D = 0, A− 2iB + C + 2iD = 0, −iA−B + iC −D = 1

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fur die vier Unbekannten A,B,C,D. Die erste Gleichung gibt C = −A, die dritte alsoB = D. Die zweite Gleichung wird iA = B, und die vierte A = −1/4i = i/4. Also:

1

(x2 + 1)2=i

4

1

x+ i− 1

4

1

(x+ i)2− i

4

1

x− i− 1

4

1

(x− i)2

und damit∫1

(x2 + 1)2=i

4(log |x+ i|+ i arctan x− log |x− i|+ i arctan x) +

1

4

(1

x+ i+

1

x− i

)= −1

2arctan x+

1

2

x

x2 + 1

weil |x − i| = |x + i|. Wie erwartet, ist das Endresultat reell (alle imaginaren Beitragekurzen sich weg).

Eine andere Klasse von Integralen, die man immer in geschlossene Form ausrechnenkann, sind Integrale der Form ∫

R(cosx; sinx)dx

wobei R(s; t) eine rationale Funktion von den zwei Variablen s, t ist (d.h. R(s; t) =p(s; t)/q(s; t) fur p, q Polynome in den Variablen s, t). Der Trick in diesem Fall ist dieSubstitution u = tan(x/2) durchzufuhren. Dann ist x = 2 arctan(u), und

dx =2

1 + u2du

Weiter gilt

cos2(x/2) =1

1 + tan2(x/2)=

1

1 + u2

und aus

cos2(x/2) =1− cosx

2

findet man

cosx = 1− 2 cos2(x/2) = 1− 2

1 + u2=u2 − 1

u2 + 1

und

sinx = 2 sin(x/2) cos(x/2) = 2 tan(x/2) cos2(x/2) =2u

1 + u2

Also, nach Substitution, wird∫R(cosx; sinx)dx =

∫R(u)du

fur eine neue rationale Funktion R. Das Integral von R kann man dann durch die Me-thode der Partialbruchzerlegung berechnen.

Beispiel: Wir mochten das Integral ∫1

cosxdx

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berechnen. Wir setzen u = tan(x/2), und finden∫1

cosxdx =

∫u2 + 1

u2 − 1

2

1 + u2du = 2

∫1

u2 − 1du

=

∫ (1

u− 1− 1

u+ 1

)du

= log |u− 1| − log |u+ 1|+ c = log| tan2(x/2)− 1|| tan2(x/2) + 1|

+ c

Bemerke, dass trigonometrische Funktionen oft einfacher integriert werden konnen,ohne den Trick mit u = tan(x/2) zu benutzen.

Integrale der Form ∫R(x;

√1− x2)dx,

fur eine rationale Funktion R, konnen mit der Substitution x = sin t berechnet werden.In der Tat, mit dieser Substitution finden wir dx = cos t dt,

√1− x2 = cos t, und damit∫

R(x;√

1− x2)dx =

∫R(sin t; cos t)dt

fur eine neue rationale Funktion R. Das Integral auf der rechten Seite kann dann, wieoben erklart, mit der Substitution u = tan(t/2) berechnet werden.

Integrale der Form∫R(x;

√x2 − 1)dx, oder

∫R(x;

√1 + x2)dx ,

fur eine rationale Funktion R, konnen mit der Substitution x = cosh t, bzw. x = sinh tberechnet werden Mit dieser Substitution reduziert sich das Problem auf der Berechnungvon Integralen der Form ∫

R(cosh t; sinh t)dt

fur eine neue rationale Funktion R. Die Substitution u = et, reduziert dann das Problemauf die Berechnung vom Integral von rationalen Funktionen in u. Da sich jeder quadra-tische Ausdruck ax2 + bx+ c durch quadratische Erganzung und lineare Substitution yin der Form 1− y2, 1 + y2 oder y2− 1 schreiben lasst, folgt, dass man jedes Integral derForm ∫

R(x;√ax2 + bx+ c)dx

explizit berechnen kann.

9.5 Vertausch von Grenzubergang und Integral

In dieser Sektion untersuchen wir die folgende Frage: Sei fn eine Folge von auf [a; b]integrierbare Funktionen, mit fn → f . Ist dann f auf [a; b] integrierbar? Falls ja, ist das

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Integral von f aus dem Grenzwert der Integrale von fn gegeben? Mit anderen Worten,unter welchen Bedingungen gilt

limn→∞

∫ b

afndx =

∫ b

a

(limn→∞

fn

)dx

Beispiel: Sei fn die Folge von Funktionen auf [−1; 1], definiert durch

fn(x) =

n+ n2x fur − 1/n ≤ x < 0n− n2x fur 0 < x < 1/n0 sonst

Es gilt fn → 0 punktweise. Jede fn ist auf [−1; 1] integrierbar, mit∫fndx = 1

fur alle n (der Graph von f beschreibt ein Dreieck, mit Basis 2/n und Hohe n). Also,in diesem Fall

1 = limn→∞

∫ 1

−1fndx 6=

∫ 1

−1

(limn→∞

fn

)dx = 0

Das Beispiel zeigt, dass punktweise Konvergenz von fn nach f nicht genugt, umGrenzwert mit Integral zu vertauschen. Der nachste Satz zeigt, dass gleichmassige Kon-vergenz hinreichend ist.

Satz 9.13. Sei fn eine Folge von auf [a; b] integrierbaren Funktionen, mit fn → fgleichmassig auf [a; b]. Dann ist f auf [a; b] integrierbar und∫ b

afdx = lim

n→∞

∫ b

afndx

Beweis. Sei ε > 0 fest. Wir finden dann n ∈ N mit

|fn(x)− f(x)| < ε

4(b− a)

fur alle x ∈ [a; b]. Da fn integrierbar ist, finden wir auch eine Teilung T von [a; b] mit

S(fn, T )− S(fn, T ) <ε

2

Dann gilt

S(f, T ) =m∑j=1

sup{f(x) : x ∈ Ij} |Ij |

≤m∑j=1

4(b− a)+ sup{fn(x) : x ∈ Ij}

)|Ij |

4+ S(fn, T )

130

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Analog

S(f, t) ≥ S(fn, T )− ε

4

und damitS(f, T )− S(f, T ) ≤ ε

2+ S(fn, T )− S(fn, T ) ≤ ε

Also, ist f integrierbar. Weiter gilt∣∣∣∣∫ b

afdx−

∫ b

afndx

∣∣∣∣ ≤ ∫ b

a|f − fn|dx ≤ (b− a) sup

x|f − fn|

Da die rechte Seite gegen Null konvergiert, muss∫ b

afndx→

∫ b

afdx

fur n→∞.

Bemerkung: Gleichmassige Konvergenz ist zwar hinreichend, aber nicht notwendig furKonvergenz der Integrale. Mit der alternativen (und modernen) Definition des Integrals(das Lebesgue Integral, wird in der Vorlesung Analysis III diskutiert) ist es relativ einfachBedingungen fur Konvergenz von Integrale von Funktionenfolge die viel schwacher, unddamit viel nutzelicher sind, als gleichmassige Konvergenz der Folge.

9.6 Uneigentliche Integrale

Bis jetzt haben wir Integrale von beschrankten Funktionen auf kompakte Intervalleuntersucht. Die Definition mit Riemann’schen Summen funktioniert fur Integrale derForm ∫ ∞

0

1

1 + x2dx oder

∫ 1

0

1√xdx

nicht. Diese Integrale, die man als uneigentliche Integrale bezeichnet, kann man trotzdemals Grenzwerte von “eigentlichen Integrale” definieren. Fur beliebige y > 0, gilt∫ y

0

1

1 + x2dx = arctan(y)− arctan(0) = arctan(y)

Also konnen wir∫ ∞0

1

1 + x2dx := lim

y→∞

∫ y

0

1

1 + x2dx = lim

y→∞arctan(y) =

π

2

definieren. Ahnlich konnen wir∫ 1

0

1√xdx = lim

y↓0

∫ 1

y

1√xdx = lim

y↓0(2− 2

√y) = 2

definieren. Die allgemeinere Definition ist die folgende.

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Definition 9.14. Sei f auf [a; b) definiert (b = +∞ ist zugelassen), und auf [a; y]integrierbar, fur alle y ∈ (a; b). Existiert der Limes

limy↑b

∫ y

afdx

dann sagen wir, f sei auf [a; b) uneigentlich integrierbar, und wir definieren das unei-gentliche Integral von f auf [a; b) durch∫ b

afdx := lim

y↑b

∫ y

afdx

Ahnlich, falls f auf (a; b] (a = −∞ zugelassen) definiert ist, auf [y; b] integrierbar ist,fur alle y ∈ (a; b), und falls der Limes

limy↓a

∫ b

yfdx

existiert, so definieren wir ∫ b

afdx := lim

y↓a

∫ b

yfdx

Ist f auf (a; b) definiert (a = −∞ und/oder b = +∞ sind zugelassen) und falls dieuneigentlichen Integrale ∫ c

afdx und

∫ b

cfdx

fur ein c ∈ [a; b] existieren, so definieren wir∫ b

afdx =

∫ c

afdx+

∫ b

cfdx

Bemerkung: Ist das Integral auf beiden Seiten uneigentlich, so mussen die zwei Grenz-werte y ↓ a und y ↑ b unabhangig voneinander genommen werden. Z.B. das Integral∫ ∞

−∞xdx

existiert nicht, obwohl ∫ y

−yxdx = 0

fur alle y > 0.Beispiel: Es gilt∫ ∞

1

1

xαdx = lim

y→∞

∫ y

1

1

xαdx = lim

y→∞

−1

α− 1

1

yα−1+

1

α− 1=

1

α− 1

fur alle α > 1. Das Integral ∫ ∞1

1

xαdx

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existiert dagegen nicht, fur α < 1. Es gilt weiter∫ 1

0

1

xαdx = lim

y→0

∫ 1

y

1

xα= lim

y→0

1

1− α− y1−α

1− α=

1

1− α

fur alle α < 1. Das Integral ∫ 1

0

1

xαdx

existiert nicht, fur α > 1. Die Integrale∫ ∞1

1

xdx = lim

y→∞log y = +∞

und ∫ 1

0

1

xdx = lim

y→0− log y = +∞

existieren nicht.

Proposition 9.15 (Vergleichskriterium). Seien a ∈ R ∪ {−∞}, b ∈ R ∪ {+∞}, mita < b. Seien f, g integrierbar auf (α;β), fur alle a < α < β < b. Es gelte g(x) ≥ 0 und|f(x)| ≤ g(x) fur alle x ∈ (a; b) und es existiere das (uneigentliche) Integral∫ b

agdx

Dann existiert auch das (uneigentliche) Integral∫ b

afdx

Beweis. Wir betrachten den Fall, dass f integrierbar auf [a; y], fur alle y ∈ (a; b), ist.Wir mochten zeigen, dass

limy↑b

∫ y

afdx

existiert. Sei yn eine beliebige Folge, mit yn < b fur alle n ∈ N und yn → b als n → ∞.Wir zeigen, dass ∫ yn

afdx

eine Cauchy-Folge ist. Dazu bemerken wir, dass (unter Annahme, dass, zB., ym < yn)∣∣∣∣∫ yn

afdx−

∫ ym

afdx

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣∫ yn

ym

fdx

∣∣∣∣ ≤ ∫ yn

ym

|f |dx ≤∫ yn

ym

gdx ≤=

∫ yn

agdx−

∫ ym

agdx

Die Existenz des Integrals von g auf [a; b] impliziert, dass die Folge∫ yna gdx eine Cauchy-

Folge ist. Damit ist auch∫ yna fdx eine Cauchy-Folge. Also konvergiert die Folge

∫ yna fdx.

Es ist weiter einfach zu sehen, dass der Limes unabhangig von der Wahl der Folge ynist; man nimmt dazu an, es existieren zwei Folgen y1,n → b und y2,n → b, so dass

limn→∞

∫ y1,n

afdx 6= lim

n→∞

∫ y2,n

afdx

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Dann man definiert die Folge y3,n, die, alternierend, Werte aus y1,n und y2,n annimmt.Die Folge

limn→∞

∫ y3,n

afdx

sollte dann zwei Haufungspunkten haben; da aber y3,n → b, muss die Folge∫ y3,na fdx

konvergieren.

Anwendung: das Integral ∫ ∞1

(log x)m

xαdx

existiert, fur alle α > 1, und alle m > 0. Das folgt aus der Tatsache, dass, fur alle ε > 0es existiert eine Konstante Cε mit

(log x) ≤ Cεxε

Fur 0 < ε < α− 1 gilt also

(log x)m

xα≤ 1

x1+εsupx≥1

(log x)m

xα−1−ε≤ Cεx1+ε

Die Existenz des Integrals von 1/x1+ε auf [1;∞) impliziert also die Existenz des Integralsvon (log x)m/xα.

Uneigentliche Integrale konnen auch benutzt werden, um die Konvergenz von Reihenzu prufen.

Proposition 9.16 (Integralkriterium fur Reihen). Sei f positiv, monoton fallend auf[1;∞). Dann ist die Reihe

∑∞n=1 f(n) konvergent, genau dann wenn

∫∞1 fdx existiert.

Beweis. Da f positiv ist die Reihe∑

n f(n) konvergent, genau dann wenn sie beschranktist. Aus dem selben Grund, das Integral

∫∞1 fdx existiert, genau dann wenn die Folge∫m

1 fdx beschrankt ist. Aus der Monotonie von f gilt∫ n+1

nfdx ≤ f(n) ≤

∫ n

n−1fdx

fur alle n ∈ N. Also∫ m+1

2fdx =

m∑n=2

∫ n+1

nfdx ≤

m∑n=2

f(n) ≤m∑n=2

∫ n

n−1fdx =

∫ m−1

1fdx

fur alle m ∈ N, m > 2. Also die Reihe ist beschrankt, genau dann wenn das Integralbeschrankt ist.

Beispiel: konvergiert die Reihe∞∑n=2

1

n log n?

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Die Funktion f(x) = (x log x)−1 ist positiv und monoton fallend auf x > 1. D.h. dieReihe konvergiert g.d.w. das uneigentliche Integral von f auf [2;∞) existiert. Da (mitder Substitution u = log x)∫ y

2

1

x log xdx =

∫ log y

log 2

du

u= log log y − log log 2

divergiert, als y →∞, es folgt, dass∑n≥2

1

n log n=∞

Ahnlicherweise kann man zeigen, dass∑n≥2

1

n(log n)α

konvergiert, g.d.w. α > 1.

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