Spezial Spanner 2011
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Vorwort
Nein, ich baue mir kein neues Bike zusammen und auch keiner
meiner Rahmen soll ein anderes Kleidchen bekommen. Ich werde
mich auf einem ganz anderen Terrain bewegen und einen weite-
ren Spezialspanner schreiben. Schreiben, das wollte ich eigent-
lich nie wirklich. Ich bin eher der Rechner und weniger der
Schreiberling. Ich war letztlich immer dieser überzeugung -
das hat man mir auch all die vielen Jahre immer wieder einge-
trichtert und irgendwann einmal glaubt man auch all die Sprü-
che der Pauker: "Aus dir wird wohl kaum ein Astronaut werden!"
Plötzlich verspürte ich einfach Lust zu schreiben. Erlebt habe
ich eigentlich schon genug, um ein halbes Büchergestell mit
beschriebenem Papier zu füllen. Aber eben nicht das richtige
Erlebte. Und, wenn man nicht berühmt ist, kann man mit seiner
Lebensbeichte kaum einen Blumentopf verdienen. Also, lässt man
es sein. Aber diese Mountainbikes haben mich nicht mehr losge-
lassen und haben mein Leben nachhaltig - eines meiner Lieb-
lingswörter - beeinflusst. Mit dem ersten Aufsteigen auf ein
Mountainbike - gezwungenermassen - hat dann das alles ange-
fangen. Erst das Pedalen und eine paar Jahre später, eben dann
auch das Schreiben. Ein Fahrrad. Kein schnelles Auto oder gar
ein Motorrad. Nein, ein Velo mit groben Stollenreifen. Nicht
einmal ein Tusse kannst du mit so einem Drahtesel abschleppen.
Die Wenigen, die mich nicht für einen ökofuzzi gehalten haben
und mit mir heim kommen wollten, konnte ich nicht einmal auf
den Gepäckträger laden. Diese Mountainbikes waren damals ge-
rade am Aufkommen. Irgend so eine neue Fitnesswelle sei am
überschwappen über den grossen Teich, erzählte man sich. Das
ist nun schon fast 20 Jahre her. Ich habe nicht nur Freude am
Radfahren, sondern dazu noch Freunde gefunden - Freunde fürs
Leben. Freunde mit der gleichen Leidenschaft, Freunde auf der
gleichen Wellelänge. Jeder von uns könnte in der Erscheinung
nicht unterschiedlicher daher kommen. Würde man uns aber
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Irgendwo am Bernia 2010
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nebeneinander in den Sand drücken. Würden wir den gleichen
Abdruck hinterlassen. Es passt ganz einfach. Wir sind die Juraz.
Zu unserem Jubiläum soll es also einen weiteren Spezialspanner
geben. Aus meiner Sicht, durch meine Augen, aus meinen Gefühlen
und Gedanken. Genau 60 Seiten - da ist er der Rechner - vieles
aus meinen letzten zehn Jahren als Juraz und auch über meine
Velofahrerei davor und wie ich überhaupt dazu kommen bin.
Zwischenzeitlich habe ich den 13. Spanner geschrieben. Ich
weiss, jeder freut sich immer über die neuste Ausgabe, auch, wenn
es mir keiner mehr sagt. Mein Leben als Juraz, eine wahre Ge-
schichte, die nun schon zehn Jahre andauert. Also, wenn das
keine Gelegenheit ist, meine ersten Memoiren auf Papier zu
bringen. Ob das das richte Vorgehen ist, eine Geschichte zu
schreiben, weiss ich doch nicht. Wenn ich hätte Schriftsteller
werden wollen, dann hätte ich das gelernt. Trotzdem, es macht
mir einen Heidenspass und zwischenzeitlich hat das Schreiben
eine therapeutische Form angenommen, ohne die ich wahrschein-
lich meinen Arbeitsalltag kaum schaffen würde. fä2 machte bei
meiner Ankündigung bereits Ansprüche geltend: Er will keine
alten Geschichten lesen, die bereits in den Spannern gedruckt
waren. Damit kann ich natürlich nicht dienen. Es wird sicher
eine Menge neues Zeugs drinstehen, aber auch die alten Ge-
schichten werde ich neu aufwärmen und wieder auf den Tisch
stellen. So wie ich euch kenne, hat eh keiner wirklich eine Ah-
nung, was ich alles im Verlauf der letzten Jahre aufgeschrieben
habe. Es wird euch also neu erscheinen. Ihr werdet staunen über
all das Erlebte, und ihr werdet euch erinnern. Ihr ward und seid
ein Teil meines Daseins. Die Kurzfassung meines Lebens, geprägt
von Pedalen, Ketten, Ritzeln und blauen Flecken und Schürf-
wunden. Nichts als die Wahrheit und nur die Wahrheit. So sei es.
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6. März 1967 - Ankunft
53cm und 3550g. Zu schwer für die Grösse oder zu klein für das Ge-
wicht. Ein Mädchen oder ein Junge? Ein Schwinger!
1968 bis 1969 - Baumkronen
An Radfahren war natürlich zu dieser Zeit kaum zu denken. Ich
war den ganzen Tag über ausschliesslich damit beschäftigt,
meine Eltern zu stressen, in die Hosen zu scheissen und zu nu-
ckeln. Gross anstrengen musste ich mich nicht. Ich lag im Kin-
derwagen und wurde durch die Botanik geschoben. Dem sagen wir
heute shuttlen. Auch nicht schlecht. Eine Vorliebe, die ich beim
überschreiten der Forty-Line wieder entdeckte habe. Aus dieser
Zeit ist mir auch der Blick in die Baumkronen geblieben. Damals
meine einzige Beschäftigung und heute der erste Blick nach
einem Abgang über den Lenker. Ich liebe Baumkronen.
1970 bis 1981 - Bonanza
An meine ersten Fahrräder kann ich mich noch gut erinnern. Da
war mein Dreirad, das ich aus dem Sperrmüll gefischt habe. Weis-
se Reifen, rostige Achsen und abgeschossenes Blau. Aber es war
meins und es hatte diesen unverkennbaren Sound, das leise
Quietschen der drehbaren Teile und das laute Rumpeln der Voll-
gummibereifung. Ist es heute normal, dass die Kids von ihren
Gotten und Göttis oder von den Grosseltern ein solches Dreirad
bereits vor der Geburt geschenkt kriegen, war das zu meiner Zeit
nicht wirklich angesagt. Fahrräder waren gerade mega ausser
Mode. Das Auto regierte noch mehr als heute. Wer etwas war, hatte
eine fette Karre, die er dann während den ölkrisen 73 und 79 auf
seinem Vorplatz rumstehen hatte. Mein dreirädriger Klunker
hatte mit den Saudis nie was am Hut. Mein Treibstoff waren Ra-
violi und der Motor meine Waden. Klar, heute hat eine Familie
mindestens drei Kisten auf dem Vorplatz stehen. Aber, mir
scheint aktuell ein Trend hin zum Fahrrad erkennbar - ein Sil-
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berstreif am Horizont. Ich hatte ein paar solcher Gokarts, auch
mit Pedalen und Kettenantrieb, aber eben kein Velo. Der arme Bub
muss doch nicht mit einem Dreirad rumkurbeln. Wir sind
schliesslich wer, der braucht ein Auto. Wir fahren mit dem Auto,
ist der Weg auch noch so kurz. Was würden denn die Nachbarn
über uns denken. Damals musste man die ausgedienten Alltagsge-
genstände nicht zu einer eigens dafür geschaffenen, offiziel-
len und dem Material zugeordneten Rücknahmestelle bringen,
um sie loszuwerden. Man stellte das Zeugs einfach an die Strasse
und, wenn dann im ganzen Dorf der Schrott überhand zu nehmen
drohte, organisierte die Gemeinde einen Traktor mit Anhänger,
sammelte den ganzen Mist ein und entsorgte ihn im nahe gele-
genen Wald in einer Grube. Später hat man dann einen schönen
Deckel darauf geschlagen und Tannen gepflanzt. Aus den Augen
aus dem Sinn. Wenn ich heute durch das Dorf meiner Kindheit
fahre, erkennt man den Ort der alten "Tschutti" nicht mehr. Die
Tannen darauf ragen mindestens 20 Meter in den Himmel. Da soll
einer sagen alter Schrott sei schlecht für das Pflanzenwachs-
tum. Heute steht da über meinem Dreirad einfach ein Stück Wald.
Aber, ich weiss ganz genau in welcher Ecke meine ersten Fahr-
räder begraben liegen. In unserem Dorf lag eigentlich immer
irgendwo entlang der Strasse Alteisen und Sperrgut herum. Dar-
unter natürlich auch jede Menge Fahrräder. Die wurden nicht
mehr gebraucht, man hatte ja jetzt eine Karre. Aber für mich war
das das Paradies. In so einem Haufen habe ich eigentlich immer
etwas Brauchbares gefunden. Sehr zum ärger meiner Eltern. In
den Augen der Erwachsenen Abfall, für mich aber die grössten
Schätze meiner kleinen Welt. Da hatte ich dann eben auch mein
erstes Dreirad gefunden und sofort nachhause mitgenommen.
Stundenlang konnte ich damit um unser Haus fahren. Von der
Sanitärwerkstatt ging es über eine kleine Rampe in die Blech-
werksatt, auf den westlichen Vorplatz hinaus, dann auf der
Hauptstrasse - dort konnte man zu dieser Zeit als Kind noch
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Bikemarathon in Willingen 2001
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fahren ohne gleich platt gemacht zu werden - auf den östlichen
Werkstattplatz und wieder hinein in die Sanitärbude. Ich habe
es geliebt, mein Dreirad. Dann, das erste kleine Velo mit Stütz-
räder. Auf dem habe ich mir das Fahren auf mindestens drei Rä-
dern bis zur Perfektion antrainiert. Immer leicht schräg und
bloss nicht das Gleichgewicht finden. Als Lusche würde ich mich
nicht bezeichnen, eher als effizient. Von vier Reifen drei ge-
nutzt. Ich glaube, ich sitze noch heute schräg auf meinem Bike.
Trotzdem habe ich Stunden darauf verbracht. War auch immer
wieder ein neues Stück Freiheit. Der Bewegungsradius nahm mit
der Velogrösse zu. Meine Ausfahrten wurden immer länger und
die Ausflüge führten mich immer weiter weg von zuhause und
hinein in die grössten Abenteuer. Irgendwann einmal, kam dann
bei meinen Eltern doch noch die Einsicht. Sie zeigten Erbarmen,
oder sie konnte einfach nicht damit leben, dass ich auf Schrott
im Dorf herumkurbelte, das hatten wir doch nicht nötig, und
machten mir einen Vorschlag: Neues Velo gegen den alten Klun-
ker. Aber erst musste ich mein fahrerisches Können auf nur zwei
Rädern unter Beweis stellen. Die Stützräder wollte ich um kei-
nen Preis von meinem kleinen Velo abmontiert haben. Mein Vater
hat unzählige Versuche unternommen, die Dinger zu entfernen,
damit ich endlich richtig Radfahren lernen würde. Ohne Erfolg.
Es endete immer in Zetermordio. Was man zu dieser Zeit definitiv
nicht wollte, war keine Karre auf dem Vorplatz und ein schrei-
ender Balg in der öffentlichkeit. Was würden die Nachbarn dazu
sagen? Also, steckte er den Steckschlüssel immer gleich wieder
weg. Dann halt mit List, wird er sich gedacht haben und machte
mir eben den Vorschlag - den alles verändernden Vorschlag. Ei-
nes schönen Morgens nahm er mich an seine Seite und meinte:
"Wenn du es schaffst, bis am Abend ohne die Stützräder auf dem
Fahrrad Runden ums Haus zu drehen, dann hast du im Veloladen
freie Wahl. Diesen Vorschlag sollte mir heute jemand machen.
Vielleicht würde ich dann endlich den Bunnyhop lernen, oder
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auf dem Hinterrad zu fahren. Aber das tut natürlich niemand.
Also, habe ich mir jeden Bitzen Haut an den Knien und an den
Ellbogen abgeschürft, den ganzen Tag über unter unvorstellba-
ren Schmerzen gelitten und einen heroischen Kampf gegen mei-
nen inneren Schweinhund geführt. Als mein Vater, dann gegen
Abend nachhause kam, sass sein Spross auf dem Velo und drehte
Runden ums Haus ohne die Krücken. Augenblicklich wurde ich
verladen und nach Wangen zum Renggli gekarrt. Ein Mann ein
Wort. Renggli hatte zu dieser Zeit den einzigen Laden für Velos
in der weiteren Umgebung. Allerdings standen mehr Töffli, Ra-
senmäher und Kettensägen bei ihm rum, als Velos. Trotzdem fand
ich das schönste Velo, das ich jemals gesehen hatte. Ein Mondia.
Das könnte mir heute nicht mehr passieren. Mondia? Für mich?
Soll mir jetzt keiner kommen und die Mondialuschen in Schutz
nehmen. Das hat nichts mit Rivella, Ricola und Ovomaltine zu
tun. Die spielen in einer anderen Liga. Jahre später werden die
die Mountainbikewelle einfach am Strand aussitzen. Bloss nicht
aufs Brett stehen und die Welle reiten. Die ganze Zeit über die
schönsten Berge vor den Augen, aber keine Idee, was man damit
anfangen könnte. Erst the supids aus übersee mussten es vorma-
chen. Kann ja passieren, dass man einen Trend verschläft. Wenn
dann einem aber gezeigt wird, wie was geht oder was wie zu tun
ist, sollte man dann schon in die Puschen kommen und wenigs-
tens mitziehen und so tun, als hätte man es erfunden. Aber
nicht einmal das werden sie auf die Reihe kriegen. Später dann,
zog ich ein Bonanza aus einem Schrotthaufen. Gold mit Glimmer,
jede Menge verchromter Teile und eine weisse Sitzbank. Zugege-
ben, wirklich weiss war sie nicht mehr. Aber für mich das
schönste Weiss. Eine richtige Zuhälterkarre für Dreikäsehoche.
Der hintere Reifen gross und breit und vorne klein und schmal.
Geschaltet wurde auf dem Oberrohr mit einem Schalthebel, der
auch in einem Ford Mustang hätte eingebaut sein können. Auto-
zubehör eben. Auf dem Bonanza habe ich die ersten Tussen abge-
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schleppt. Ich habe sie vor mir auf der Sitzbank Platz nehmen
lassen und ab mit ihnen hinters Schulhaus, wo die Büsche höher
waren. Ein bisschen spüren und ein bisschen drücken, ein biss-
chen entdecken und dran rum schnuppern, dann wieder zurück,
um sie auszutauschen. Schliesslich wollten auch all die ande-
ren Mädchen auf dem goldig glimmernden Bonanza-Ross ums
Schulhaus gefahren werden. Die Bonanzas sind heute der letzte
Schrei. Zu meinem Erstaunen habe ich die Liebhaberpreise für
solche Bikes zur Kenntnis genommen. Hätte ich das Teil vor
Jahren nur nicht wieder der Grube im Wald überlassen. Ich könn-
te mir heute ein richtiges Bike dafür kaufen. Aber über solche
Wenn und Aber darf ich gar nicht erst nachdenken, denn sonst
würde ich mir Gedanken über die Summe machen, die ich bis heute
in sinnlose und qualitätsfreie Produkte gesteckt habe. Was ich
mir für diese Summe kaufe könnte, kann ich mir kaum vorstellen.
Dann kamen diese Halbrennersachen. Wieso eigentlich Halbren-
ner? Klar, diese Halbrenner hatten mehr Gänge, als die herkömm-
lichen Alltagsvelos mit drei, aber nur halb so viele wie ein
richtiges Rennvelo. Ist es deshalb nur ein Halbrenner? Jeden-
falls konnte man sich mit einem Halbrenner deutlich von den 3-
Gang-Normals abheben, und das ohne grossen Trainingsaufwand
und Schinderei. Um ein richtiges Rennvelo zu fahren, also ein
ganzer Renner zu sein, musste man dann schon was bieten. Zur
Schule musste ich zu Fuss gehen. Es war verboten mit dem Velo
anzureisen - wieso auch immer. Dann wechselte ich zum ersten
Mal - und nicht zum letzten Mal - die Schule. Es ging nun täg-
lich ins vier Kilometer entfernte Nachbardorf, natürlich mit
einem Halbrenner. Vor dem Schulgebäude stand ein überlanger
Veloständer, in dem man seinen Drahtesel unterstellen musste.
Das Mekka für Ersatzteileklauer und Sattelschnüffler. Eigent-
lich hatte immer was gefehlt an den Velos. Am Morgen hinge-
stellt und am Mittag hatte der Halbrenner schon wieder Tu-
ningpotential. beklaut haben uns all die Habenichtse mit nur
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Juraz 2005, vor dem Aufbruch zu einer der legendären Juraz-Touren
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drei Gängen, war ich jedenfalls all die Jahre der überzeugung.
Meine Eltern hatten beim Renggli eine Monatsrechnung für
mich. Auf dem Nachhauseweg ging es dann noch schnell dort
vorbei. Ich habe niemals erlebt, dass der Renggli kein passendes
Teil im Regal oder der Schublade hatte. Die Reparatur oder der
Ersatz eines Veloteils ging immer ganz fix. Jetzt im Nachhi-
nein finde ich das eigentlich schon merkwürdig. Er hatte immer
gleich das passende Teil parat. Er musste dafür nicht einmal ins
Lager mit den Ersatzteilen gehen. Als hätte er auf uns Beklau-
ten gewartet. Auch die Rechnungen kamen immer ganz fix am
Monatsende, was jeweils zu regen Diskussionen führte. Mit den
Haaren am Sack kam dann auch die Ohnmacht. Velo zu fahren war
nicht wirklich angesagt und konnte nicht der Sinn eines so
jungen Lebens sein. Man war ja kein kleines Kind mehr, und Ve-
los waren definitiv Kinderkram. Die älteren Schüler fuhren
täglich mit diesen obercoolen Töffli vor. Das war schon was an-
deres. Glich das Anfahren des Schulgeländes mit dem Velo eher
einem Anschleichen, war das mit diesen Maxis und Ciaos schon
eine ganz andere Liga. Einer Parade gleich, fuhren die älteren
Schülern an uns staunenden und bewundernden Unterklässlern
vorbei. Sie machten Krach, stanken zum Himmel und man musste
sich nicht anstrengen. Das brachte die Kacke in unseren rot-
grünen Paukern gehörig zum Dampfen. Immer wieder holten sie
zum Rundumschlag gegen diese Verwahrlosung aus. Verbote wur-
den ausgesprochen und Strafen angedroht. Der Erfolg war mäs-
sig bis vernachlässigbar. Man hat dann halt den Sackgeldver-
dunster beim Aldo Saita ums Haus abgestellt. Als Italiener, der
all die Vespas in den Gassen von Palmero vermisste, war er für
jedes bisschen Motorenlärm und unverbleiten Gestank dankbar.
Jedenfalls liess er sich vom Lehrerpack nicht dreinreden, was
bei ihm auf dem Gelände ums Haus alles abgestellt werden durf-
te. Dann wurde ich endlich auch 14 und machte die Töffliprü-
fung. Das Velo war rasch vergessen. So ist das mit der Liebe, sie
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kommt und geht. Sie ging - für eine lange Zeit. Aber, wie der
Oberchinese Konfuzius zu sagen pflegte: "Was du liebst, lass
frei. Kommt es zurück, gehört es dir - für immer." Meine Liebe war
lange weg, liess sich endlos Zeit, aber sie kam zurück - und sie
blieb.
1982 bis 1991 - Dunkles Zeitalter
Geschichte war eines meiner Lieblingsfächer in der Schule. Ne-
andertaler, Pfahlbauer und die Römer haben mich fasziniert. Was
die alles drauf hatten und schon alles wussten. Grossartige bau-
liche Leistungen haben sie mit primitivsten Werkzeugen und
Materialien vollbracht. Wirklich fasziniert, konnte ich den
Ausführungen der Pädagogenpfeifen zuhören. Wir arbeiteten uns
durch die Zeitalter und irgendwann gelangten wir im Mittelal-
ter an. Das dunkle Zeitalter schlechthin. Ich konnte es nicht
verstehen. Nach diesen hoch entwickelten Zivilisationen, tau-
chen dann plötzlich diese beschissenen Ritter auf. Die Mensch-
heit schien abzusacken. Keine Wasserversorgungen, keine Kana-
lisationen. Hygiene war ein Fremdwort für die gepanzerten Pen-
ner. Während die Ritter in ihren Burgen über ihre eigenen
Hausfassaden geschissen haben, schafften es die verlausten Un-
tertanen gerade einmal vor die eigene Haustür. Die Pest wütete.
Ich bin überzeugt, die Menschheit schrammte während dieser
Zeit sehr nahe am Verschwinden von diesem Planeten vorbei. Ich
konnte nicht begreifen, dass die all diese grossartigen Errun-
genschaften unserer Vorfahren vergessen hatten. Im Nachhinein
vielleicht doch ein wenig. Denn, auch ich hatte mein dunkles
Zeitalter. Damit will ich nicht sagen, dass ich keinen Spass
hatte in dieser Zeit - ganz im Gegenteil, ich hatte jede Menge
Spass. Wein, Weib und Gesang und zwar genau in dieser Reihen-
folge. Aber irgendwann kamen dann bei mir die Einsicht und das
Halt-rechts-umkehrt. Ebenfalls wohl im letzten Moment vor dem
Verschwinden von der Mattscheibe. Das Wort Sport hatte ich aus
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Irgendwo im Thal hinten Juli 2010
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meinem Wortschatz getilgt. Velofahren war nun definitiv das
Letzte, was ich wollte. Meine damaligen Kumpels kifften sich
ausnahmslos ihre Rüben voll. Anstatt irgendwo in den Ausgang
zu gehen, haben sie sich Joints so gross wie Schultüten gedreht
und sich Schwarzer Afghane oder Roter Marokkaner durch die
Lungenflügel gefiltert. Das Ergebnis war ernüchternd. Sie la-
gen bereits nach kurzer Zeit rum, wie tote Fliegen, lallten zu-
sammenhangslose Wortfetzen und kicherten stundenlang wie
blöde. Für mich war das nichts. Nicht, dass ich nicht auch ein-
mal an einem Joint gezogen hätte, aber ich habe das Zeugs noch
weniger vertragen, als meine ehemaligen Kumpels. Nur, während
sie kicherten, musste ich kotzen. Meine Unverträglichkeit auf
alles Gerauchte, zeichnete sich schon früh ab. In der Schule
nicht zu rauchen kam dem Selbstmord gleich. Die soziale äch-
tung schlechthin. Nicht rauchen, nicht cool. Man hatte ganz
einfach nicht dazu gehört - jedenfalls nicht zu denen, die man
für cool hielt. Nur, keiner von denen damals vermeintlich Coo-
len ist heute auch nur annähernd mehr wert als ein Flaschen-
pfand. Aber das weiss ich natürlich erst heute im Rückblick. Al-
so, habe ich selbstverständlich versucht, ebenfalls an diesen
Glimmstängeln zu nuckeln. Bevorzugt taten wir das in der
Eichwaldhütte. Wenn man heute in den Eichwald geht, fallen ei-
nem die grossen Bäume auf. Ist ja klar, ich habe diese auch
reichlich bei jeder Raucherübung gedüngt. Spätestens nach dem
zweiten oder dritten Zug habe ich mir die Seele aus dem Leib ge-
reihert. Rasch einmal kam ich zu der überzeugung: Lieber un-
cool, als die ständige Kotzerei. Ich suchte mir neue Freunde. In
den letzten Jahren meiner dunklen Zeit, habe ich dann noch
versucht, mich zu einem Rockstar zu mausern. Der Erfolg blieb
aus - kaum zu glauben. Meine damaligen Bandkollegen sehen
heute immer noch genau gleich aus, wie damals. Gleiche Klamot-
ten, gleicher Haarschnitt und die gleichen beschissenen und
zurückgebliebenen Einstellungen, und, sie haben immer noch
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die hässlichsten Weiber im Schlepptau. Einer der Gründe, warum
sie mich aus der Kapelle geworfen haben. Ich hatte einfach die
besseren Hühner. Das alleine hätte ja noch nicht ausgereicht
mich zu feuern. Ausschlaggebend war wohl, dass ich sie bei jeder
sich bietenden Gelegenheit darauf aufmerksam gemacht habe.
Mein Rauswurf war ein reiner Glücksfall, kann ich da im Nach-
hinein und aus zeitlicher Distanz nur sagen. Ich war mit Kro-
kus auf Schweizer Tour. Nicht als Bandmitglied, obwohl ich da
ganz gut hätte mithalten können, zu dieser Zeit bestand die
Truppe, ausgenommen einem Ur-Krokus, nur aus Talentfreien. Ich
war Security. Switchmaster behaupt felsenfest, dass er mich an
einem Krokus Konzert zum erst Mal gesehen hatte. Er habe mich
an der Eingangskontrolle ausgemacht und umgehend und ab-
schliessend für ein Arschloch gehalten. Es muss wohl etwas
Wahres dran sein, wenn man sagt, die besten Freundschaften
Gründen auf Vorurteilen. An ihn kann ich mich nicht erinnern.
Rückblickend war er zu diesem Zeitpunkt vom Biken mindestens
einen Anstieg weiter entfernt als ich. Dass er heute ein radikal
fundamentalistischer Anhänger des Geländeradsports ist, nehme
ich auf meine Kappe, dazu habe ich ihn gebracht. Auch, dass er
noch heute auf die falsche Bikemarke setzt, ist wohl auch zu ei-
nem grossen Teil mein Verdienst. Es wurde also Zeit, nach dem
Leuchtturm in rauer See zu suchen. Ich fand die Erleuchtung.
Juni 1992 - Erleuchtung
Es wurde taghell, und das gegen 21 Uhr. Ich war auf dem Weg in
den Chutz, um mich mit Freunden zu treffen. Natürlich war ich
spät dran und natürlich hatte ich einen Frührentner so Mitte
Dreissig vor mir. Er versperrte mir in meinem weissen Peugeot
205 GTI die freie Fahrt und ging mir tierisch auf den Sack. Ich
war jung, kugelsicher und hatte ganz bestimmt die schnellere
und geilere Kiste unterm Arsch als der Schlaffi. Also, habe ich
ihn bereits auf der Autobahnausfahrt überholt, dafür sind ja die
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Pannenstreifen gedacht, habe auf dem Zubringen gegen die Stadt
alles aus meinem 205 GTI herausgeholt. Auf der Höhe Kino Canva
setze Angus Young gerade zu seinem Gitarrensolo an, als mich
der Blitz aus heiterem Himmel traf. Die Erleuchtung kommt ei-
gentlich immer über mich, wenn AC-DC meine Trommelfelle bear-
beiten. Nur eben nicht mit dieser Intensität und niemals in ei-
nem rötlichen Licht. Die Stopp-Polizei-Kelle hat mich dann in
die Wirklichkeit zurückgebracht. Scheisse, das waren keine Au-
rora Borealis und auch kein AC-DC-Orgasmus. Es waren die Solo-
thurner Kantonsbullen. Einen Monat musste ich den Lappen ab-
geben. 30 Tage sind eine lange Zeit, wenn man täglich einen Ar-
beitsweg von 17 km zurückzulegen hat - in eine Richtung wohl
gemerkt - und man das Auto für den unverzichtbaren Männlich-
keitsbeweis hält. öffentliche Verkehrsmittel gab es zu dieser
Zeit höchstens in Basel, Zürich, Genf oder Bern. Uns Landeinern
war so was gänzlich unbekannt. Also, der naheliegendste Ausweg
war, mit dem Moped zur Arbeit. Nur hatte ich kein solches und
keine Kohle - und auch nicht wirklich Bock auf diesen sozialen
Abstieg - mir kurzerhand eines zu besorgen. Zum Glück war Som-
mer und zum Glück konnte ich schon damals Buddha zu meinen
Freunden zählen. "Irgendwo habe ich noch ein Rennrad im Kel-
ler", meinte er und zog aus, mir sein altes Rennrad aus dem Kel-
ler zu bergen. Rahmengrösse S - maximal. "Da kann man schon
noch was machen" und fuchtelte mit einem Steckschlüssel vor-
meinem Gesicht rum. Ja, zu dieser Zeit schraubte man mit Steck-
schlüssel und Rollgabelschlüsseln an Fahrrädern herum. Ich
glaube, der Imbus sollte erst noch erfunden werden. Also haben
wir versucht, das Kindervelo auf meine Körpergrösse abzustim-
men. Es muss furchtbar ausgesehen haben. Buddha hat sich aber
nichts anmerken lassen. Dafür meinen Dank. Rasch war auch
klar, dass ich nicht wirklich der Radfahrer war - und bin. Zu
gross, zu breit und zu schwer. Trotz all den Jahren und tausende
Kilometer auf dem Bike, hat sich das kaum geändert. Der "Prügel"
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Röti Mai 2004 (mit Buddha im Hintergrund)
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liegt in meinen Genen. Wie viele Male habe ich schon die glei-
che Reaktion erlebt, wenn ich, gefragt nach meiner sportlichen
Ertüchtigung, Mountainbike angeben habe. Immer dieser un-
gläubige und meist auch mitleidige Blick des Gegenübers. "Du
Radfahrer?" Natürlich nur in Gedanken. Nur Wenige haben es je-
mals gewagt, ihren ersten Gedanken, frei auszusprechen. Dafür
bin ich nun einmal zu gross. Natürlich hat meine Erscheinung
auch Vorteile. Was musste ich mir schon alles anhören. Deutsche
Freunde mit ihren deutschen Freunden, die sich mit Personal-
trainer auf einen Kurzstreckenmarathon in Willingen vorberei-
tet hatten. Wir sassen am Abend vor dem grossen Run zusammen
beim Chinesen. Was für Geschichten wussten diese Blindgänger
zu erzählen. Acht Monate Vorbereitung für knappe 40km in fla-
chem, weinig anspruchvollem Terrain. So was spule ich an einem
Samstag mal schnell ab. Mein ehemaliger Homerun von zuhause
auf die Buechmatt, rüber zur Schmiedenmatt und über die Teufele
wieder runter und nachhause, war dagegen die reinste Achttau-
sender-Besteigung. Dann, nachdem sie ihr Pulver verschossen
hatten, sollten doch auch noch wir Schweizer, Buddha, Switch-
master und ich, zu Wort kommen. Bereits nach meiner Ansage,
dass ich am kommenden Tag ebenfalls am Start sein werde, löste
einen leichten Anflug von Belustigungen bei den Germanen aus.
Siegessicher werden sie sich ins Bett gelegt haben. Schliesslich
hatten sie sich monatelang von einem privaten Drillsergant
auf diesen Event hin schleifen lassen. Gemessen an der Kohle,
die sie dafür aus dem Fenster geschmissen haben, war ihnen min-
destens eine Rangierung unter den Top Five sicher. Trotz mei-
ner hohen Startnummer und der damit verbundenen Aufstellung
in der letzten Startergruppe, hatte ich die ersten deutschen
Freunde schon nach kurzer Zeit überholt. Die hatten nicht ein-
mal Zeit sich an mich zu erinnern. Buddha und Switchmaster
sind meine Zeugen, das es so war. Aber, ich bin abgedriftet. Zu-
rück zu meinem ersten wirklichen Fahrrad. Buddha hatte also
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alles in seiner Macht stehende unternommen, mir einen fahrba-
ren Untersatz bereitzustellen, den mir das Schweizer Strassen-
gesetz für die kommenden 30 Tage erlaubte. Ich fuhr Fahrrad,
weil ich musste, aber ich hatte den Virus bereits in mir, und er
wirkte. Seit dieser Zeit kann ich nicht mehr ohne sein. Ich habe
mich damit abgefunden, als Schwinger abgetan zu werden. Noch
heute höre ich immer wieder den gleichen Spruch: Ist halt
nicht gemacht für 120kg. Aber, es gibt auch noch die andere Sei-
te dieses Stempels. Bis heute haben mich nur ganz wenige im Ge-
lände abgehängt. Ich musste schon Jahre warten, bis ich Glei-
che gefunden habe, die mich fordern, und das immer wieder. Das
tun bis heute nur die Juraz und vielleicht zwei oder drei ande-
re Typen. Ansonsten sehen mich die Nobby-Nic-Piloten nur von
hinten, und das mit einem Endurobike. Wenn ich eine dieser Lu-
schen im Anstieg überhole, kommen denen regelmässig die Trä-
nen. Wenn man dann noch die Figur von Abderhalden hat, den
übergrossen Bikerrucksack voll gestopft mit Protektoren auf
dem Rücken trägt, einen unfahrbaren und 18 kg schweren
Slopstyle-Bikepark-Downhill-Freerider den Berg hoch drückt
und unrasierte Beine hat, werden sie hysterisch. Richtig grau-
sam wird es dann aber erst, wenn ich ihnen sage, dass ich vor ei-
ner knappen halben Stunde schon mal oben war. Aber bis das so-
weit war, musste ich noch tüchtig strampeln und leiden. An
meinem Arbeitsplatz hatte ich bereits vorsorglich, wohl wis-
send, dass es länger dauern könnte, meine spätere Ankunft in
den kommenden Tagen angemeldet. Meine erste Fahrt von zuhause
ins Büro zeigte mir bereits deutliche Grenzen auf. Meine Kondi-
tion war lausig, oder man hätte auch einfach sagen können,
nicht existent. Aber der Samen war in der Erde, und diese Erde
war erstaunlich fruchtbar. Bereits nach der ersten Woche habe
ich angefangen, bewusst zu pedalieren. Es hatte sich gut ange-
fühlt und auch irgendwie richtig. Die 30 Tage vergingen wie im
Flug. Das Strassenverkehrsamt schicke mir den Lappen zurück
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und ich konnte das kleine Rote Buddha wieder in den Keller
stellen. Nichts war wie vorher. Zwar habe ich mich gleich wie-
der ins Auto gesetzt, aber der Drang zum Radfahren wollte nicht
schwinden - im Gegenteil - es fing erst recht an zu jucken.
1992 bis 1996 - Aufbruch
Mountainbikes. Breeze, Ritchey, Fisher, Sinyard und andere.
Diese Namen sagten mir herzlich wenig. Aber ihre Velos, Moun-
tainbikes genannt, haben meine Augen leuchten lassen. Mein
erster Händler des Vertrauens war ein Motorradfreak. Er fuhr
Töffrennen auf Rundstrecken, war auf Motocrosspisten unterwegs
und bestritt auch Viertel-Meile-Rennen auf dem Motorrad. Er
fuhr immer die neusten Maschinen und hatte auch sonst einen
guten Draht nach übersee. Er stellte sich die ersten Bikes von
Scott ins Schaufenster. Diese kamen damals noch aus den Verei-
nigten Staaten, wo Scott vor allem unter den Motocrossern einen
Namen hatte. Die ersten Bikes, die auch nach Bikes aussahen. Na-
türlich konnte man sich vorher so einen Klunker von Sinyard +
Co ordern. Aber, sind wir ehrlich, die sahen nicht wirklich sexy
aus. Das konnte für die Staaten durchaus akzeptabel erscheinen,
für Europa allerdings waren die ein No-go. Dann endlich die
ersten Bikes. Eben die von Scott und auch schon Cannondale
lehnten sich mächtig rüber nach Europa. Der Rahmen war aus
Stahl, gebremst wurde über Kabelzug und Kantibremsen und mit
den Daumen konnte man schalten - 3x8 Gänge standen zur Verfü-
gung. Gefedert wurde über Arme und Beine. Wie oft stand ich wohl
in Solothurn vor dem Pipeline und starrte diese Cannondales im
Schaufenster an. F800. Schon damals teurer als die Konkurrenz.
Richtig verliebt habe ich mich dann in ein Scott Montana. Ein-
fache Stahlrohre in grün und schwarz, kein Oversize und kein
Hydroforming. Mit dieser Art von Rohr konnte man eine Hei-
zung bauen oder eben ein geländetaugliches Fahrrad zusammen-
schweissen. Schon rasch einmal stand ich oben in der Bettlerkü-
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cke und schaute gebannt aufs Mittelland. Das tue ich heute
noch. Dieser Blick aus der Höhe hat nichts an seiner Faszinati-
on verloren und übt nach wie vor einen meditativen Einfluss
auf mich aus. Es ist jedes Mal die Belohnung für den Aufstieg.
Dann ging es Schlag auf Schlag. Eigentlich habe ich meine ge-
samte Freizeit auf dem Bike verbracht. War ich einmal nicht im
Jura unterwegs, stand ich vor einem Schaufenster und staunte
über die jetzt immer schneller auftauchenden Mountainbikes.
Scott America. Oversized frame mit stars-and-strips-Lackeirung.
Man war dieses Bike geil. Shimano reagierte am schnellsten und
modernisierte seine Bikeparts im Minutentakt. Das Schalten
funktionierte nun endlich und wurde stetig besser und ging
leichter. Mittlerweile konnte man hinten schon auf neun Rit-
zeln herumrutschen. Die XTR war geboren. Das Geschäft war in
amerikanischer und japanischer Hand. Die Europäer vermochten
bei diesem rasanten Vorwärts nicht mitzuhalten. Später kamen
die deutschen Centurion mit ihrem Eurofighter - alles made in
Europe. An und für sich ein toller Gedanke, aber das Bike war
schon überholt, bevor der erste Eurofighter in der Kiste ver-
packt war. Marin kamen als erste mit Alurahmen. Ich halbierte
also meine Protonenzahl von 26 auf 13, rutschte damit im Perio-
densystem der Elemente aus der Mitte leicht hoch nach rechts,
und sass auf einem Alubike Marin Indian Fire Trail. Das Bikewar
um einiges leichter und steifer und es war das erste Bike mit
Stollenreifen, die für Geländefahrten gemacht waren. Panaracer
Smoke. Ein Klassiker. Sie rollten, griffen und die Luft blieb
drin. Die Hersteller jagten sich förmlich und die Weiterent-
wicklung von Biketeilen fand in gigantischen Schritten statt
und auch die Federgabeln nahmen langsam Gestalt an. Manitou
Race, hiess meine erste Federgabel. 1000 Stutz für zwei zusätzli-
che Kilos an meinem Alubike, dafür aber mit 50mm Feder weg. Die
Gabel war dermassen Scheisse, bei heftigen Bremsmanövern konnte
es gut passieren, dass die Elastomeere platzten. Aber auf dem
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Charmey FR September 2003
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Trail war man damit der Hingucker. Dann die MAG 21
von Rock Shox, die funktionierte mit Feder im ölbad. Das einzige
Zuverlässige daran, war der stete ölverlust. Corratec Bow. Das
wohl hässlichste Bike, das ich jemals fuhr. Aber auf dem Trail
fühlte es sich unglaublich an, und da waren die ersten V-Brakes
dran. Der Bremsunterschied war wie Science-Fiction. Plötzlich
konnte man sich darauf verlassen, dass man verzögerte. Man
musste während dem Bremsen nicht ständig noch einem Plätz-
chen für einen vorzeitigen Abgang Ausschau halten. Unerwartet
musste man sich festhalten, wenn man an einem der beiden Hebel
zog. Mit meinem ersten Mongoose 9.5 fanden Klickpedale Einzug
in mein Leben. Es war Liebe auf dem zweiten B(K)lick. Zahlreiche
Stürze vom spektakulären überschlag bis zum Kartoffelsack an
der Kreuzung. Nach einiger Zeit hatten wir uns gefunden und
fingen an, aneinander Freude zu haben. Heute kann ich nicht
mehr ohne - leider. Mein heutiger Fahrstil hat mit meinen An-
fängen auf dem Bike wenig bis gar nichts mehr gemein. Liebend
gerne würde ich auf einem Paar Flats stehen und die Sicherheit
des raschen Abgangs auf meiner Seite wissen. Ohne Klickise geht
bei mir gar nichts. Es sei so. Allerdings hat sich auch hier das
Rad des Fortschritts mit unglaublichem Tempo in die richtige
Richtung gedreht. Schmutzresistenter und schneller im Auslö-
sen sind sie geworden. Man muss nicht mehr wie ein Wahnsinni-
ger an den Pedalen herumrupfen damit sie einen aus ihrem Griff
entlassen. Mit einer leichten Aussenbewegung ist man aus den
Klickies. Aber eben, manchmal entscheidet diese Klick-
Hunderstelsekunde, ob Buche getroffen oder an der Buche vorbei.
Mein erstes Bikerennen habe ich auf einem Mongoose bestritten.
Selzach 1996. Damals hatte ich schon eine grosse Klappe und ein
überaus gesundes Selbstvertrauen. Frauen waren einer meiner
Mittelpunkte, und im Mountainbike gab zu dieser Zeit nur eine:
La bionda azzurra Paola Pezzo. In Atlanta wurde sie 1996 mit dem
offenherzigsten Ausschnitt der olympischen Geschichte Olym-
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Riva Bike-Festival April 2006
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piasiegerin im Cross Country. Gott sei Dank war es damals so un-
erträglich hiess dort. Eben diese kam zur Vorbereitung nach
Selzach, um dort ein paar lockere Runden zu pedalen. Ein sol-
cher Star wurde in der solothurnischen Provinz natürlich ent-
sprechend empfangen und betreut. Jemand sollte ihr die Strecke
zeigen, und dieser Jemand sollte ich sein. Ich wurde vom Tropi,
als damaliger Ausrichter angefragt. In meiner Hose wurde es au-
genblicklich heiss, eng, feucht und nass. Ich habe gekniffen. Da
gibt es nichts schön zu reden. Das war einer dieser Momente, wo
einem die Chance geboten wird, in eine andere Liga einzustei-
gen. So in etwa: "Hey, ich bin Angus Young und suche einen
neuen Sänger. Willst du?" Und dann kommt deine Antwort, die
dich auf ewig und immer im Mittelmass versenkt: "Nein, ich sin-
ge bei Krokus." Ok, ich sollte mich nicht lustig machen. Was
hätte mich schon erwartet, alleine mit der blonden Paola im
sommerlichen Wald, im freizügigen Atlanta-Lycradress, nur wir
zwei und die Vögel? Diese Frage hat mich doch ein paar Mal im
Schlaf beschäftigt. Der Bikeboom nahm unbeeindruckt von mei-
ner verpassten Chance seinen Lauf, und dieser wurde zusehens
schneller. Unzählige Bikes gingen durch meinen Keller. Alles
Bikes aus den Staaten. In Europa tat man sich unheimlich
schwer mit dieser Art sich im Gelände zu bewegen und mit diesem
Livestyle umzugehen. Während sich Europa wenigsten dahin-
schleppte, tat sich bei unseren helvetischen Velostrategen gar
nichts. Das Bikefieber wollte nicht übergreifen. Sie taten, was
sie heute tun: Nichts. Sie sind immun gegen alles Neue und
Trendige und sie sitzen die Wellen immer noch am Strand aus.
Ich werde nie ein Schweizer Bike fahren. Nicht, dass ich nicht
Patriot genug wäre und dafür offen, aber es gibt ganz einfach
nichts Brauchbares mit einem Schweizerkreuz drauf. BMC? Da
stimme ich ohne zu zögern zu. Die können was. Aber ehrlich ge-
sagt, kenne ich keine unsympathischere Bikemarke als BMC.
Leider. Es waren die Jahre meines Aufbruchs. Es waren nicht nur
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die Bikes, welche sich extremen Wandlungen unterzogen, auch
ich habe mir eine grundlegende überarbeitung gegönnt. Die
langen Haare wichen einer Kurzhaarfrisur. Die Wandlung war
vollzogen. Der Hippie wurde salonfähig und sportiv.
1996 - Der Mann, der nicht zu Villiger ging
"Was sind V-Brakes?" Er war mir schon vorher aufgefallen. Seit
einiger Zeit trainierten wir im selben Fitnessstudio bei Angelo
in Herzogenbuchsee. Er habe mich schon früher einmal gesehen
und er wisse, dass ich viel mit dem Velo unterwegs wäre. Er hatte
so einen Kleinen mit Baselbieterdialekt dabei. Während ich
mein Training alleine bewältigen musste, haben die beiden zu-
sammen Gewichte gedrückt. War jeweils ein mordsmässiger Auf-
wand, die Geräte vom Langen auf den Kurzen oder umgekehrt um-
zustellen. Sie waren das Traumpaar im Studio. Irgendwie fanden
wir immer mehr ins Gespräch. Unter anderem erzählte mir der
Lange, er wolle für Villiger Bikes in den Verkauf gehen, und er
sei schon in der letzten Runde. Nun komme es darauf an, zu wis-
sen, wie so ein Velo funktioniert und was alles daran verbaut
ist. Er selber habe nur einen alten Drahtesel im Keller, aber da-
mit herumfahren würde er nicht. Weiter löcherte er mich damit,
wie diese neuen Mountainbikes ausgerüstet wären, wie viele
Gänge ein solches Teil habe, was es für Reifen für darauf gibt
und und und. Kurz zusammengefasst: Er wollte zu Villiger Velos
gehen und hatte nicht die blasseste Ahnung von Zweirädern.
Was er nicht wusste, ich aber schon damals, war, dass auch die
Luschen von Villiger keine Ahnung von Mountainbikes hatten
und haben werden. Es gibt sie nämlich schon gar nicht mehr. Er
hätte das Team bestens ergänzt. Das habe ich ihm natürlich
nicht gesagt. Also, habe ich mich seiner erbarmt und habe alle
seine Fragen - und das waren nicht wenige - immer und immer
wieder beantwortet. Gleichzeitig habe ich ihn mit meinem Virus
infiziert, denn schon bald hatte er mir nämlich erzählt, dass
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Erstbefahrung Biberli-Trail am Monte Tamaro Juli 2008
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er mit dem Mountainbike und dem Kleinen im Schlepptau auf
Feld- und Waldwegen unterwegs sei. Ist ja wirklich eine Leis-
tung mit einem Mountainbike übers Feld und durch den Wald zu
radeln. Meine Reaktion darauf oder vielmehr die Frage, die ich
ihm dazu gestellt hatte, muss beim ihm schlaflose Nächte aus-
gelöst haben. "Weisst du eigentlich, wieso dein Velo Mountain-
bike heisst?" Erstaunt schaute er mich an kein Wort kam über
seine Lippen. Ein paar Tage später, wieder im Studio, schien er
sich davon erholt zu haben, denn er baute er sich vor mir auf
und erzählte mir von seinem neuesten Bikeabenteuer, nämlich
seinem Versuch, auf die Schmiedenmatt zu fahren. Bis zum Pfle-
geheim war er damals gekommen. Das liegt ein paar Höhenmeter
oberhalb von Wiedlisbach. Dann waren die konditionellen Reser-
ven aufgebraucht, alle Riegel gefressen und die Bidon geleert.
Doch der Mountainbike-Samen fing an zu keimen und schlug
heftige Wurzeln in ihm. Mit dem Job bei Villiger wurde nichts -
Gott sei Dank. Wir hätten uns vermutlich alle auf einem Spicy
abmühen müssen. Dann doch lieber Rivella saufen. Danke Dr.
Barth. Bald einmal nahmen Buddha und ich den Langen mit auf
eine Bikerunde. Zu dieser Zeit gab Buddha noch den Ton an und
der Lange hechelte hinterher und litt. Es ging über Stock und
Stein, natürlich ohne Vorwarnung und selbstverständlich ohne
Gnade für den Rookie. Er musste tüchtig Lehrgeld bezahlen.
Schürfungen, blaue Flecken und Hüftprellungen einhergehend
mit nässendem Schorf und sickernden Schürfwunden. Die Lust am
Biken verloren? Keine Spur von Rückzug. Er investierte kräftig
in seine ersten paar Velos fürs Leben und mutierte zu einem ra-
dikalen fundamentalisten Hardliner. Mountainbike for ever. Er
wurde zum Süchtigen
1998 - Kulturschock
Schon fast hatte ich es vergessen, bis ich ein Inserat auf Trail-
devils.ch gesehen habe. Pure Power Tank DS. Wird euch nichts sa-
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gen. Nein, ist auch kein Energieriegel für Astronauten. Pure
Power war eine Bikemarke, und was für eine. Aber fragt einmal
Buddha. Er wird es euch erzählen und dabei lächeln. Damals:
wir waren jung und wild und wir taten was, was damals noch
nicht wirklich so selbstverständlich war - wir fuhren in den
unbekannten Norden von Deutschland nach Willingen ans Bike
Festival. Nun gut, so richtig im Norden liegt das für einen
Deutschen nicht. Für einen Schweizer jedoch schon. Buddha
ging damals noch als thailändischer Buddha durchs Leben und
ich war schon damals zu schwer, um ein ernstzunehmender Geg-
ner auf dem Bike zu sein. Grossartig zelten wollten wir in Wil-
lingen und das Mountainbikefeeling - damals am boomen, es
ging gerade erst so richtig los - in vollen Zügen geniessen. So
wie damals an der Bike WM in Chateau d'Ox. Damals, das war 1997.
Buddha fuhr zu dieser Zeit so einen Space Shuttle von Crysler.
Der war so gross, dass wir bequem hinten pennen konnten. Kein
grosses wer kommt (darf) mit, ohne Vorreservierung von Zimmern
und auch ohne grosse Logistik. Nicht überlegen, spontan ein-
fach mal hinfahren und schauen, schlug Buddha vor. Miguel
Martinez und Shaun "Napalm" Palmer zogen pöbelnd von einer
Kneipe zu anderen. Palmer hatte wenige Stunden zuvor den Du-
al-Eliminator gewonnen, eine Bikedisziplin, welche damals zum
ersten Mal vorgestellt wurde, und Martinez würde sich am darauf
folgenden Tag den Weltmeistertitel im Cross Country holen - das
wusste er allerdings an diesem Abend noch nicht. Das war damals
so noch möglich. Das war Chateau d'Ox 1997. In Willingen nur ein
Jährchen später - oder so etwa - sollte das bereits angespro-
chene 2. Bikefestival am Samstag und Sonntag stattfinden. Wir
kamen am Freitag in dem Kaff an. Kein Bike war auszumachen
und kein Transparent gespannt. Nichts was auf ein Festival mit
mindestens 25'000 Bikern hindeuten würde. Die Strassen waren
bevölkert von alten Leuten, welche in Wanderkluft die Strassen
entlang trotteten und in die Auslagen gafften. Willingen war
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ein in die Länge gezogenes Altersheim im Chaletlook. Eisig
kalt für den Monat Juni war es zudem und wir begruben unsere
Absicht zu zelten augenblicklich. Das beste Haus am Platz war
uns gerade gut genug. Tags darauf war das Kaff nicht wieder zu
erkennen. Die Rentner hatten sich verzogen und hunderten wil-
der Biker Platz gemacht. Der Karo-Look wich den buntesten Lyc-
ras - und die waren zu dieser Zeit so bunt, dass es in den Augen
schmerzte - und keiner war mehr zu Fuss unterwegs. Alle sassen
auf einem Radl. überall standen sie rum, die Firmenbusse und
Servicewagen, und wie aus dem Nichts wurde das Festivalgelände
aus dem Boden gestampft. Im Gegensatz zu heute, konnte man an
den Ständen vorbei gehen ohne immer wieder das gleiche Bike zu
sehen. Kennst du eins, kennst du alle, gab es noch nicht. Alles
war erlaubt, alles wurde ausprobiert und bunt war mächtig an-
gesagt. Pedalrückschlag und chronisches Wippen waren die Re-
gel. Keinen hat das gestört. Federung am Heck war neu und kei-
ner wollte ein Bike fahren ohne die Federung auch wirklich zu
spüren. Auch das Gewicht war sekundär. Auffallen um jeden
Preis, war das Motto zu dieser Zeit. Es konnte nicht fett genug
sein. Alle, ohne Ausnahme, spielten sie mit. War das Bike zu fett,
waren deine Waden zu schwach. So einfach war das damals. Und
eben dieses Pure Power Tank DS stand da in seiner ganzen über-
mächtigkeit in der Sonne glänzend neben dem Hot Chili Warp.
Auch das Warp war so eine Wuchtbrumme. Beide hatten sie Motor-
radgabeln vom Typ Marzocchi Monster verbaut. Das ist bis heute
die einzige Forke, die noch gröber daher kommt als die Fox 40
und das will was heissen. Nichts für Weicheier und BMC-Fahrer.
Die fettesten Planierraupen, die wir je gesehen hatten und sehen
würden. Richie Schley war auch schon dort und fuhr mit einem
Rocky Mountain Pipeline durch das Festivalgelände, gefolgt
von einem pickligen kleinen Kanadier, der über alles drüber-
hüpfte und ständig irgendwo auf seinem Bike runter dropte -
Wade. Gemessen hat man sich nicht auf halsbrecherischen Hüh-
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nerleitern oder musste sich mit dem Moped über Dreckhaufen
schleifen lassen, man stand Mann gegen Mann am Hot Chili
Stand vor einem übergrossen Pott mit kleinen fiesen Würstchen
drin - hot chilis eben. Man stopfte sich die kleinen Raketen
rein und wer als erster Rotz und Wasser heulte oder Schaum vor
dem Mund hatte, war raus. Tja, damals war das so. Das waren noch
Zeiten. Schweröl saufen bei Devil Bikes. Wenn nicht die qual-
menden Fässer vor dem Stand oder die dröhnenden Technobeats
aus dem Stand, dann hat dich ein Gläschen Schweröl im Stand
zuviel aus den Schuhen gekippt. Devil baute das hässliche
Froggy mit einer 1 : 1 Anlenkung und dem entsprechenden lan-
gen Dämpfer im Rahmen. Gerade erst habe ich einen Artikel über
das neue Foes gelesen. Die rühmen sich damit, als erste die 1 : 1
übersetzung mit überlangen Federbein erfunden zu haben. Mum-
pitz, kann ich da nur sagen. Hat es alles schon früher gegeben.
Um 17.00 Uhr wurde nicht das Festivalgelände geschlossen, das
war zu jener Zeit der Startschuss zu den Afterpartys bei Can-
nondale und Scott. Die hatten damals schon die riesigen Sattel-
schlepper dabei. Feiern auf zwei Etagen. Nur wenige Hersteller
haben diese Zeiten überlebt. Alles wurde probiert und war er-
laubt. 80% der Teile und Bikes waren allerdings reiner Schrott
oder die Hersteller hatten keinen Sinn fürs geschäft. Einfach
gut schweissen reicht halt ganz einfach nicht. Ist nicht mehr
viel übrig geblieben davon - leider. Ausser Buddha und mir,
kann das wohl keiner nachvollziehen. Ich glaube Buddha hat
sich, im Gegensatz zu mir, noch ein schönes Stück von diesem
Spirit erhalten. Daher kommen wohl auch seine Vorlieben für
exotische und gebastelte Dinge und seine Abneigung gegen den
Einheitsbrei von der Stange. Neu war in Willingen auch die Idee
von einer fest ausgeschilderten Bikestrecke zum Runterbret-
tern. Mit dem Sessellift hoch und dem Bike runter. Wir haben na-
türlich auch das ausprobieren. So kam es, dass ich meiner festen
überzeugung, vor 40 werde ich nicht shutteln, ein einziges Mal
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untreu wurde. Wir setzten uns also auf den Sessellift und lies-
sen uns auf dem Willinger Hausberg den Ettelsberg kutschieren.
Dort oben sollte nämlich irgendwo im Gestrüpp getarnt, der
Einstieg in die Downhillstrecke liegen. Bereits während der
Bergfahrt staunten wir nicht schlecht über die Rettungssani-
täter auf ihren Motocrossern. Sie patrouillierten über die un-
zähligen Wanderwege entlang der Bergflanke zwischen dem Dorf
und dem Hausberg. Was war hier los? Die Antwort bekamen wir
oben auf dem Ettelsberg in die Ohren gedröhnt. Oben liegt näm-
lich die Ettelsberghütte, und die erinnerte irgendwie an ein
Mini-Oktoberfest. Der Kulturschock traf uns völlig unvorberei-
tet und unerwartet. Ballermann im Hochsauerland. Willingen,
der feuchtfröhliche Hotspot für alle Sportvereine und Kegel-
clubs aus Deutschland. Männlein und Weiblein soffen sich auf
dem Ettelsberg das letzte bisschen Verstand aus dem Leib. Wer
mehr als genug hatte ging bereits in der Gartenwirtschaft zu
Boden. Der Rest fand es irgendwie lustig, zu Fuss ins Tal abzu-
steigen. überall lagen die Bierleichen in den Alpenrosen. Die
Sanis versuchten zu retten, was sich zu retten lohnte. Wir muss-
ten auf den Bikes an dem ganzen Halligalli vorbei. Entspre-
chend wurden wir empfangen. Ich hatte und habe schon meine
liebe Mühe mit besoffenen Männern. Aber die Weiber stehen
scheinbar den Jungs in Deutschland in nichts nach. Es war
schon ein gehöriger Schock. Dann standen wir vor dem Einstieg
in den Ettelsberg-Trail. Das erste Mal auf einer eigens für Bi-
ker angelegten Strecke. Nicht zu vergleichen mit den Bikeparks
und auch dem heutigen Ettelsberg-Trail. Eine schmale Spur
führte durch den Wald ins Tal. Keine Anlieger, Tables oder
Northshore-Elemente. Einfach eine leicht ausgefahrene Furche.
Bereits ein Jahr später, war der Ettelsberg-Downhill bereits
ausgebaut. Der Waldboden musste einer befestigten und besenrei-
nen Piste weichen. Jede Menge Sprünge und Hindernisse luden
ein, sich die Knochen zu brechen. Unten angekommen, machte wir
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uns gleich wieder auf den Weg nach oben - auf dem Bike natür-
lich. Am Abend hatten wir uns dann irgendwie an den Baller-
mann gewöhnt. Damit war aber noch lange noch nicht Schluss.
Nach Sonnenuntergang trafen sich die überlebenden von Nach-
mittag aufgebretzelt im Untergeschoss des Sauerlandsterns. Die
Schnapsleichen von Nachmittag konnten sich irgendwie wieder
aufrappeln und sich in die gigantische Disko retten, um sich
gleich wieder abzufüllen und sich dann in gemischten Gruppen
in die darüber liegenden Hotelzimmer zurück zu ziehen und zu
vögeln. Wir waren geschockt. Dem Ganzen ausweichen versuchten
wir natürlich. Das brachte Buddha und mich allerdings in noch
grössere Gefahr. Ausserhalb des Sauerlandsterns in den kleinen
Pups und Bars lauerten die alten Wanderweiber. In Lack und Le-
der warteten sie auf die jungen Biker mit den strammen Waden.
Aber das ganze Drumherum ums Mountainbike Festival hat mich
schon nachhaltig - eines meiner Lieblingswörter - geprägt. Es
sollte nicht mein letztes Bike Festival gewesen sein und auch
nicht das letzte Abenteuer in Willingen. Jahre später waren
wieder im Hochsauerland. Einmal im Leben triffst du auf ein
Arschloch biblischen Ausmasses. Dieses Mal war nicht der Bike-
park der Anziehungspunkt, sondern der Marathon. Switchmaster
und ich hatten vor, den deutschen Amateuren ihre Grenzen auf-
zuzeigen. Zu dritt machten wir uns also auf, wir hatten noch
unseren Betreuer Buddha im Gepäck, ein Rennen zu bestreiten.
Abgestiegen im Waldhofhotel etwas abseits des ganzen Festival-
rummels suchten wir die innere Ruhe und bestritten unsere
Wettkampfvorbereitung. Das machte auch der Frischi jeweils so,
und der muss es ja schliesslich wissen, wie man sich auf einen
Wettkampf vorbereitet. Den Samstag über besuchten wir das Fes-
tivalgelände. Natürlich die Startnummern bereits am Bike mon-
tiert, schliesslich sollten unsere Gegner eine schlechte Nacht
haben. Dazwischen absolvierten wir immer wieder kurze Sprints
gegen den Wind und stopften uns bei jeder Gelegenheit Powerbars
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Splint feriert seinen 30. Dezember 2004
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rein und füllten uns mit isotonischen Getränken ab. Der posi-
tive neben dem peinlichen Aspekt, den die bereits montierte
Startnummer auslöste, war die Ermässigungen an den Verpfle-
gungsständen. Wir waren wie zwei Gummibänder bis zum Zerreis-
sen gespannt. Beim morgigen Startschuss würden wir uns ent-
spannen und die ganze Energie freisetzen und an unseren Geg-
nern vorbeischiessen. Das war der Plan. Nach dem Nachtessen
setzten wir uns in den Fernsehraum des Hotels und gucken Fuss-
ball Europameisterschaft. An diesem Abend spielten die Deut-
schen gegen England. Den Sieg der Engländer mochte ich als
einziger feiern. Das war im Nachhinein wohl der Grund für diese
Strafe, die mir am kommenden Tag bevorstand. Die Strassen waren
wie leer gefegt. Nur die "Bike-Einkäufer" aus dem Osten schli-
chen durch die Gassen, und wohl auch bis zum Walhotel hoch, wo
der Bikekeller nicht abgeschlossen war. Auf ihrer "Einkaufslis-
te" standen zufälligerweise die Bikes von Switchmaster und mir.
Meine rote Racemaschine CSP5 von Cyclecraft mit Nigel Nagel
neuen giftgrünen Hügi Classic und mein Freerider 9.5 von Mon-
goose sowie das Bike fürs Leben Nummer drei oder zwölf - er
wusste das zu diesem frühen Zeitpunkt schon nicht mehr so ge-
nau - von Switchmaster, das blaue Cannondale Jekyll. Es war ja
nicht so, dass nur wir zwei unsere Bikes eingestellt hatten. Die
Pfeife von Centurion hatte seine ganze Ausstellung im Bikekel-
ler, und die stand noch vor unseren Velos. Die Bandidos hatten
also einen ganz schönen Krampf, um an die Leckereien zu kom-
men. Von alledem merken wir natürlich nichts. Wir guckten
Fussball, assen unsere Riegel und schwelgten in der Vorfreude
auf den kommenden Tag. Dann am Morgen der Schrecken. Switch-
master rannte auf dem Hotelplatz im Zickzack umher und ga-
ckerte unverständliches Zeugs. Irgendetwas ist mit den Bikes.
Ja, schon klar, ist ja sein erster Marathon und da ist man ein
kleinwenig überdreht, dachte ich mir. Dann dämmert es auch mir
langsam. Da waren es schon zwei Hühner auf dem Hof. Auch nach
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dem fünften Mal in den Keller schauen, wollten die Bikes nicht
auftauchen. Unser lautes Gezeter lockte das grösste Arschloch
der Welt auf dem Acker. "Wad is hier geklaut worn? Mene janzen
Fahrräder steh hier, kenes wech. Wohl den janzen Abend gesoffen
und die Bikes verlegt." Oben auf dem Balkon steht die Centuri-
on-Pfeife und spottet. In solchen Augenblick möchte ich ein Je-
di sein. Ich würde mein Laserschwert ziehen und solche Warzen
einfach ausbrennen. Oder noch besser, Darthvader himself und
den Centurion mit einem Fingerschnippen der dunklen Macht
weg lasern. Ist ja klar, dass die Ganoven dem seine Ladenhüter
nicht klauten. An diesem Tag hatten wir uns geschworen nie-
mals, unter gar keinen Umständen, werden wir auch nur eine
Schraube von dieser Firma kaufen. Nicht einmal geschenkt, wer-
den wir von diesen Luschen etwas annehmen. Buddha meinte dazu
nur, die Bikes wären doch gar nicht so schlecht. Das war uns
diesem Augenblick völlig egal, denn das grösste Arschloch unter
der Sonne bezog seinen Lohn von denen. Noch heute steigt mir
das Blut ins Gesicht, wenn ich eine Kiste von dieser Marke zu
sehen bekomme. Später sassen wir dann einem Polizeibeamten ge-
genüber, der partout nicht glauben wollte, dass ein Fahrrad
5000 DM kosten kann. Trotz mehrmaligem Wiederholen der Summe,
stand in meinem Polizeirapport die Zahl 500. Auf den Tag genau
zwei Jahre und ein unsäglich langer Briefwechsel sollte es
dauern, bis ich meinen Schaden ersetzt bekommen hatte. Die bei-
den Gummibänder spickten natürlich nicht über die Startlinie.
Die angefressenen Energiereserven entluden sich ganz langsam
in Depressionen, mutierten zu Niedergeschlagenheit, die sich
wiederum in blanke Wut verwandelte und die ganze Misere wurde
schliesslich in Unmengen Bier ertränkt. über das grosszügige
Platzangebot im Auto auf dem Nachhauseweg mochte sich keiner
freuen. Wenigsten zeigte Buddha keine offen zur Schaugestellte
Begeisterung. Wir hätten ihn ausgesetzt.
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2000 - Gefährten
Lange Zeit streiften wir alleine durch den Wald. Von Biken
konnte nicht wirklich die Rede sein. Der "Wurzel-Trail" war
meine Heimrunde und unsere persönliche Herausforderung. An
der Aare folgend und entlang der Juraflanke, führt der Trail
immer leicht auf und ab. Kleine Absätze und einige Wurzelpas-
sagen machen den Trail aus. Wir haben uns an diesen Stellen re-
gelmässig überschlagen. Er hat uns alles abverlangt. Schluss-
endlich hat sich Buddha abgeseilt. Wieso eigentlich? Doch wir
haben nicht gekniffen und uns immer wieder in den Trail ge-
stürzt. Switchmaster nahm irgendwann einmal seinen Nachbarn
mit - fä2. Er wohnt gleich gegenüber und ist die Antipode zu
Switchmaster. Still, bescheiden und zurückhaltend - wenn er auf
seinen Beinen steht. Das galt und gilt aber nicht mehr, wenn er
sich in den Sattel schwingt und auf seinem Bike die Trails run-
ter fährt. Einer, den man gerne erst einmal unterschätzt und
sich dann erschreckt, wenn er stylisch locker leicht an einem
vorbeizieht. Schon rasch einmal war klar, wer der Techniker un-
ter uns war. Wir schoben während er zirkelte. Von Anfang hatte
er einen Vorsprung auf uns, den wir bis heute nicht zu verklei-
nern in der Lage waren. Im Gegenteil, der Graben öffnet sich ste-
tig. Die Pipiface-Bauten waren für ihn gezimmert. Er hatte
Spass und wir mussten üben und schlottern. Der Naturbursche
traf auf Protz und Prunk und es klappte auf Anhieb. Das Grüpp-
chen der letzten Mohikaner nahm Gestalt an. Alsbald trat ich
dann mit einer Idee an die Jungs heran, auch auf eine Art Fro-
rider zu machen. Ich hatte schon lange die Idee einer verschwo-
renen Gemeinschaft. Ausgelöst wurde dieses Vorhaben durch ei-
nen Artikel, den ich in einem Bikemagazin gelesen hatte. "Die
Laguna Rads aus Kalifornien sind eine Biketruppe der verwe-
gensten Art". H-Ball, Tomac und Hans - No Way - Rey hatten bei
diesem Haufen Membercards und sollen sich vor den brachialen
Ausfahrten der Rads gefürchtet haben. Natürlich hatte mich der
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"Gwunder gestüpft" und ich fing an, im Netz zu recherchieren.
Das Resultat war ernüchternd. Also einmal ehrlich. Ich schaute
mir das aktuelle Gruppenfoto an und konnte nicht verstehen,
was an denen so Kultverdächtiges sein soll. Wegen denen haben
sich Hansi, H-Ball und Johnny T. in die Hosen geschissen? Das
musste ein Scherz sein. Das einzige Radikale an denen waren
doch ihre Retro-Klamotten und die Waggis-Larven-Gesichter.
Alte Hippies. Sehen so selbsternannte Bike-Götter aus? Wohl
kaum. Wir waren zu dieser Zeit nicht annähern so viele, aber
hätten sie es aber darauf anlegen, hätten wir sie einstampft.
Was mir aber gefiel: Die Aufnahme stand jedem offen, vorausge-
setzt er oder sie teilten die Leidenschaft der Rads, und alle of-
fiziellen Rads mussten einer Aufnahme einstimmig zustimmen.
Ein Aufnahmeverfahren konnte Jahre dauern und der Ritter-
schlag, die Aufnahme, musste man sich verdienen. Verschworen
sollte die Gruppe sein. Nur kein Verein oder Club und schon gar
keine Statuten und bloss keine Vorstandsmitglieder. Es sollte
ums Zusammensein und Biken gehen, mit Freundschaft zu tun
haben und nicht irgendein weiteres Auffangbecken sozial iso-
lierter Profilierungsarschgeigen sein. Wenn man nur zu dritt
ist, ist man sich eigentlich rasch einig. JURAZ, wollten wir uns
fortan nennen. Jura war klar woher und das Z am Schluss, lehnte
sich an das S von Rads an, nur eben als cooles Z. Kein Verein,
keine Statuten und keinen Präsidenten. Dafür aber Leitsätze,
nur wenige, dafür aber ernst gemeinte. Entscheide mussten ein-
stimmig gefällt werden. Und so bastelten wir unsere Verfassung
in drei Sätzen zusammen.
- Wir sind Juraz
- Wir biken zusammen durch dick und duenn
- einer fuer alle - alle fuer einen
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Jeder muss seinen Senf dazu abgeben. Das halten wir auch heute
noch so. Die Leitsprüche kennt, glaube ich, nur fä2 noch. Aber
sie gelten auch ohne grosses Erinnern daran. Auch ein Zeichen
dafür, dass das mit uns zu klappen scheint. In den letzten zehn
Jahren, wurden sie nicht verändert, noch abgeschwächt oder gar
über Bord geworfen. Sicher, dass sich keiner von uns wirklich
damit auseinandersetzt und an sie denkt, ist ein Grund dafür.
Aber sie sind da und wurden sogar um einen zentralen und im-
mens wichtigen Satz erweitert:
- KEIN BIER KEIN GESCHENK
Gut, dieser Leitsatz ist höchst umstritten unter den Juraz. Für
die einen ja, für die anderen nein. Ich finde ihn persönlich
sehr gehaltvoll und deshalb gewichtig genug, um in unserer
"Verfassung" Platz zu finden. Aber das kann natürlich jeder mit
sich selber ausmachen. Daran halten tun sich sowie alle. Ja, so
funktionierten wir damals und funktionieren auch heute noch.
Was hat in der heutigen Zeit noch einen solchen Bestand. Na-
türlich wollten wir uns nicht einfach nur so ins Leben rufen.
Es musste ein Grundstein gelegt werden. Irgendwas Spezielles,
an das wir uns noch lange erinnern würden. Und wir taten was,
was wir heute in dieser Art wohl gar nicht mehr hinbekämen.
Wir brachen zu unserer Gründungstour auf. Von meinem damali-
gen Wohnort Walliswil-Wangen fuhren wir los und kamen gute
zehn Stunden später wieder dort an. Entlang der Aare bis nach
Solothurn, Bellach, Lommiswil, Althüsli, Hinterer Weissenstein,
Kurhaus, Balmberg, Stierenberg, Buchmatt, Hellchöpfli, Schwän-
gimatt, Niederbipp, Aarwangen, Walliswil-Wangen. An einem
Stück, in einem Rutsch. Aus dieser Strecke machen wir heute sie-
ben einzelne Ausfahrten. Erschwerend dazu kam noch, es war
kurz vor Weihnachten, also Winter, kalt und die Trails teilweise
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Willingen 2003
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mit Schnee bedeckt. Was für eine Schinderei. Zum Teil mussten
wir uns durch hüfthohen Schnee kämpfen. Für die Schlussab-
fahrt von der Schwängimatt runter nach Niederbipp rollten wir
über die asphaltierte Strasse. Das können wir uns heute kaum
mehr vorstellen. Schneestampfen und Asphaltrollen. Wir
schraubten uns noch goldige Totenköpfe auf die Ventilkappen
und wir waren gegründet. Jeder von uns dreien erinnert sich
noch heute an die Gründungstour. An die Strapazen und daran,
was es heisst mit Schrott am Bike, solche Touren zu fahren. Je-
weils einmal ihn den folgenden Jahren haben wir die Strecke
unter den gleichen Bedingungen unter die Räder genommen.
Bald einmal war dann allerdings Schluss. Wieso auch immer. Aber
der Grundstein war gebührend und dauerhaft gelegt. Eine andere
Idee war damals noch, dass wir splitterfasernackt auf unseren
Bikes von der Bettlerküche bis nach Wiedlisbach runter düsten
wollten. Sozusagen als rollende Flitzer. Ich glaube wir haben
uns aus einer einzigen überlegung heraus "nur" für die
(Tor)Tour entschieden. Wie gesagt, es war Dezember und eisig
kalt. Ich glaube kaum, dass es heute sechs Juraz-Kinder geben
würde. Manchmal sind wir auch vernünftig. Aber nur manchmal.
2002 - Search for the Holy Trail
Lange ist das her. Damals waren wir noch zu dritt - wenige, aber
immer alle dabei. Es war wieder einmal schlechtes Wetter und wir
beschlossen uns vor den Fernseher zu setzen. fä2 hatten einen
dieser Velofilme besorgt. Kranked 4. Diese Bikefilme waren gerade
gross in Mode gekommen. Was für ein beschissener Titel für einen
Film übers Velofahren in Kanada. Aus Kanada, das muss man sich
erst einmal vorstellen. Kanada und Mountainbike passten für
mich noch bis kurz nach dem Vorspann zusammen, wie Glühbir-
nen und Backsteine. Eishockey oder Bären, aber Mountainbikes?
Zudem schien sich keiner wirklich für die Kinovorstellung zu
interessieren. Wie immer bei unseren Zusammentreffen, überboten
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wir uns gegenseitig mit ohrenbetäubendem "Geschnur". Das än-
derte sich schlagartig. Totenstille senkte sich über den Raum.
Kein Wort, kein Schnaufen und kein Furz. Stoppte kurz die
Filmmusik, konnte man die Kohlensäure aus den Bierflaschen
entweichen hören. Wir klebten förmlich am Bildschirm. Richie
Schley, Wade Simmons und Bret Tippie hiessen die Protagonisten.
Es gab natürlich auch noch andere, aber an die kann ich mich
mehr erinnern. Die drei Jungs sollten noch Jahre später so was
wie unsere Helden sein. Frorider nannten sie sich und Freeri-
ding nannte sich das, was sie machten. Warum Frorider, wenn man
"freeridet"? Noch so was Unverständliches aus Kanada? Tönt so
gar nicht englisch. Aber da hatte einer bei Cannondale einen
besonders guten und weitsichtigen Tag. "Chef, in ein paar Jah-
ren werden alle Mountainbiker auf dieses Freeride-Dings abfah-
ren. Das ist die Zukunft im Bikesport." Mr. Cannondale wird sich
am Arsch gekratzt und kurzerhand beschlossen haben, sich den
Ausdruck Freerider patentieren zu lassen - nachdem er vermut-
lich den Tippgeber aus seiner Firma wegrationalisiert hatte.
Die Jungs von Rocky haben das Freeride-Dings nicht gleich er-
kannt - eigentlich hätte man schon damals erkennen können,
dass die Pfeifen eines nicht allzu fernen Tages, den Karren in
den Sand setzen werden - obwohl ich der Meinung bin, dass die es
irgendwie erfunden haben. Also, mussten sich Wade, Richie und
Bret was anderes einfallen lassen. Der Ausdruck war vergeben.
Wenn wir mit den Bikes auf dem Trail unterwegs sind, sind wir
nicht nur free, sondern auch froh. Lasst uns aus Free Fro ma-
chen. Ist doch eigentlich egal, wie wir uns nennen. Hauptsache
Rocky Mountain beschenkt uns mit neuen Bikes und bezahlt un-
sere Reisen in die Welt. Werden sie sich gedacht haben. Und das
taten sie. Natürlich machte sich keiner von uns auch nur einen
Gedanken über solche Dinge. Wir klebten einfach an den Bilder,
die über die Glotze flimmerten. über steile Passagen ging's
durch den Regenwald von Vancouver Island. über Hühnerleitern
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und umgestürzte Baumstämme zirkelten sie ihre Big Mountain
Bikes über die Trails. Die Jungen von heute kennen vermutlich
die Frorider gar nicht mehr. Die spanische Fliege und die ande-
ren Dreckhüpfer waren noch nicht einmal geboren. Verglichen
mit den heutigen Filmen, mit ihren Knochen brechenden Stunts,
war das Freeriding von damals auf Niveau "die Sendung mit der
Maus". Wir jedoch, waren fasziniert, der Welt entrückt und be-
geistert, und, wir waren infiziert und süchtig - augenblick-
lich. Für uns war nach diesem ersten Film klar: Keine engen Bi-
keklamotten mehr tragen und - wohl die einschneidendste Er-
kenntnis: Kanten und Absätze müssen nicht unbedingt umfahren
werden. Während Schley und Wade immer präsent waren, sei es
heute auch nur noch als Model für Rucksäcke und Reifenheber,
hatte es den Tippi schon bald einmal aus der Bahn geworfen. Kam
scheinbar mit dem plötzlichen Ruhm und dem ganzen Rummel um
seine Person nicht klar. Seinem Motto: "Tequilla tonight, tomor-
row we ride" ist er leider nicht treu geblieben. Drogen soll er
sich in allen mexikanischen Varianten rein gezogen haben.
Erst Jahre später wird er wieder zurück finden zum Big Moun-
tain Freeriding. Die gute Nachricht, er spiele wieder mit den
Jungs im Hinterhof von Vancouver kam vor zwei Jahren wie aus
dem Nichts. Im 2008 war er dann wieder mit seinen alten Wegge-
fährten am Gardassee am Festival. Zugegeben, ich war damals
schon sehr gespannt auf den Typen. Gross nach ihm suchen
musste man nicht. Mit seinem Gezappel, den lauten Sprüchen und
seinem Tote zum Leben erweckenden Lachen kündigte er sich
schon von weitem an. Dort wo er steht ist immer Zirkus. Ich hat-
te ihn schlanker in Erinnerung. Gut, er sah irgendwie immer
einem Kleiderschrank ähnlich. Aber auch an einem Helden ge-
hen die Jahre nicht spurlos vorüber. Heli-Biking sei seine Vor-
liebe geworden. Das sah man ihm an. Splint und fä2 konnten
sich noch irgendwie in die Freeride-Tour mit den kanadischen
Cracks reinschummeln. Er fahre im Vergleich zu uns immer noch
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Rippi im März 2005 nach dem erfolgreichen Bestehen der Juraz-(Tor)Tour
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grandios Velo. fä2 meinte aber auch, die Drogen hätten eine
ganz schöne Schneise in seinen Speicher gefressen. Sie hätten
zusammen über die guten alten Zeiten geplaudert - genau fand
ich auch unterhaltend: fä2 plaudert mit Tippi über die guten
alten Zeiten - aber der Tippi konnte sich einfach an nichts
mehr erinnern. „What a stupid gay I am, I’ve forgotten so many
things" meinte er immer wieder. Eine leidige Geschichte. Trotz-
dem, es war eine schöne Erfahrung, den Typen wieder auf den
Beinen, oder besser gesagt auf Stollenreifen zu sehen. An diesem
Abend vor fast zehn Jahren vor der Glotze, war er einer von de-
nen, die uns veränderten. Denn, schon tags darauf begaben wir
uns auch auf die Suche nach dem heiligen Trail. Gefunden haben
wir ihn natürlich nicht. Dafür haben wir angefangen richtig
Mountainbike zu fahren. Wir mussten tüchtig Lehrgeld bezahlen
- über Jahre hinweg. Kommen heute irgendwelche Gastrider mit
uns mit auf die Trails, scheinen sie von unserer Fahrweise
beeindruckt. Sie hängen sich dann Augenblick an eines unserer
Hinterräder und versuchen etwas von unserem Flow im Wind-
schatten zu naschen. Meistens gehen sie dann mehrmals hinter-
einander zu Boden. Sie rappeln sich auf und sind erstaunt, wie-
so die alten Säcke dermassen "geschmeidig" um die Brocken kur-
ven können. Was sie in diesen Momenten nicht bedenken, sind
unsere jahrelange Trailsause und unsere unzähligen Abgänge.
Jeder von uns hat gehörig Haut auf den Juramoosen gelassen,
sich tagelang zur Arbeit geschleppt und sich die nässenden
Wunden geleckt. Das lernt man nicht einfach, indem man hinter
einem Juraz herfährt, das ist ein Prozess. Man muss da schon
über eine lange Zeit hineinwachsen. Nach diesem Abend jeden-
falls, war nichts mehr wie vorher. Keiner träumte in dieser
Nacht von irgendwelchen Bikini-Models. Immer wieder sah ich
die Frorider durch den kanadischen Regenwald reiten. Wir ar-
beiteten natürlich nicht nur an uns. Unsere damaligen Bikes
konnten mit unserer neuen Art zu biken nicht mithalten. In-
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nert Kürze wurden die "Pepsibüchsen" aufgebohrt. Breitere Len-
ker, fettere Reifen und langhubige Federgabeln wurden aus Kar-
tonkisten gerissen. Es konnte nicht heftig genug sein. Mit Bi-
kes, schwer wie Radlader, die nach heutigen Massstäben - 160 mm
bei 12 kg - als nicht pedalierbar deklariert werden, kurbelten
wir stunden lang durch den Jura. Es hätte ja sein können, dass
irgendwo ein fieses Northshore-Element in den Wald gestellt
worden war, das man dann nur aufgrund der unzureichenden Fe-
derlänge hätte umfahren müssen, trieb uns zu diesen Höchs-
leistungen. Northshore-Elemte mussten wir uns selber zimmern.
Bikeparks wie in Kanada gab es so gut wie keine. Einzig etwa
die Runse vom Kurhaus auf den Nesselboden und dort durch zwei
Anlieger und den Rest über den Forstweg bis nach Oberdorf. Die
Strecke hat sich bis heute nicht durchgesetzt. Also, mussten wir
unsere eigene Northshore zimmern. Natürlich stellten wir die
Bauwerke nicht einfach in einen fremden Wald. Wir hatten ja die
"Hoscht" von fä2 im "Moosshore". Riesengross und leicht ab-
schüssig. Der Plan für die erste Pippi-Face-Party war rasch ge-
boren. Die Dualeliminatorstrecke und die Monsterwippen haben
uns dann etliche Abende mit Sägen und Akkuschraubern be-
schert. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie viel Arbeit in
einem solchen Trail steckt. An einem Samstagnachmittag haben
wir dann einfach alle eingeladen, von denen wir wussten, dass
sie Velos besassen. Man konnte sich in allerlei Wettkämpfen
messen, sich seine Fahrtechnik an all den Rampen, Wippen und
Sprüngen entwickeln und sich dabei richtig doll auf die Fresse
legen. An wohl keinem anderen Tag, lag soviel Fleisch rund um
das Anwesen der Pflanzenfresser, wie an diesen Tagen der Pippi-
Face-Parties. Natürlich war rasch klar, dass nur wir Juraz rich-
tig Spass daran hatten. Die meisten Gäste legten bald einmal
ihre Bikes beiseite und setzten sich bei den spektakulärsten
Stellen ins Gras und schauten uns zu. Sie erfreuten sich unse-
ren Darbietungen und applaudierten für die gelungenen Stunts
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und grölten für die Bruchpiloten. Da soll mir doch heute einer
kommen, die Rampage und all die Slopestyle-Events seinen spä-
ter erfunden worden. Wir hatten bereits damals Spass an solchen
Veranstaltungen. Nur nahm die Weltpresse einfach keine Notiz
von unserem Tun und Treiben. Einzig die Notaufnahme im Spital
Langenthal meinte nach dem vierten Verletzten innerhalb we-
niger Stunden, um was für einen Wettbewerb es sich den eigent-
lich handle, der ihnen dermassen Kundschaft beschere. Das war
während der dritten und dann zugleich auch letzten Pippi-
Face-Party der Juraz. Immer mehr Leute zog es in den "Moossho-
re", darunter natürlich jede Menge Selbstüberschätzer und
Dreckfresser, die sich immer häufiger und heftiger in fä2s Wie-
se bohrten. Sie blieben liegen und wir mussten sie wegräumen.
Das Risiko wurde zu gross. Die Namensgeberin übrigens, also die
Pippi, bestand aus einem alten Sagex-Kopf, mit blonder Perücke,
Bikehelm und einem hinter dem Kopf montierten Lenker. Aus der
Nase standen zwei Plastikröhrchen ab. Auf die beiden Enden
steckte man seine Nase, hielt sich am Lenker fest und liess sich
eine grobe Portion Schnupftabak, via Luftmatratzenpumpe in
den hintersten Winkel des Hirns jagen. Acht von zehn Probanten
hat es die Augen verdreht und sie sind wie Holzlatten gestreckt
nach hinten umgekippt. Die Pippi war gefürchtet und forderte
mehr Opfer als die Northshore-Elemente. und noch heute verspü-
ren vermutlich einige das Kribbeln im Hinterkopf, das ihnen
die Pippi bescherte. Bei einigen hat sich die Haarpracht ganz
schön gelichtet. Es waren unbeschwerte Tage und noch heute er-
innern sich Einige an diese Sausen und halten uns immer noch
für die gröbsten und wagemutigsten Biker in der Region. Das ist
wahrscheinlich auch der Grund, wieso man uns, mit wenigen Aus-
nahmen, keine Bikes zum Testen ausleiht und wir einsam durch
die Wälder ziehen.
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2002 Zuwachs
Sie kamen und gingen, die vermeintlichen Biker. Die allermeis-
ten kamen nur ein einziges Mal mit uns mit. Wir haben sie dann
niemals wieder gesehen. Jedenfalls nicht auf dem Bike. Es ist so
eine Sache mit uns Juraz. Entweder es stellt sich bereits beim
ersten Zusammentreffen eine Beziehung ein, oder, wie in 99.999 %
aller Fälle war klar, das passt nicht. Dann kam der Mann mit der
Feder. Anfänglich mussten wir ihm Bikes von uns ausleihen,
damit er überhaupt mitkommen konnte. Ein schräger Vogel.
Nicht, dass er kein eigenes Velo hatte. Nur, er besass Fahrräder
aber kein Bike. Fährräder für die Stadt, für Asphaltbeläge und
besenreine Strassen. Halt einfach für den Kinderspielplatz und
nicht gemacht für die raue und unwegsame Wildnis im Jura.
Auch er musste anfangs Lehrgeld bezahlen und unsere harte
Schule durchlaufen. Legendär und noch heute immer wieder eine
gute Geschichte fürs Lagerfeuer, ist die Delle, die er einem Bike
von fä2 ins Steuerrohr geschlagen hatte. In der überforderung
des Trailfahrens hat er ganz einfach den einbetonierten Eisen-
pfosten übersehen. Dieser hat ihn dann doch recht heftig vom
Bike genommen. Die Wunden von Splint waren bald einmal ver-
heilt und verschwunden, während die Delle im Bike fä2 noch
lange die Röte in fä2's Gesicht trieb. Bald einmal wollte er
auch ein Juraz werden. Sein Begehren bracht uns drei Ur-Juraz
in Handlungszwang. Zwar war uns bereits bei unserer Gründung
klar, dass es wahrscheinlich noch weitere Spinner geben sollte
- wir haben uns ja auch rasch einmal darauf geeinigt, dass alle
mitmachen dürfen, wenn sie uns passen - aber, als dann plötz-
lich einer da war, der wollte, waren wir nicht bereit. Also, muss-
ten wir unter Zugzwang das Aufnahmeprozedere regeln. Auf eine
kurze aber heftige Diskussion folgte die Einigkeit. Wer einer
von uns sein will, soll sich beweisen. Also, wurde er zum ersten
Juraz-Aspirant. Wir erwarteten von ihm ein originelles Gesuch
um Aufnahme. Das kam umgehend als überdimensionale Rohrpost.
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2004 Splint erhält die Weihe
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Wir haben ihm die schwarzen Gastrider-Tötenköpfe gegen die
silbernen Aspiranten-Totenköpfe getauscht und ihn in die Leh-
re genommen. Er hielt sich wacker, erfreute uns bei jeder Gele-
genheit mit seiner eigenen Art und wurde zum Freund. Unver-
gessen bleibt auch seine Aufnahme 2004 in Erinnerung. In An-
lehnung an seinen kultverdächtigen Raketenman-Stunt im Ge-
ländeabbruch - 2m auf dem Bike und die restlichen 30m runter
auf dem Hosenboden mit einer weithin sichtbaren Staubwolke
hinter sich herziehend - bastelten wir für ihm ein Starrlauf-
Raketenvelo sowie ein Raketenmann-Ganzkörperkondom und ei-
nen dazupassenden, goldenen Totenkopf-Helm. Alles anziehen
und aufsteigen. Wenn er es auf der Rakete im Moosshore bis ganz
nach unten schafft, ist einer von uns, wenn nicht, würden wir
ihn an Ort und Stelle verscharren. Natürlich musste die Rakete
erst noch gezündet werden. Eine ordentliche Packung Feuerwerk
im Antrieb sollte den nötigen Spezialeffekt liefern. Erst wollte
die Lunte nicht zünden. Dann ging plötzlich alles ganz
schnell. Die Triebwerke waren dermassen "on fire", dass der in
unmittelbarer Nähe wachsenden grünen Haselstrauch Feuer
fing. Mit einem ordentlichen Klaps auf den Rücken wurde der
Raketenmann auf seine Reise geschickt. Fahren kann er. Das
hatte er mit dieser Fahrt deutlich unter Beweis gestellt. Er
freute sich riesig über die goldenen Köpfe - und wir freuten
uns, dass er überlebt hatte. Wir waren jetzt vier - immerhin wür-
de es für einen anständigen Jass reichen.
2008 Die Juraz vermehren sich erneut
Wir haben uns zeitgleich für neue Frisuren entschieden. Meine
langen Fäden mussten einer Bürste weichen und er liess seinen
Seitenscheitel in die Länge wuchern. Es gibt Menschen mit de-
nen verbindet einem ein unsichtbares, feines aber reissfestes
Band. Driftet man, getrieben von den Wogen des Lebens, ausein-
ander und man verliert sich aus den Augen, spannt sich das
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Band irgendwann und zieht die beiden Enden gegen einander
zurück und die Lebenswege kreuzen sich erneut. Unerwartet
trifft man wieder auf Menschen, denen man schon einmal oder
auch schon mehrere Male im Leben begegnet ist. Er war abermals
bereit mit uns auf den Trail zu gehen. Die Vorzeichen waren nun
aber diesmal umgekehrt. Gab er in den Anfangsjahren auf dem Bi-
ke den Ton an, war er nun zum Hinterhecheln verdammt. Eigent-
lich ist er ja der Einzige von uns Juraz, der in seinem Leben
wirklich Sport getrieben hat. Er hatte es weit gebracht. Er
musste keine Turnschuhe mehr selber kaufen. Wer kann das schon
von sich behaupten. Aber er war lange weg und musste nun wie-
der anfangen mit uns mitzuhalten. Bald einmal stellte er sei-
nen Antrag in unserem Grüppchen mitzumachen. Er bescherte
uns unsere Homepage und seinen Antrag stellte er natürlich
auch dort ein. Von uns unbemerkt glänzte der kleine goldenen
Buddha lange Zeit auf www.juraz.ch. Keinem von wäre es in den
Sinn gekommen, mit der Maus das Ding anzuklicken und seine
Botschaft zu lesen. Er musste uns drauf aufmerksam machen.
Dann aber bekam er die silbernen Totenköpfe rasch an seine Ven-
tile geschraubt. Nicht einfach so, natürlich nicht, Wir fuhren
2006 nach Italien an den Gardasee und setzten uns auf die Ter-
rasse von Mecki's um Bierchen zu zischen. Das Mecki's Bikecafe
in Torbole ist so was wie der Wallfahrtsort von uns Juraz. Die
Totenköpfe haben wir unbemerkt in seinem Bier versenkt. Ein
kleiner Juraz-Scherz, der durchaus das Potential hatte, in die
Hosen zu gehen. Bei seinem Durst und seinem Zug hätten die
beiden Plastikteile ganz schnell in ihm verschwinden können.
Die Dinger sind ja nicht gerade darmgängig. Die wäre er wohl
nur mit Schmerzen wieder losgeworden. Aber er wurde rechtzeitig
gewarnt. Dennoch musste er in den kommenden zwei Jahren zahl-
reiche Prüfungen bestehen, die auch nicht wirklich schmerzfrei
gewesen sein dürften. Legendär seine Ansage bei einem grossen
Bier im Schlüssel, den Zengarten-Trail ohne grosse Anstren-
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gungen zu meistern und nach einem weiteren Grossen, wollte er
nicht einmal mehr ein Bein abstellen auf dieser Runde, weder
hoch noch runter. Sollte er scheitern, war ein eine einwöchige
Biotta-Saftkur fällig. Eine Strafe, die für einen wie ihn, un-
verhältnismässig hart scheint. Sieben Tage nichts zu beissen,
nur Saft saufen. Sein Albtraum schlechthin. Ein ganzes Jahr
gönnte er sich, um sich auf diese Prüfung vorzubereiten. Es war
ein reiner Kraftakt, nicht wirklich schön anzuschauen und mit
Sicherheit nicht schmerzfrei, aber er hatte sie bestanden, seine
sich auferlegte Selbstkastei. Die Saftflaschen haben wir Juraz
zusammen noch auf dem Parkplatz in Günsberg geleert. Von einer
Flasche Pflaumensaft bekommt man nicht die Schiesserei, das
weiss ich seither mit Sicherheit. Ebenfalls unvergessen, seine
Einladung auf seinen Hometrail. Schon damals lautete seine De-
vise: Wieso mehr, wenn weniger auch gut. Er ist mit uns in den
Jura aufgebrochen, ohne auch nur die leiseste Ahnung davon zu
habe, wo sein angeblicher Homerun durchführen könnte. Wir irr-
ten Dreiviertelstunden durch den Wald. Seit vier Monaten wohn-
haft in Solothurn und noch nicht einmal ein Ründchen hinter
der Hütte gedreht. Wenn man sich schon soweit aus dem Fenster
lehnt und Juraz in seinen Hinterhof einlädt, ja dann muss es
schon krachen. Im Zweiten Teil gab er sich sattelfester. Nur
eben, fä2 isst kein Fleisch und auch kein Fisch. Einfach die
Schinkenstücken und die Salamischeiben von der fertig geba-
ckenen Pizza klauben, ist nicht wirklich vegetarisch. Das Wun-
der von Solothurn blieb einmal mehr aus. Auch seine Kondition
wollte bald einmal nicht mehr besser werden. Sie stagnierte auf
tiefem Niveau. Mit allen erdenklichen Mitteln haben wir ver-
sucht, ihn zu motivieren. Der Erfolg wollte sich nicht einstel-
len. Wir vermochten ihn nicht auf ein höheres Level zu hieven.
Also, haben wir ihn so genommen, wie wir ihn bekommen haben.
Anlässlich einer Abendunterhaltung bei ihm im obersten Stock
- ja, das kann er natürlich - haben wir ihm einen Brautschleier
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Riva am Gardasee
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aufgesetzt, ihm die Predigt gehalten und gefragt, ob er wolle. Er
wollte und geht seither als Buddha und als einer von uns
durchs Leben. In den zehn Jahren sind wir von drei auf fünf Ju-
raz angewachsen. Die einen nennen so was mit Bedacht expandie-
ren und die anderen - und da scheint auch was Wahres dran zu
sein - zu schräg um Freunde zu haben. So sind wir in unserem
Jubiläumsjahr immer noch fünf. Einen neuen Aspiranten
scheint in weiter Ferne. Die einen die wollen, wollen wir nicht
und die anderen, die wir wollen, wollen uns nicht. "Ich habe ge-
nug andere Probleme" meint unlängst einer der zu uns passen
würde.
2011 Heute
Vieles hat sich verändert. Ich habe eine Familie, wie auch eini-
ge andere Juraz, und einen kleinen Juraz, dem man als Vater ei-
gentlich ein gutes Beispiel sein sollte und ihm das anständige
und vorsichtige Radfahren beibringen müsste. Aber eben, man
fährt mit dem Spross zuhause los, natürlich nicht ohne ihn
mehrere Male in erzieherischem Ton zu massregeln, nur um be-
reits nach wenigen Metern selber von der Strasse abzukommen
und über eine "Grasmutte" zu schanzen. Ist ja klar, dass der
Kleine das auch probieren will und mir jeweils klare und ver-
ständliche Argumente, dass er das lassen soll, nicht einfach so
aus dem Mund fallen. Also, habe ich angefangen, ihm zu zeigen,
wie man das macht und natürlich auch noch andere lustige Sa-
chen, die auf dem Bike möglich sind. Als Gegenleistung musste er
mir versprechen, nichts der Mama zu erzählen. Er scheint sich
daran zu halten - im Moment jedenfalls. Kann natürlich auch
sein, dass die Mutter ganz genau weiss, was wir auf unseren Run-
den so alles treiben und sie einfach keinen Kommentar dazu ab-
geben mag - im Moment jedenfalls. Gröbere Blessuren hat er noch
keine davon getragen, trotz der regelmässigen Stürze. Wenn ich
ihn stürzen sehe, ist das für mich im ersten Moment jedes Mal
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ein Schrecken. Dann stellt sich jeweils schon kurz nach dem er
wieder auf den Beinen steht aber auch Bewunderung ein. Es ist
faszinierend, wie Kinder fallen. Daran merkt man dann deutlich
sein eignes fortgeschrittenes Alter. Bei einem Sturz würde ich
gerne so elegant abrollen und wieder so rasch stehen wie ein
Kind. Wenn ich mich an meine letzten Abgänge erinnere: Grei-
senhaft. Dennoch fahren wir Juraz nach all den Jahren immer
mehr mit einem rechten Zacken über die Trails und auch viele
der Hindernisse, welche uns über Jahre die Angst in die Glieder
trieben, werden heute einfach überrollt. Wir bewegen uns aus-
serhalb unserer Möglichkeiten. Gestürzt wird eigentlich nur
noch selten. Wenn dann, dann aber heftig, und, alles andere als
geschmeidig und elegant. Die Regenration dauert in der Regel
mehrere Tage oder gar Wochen. Da ist nichts mehr mit einfach
aufstehen und sich kurz schütteln und alles ist wieder ent-
krampft und eingerenkt. Auch die blauen Flecken und die
Schürfwunden werden mit zunehmendem Alter zu treuen und ge-
duldigen Begleitern. Immerhin kann man dann vor den Kollegen
mit solchen Sport-Blessuren angeben. Wiederholtes und leicht
übertriebenes Prahlen bietet den entscheidenden Vorteil, dass
man mit der Zeit nur humpeln oder einen Arm hängen lassen
muss und gar nichts mehr dazu sagen braucht. Allen ist klar:
Aha, es hat ihn wieder an die Schnauze gelegt - den harten
Hund. Da lassen sich dann auch die spontanen altersbedingten
Rückenblockierungen und Gichtschübe ohne vorausgegangenen
und missratenen Doppel-Front-Tail-Whip ohne grossen Lügen-
geschichten als das-ist-halt-so-bei-einem-Stuntman verkau-
fen. Ich werde eben ganz einfach alt, ziehe einen flowigen Trail
dem Sentiero 601 vor und lebe von meinem Ruf aus besseren Tagen.
Im Moment bringe noch ich meinem Kleinen das Radfahren bei. Er
ist sich sicher, dass sein alter Vater - also ich - der schnellste
Renner auf Gottes Erde ist, der beste Velofahrer überhaupt - fä2
ausgenommen - auch keiner so gut kickt und es niemanden gibt,
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2011 Bettlestock "Evoc-Tester"
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der irgendwas besser könnte. Aber es wird sicher nicht mehr lan-
ge dauern und ich muss mit meinen beschränkten Fähigkeiten
und meinem verkalkten Bewegungsapparat passen. "Papa, wie
funktioniert ein Frontflip?" Was mach ich dann als Erzie-
hungsverantwortlicher? A: Ich hole mein Bike aus dem Keller,
zimmere die ultimative Killerrampe auf den Hausplatz und fan-
ge vor meinem Spross an zu flippen, bis ich entweder liegen
bleibe oder er es auch kann. Definitiv nein. Dann doch lieber B:
Ich versuchse ihm Fussball schmackhaft zu machen. In diesem
Sport habe ich auch viele Jahre mit meinen beschränkten Ta-
lenten versucht mehr schlecht als recht mitzuhalten. Aber an
den Ball kicken geht gerade noch so knapp und über Taktik und
veraltete Trainingsmethoden kann ich auch noch im hohen Al-
ter klugscheissern. Die Verletzungsgefahr ist relativ akzepta-
bel, denn man kann sich im Gegensatz zum Biken nicht mit grös-
serer Geschwindigkeit überschlagen als einen die eigenen Beine
beschleunigen können und man fällt nicht höher runter, als
man gross ist. Natürlich denkt ein Juraz nicht einmal im An-
satz so weit während er über einen Trail jagt. Nicht, dass ihn
keine ängste plagen würden oder er sich der Gefahr in diesem
Augenblick nicht bewusst wäre. Er hat ganz einfach anderes zu
tun. Nämlich sich festzuhalten und sich von einer brenzligen
Situation in die nächste zu retten. Und, sind wir ehrlich, die
entspannten Gesichter nach einem Ritt spiegeln nicht nur den
Trailrausch wider, sondern sind auch ein Zeichen der Erleichte-
rung, es einmal mehr überlebt zu haben. Das erste Mal hatte ich
bei einer unserer Reisen nicht nur das Bikes im Kopf gehabt.
Waren in Livigno im 2010 ausschliesslich die Trails von denen
es möglicht viele zu fahren galt, mein Hauptanliegen, so hatte
sich in diesem Jahr mein Fokus doch leicht verschoben. Ich
wollte ans Meer, mit den Jungs, und meine Seele baumeln lassen
und nur in zweiter Priorität krasse Trails fahren. Während der
Zeit auf den Trails bewegt man sich so schnell, dass die eigene
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Seele nicht zu folgen vermag. Am Abend ist man dermassen auf
der Schnauze, dass man gerade noch genügend Dampf hat sich was
zu essen zu besorgen und alles mehr oder weniger bewusst rein-
stopft. Man will nur noch ins Bett. Auch das, ein Anzeichen des
Alters. Es gab Zeiten, da fuhr ich für zwei Wochen nach Ibiza,
habe meinen Koffer ins Hotelzimmer gestellt, bin ins Nachtleben
eingetaucht, habe tagsüber am Strand geschlafen ohne eine ein-
zige Falte zu kassieren. Nach Zwei Wochen bin ich ins Hotel zu-
rückgegangen um meinen Koffer abzuholen. Abgesehen von der
Blässe, hat man mir nichts angemerkt. Meine Leber hat den Gin
ohne Gegenwehr vom Tonic getrennt. Solche Sachen heute mit
meinen 44 Jahren? Dann meldet sich auch immer wieder die Erfah-
rung und klärt wohltuend. Muss ich das wirklich noch haben?
Nein. Erst gerade habe ich mein Canyon einem jungen Wilden
verkauft. Keine Ahnung vom Biken, aber heiss auf Downhill. Ich
sehe noch ihn vor mir, wie er das Bike aus meinem Keller
schiebt. Meine mahnenden Worte, dass er die Sache langsam ange-
hen und sich erst einmal an das Bike gewöhnen soll, perlen an
seinem Rücken ab. Was will den der alte Sack? Keine drei Wochen
später habe ich dann von den heftigen Einschlägen vernommen.
Dann wieder: Muss ich das wirklich noch haben? Nein, schon wie-
der ein klares nein. Es müssen heute nicht mehr Trails mit Ka-
liber 601 sein, um mir - und anderen so wie so nicht - etwas zu
beweisen. Seit so vielen Jahren fahre ich nun mit dem Mountain
Bike über Stock und Stein und seit 10 Jahren bin ich jetzt ein
Juraz. Ich habe schon einiges mitgemacht und viel erlebt. Das
Biken hat mir in allen Lebenslagen einen festen Halt gegeben
und war mir ein "roter Faden" durch mein Sein. Ich lasse es
künftig ruhiger angehen. Den Holy Trail habe ich bis heute
nicht gefunden. Nicht, dass es den für mich nicht geben würde.
Ich bin mir sicher, er ist da draussen und wartet. Ich habe mich
einfach zu schnell bewegt und zu wenig aufmerksam nach ihm
gesucht. Künftig werde ich es ruhiger angehen und aus einem
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anderen, erweiterten Blickwinkel nach ihm Ausschau halten.
Vielleicht bin ich dann für den Holy Trail würdig und er lässt
sich blicken.
Wie schnell doch Zehn Jahre vorbei gehen