Sommer 2014 ausnachrichten -...

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Hausnachrichten Sommer 2014 Flugzwang als Zugzwang? Das „Low-Tech Magazine“ ist ein Internetblog des niederländischen Journalisten Kris de Decker und wartet mehrfach im Jahr mit Artikeln über innere Widersprüche in den Versprechungen des technischen Fortschritts und über die Vorteile einfacher, langerprobter Technik auf. Ausserdem setzt sich de Decker immer wieder auch mit „Ökomythen“ auseinander. Ein aktueller Text basiert auf persönlichen Erfahrungen und stellt die ketzerische Frage: Welche ökologischen Folgen hat die Einführung der modernen Hochgeschwindigkeitszüge im europäischen Schienennetz tatsächlich? Billigflieger, die nächste Runde. 2014, prognostizierte Spiegel Online Mitte Februar, werde das Jahr der Billigflieger. Die nächste Runde im Preiskampf sei eingeläutet; die nach dem ersten Verdrängungswettbewerb auf dem deutschen Markt ver - bliebenen grossen Billig-Airlines schickten sich nun an, den Markt neu aufzuteilen. Neue Strecken sind angekündigt, neue Airlines drängen auf den Markt. Die Flotten werden aufgestockt, und von der Lufthansa wird berichtet, sie stelle nun Zug um Zug inländische und innereuro- päische Flüge auf die eigene Billigflotte Germanwings um. Das Ergeb- nis werden zumindest zeitweise wieder Flugpreise wie vor ein paar Jahren sein, als die Billigflieger aufkamen und man für wenig mehr als 50 Euro, ja gelegentlich für Preise um 30 Euro europäische Gross- städte oder Feriengebiete in Spanien oder Griechenland erreichen konnte – auch und vor allem bei Verbindungen, die nicht auf Touristen die Flugzeuge treiben. Seine Argumentation ist nicht nur schlüssig und von zahlreichen Quellen belegt, sie ist auch erfahrungsgesättigt: Seit mehr als zwei Jahrzehnten pendelt de Decker regelmässig von Barce- lona (wo er lebt und arbeitet) in die Niederlande (wo er aufwuchs) und ist ausserdem beruflich in ganz Europa unterwegs. Flugreisen hat er dabei gemieden, wann immer es möglich war; seit fünf Jahren verzich- tet er ganz darauf. Und das kommt ihn immer teurer zu stehen. Eisenbahn-Fernverkehr, historisch. Eisenbahn-Schnellstrecken bildeten lange Zeit das verkehrstechnische Nervensystem Europas. Die Züge trugen klingende Namen (der „Étoile du Nord“ etwa, den Kris de Decker als Beispiel anführt, verband seit 1927 Paris mit Amsterdam) und waren Teil eines als selbstverständlich wahrgenommenen Verkehrssystems, das Reisewege über Kilometer - preise abrechnete. Einzig die Zugklassen waren zeitweise exklusiv: Es gab nur die erste Klasse, und das Reisen in diesen Zügen war daher teurer als im Vorortzug. Fast alle Züge aber führten irgendwann auch die zweite Klasse ein und ermöglichten es so, auch ohne allzu gros- sen finanziellen Aufwand durch Europa zu reisen. Die Züge wurden schneller, die Reisezeiten kürzer, und es spielte keine Rolle, ob man seine Fahrkarte Wochen vor Reiseantritt löste oder im Bahnhof, kurz bevor man in den Zug stieg. Seit 1987 verband das Eurocity-Netz, das mit seinen EuroNight-Zügen auch ein Nachtzugangebot vorhielt, 200 Städte in 13 Ländern miteinander. Viele Verbindungen waren nur wenig langsamer als die heute mit grossem Investitions- und Marke- tingaufwand gegen die Flugverbindungen aufgestellten und wesentlich und Feriengäste zielen, insbesondere im innerdeutschen Flugverkehr. Was sich da ankündigt, ist ein weiterer Schritt zur Erhöhung des Flug- aufkommens in Europa, das sich Experten zufolge bis 2030 verdop- peln wird. Ob die Logik des Billigflugs ökonomisch sinnvoll ist, mögen die Fluggesellschaften entscheiden (den Preis von werbeträchtigen „Schaufenster-Tickets“ zu 30 Euro wird man jedenfalls trotz steuerbe- freiten Kerosins und des ausgesparten Service vor allem als Kampf- preis verstehen müssen, bei dem die Airlines draufzahlen). Ökologisch sinnvoll ist diese Logik sicherlich nicht. Vom Flugzeug in den Zug? Gleichzeitig verfolgen die europäischen Bahngesellschaften die auch von der Politik unterstützte Absicht, Flugpassagiere (wieder) auf die Schiene zu bringen. Die vorgebliche Lösung: neue Schnellzüge, die die europäischen Metropolen verbinden und dem Flugverkehr unmittelbar Konkurrenz machen sollen. 10.000 Bahnkilometer wurden schon auf den Schnellverkehr hin optimiert – und das ist erst etwa ein Drittel der in den Investitionsplänen stehenden Strecken. Das alles klingt vorder - hand durchdacht und sinnvoll, denn der Spareffekt im Hinblick auf den CO 2 -Ausstoss ist gross, wenn Abertausende Passagiere nicht fliegen, sondern Bahn fahren, und auch in Sachen Energieeffizienz und Boden- verbrauch zeigt sich der Zugverkehr allen anderen motorisierten Ver - kehrsarten überlegen. Und so werden gerade die Hochgeschwindig- keitszüge in Prospekten der International Union of Railways als „fast track to sustainable mobility“ gefeiert. Die Sache beginnt sich aber längst, schreibt Kris de Decker im „Low-Tech Magazine“, ins Gegenteil zu verkehren. „High Speed Trains are Killing the European Railway Network“, so titelt er einen aktuellen Beitrag und zeigt, wie gerade die bahntechnischen Renommierprojekte die Menschen in die Autos und teureren Hochgeschwindigkeitszüge. Mit deren Einführung aber, zeich- net de Decker nach, begannen die Eisenbahngesellschaften die lang- sameren, aber günstigeren Fernverbindungen zu kappen oder in Hoch- geschwindigkeitsverbindungen umzuwandeln. Die meisten Nachtzüge wurden ersatzlos aus den Fahrplänen gestrichen. Und eine Bahnreise zwischen manchen europäischen Zielen (de Deckers Beispiel sind die Routen von Barcelona nach Italien oder in die Schweiz) ist dabei sogar deutlich zeitaufwendiger geworden, obwohl man nun auf Hochge- schwindigkeitszüge angewiesen ist und mit mehr als doppelt so hohen Kosten rechnen muss. Vom Zug ins Flugzeug! Die Folge ist, so de Decker, dass nun tatsächlich Reisende umsteigen: vor allem Geschäftsleute und solche mit grossem Geldbeutel, und zwar von den teuren Luftlinien in die teuren Hochgeschwindigkeits- züge. Weniger Wohlhabende aber werden angesichts der hohen Ticketkosten und der Tatsache, dass alternative Bahnverbindungen zwar noch existieren mögen, aber häufiges Umsteigen und einen immensen Zeitaufwand erfordern, geradezu in die Pkws und die der - zeit rasant zunehmenden Fernbusse, bei grösseren Entfernungen in die Billigflieger gedrängt. Der Ersatz des langsameren, aber bezahl- baren „Normalfernverkehrs“ durch exklusive Schnellzüge, schliesst de Decker, fördert damit häufig den Flugverkehr, den er doch eigentlich zu reduzieren angetreten ist. Nachhaltige Mobilität sieht anders aus – und auf die so erzeugte Nachfrage können die Billigfluglinien in ihrer nächsten Preisrunde gewiss zählen. Sie finden Kris de Deckers Blog im Internet unter der Adresse www.lowtechmagazine.com

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HausnachrichtenSommer 2014

Flugzwang als Zugzwang?Das „Low-Tech Magazine“ ist ein Internetblog des niederländischen Journalisten Kris de Decker und wartet mehrfach im Jahr mit Artikeln über innere Widersprüche in den Versprechungen des technischen Fortschritts und über die Vorteile einfacher, langerprobter Technik auf. Ausserdem setzt sich de Decker immer wieder auch mit „Ökomythen“ auseinander. Ein aktueller Text basiert auf persönlichen Erfahrungen und stellt die ketzerische Frage: Welche ökologischen Folgen hat die Einführung der modernen Hochgeschwindigkeitszüge im europäischen Schienennetz tatsächlich?

Billigflieger, die nächste Runde.2014, prognostizierte Spiegel Online Mitte Februar, werde das Jahr der Billigflieger. Die nächste Runde im Preiskampf sei eingeläutet; die nach dem ersten Verdrängungswettbewerb auf dem deutschen Markt ver-bliebenen grossen Billig-Airlines schickten sich nun an, den Markt neu aufzuteilen. Neue Strecken sind angekündigt, neue Airlines drängen auf den Markt. Die Flotten werden aufgestockt, und von der Lufthansa wird berichtet, sie stelle nun Zug um Zug inländische und innereuro-päische Flüge auf die eigene Billigflotte Germanwings um. Das Ergeb-nis werden zumindest zeitweise wieder Flugpreise wie vor ein paar Jahren sein, als die Billigflieger aufkamen und man für wenig mehr als 50 Euro, ja gelegentlich für Preise um 30 Euro europäische Gross-städte oder Feriengebiete in Spanien oder Griechenland erreichen konnte – auch und vor allem bei Verbindungen, die nicht auf Touristen

die Flugzeuge treiben. Seine Argumentation ist nicht nur schlüssig und von zahlreichen Quellen belegt, sie ist auch erfahrungsgesättigt: Seit mehr als zwei Jahrzehnten pendelt de Decker regelmässig von Barce-lona (wo er lebt und arbeitet) in die Niederlande (wo er aufwuchs) und ist ausserdem beruflich in ganz Europa unterwegs. Flugreisen hat er dabei gemieden, wann immer es möglich war; seit fünf Jahren verzich-tet er ganz darauf. Und das kommt ihn immer teurer zu stehen.

Eisenbahn-Fernverkehr, historisch.Eisenbahn-Schnellstrecken bildeten lange Zeit das verkehrstechnische Nervensystem Europas. Die Züge trugen klingende Namen (der „Étoile du Nord“ etwa, den Kris de Decker als Beispiel anführt, verband seit 1927 Paris mit Amsterdam) und waren Teil eines als selbstverständlich wahrgenommenen Verkehrssystems, das Reisewege über Kilometer-preise abrechnete. Einzig die Zugklassen waren zeitweise exklusiv: Es gab nur die erste Klasse, und das Reisen in diesen Zügen war daher teurer als im Vorortzug. Fast alle Züge aber führten irgendwann auch die zweite Klasse ein und ermöglichten es so, auch ohne allzu gros-sen finanziellen Aufwand durch Europa zu reisen. Die Züge wurden schneller, die Reisezeiten kürzer, und es spielte keine Rolle, ob man seine Fahrkarte Wochen vor Reiseantritt löste oder im Bahnhof, kurz bevor man in den Zug stieg. Seit 1987 verband das Euro city-Netz, das mit seinen EuroNight-Zügen auch ein Nachtzugangebot vorhielt, 200 Städte in 13 Ländern miteinander. Viele Verbindungen waren nur wenig langsamer als die heute mit grossem Investitions- und Marke-tingaufwand gegen die Flugverbindungen aufgestellten und wesentlich

und Feriengäste zielen, insbesondere im innerdeutschen Flugverkehr. Was sich da ankündigt, ist ein weiterer Schritt zur Erhöhung des Flug-aufkommens in Europa, das sich Experten zufolge bis 2030 verdop-peln wird. Ob die Logik des Billigflugs ökonomisch sinnvoll ist, mögen die Fluggesellschaften entscheiden (den Preis von werbeträchtigen „Schaufenster-Tickets“ zu 30 Euro wird man jedenfalls trotz steuerbe-freiten Kerosins und des ausgesparten Service vor allem als Kampf-preis verstehen müssen, bei dem die Airlines draufzahlen). Ökologisch sinnvoll ist diese Logik sicherlich nicht.

Vom Flugzeug in den Zug?Gleichzeitig verfolgen die europäischen Bahngesellschaften die auch von der Politik unterstützte Absicht, Flugpassagiere (wieder) auf die Schiene zu bringen. Die vorgebliche Lösung: neue Schnellzüge, die die europäischen Metropolen verbinden und dem Flugverkehr unmittelbar Konkurrenz machen sollen. 10.000 Bahnkilometer wurden schon auf den Schnellverkehr hin optimiert – und das ist erst etwa ein Drittel der in den Investitionsplänen stehenden Strecken. Das alles klingt vorder-hand durchdacht und sinnvoll, denn der Spareffekt im Hinblick auf den CO2-Ausstoss ist gross, wenn Abertausende Passagiere nicht fliegen, sondern Bahn fahren, und auch in Sachen Energieeffizienz und Boden-verbrauch zeigt sich der Zugverkehr allen anderen motorisierten Ver-kehrsarten überlegen. Und so werden gerade die Hochgeschwindig-keitszüge in Prospekten der International Union of Railways als „fast track to sustainable mobility“ gefeiert. Die Sache beginnt sich aber längst, schreibt Kris de Decker im „Low-Tech Magazine“, ins Gegenteil zu verkehren. „High Speed Trains are Killing the European Railway Network“, so titelt er einen aktuellen Beitrag und zeigt, wie gerade die bahntechnischen Renommierprojekte die Menschen in die Autos und

teureren Hochgeschwindigkeitszüge. Mit deren Einführung aber, zeich-net de Decker nach, begannen die Eisenbahngesellschaften die lang-sameren, aber günstigeren Fernverbindungen zu kappen oder in Hoch-geschwindigkeitsverbindungen umzuwandeln. Die meisten Nachtzüge wurden ersatzlos aus den Fahrplänen gestrichen. Und eine Bahnreise zwischen manchen europäischen Zielen (de Deckers Beispiel sind die Routen von Barcelona nach Italien oder in die Schweiz) ist dabei sogar deutlich zeitaufwendiger geworden, obwohl man nun auf Hochge-schwindigkeitszüge angewiesen ist und mit mehr als doppelt so hohen Kosten rechnen muss.

Vom Zug ins Flugzeug!Die Folge ist, so de Decker, dass nun tatsächlich Reisende umsteigen: vor allem Geschäftsleute und solche mit grossem Geldbeutel, und zwar von den teuren Luftlinien in die teuren Hochgeschwindigkeits-züge. Weniger Wohlhabende aber werden angesichts der hohen Ticket kosten und der Tatsache, dass alternative Bahnverbindungen zwar noch exi stieren mögen, aber häufiges Umsteigen und einen immensen Zeitauf wand erfordern, geradezu in die Pkws und die der-zeit rasant zunehmenden Fernbusse, bei grösseren Entfernungen in die Billigflieger gedrängt. Der Ersatz des langsameren, aber bezahl-baren „Normalfernverkehrs“ durch exklusive Schnellzüge, schliesst de Decker, fördert damit häufig den Flugverkehr, den er doch eigentlich zu reduzieren angetreten ist. Nachhaltige Mobilität sieht anders aus – und auf die so erzeugte Nachfrage können die Billigflug linien in ihrer nächsten Preisrunde gewiss zählen.

Sie finden Kris de Deckers Blog im Internet unter der Adresse www.lowtechmagazine.com

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© Aufbau Verlag

Eine Art Flaschen­post – Mark Twains „geheime“ Auto­biographie.Es war eine kleine Sensation auf dem literarischen Markt, als 2010 der erste Band der über hundert Jahre nach seinem Tod gesperrten unge-kürzten Autobiographie Mark Twains erschien. 2012 folgte die deutsche Übersetzung – ein wuchtiges Trumm von einem Buch nebst akademi-schem Begleitband, was die Sache etwas kostspielig werden liess. Nun ist für 22 Euro – etwa ein Drittel des ursprünglichen Preises – eine reine

Textausgabe erschienen. Sie bietet auch ohne die wissenschaftlichen Anhänge höchstes Lesevergnügen und zeigt Twain als grossen Humo-risten – und als erstaunlich modernen Zeitkritiker.

Mark Twain: mehr als Tom und Huck.Mark Twain, das ist für viele Leser vor allem der Autor von „Tom Saw-yer“ und „Huckleberry Finn“. Und sicher hätten allein diese beiden Bücher ausgereicht, um ihm einen dauerhaften Platz in der Literaturge-schichte zu sichern. Schon Ernest Hemingway bescheinigte Twain, mit seinem „Huck“ den eigentlichen Anfang und einen bis zu Hemingways Gegenwart noch nicht wieder erreichten Höhepunkt der amerikani-schen Literatur zu markieren. Das mag manchen Leser erstaunen, gilt doch für Twains Mississippi-Epen wie für Swifts „Gulliver“, Defoes „Robinson“ oder Melvilles „Moby Dick“: Gelesen werden diese Klassi-ker häufig in zu „Jugendbüchern“ zurechtgekürzten Leichtversionen, die die literarische Grösse des Originals allenfalls noch erahnen lassen. Dabei ist mit Twain ein vielseitiger Autor zu entdecken – seine Auto-biobiographie ist ein guter Einstieg und reizt schon bald, sich einmal mit den eher unbekannten Seiten seines Werkes zu beschäftigen.

Die „geheime“ Autobiographie.So ganz „geheim“, wie es der deutsche Buchtitel verspricht, ist Twains Selbstlebensbeschreibung nicht, und die mitsamt Vorwort und üppi-gem Kommentarapparat vorgelegte Originalausgabe der University of California verzichtet denn auch in wissenschaftlicher Strenge auf diesen Zusatz. Einzelne Teile daraus waren im Laufe der Zeit schon publi ziert worden. Den ungekürzten Text jedoch hatte der Autor auf 100 Jahre sperren lassen, „wenn ich tot und nichtsahnend und gleich-gültig bin“ (Twain). In dieser Fassung wurde nun ein voluminöser „doorstopper of a memoir“ (New York Times) daraus – und der grösste Bucherfolg der hochakademischen University of California Press in ihrer 60jährigen Geschichte. Mehr als eine halbe Million Exemplare sol-len bisher verkauft worden sein. Das mag daran liegen, dass Twain in den USA ganz zu Recht als Gigant gilt, als erster Weltstar der Literatur. Es liegt aber wohl auch daran, dass Twain hier als Autor auftritt, der über den Rahmen einer Autorenbiographie hinaus die amerikanischen Befindlichkeiten seiner Zeit mit all ihren Träumen und all ihren alb-traumhaften Auswüchsen immer wieder brillant auf den Punkt bringt – und so manches schildert, was auch ein Jahrhundert später noch als Zustands beschreibung des heutigen Amerikas mit all seinen Auswir-kungen auf das Weltgeschehen durchgehen könnte.

Humorist, Vortragskünstler und literarischer Unternehmer.Mark Twain lebte von 1835 bis 1910. Es war die Zeit, die die Vereinig-ten Staaten von einem Agrarland zur ökonomischen Weltmacht führte. Mit seinen Romanen über Tom und Huck verarbeitete er seine eigene Kindheit in Hannibal, Missouri. Als Reiseschriftsteller („Die Arglosen im Ausland“, „Bummel durch Europa“) war er bereits früh zum litera-rischen Superstar geworden, der mit Büchern und Vorträgen ein be-trächtliches Vermögen erwarb. Twain war Geschäftsmann genug, um seinen Marktwert genau taxieren zu können (und hätte den „Scoop“ um seine „Geheimbiographie“ sicher genossen). Er war gewissermas-sen eine ganz und gar amerikanische Version des Poeten und mass seinen Erfolg durchaus auch in gänzlich ausserliterarischen Massstä-ben wie Villenbesitz und Kontostand. Seiner tatsächlichen Bedeutung für die amerikanische Literatur war er sich aber gleichermassen be-wusst, und so glaubte er, der Öffentlichkeit eine Autobiographie schul-

dig zu sein. Gleich mehrfach hat er es im Laufe der Jahrzehnte erfolg-los versucht, bis er gegen Ende seines Lebens zu einem Verfahren griff, das die Gestalt der nun vorliegenden Ausgabe prägt und einen Teil ihres Reizes ausmacht: Ganz gegen seine Gewohnheit diktierte er, und zwar Tag für Tag, „was ihm gerade durch den Kopf rauschte“ (so Harry Rowohlt, der die Autobiographie diesmal zwar nicht übersetzt hat, dafür aber – der Begriff ist mit Bedacht gewählt – kongenial als Hörbuch eingelesen hat). Und so wurde keine Lebensbeschreibung daraus, die etwa – dem amerikanischen Mythos folgend – erzählte, wie aus dem kleinen Dorfjungen Samuel Langhorne Clemens schliesslich der grosse Mark Twain wurde, sondern eine grossangelegte, bisweilen herzerwärmende, immer humorvolle Ansammlung von Anekdoten, Schnurren und Geschichten, die sich vielleicht am besten ebenso un-systematisch lesen lässt, wie sie zustande kam.

Das „vergoldete“ Zeitalter der Spekulationen oder: Wie man mit Schulden umgeht.Dem Aufstiegsmythos von Lumpen zu Reichtümern stand Twain oh-nehin skeptisch gegenüber. Die grossen Vermögen, wie sie sich auch zu Twains Zeit an der Wall Street ansammelten, treffen in der Autobio-graphie immer wieder seine bissigen Kommentare. Schon 1873 hatte er sich gemeinsam mit Charles Dudley Warner in einem Roman über die Schattenseiten des American Way of Life positioniert: „The Gilded Age“ („Das vergoldete Zeitalter“) beschreibt das wirtschaftlich pros-perierende Amerika nach dem Bürgerkrieg als zutiefst von Korruption, Spekulation, Lobbyismus und Egoismus geprägte Gesellschaft, in der auf Kosten einer ausgebeuteten Mehrheit von einzelnen absurd hohe Vermögen aufgehäuft werden. Die Ironie der Geschichte: Auch Twain versuchte später mitzumischen und sein ureigenes Geschäftsfeld aus-zuweiten. So gründete er einen verlustreichen Verlag und investierte Unsummen (auch geliehenen Geldes) in eine Setzmaschine, die nie zur Marktreife gelangte. Im sechsten Lebensjahrzehnt stand er schliesslich als Bankrotteur da. Was folgte, erhob ihn endgültig zum Mythos und mag einen Teil seiner Popularität im gegenwärtigen Amerika ausma-chen: Twain unternahm eine jahrelange, über fast alle Kontinente füh-rende Vortrags- und Lesereise, um mit dem dabei verdienten Geld sei-ne Kredite zu bedienen. Seine schuldenfreie Rückkehr ins heimische Amerika und ein bald darauf erschienener Reisebericht („Dem Äquator nach“) gerieten zum Triumph.

Twain als Zeitkritiker. Zeit für eine Wiederentdeckung.Seinen Lebensabend verbringt Twain als zigarrenrauchendes, in weis-se Anzüge gewandetes Denkmal seiner selbst – und als hellsichtiger Kritiker seiner Gegenwart. Zwischen 1896 und 1906, es ist die Zeit, in der er seine autobiographischen Skizzen diktiert, erscheint eine Reihe von Texten über amerikanische Verhältnisse. Twain widmet sich etwa dem Rassenhass („Die Vereinigten Lynchstaaten“), den Ritualen des Wahlkampfes („Maisbrotüberzeugungen“) oder der zweifelhaften Rolle von Missionaren im Ausland. Titelgebend für den 1906 erscheinenden Essayband ist eine Abrechnung mit dem Kolonialismus. In „König Leopolds Selbstgespräch“ beklagt Twain das grausame Regime des belgischen Königs im Kongo und die amerikanische Verwicklung darin und fordert schliesslich zur Aburteilung des europäischen Monarchen nichts weniger als einen Internationalen Gerichtshof. In Texten wie diesen zeigt sich der sonst so leichtfüssige Humorist Twain als begna-deter Zyniker und aufrechter Moralist. So ist nicht nur in der Autobio-graphie, sondern auch in manchen der hierzulande eher unbekannten Schriften Twains viel Neues zu entdecken. Der deutschsprachige Buchmarkt macht es dem Leser aber nicht leicht. Vom „Tom Sawyer“ und vom „Huckleberry Finn“ gibt es zahlreiche alte und neue Ausga-ben und Übersetzungen (eine Empfehlung, wenn es um „Huck Finn“ geht: die von Michael Patrick Hearn kommentierte Ausgabe mit der Übersetzung von Friedhelm Rathjen, erschienen im Europa Verlag). „Das vergoldete Zeitalter“ jedoch ist lediglich in einer Überarbeitung der Übersetzung von Moritz Busch aus dem Jahre 1876 als Book-on-Demand greifbar, und „König Leopolds Selbstgespräch“ erschien zuletzt 1967 als Bestandteil einer antiquarisch derzeit zwischen 120 und 200 Euro gehandelten Werkausgabe des Aufbau-Verlages – beide Bände haben also selbst schon den Charakter einer Flaschenpost, die es zu heben gilt, um sich bei der Lektüre zu fragen: Hat sich seit Mark Twains Tod viel getan in Sachen Fortschritt des Menschenge-schlechts? Oder ist nicht vielleicht „Das vergoldete Zeitalter“ mit allen darin beschriebenen Übeln eines ausgreifenden Lobbyismus und wie-derkehrender, zunehmend gefährlicher Spekulationsblasen doch, wie es im Untertitel der Originalausgabe von 1873 hiess, „A Tale of today“?

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Der regionale Blick zu Fuss: Schweizer Kulturlandschaften erlebbar gemacht.Der Mensch hat durch seine Anwesenheit die Landschaft auf vielfältige Weise geprägt: Er errichtete Siedlungen und Bauwerke, schuf Wege, Strassen und Handelsrouten, machte Flächen urbar und betrieb Land-wirtschaft, errichtete Handwerks- und später auch Industrieanlagen und vieles mehr. Auf diese Weise entstanden regionale Kulturland-schaften, die in ihrer jeweiligen Zusammensetzung einzigartig und in ihren Zusammenhängen gestaltgewordenes Zeugnis kultureller Iden-tität sind. Wer also mit offenen Augen die Landschaft durchwandert, wird nicht nur die heutige Schweiz wahrnehmen, sondern immer auch historische Relikte, die zumindest interessante Details vermitteln und oft auch grosse Zusammenhänge plausibler machen.

Den Blick dafür zu schärfen, haben sich zwei Wanderführer des Ap-penzeller Verlags zur Aufgabe gemacht. Ausgehend von der uralten Handelsroute von Basel nach Mailand, einem der beiden grossen hi-storischen Verbindungskorridore durch die Schweiz, begleiten sie den Wanderer auf 17 Etappen von 15 bis 20 Kilometer Länge von Basel bis zur schweizerisch-italienischen Grenze im Tessin. Im ersten Band führt die Route in neun Tagesetappen von Basel auf den Gotthard, im zwei-ten Band in weiteren acht Etappen vom Hospiz auf dem Gotthard nach Ponte Tresa am Luganer See.

Unterwegs auf historischen Wegen.Die Wegeführung folgt, soweit möglich, historischen Wegeverläufen, zumeist auf markierten Wanderwegen. „Unzumutbare Strecken, etwa an heutigen Hauptstrassen entlang“, wie es im einleitenden Teil der Bücher heisst, werden in der Regel umgangen. Eingezeichnet ist die Route auf der gut lesbaren Landeskarte 1:50.000. Die Autoren, zwei Historiker und eine Geographin, sind Mitglieder der Arbeitsgemein-schaft Landschaft und Geschichte CH. Sie haben eine beachtliche

Informationsmenge zu geographischen, historischen, botanischen und kunstgeschichtlichen Aspekten längs des Weges zusammengetragen und auf anschauliche Weise für das Wanderführerformat komprimiert. Zudem greifen sie Schwerpunkt themen zur jeweiligen Etappe auf: Ein stetig wiederkehrendes ist etwa der Komplex Wasser, Wassernutzung und Wasserbau.

Die beiden reich illustrierten Wanderführer sind über das Fachbüro für Kulturlandschaft Doerfel (www.doerfel.ch/publikationen) für jeweils CHF 24,00 (beide Bände für CHF 40,00) erhältlich: Christine Doerfel, Thomas Specker, Markus Stromer: Basel–Gotthard. 21 x 14 cm. 184 Seiten, Ringheftung. Appenzeller Verlag 2006. Christine Doerfel, Thomas Specker, Markus Stromer: Gotthard–Ponte Tresa. 21 x 14 cm. 176 Seiten, Ringheftung. Appenzeller Verlag 2007.

Das neue Leben der Wiener Sofiensäle.2001 brannten sie aus, nun wurden sie nach umfangreichen Sanie-rungsmassnahmen wiedereröffnet: Zehn Jahre lang war eine Bürger-initiative damit befasst, für den Erhalt dieses geschichtsreichen Ortes zu werben. Die zwei Jahre nach dem Brand waren dicht besetzt mit immer neuen Entwicklungen und regem Medieninteresse. Der dama-lige Eigentümer beabsichtigte den Abriss, entsprechend machte die Theorie von absichtlicher Unachtsamkeit bei Dacharbeiten die Runde. 2002 wurde die Schutzwürdigkeit der Ruine bestätigt. Danach wur-de es still, und zweimal wechselte der Eigentümer. Heute gehört die Liegenschaft der Soravia-Gruppe, die in ihrem Nutzungskonzept den Erhalt der bestehenden Gebäudeteile einplante und auch gleich den grossen Festsaal wiederaufbauen liess – als Ausstellungshalle.

Die Errichtung der Sofiensäle geht auf den böhmischen Tuchscherer-gehilfen Franz Morawetz zurück, den ein russischer Major auf die Idee gebracht hatte, in Wien ein russisches Dampfbad einzurichten. 1826 zog er mit diesem Plan und dem Geld seiner Frau los, um zunächst in der Marxergasse eine Tuchschererei einzurichten – das Bad eröffnete im Januar 1838. Eine Kammerfrau der Namensgeberin Erzherzogin Sofie gesundete dort während einer Kur, und das Bad wurde populär. Durch die Badelust der Wiener ermutigt, liess Morawetz 1846/47 nach Plänen von Sicardsburg und van der Nüll das Sofienbad neu errichten. Das Wasser wurde durch Röhren direkt vom Donaukanal zum Bad geleitet, gefiltert, gepumpt und erwärmt, so dass die Badegäste gutes, sauberes Wasser vorfanden. Damals wie heute bemerkenswert: Das Schwimmbecken liess sich abdecken, so dass der Saal wahlweise als Schwimmbad oder – mit riesigem Resonanzkörper unter dem Fussboden – als Konzert- und Festsaal zur Verfügung stand. Johann Strauss Vater dirigierte im Januar 1848, am Vorabend der Revolution, den Eröffnungsfestball. 1853 startete der Franzose Godard vom Gar-ten aus zum ersten Flug mit einem Gasballon in Österreich. Um 1860 wurde noch der Blaue Salon mit eigener Fassade errichtet, und 1879 wurden im Grossen Saal Galerien und Logen eingebaut. Die Sezessi-on beeinflusste die spätere Fassade der Sofiensäle zur Marxergasse, ausgeführt 1899. Im Jahr 1906 wurde der Badebetrieb zwar eingestellt, für rauschende Bälle, Konzerte und Versammlungen wurden die So-fiensäle aber weiterhin genutzt. Am 22. März 1912 hielt Karl May hier seinen bedeutenden Vortrag „Empor ins Reich der Edelmenschen“.

Ehrengast war die Pazifistin Bertha von Suttner, und der junge Adolf Hitler sass im Publikum. Der Reinerlös der Veranstaltung kam dem Ob-dachlosenasyl zugute, in dem dieser damals wohnte. Kurz darauf starb Karl May, Hitler aber sollte wiederkommen: am 17. Juni 1922 zu einer Kundgebung der Nationalsozialisten. Zehn Jahre nach Karl Mays Rede für Völkerverständigung, für Pazifismus und gegen rassisch motivierten Chauvinismus läuteten nun hier die Nationalsozialisten „im Donner der Rache“ – nicht zum letzten Mal: Am 4. Mai 1926 gründete man hier die österreichische NSDAP. Nach den Novemberpogromen 1938 dien-ten die Säle als Sammelstelle für zur Deportation bestimmte Juden. Aufgrund seiner bemerkenswerten Akustik durch den eingezogenen Zwischenboden nutzte man nach dem Zweiten Weltkrieg den Grossen Saal für Schallplatteneinspielungen, etwa von den Wiener Philharmoni-kern, sowie als Veranstaltungsstätte. Im Mai 2001 stand fest, dass die geschichtsträchtigen Säle zu einem Hotel umgebaut, der Grosse Saal aber als Veranstaltungsraum erhalten bleiben sollte. Ungefähr so ist es nun geworden, nur etwas verspätet.

Das Eingangsfoyer der Wiener Sofiensäle unmittelbar vor dem Brand Foto: © Alexander Glück

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V.i.S.d.P. Manfred Ritter und Dr. Christopher Heinemann. Manufactum, Industriestrasse 19, 8112 Otelfingen. Redaktion: Markus Althaus, Alexander Glück, Ines Holz, Wolfgang Thoeben.

Planvoll ans Ziel oder planlos mehr erleben?Routenplanung für Velos ist eine zwie spältige Angelegenheit. Einerseits hat der Pedalist die Möglichkeit, spontane Ein drücke und Erlebnisse längs des Weges unmittelbar zu geniessen, besonders wenn er einfach mal links oder rechts abbiegt. Andererseits steigt man ja durchaus auch aufs Velo, um konkrete Ziele anzusteuern.

Vom Für und Wider geplanter Touren.Wer sich einfach im Freien bewegen möchte, beraubt sich mit ei-ner detaillierten Vorausplanung leicht eines Gutteils der Faszi nation, denn der auf einen schmalen Pfad verengte Wahrnehmungshorizont entmystifiziert und entpersonalisiert die Reiseerfahrung. Wie anders gestaltet sich dagegen eine Velotour, wenn man sich mittels einer Landkarte lediglich einen groben Überblick verschafft hat. Abgesehen davon, dass diese Methode ganz nebenbei den Orientierungssinn schult, kann man sich ganz den spontanen Eindrücken widmen. Will man indes ein konkretes Ziel ansteuern, ist exakte Planung im Wort-sinne zielführend. Für diese Fälle gibt es mittlerweile durchaus brauch-bare Planungs- und Navigationshilfen im Internet, die zugleich auch als App für das iPhone und für Android-Mobiltelefone verfügbar sind, mit einem GPS-Gerät betrieben werden können und eine Druckausgabe für Pedalisten ohne elek tronisches Handgerät bieten. Zum Beginn der Velosaison haben wir zwei von ihnen unter die Lupe genommen.

Kostenlos: Naviki.Das privat betriebene Portal Naviki (www.naviki.org) greift in seinen Geobasisdaten auf OpenStreetMap zurück, ein freies Kartenprojekt, das neben den offiziell ausgeschilderten Velorouten auch weitere für das Velo geeignete Wege enthält. Strecken lassen sich nach Kategori-en („Alltag“, „Freizeit/Tourismus“ und „Kürzere Route“) berechnen, und Naviki liefert dazu neben einem Höhenprofil auch eine Energiebilanz in Form von verbrannten Kalorien und gesparten Pkw-Kosten. Die Nut-zung von Naviki ist kostenlos.

Kommode Navigation: Komoot.Im Portal Komoot (www.komoot.de) wählt man zunächst den Velo-typ: „Fahrrad“, „Mountainbike“ und „Rennrad“ stehen zur Wahl. Die Kartengrundlage liefert auch hier OpenStreetMap. Gibt man Start- und Zielpunkt ein, liefert Komoot mehrere Alternativrouten mit Angabe des Schwierigkeitsgrades. Daneben bekommt man Informationen über die anteiligen Strassentypen und den Untergrund. Die Eingabe des eige-nen Fitnessniveaus (von untrainiert bis Profi) berücksichtigt zudem das individuelle Leistungsvermögen. Wegpunkte lassen sich beliebig per Mausklick setzen. Ein weiterer Pluspunkt: Hat man eine Abzweigung verpasst, berechnet die neueste Version der Android-App (demnächst auch der iPhone-App) den Weg vom aktuellen Standpunkt neu – in-klusive aller Wegpunkte. Einziger Wermutstropfen: Für den vollen Funktionsumfang bedarf es einer Anmeldung, und einige Inhalte sind kostenpflichtig.

Böse Dinge. Eine Ausstellung zeigt den schlechten Geschmack.Vor etwas über 100 Jahren stell-te Gustav Pazaurek, Mitglied des Deutschen Werkbunds und profunder Kenner der Kunstge-schichte, einen Kriterienkatalog zusammen, anhand dessen man Geschmack im Kunstge-

werbe bewerten konnte. Er stellte Erzeug-nisse des schlechten Geschmacks in einem von ihm gegründeten Kitschmuseum aus und begründete sein Urteil präzise und bildreich: „Patenthumor“ prangerte er ebenso an wie „Dekorübergriff“ oder „Material-Pimpeleien“. Er zeigte Fehler in Materialwahl, Konstruktion und Dekor auf und stellte „Heldenkitsch“ und „Prunksucht“ bloss. Seine grundlegenden Kenntnisse auf diesem Gebiet veröffentlichte er 1912 unter dem Titel „Guter und schlechter Geschmack im Kunstgewerbe“.

Nun hat das seither vergangene Jahrhundert zahlreiche Umwälzungen in Geschmack, Gewerbe und Gestaltung mit sich gebracht, und manches, was Pazaurek noch hart an-ging, erscheint heute in einem milderen Licht. Und es ist eine sehr interessante Erfahrung, den früheren Ungeschmack mit den Bewer-tungsmassstäben unserer Zeit abzugleichen,

die ja oft geneigt ist, eine Sache allein ihres Alters wegen zu bewerten („gute alte Zeit“, „überholt“ usw.). In der Ausstellung „Böse Dinge“, die noch bis zum 6. Juli 2014 in Wien zu sehen ist, werden historische und aktuelle Positionen einander gegenübergestellt.

Die Ausstellung nimmt Pazaureks Fehlerkata-log als Ausgangspunkt, um aktuelle Gestal-tungstendenzen zu untersuchen. Heutige Produkte werden der alten Systematik un-terworfen und den historischen Objekten ge-genübergestellt. Dem alten Ordnungssystem werden neue Fehlerkategorien hinzugefügt und mit 50 Objekten veranschaulicht – etwa sexistische Gestaltung, Kinderarbeit und Umweltverschmutzung. Die insgesamt etwa 500 Ausstellungsstücke stammen unter ande-rem aus dem Museum der Dinge in Berlin und aus dem Hofmobi liendepot in Wien.

Ausstellungsbesucher haben zudem die Mög-lichkeit, eigene schlecht gebaute, tückische, politisch unkorrekte, überdekorierte, gemei-ne, bizarre, primitive oder unzweckmässige Dinge bis zu einer Grösse von 25 cm (längste Seite) abzugeben. Während der Ausstellung werden all diese verunglückten Objekte in einem eigenen Regal gezeigt. Am letzten Tag der Ausstellung werden sie zugunsten eines wohltätigen Zwecks verkauft.

Weitere Informationen finden Sie im Internet unter www.hofmobiliendepot.at

Foto: © Werkbundarchiv – Museum der Dinge/Armin Herrmann

Endlich auch in Stuttgart: Manufactum brot&butter.In der Lautenschlagerstrasse 16, nur einen Katzensprung vom Stuttgarter Hauptbahnhof entfernt, hat sich sichtbar viel getan. Das Gebäude wurde zur Strasse hin erweitert, und so wie es äusserlich eine neue Gestalt bekommen hat, haben wir es auch im Innern umgebaut.

Dabei haben MAGAZIN® und Manufactum einen Dritten im Bunde bekommen: Ab dem 8. Mai wird es endlich auch in Stuttgart einen brot&butter-Laden geben. Dort finden Sie frische Lebensmittel aus selten gewordener traditioneller Herstellung, unverfälscht im Geschmack und regional und jahreszeitlich geprägt: frisches Brot aus dem Steinofen der eigenen Backstube, richtige Butter, jenseits industrieller Produktion hergestellt, sowie zahlreiche weitere Milchprodukte und Käsesorten, Wurst- und Fleischwaren von tiergerecht gehaltenen, oftmals alten Nutztier-rassen. Im Bistro gibt es Frühstück, selbst-gebackenen Kuchen und Kaffeespezialitäten, die Küche bietet zudem kalte und warme Mittagsgerichte.

Das Manufactum Warenhaus bleibt im Keller mit nunmehr 650 qm Verkaufsfläche, auf der künftig fast unser gesamtes Sortiment Platz findet. Am gewohnten Ort im Erdgeschoss und auf gleicher Fläche präsentiert sich schliesslich auch MAGAZIN® in neuem Glanz.