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Stile neuzeitlicher Spiritualität und geistliche Bewegungen der Gegenwart Hinführung Im Unterschied zur mittelalterlichen Mystik hat die Spiritualität der Neuzeit einige besondere Kennzeichen 1.Entdeckung des Ichs - Der Einzelne vor Gott viel mehr im Mittelpunkt als bisher - Der sog. „neuzeitliche Subjektivismus“ zeigt sich auch in der Spiritualität - Trotz der Unmittelbarkeit des Einzelnen vor Gott bindet sich der Einzelne in - unbedingtem Gehorsam an die Gemeinschaft der sichtbaren und verfassten Kirche sowie an das von Christus beauftragte kirchliche Amt - Der Unterschied zum Mittelalter besteht allerdings darin, dass diese Vermittlung durch Sakramente und Kirche nun eine „Vermittlung zur Unmittelbarkeit“ ist, d.h. am Ende steht der Einzelne vor Gott in seiner persönlichen Beziehung zu Jesus Christus - Die religiöse Erfahrung spielt dabei eine entscheidende Rolle 2.Sendung in die Welt - Mystik drängt vor allem in den Ruf Christi, alle Menschen zu seinen Jüngern zu machen und zu taufen - Sendung des einzelnen und der kirchlichen Gemeinschaft in die Welt 28.06.22 1 VL Neuzeitliche Spiritualität Prof. Dr. Cornelius Roth

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Stile neuzeitlicher Spiritualität und geistliche Bewegungen der Gegenwart

HinführungIm Unterschied zur mittelalterlichen Mystik hat die Spiritualität der Neuzeit einige besondere Kennzeichen1.Entdeckung des Ichs

- Der Einzelne vor Gott viel mehr im Mittelpunkt als bisher- Der sog. „neuzeitliche Subjektivismus“ zeigt sich auch in der Spiritualität- Trotz der Unmittelbarkeit des Einzelnen vor Gott bindet sich der Einzelne in -

unbedingtem Gehorsam an die Gemeinschaft der sichtbaren und verfassten Kirche sowie an das von Christus beauftragte kirchliche Amt

- Der Unterschied zum Mittelalter besteht allerdings darin, dass diese Vermittlung durch Sakramente und Kirche nun eine „Vermittlung zur Unmittelbarkeit“ ist, d.h. am Ende steht der Einzelne vor Gott in seiner persönlichen Beziehung zu Jesus Christus

- Die religiöse Erfahrung spielt dabei eine entscheidende Rolle2.Sendung in die Welt

- Mystik drängt vor allem in den Ruf Christi, alle Menschen zu seinen Jüngern zu machen und zu taufen

- Sendung des einzelnen und der kirchlichen Gemeinschaft in die Welt - Stellvertretung als abgründige Erfahrung einer gottlosen Welt

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Stile neuzeitlicher Spiritualität und geistliche Bewegungen der Gegenwart

- Während der Einsatz für die Kranken und Menschen aller Art etwa bei Heiligen wie Franz von Sales und Vinzenz von Paul im Mittelpunkt stehen, ist der Gedanke der Stellvertretung vor allem bei Therese von Lisieux präsent

3. Aufbrechen der Laienspiritualität- das ignatianische „Gott suchen und finden in allen Dingen“ führt zu einer Öffnung der Spiritualität auf alle Christen, die „in der Welt“ leben und dort den Glauben bezeugen- Franz von Sales hat diesbezüglich besondere Pionierarbeit geleistet, auch weil er zum ersten Mal so etwas wie eine „Spiritualität des Alltags“ (in seiner Schrift Philothea) entwickelte- Spiritualität in der Neuzeit macht also eine doppelte Öffnung mit: auf alle Stände hin (Priester wie Laien, Frauen wie Männer, Arbeiter wie Mönche) und auf alle Lebensbereiche (es gibt kein Bereich in meinem Leben, in dem Gott keine Rolle spielen würde)- Gott und Welt finden so zueinander

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1. Spiritualität und Entscheidung: Ignatius von Loyola (1491-1556) und die Exerzitien

a. Pilgerbericht: Mystik und Sendung- Keine detaillierte Lebensbeschreibung, sondernErzählung „wie Gott ihn von Anfang seiner Bekehrungan geleitet hat, damit jener Bericht uns als Testament und väterliche Belehrung dienen könne“- Iñigo López de Oñaz y de Loyola stammte aus einem alten baskischen Adelsgeschlecht und genoss als Page und Ritter einehöfische Erziehung- Die Genesungszeit nach seiner Verwundung wurde für ihn zur

Lebenswende (Lektüre der Vita Christi von Ludolf von Sachsen und der Legenda aurea von Jacobus de Voragine)

- Überlegung hinsichtlich der Unterscheidung der Geister: Er erkannte, dass der gute Geist auf Dauer Trost und Zufriedenheit spenden kann, während der böse Geist nur eine kurze Befriedigung vortäuscht

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1. Spiritualität und Entscheidung: Ignatius von Loyola (1491-1556) und die Exerzitien

a. Pilgerbericht: Mystik und Sendung- Zeit in Manresa („Urkirche“, „Noviziat“): Kennenlernen der „Nachfolge

Christi“ (Thomas von Kempen), mystische Erfahrungen am Fluss Cardoner- Erkenntnis des Wesentlichen, nämlich Gott in allen Dingen zu lieben und

alles auf ihn hin zu sehen (omnia ad maiorem Dei gloriam); Erkenntnis der Verschiedenheit der Geister (lernt immer besser, im Innern die Anregung Gottes von einer Anregung des Bösen zu unterscheiden)

- Die Lehre der Unterscheidung der Geister hat also bei Ignatius einen existentiellen, auf die eigene Erfahrung zurückgehenden Hintergrund

- Wallfahrt nach Jerusalem: Gebet an den wichtigsten Stellen, an dem der Herr geweilt hatte (Ölberg u.a.); sinnenhaftes Miterlebens des Lebens Jesu; „Anwendung der Sinne“

- Bleibt immer ein Kind spätmittelalterlicher Jesusverehrung - Die jesuanische Frömmigkeit wird für Ignatius und den Jesuitenorden zu

dem Kennzeichen schlechthin, was auch der Name Societas Jesu (Gesellschaft Jesu) anzeigt

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1. Spiritualität und Entscheidung: Ignatius von Loyola (1491-1556) und die Exerzitien

a. Pilgerbericht: Mystik und Sendung- Studium in Alcalá und Salamanca: Grammatik, Philosophie, Theologie- Inquisition wird auf ihn aufmerksam- Zeit in Paris (1528-1535) als Durchbruch: Sammlung erster Gefährten am

15. August 1534- Zwei wichtige Kennzeichen der Gefährten: der Gedanke der Mission

(„nach Jerusalem pilgern“), verbunden mit der Hilfe bzw. Bekehrung Ungläubiger; und die unbedingte Treue zum Papst und zum Lehramt der Kirche, die im sog. 4. Gelübde zum Ausdruck kommt, sich ganz dem Papst zur Verfügung zu stellen

- Typisches Charakteristikum jesuitischer Haltung, dass die unbedingte Treue zur Kirche gepaart wird mit einer möglichst großen Freiheit des Geistes

- während der Wartezeit auf die Überfahrt nach Jerusalem lassen sich die Gefährten 1537 in Venedig zum Priester weihen und stellen sich 1538 dem Papst zur Verfügung, um von ihm Auftrag und Sendung zu erhalten

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1. Spiritualität und Entscheidung: Ignatius von Loyola (1491-1556) und die Exerzitien

a. Pilgerbericht: Mystik und Sendung- der Entschluss, nach Rom zu gehen, ist für Ignatius geistlich begründet,

nämlich durch die Vision von La Storta: „Zum-Sohn-gestellt-Werden“ und Rombezogenheit („Ich werde euch in Rom gnädig sein“)

- Die Eucharistie hat Ignatius erst 1 ½ Jahre nach seiner Priesterweihe (am 24. Juni 1537) an Weihnachten 1538 seine Primizmesse gefeiert (vor der Krippenreliquie in Santa Maria Maggiore in Rom)

- Von nun an verbringt Ignatius den Rest seines Lebens bis zu seinem Tod am 31. Juli 1556 in Rom

- Nachdem der Orden 1540 vom Papst bestätigt wurde, leitete und ordnete Ignatius von Rom aus die Geschicke des sich rasch ausbreitenden Ordens (bei seinem Tod umfasste er 1000 Mitglieder in 110 Niederlassungen)

- Gründung verschiedener Studienkollegien (Collegio romano als Vorläuferin der Gregoriana und Collegio Germanico)

- Weltweiter Berater und geistlicher Führer

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1. Spiritualität und Entscheidung: Ignatius von Loyola (1491-1556) und die Exerzitien

b. Exerzitienbuch: Regeln zur Unterscheidung der Geister- Die geistlichen Übungen sind wohl das wichtigste Vermächtnis, das

Ignatius der Nachwelt hinterlassen hat- Ursprung in der eigenen geistlichen Erfahrung (vor allem in Manresa und

am Cardoner), Ausgestaltung erst im Laufe der Jahre- Ignatius ordnet seine Erfahrungen systematisch und fasst sie zu einer

vierwöchigen Übung für den einzelnen zusammen (es geht ihm um strukturierte „geistliche Übungen“)

- Ziel: Anteil haben an Jesus Christus, an seiner Person und seinem Leben und Leiden

- Die „geistlichen Übungen“ sind kein Buch zum Lesen, sondern eine Anleitung für den Exerzitienmeister, der den Exerzitanden während seiner vierwöchigen Exerzitienzeit begleitet (die „Wochen“ sind dabei als globaler Zeit- und Strukturbegriff gedacht)

- Wichtig ist die Zeit der Meditation (vier volle Stunden am Tag)

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1. Spiritualität und Entscheidung: Ignatius von Loyola (1491-1556) und die Exerzitien

b. Exerzitienbuch: Regeln zur Unterscheidung der GeisterAufbau der vier Wochen

• In der ersten Woche geht es um die Erwägung und Betrachtung der Sünden.• In der zweiten Woche ist das Leben Christi unseres Herrn bis zum „Palmtag“ einschließlich zu

betrachten.• In der dritten Woche geht es um das Leiden Christi, unseres Herrn.• In der vierten Woche soll schließlich die Auferstehung und Himmelfahrt betrachtet werden,

und es werden drei Weisen zu beten aufgestellt.

- Prinzip und Fundament der Exerzitien: „…nötig, dass wir uns gegenüber allen geschaffenen Dingen in allem, was der Freiheit unserer freien Entscheidungsmacht gestattet und ihr nicht verboten ist, indifferent machen“ (GÜ 23).

- Indifferenz: Ziel ist es, alles, auch den eigenen Willen, auf die Ehre Gottes auszurichten

- In der Praxis des Gebetslebens gilt ebenso wie für die gesamten Exerzitien, dass man nicht irgend etwas erzwingen oder irgendein Ziel erwarten, sondern sich gleichmütig dem Wirken Gottes an der Seele aussetzen soll

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1. Spiritualität und Entscheidung: Ignatius von Loyola (1491-1556) und die Exerzitien

b. Exerzitienbuch: Regeln zur Unterscheidung der Geister- Dynamik des Exerzitienprozesses- Erste Woche: Erfahrung der eigenen Erlösungsbedürftigkeit- Zweite Woche: Leben Jesu- Wichtige Betrachtungen: der „Ruf des Königs“ (GÜ 91-99), die „Zwei

Banner“ (GÜ 136-148), die Besinnung über die „Drei Arten von Menschen“ (GÜ 149-157) und die Erwägung über die „Drei Weisen der Demut“ (GÜ 164-168)

- Letztendlich geht es in ihnen allen um die Einübung in die Indifferenz und die Angleichung an den Willen Gottes für das eigene Leben

- Entscheidungssituation: Drei Wahlzeiten (GÜ 175-177)- Erste Wahlzeit: Gott gibt unmittelbar und in einer Weise, dass man unter keinen

Umständen noch begründet daran zweifeln kann, zu erkennen, welches die richtige Entscheidung ist (Bekehrung des hl. Paulus und des hl. Matthäus); Trost ohne Ursache

- Zweite Wahlzeit: Erfahrung von Trost und Trostlosigkeit (Regeln zur Unterscheidung der Geister)

- Dritte Wahlzeit: Objektive Erwägung der Alternativen (ruhige Zeit, Seele kann Vernunft und Wille frei gebrauchen); in der Praxis wohl die häufigste Form der Entscheidung

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1. Spiritualität und Entscheidung: Ignatius von Loyola (1491-1556) und die Exerzitien

b. Exerzitienbuch: Regeln zur Unterscheidung der Geister- Die vierte Woche beginnt mit einer eigenen „Betrachtung, um Liebe zu

erlangen“ (GÜ 230-237)- Regeln zur Unterscheidung der Geister (GÜ 313-336)

- Gelten vor allem für die ersten beiden Wochen- Es geht darum, „irgendwie die verschiedenen Regungen zu verspüren und zu erkennen,

die in der Seele verursacht werden, die guten, um sie anzunehmen, und die bösen, um sie abzuweisen.“

- Die erste Gruppe von Regeln betrifft das Verhalten in Trost und Trostlosigkeit- Wichtig das Verhalten in den jeweiligen Zeiten (zur Zeit der Trostlosigkeit keine

Änderung machen und nicht die ursprünglichen Vorsätze ändern; umgekehrt Tröstungen nicht vollständig vertrauen)

- Die zweite Gruppe von Regeln der ersten Woche beschäftigen sich mehr mit den Wirkweisen des „Feindes“

- Drei Bilder für den Feind: Frau (Schwäche des Feindes); falscher Liebhaber (Täuschung des Feindes; daher erfahrener Beichtvater wichtig); Hauptmann, der eine Burg einzunehmen versucht (Härte und Hartnäckigkeit der Feindes)

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1. Spiritualität und Entscheidung: Ignatius von Loyola (1491-1556) und die Exerzitien

b. Exerzitienbuch: Regeln zur Unterscheidung der Geister- Angriffe des Feindes „sub specie boni“ (Eigenart des „Engels des Lichtes“)- Notwendigkeit, auf das Ende zu schauen und den Verlauf der Gedanken

genau zu beobachten (GÜ 333)- allgemeine Warnung vor einem vollständigen Vertrauen in Tröstungen

(selbst bei den Tröstungen, die als echt erkannt wurden, soll man vorsichtig sein)

- Begleit- bzw. Nachfolgeerscheinungen einer Tröstung sind von der Tröstung selbst zu unterscheiden

- Regeln für das wahre Gespür, das wir in der streitenden Kirche haben müssen (GÜ 352-370)

- Ignatius lobt die Gepflogenheiten der Kirche, die Frömmigkeitsformen seiner Zeit, und ist darin alles andere als ein Reformer im gängigen Sinn (auch Lob für „positive und scholastische Lehre“; GÜ 363)

- Bei aller Anerkennung der Tradition geht es Ignatius aber immer auch darum, dass jeder Christ seinen eigenen Weg findet und geht

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Spiritualität des Karmel – Freude und Dunkelheit: Teresa von Avila (1515-1582), Johannes vom Kreuz (1542-1591) und

Therese von Lisieux (1873-1891)Allgemeine Kennzeichen karmelitischer Spiritualität- Erfahrung von Kreuz und Leid- Edith Stein: Kreuzeswissenschaft- Therese von Lisieux: Gottesferne am Ende des Lebens- Johannes vom Kreuz: Dunkle Nacht- Teresa von Avila: Krankheit und Krisen, aber auch die Freude des

Erlöstseins

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Spiritualität des Karmel – Freude und Dunkelheit: Teresa von Avila (1515-1582), Johannes vom Kreuz (1542-1591) und

Therese von Lisieux (1873-1891)a. Teresa von Avila- Reformerin der karmelitischen Mystik- Vater war ein sog. „Judäo-Konvertit“ oder „Krypto-Jude“- literarische Verbindung zur Kabbala und jüdischen Mystik in ihrem Hauptwerk „Die Innere Burg“- Kindheit: Identifikation mit den Heiligen und Märtyrern - Als Teresa 12 Jahre alt war, starb ihre Mutter- ganz normale Jugend mit den üblichen Liebschaften- 1535 Eintritt in den „Karmel der Menschwerdung“ in Avila (erste gute

Erfahrungen, Gebet der Ruhe und der Einigung)- 1539-1542: Schwere Erkrankung und schwere Krise (Teresa erlebte in

dieser Zeit sowohl das visionäre Erleiden der Hölle – die „dunkle Nacht“ – als auch den Trost durch das innere Beten)

- Heilung auf die Fürbitte des heiligen Josef

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Spiritualität des Karmel – Freude und Dunkelheit: Teresa von Avila (1515-1582), Johannes vom Kreuz (1542-1591) und

Therese von Lisieux (1873-1891)a. Teresa von Avila- Um 1554: Neubekehrung aus einem Ordensleben in Halbheit und

geistlicher Lauheit (entscheidend für diese zweite Bekehrung war die Lektüre der Bekenntnisse des heiligen Augustinus, noch stärker aber der Anblick einer Statue des leidenden Christus); neues Leben

- Ab 1560: Beginn der Reform des Karmeliterordens- 1562: Gründung (gegen einigen Widerstand im eigenen Konvent) des

ersten Klosters mit strenger Klausur, St. Josef in Avila- Es folgten weitere Gründungen (insgesamt gründete sie 17 Klöster),

verbunden mit vielen Reisen und organisatorischen Aufgaben, worin Teresa ihr Apostolat für die Welt und das Gemeinschaftsleben sah

- Bis zu ihrem Tod am 4./15. Oktober 1582 (wegen der gregorianischen Kalenderreform) entstanden 17 reformierte Schwestern- und drei Männerklöster

- Abfassung wichtiger geistlicher Werke

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Spiritualität des Karmel – Freude und Dunkelheit: Teresa von Avila (1515-1582), Johannes vom Kreuz (1542-1591) und

Therese von Lisieux (1873-1891)a. Teresa von AvilaHauptwerke- Autobiographie (Vida), die sie um 1560 auf Geheiß ihrer Beichtväter

verfasste, auch „Buch der Erbarmungen Gottes“ (Eingeständnis der eigenen Unvollkommenheit)

- „Weg der Vollkommenheit“ (1562), in dem das innere Beten anhand der Bitten des Vaterunsers thematisiert wird (Teresas wichtigstes Werk zur Gebetslehre)

- „Buch der Klosterstiftungen“ (1571-74), eine Reflexion ihrer praktischen Apostolatsarbeit

- „Seelenburg“ oder „innere Burg“ (1577), ihr reifstes Werk und Summe ihres mystischen Erlebens. Thema ist die absolute Hinkehr zum Höchsten in der Tiefe des eigenen Wesens, der „Seelenburg“. Ziel ist die gnadenhafte Einheit und Vereinigung mit Gott im menschlichen Willen.

- Teresa als „Mystikerin“ im engeren Sinn

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Spiritualität des Karmel – Freude und Dunkelheit: Teresa von Avila (1515-1582), Johannes vom Kreuz (1542-1591) und

Therese von Lisieux (1873-1891)a. Teresa von Avila- Kluge Meisterin des geistlichen Lebens (Notwendigkeit eines erfahrenen

geistlichen Begleiters, Hervorhebung der mystischen Gnaden von Frauen)- Teresa als Frau, die gleichzeitig zutiefst kontemplativ und aktiv war (diese

Bipolarität bzw. Komplementarität macht ihr Wesen aus)- Mut und Entschlossenheit im öffentlichen und spirituellen Leben, aber

auch Demut in den Phasen des Betens- Blick von den Regeln und Vorschriften auf das Wesentliche- Neben Berninis „Verzückung der heiligen Teresa“ in Rom (S. Maria della

Pace) steht Rubens‘ schreibende, arbeitende Teresa

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Spiritualität des Karmel – Freude und Dunkelheit: Teresa von Avila (1515-1582), Johannes vom Kreuz (1542-1591) und

Therese von Lisieux (1873-1891)a. Teresa von Avila- Protagonistin einer „menschlichen“ Heiligkeit- Wert der Freundschaft (zu Gott und den Menschen)- Gebet ist „nichts anderes als ein Verweilen bei einem Freund, mit dem wir

oft und gern allein zusammenkommen, um mit ihm zu reden, weil wir sicher sind, dass er uns liebt“ (Vida VIII, 5)

- Geistliche Freundschaft zu Priestern (Johannes v. Kreuz, Jerónimo Gracian) - Gebetslehre Teresas: Drei Stadien

- Gebet der Sammlung: Beginn des inneren Betens, „sich in gewisser Weise Gewalt antun“ heißt mutig und entschlossen die tägliche Übung des betrachtenden Gebetes in Angriff nehmen; Worte des Vaterunsers als „Schule echter Sammlung“; vertrautes Gespräch mit Jesus als unserem Freund

- Gebet der Ruhe: Bild von dem Garten, der auf vierfache Weise bewässert wird; Weite des Meeres (Verweilen bei Gott), lautloses Verweilen an der Quelle, im „Vater unser“ verbunden mit der Bitte nach dem Kommen des Reiches Gottes

- Gebet der Vereinigung: Dauerzustand der Freundschaft mit Gott, im „Vater unser“ verbunden mit der Bitte um Gottes Willen, völlige Passivität

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Spiritualität des Karmel – Freude und Dunkelheit: Teresa von Avila (1515-1582), Johannes vom Kreuz (1542-1591) und

Therese von Lisieux (1873-1891)a. Teresa von Avila- Die Einheit mit Gott, die Teresa auf der höchsten Stufe des Gebetes zu

beschreiben versucht, ist eine dynamische „Einheit zwischen Schöpfer und Geschöpf“

- Das dialogische Geschehen zwischen Gott und Mensch ist für sie zentral und wird besonders gerne im Begriff der Freundschaft ausgedrückt

- Ziel der Kontemplation bzw. des Gebetes der Vereinigung ist ein aktives Leben in der Nachfolge Christi, das Teresa selbst in ihrem Apostolat, aber auch in ihrer Krankheit verwirklicht hat und immer wieder auch von ihren Schwestern erwartete.

- So endet alles bei der „aktiven Kontemplation“. Und genau das ist das bleibende Kennzeichen von Leben und Spiritualität Teresas von Avila.

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Spiritualität des Karmel – Freude und Dunkelheit: Teresa von Avila (1515-1582), Johannes vom Kreuz (1542-1591) und

Therese von Lisieux (1873-1891)b. Johannes vom Kreuz- Doctor mysticus- Wegbereiter der spanischen Nationalliteratur- Insgesamt dunkler, weniger lebensbejahend und „vergeistigter“ als Teresa- Erfahrung, Gott in der Dunkelheit der geistlichen Nacht zu erkennen (in Krankheit, Enttäuschung, Gefangenschaft undAblehnung), ist ein Umstand, der sein Leben mit dem Leben vieler Menschendes 20. Jahrhunderts (Juden, Verfolgte etc.) verbindet- Die „dunkle Nacht“ seines Lebens mitsamt der riskanten Flucht mittels

eines waghalsigen Sprunges wird für ihn zum entscheidenden biographischen Moment, insofern er die Befreiung als nächtliche Begegnung mit dem geliebten Bräutigam begreift

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Spiritualität des Karmel – Freude und Dunkelheit: Teresa von Avila (1515-1582), Johannes vom Kreuz (1542-1591) und

Therese von Lisieux (1873-1891)b. Johannes vom Kreuz- Das Gedicht „En una noche oscura“, das dieses Ereignis reflektiert, ist

Ausgangspunkt seiner beiden wichtigsten Werke, dem Aufstieg zum Berge Karmel und der dunklen Nacht

- Neuer Wesenszug seiner Mystik: Abstieg statt Aufstieg (damit hat Johannes vom Kreuz für die Spiritualität der Neuzeit und Moderne einen maßgeblichen neuen Impuls gegeben)

- Am 24. Juni 1542 in Fontiveros (Avila) geboren - harte und entbehrungsreiche Kindheit und Jugend - Tätigkeit als Krankenpfleger- 1567: Begegnung mit Teresa von Avila (als neugeweihter Priester)- wirkte an verschiedenen Orten als Novizenmeister, Rektor und Spiritual der

reformierten Frauen- und Männerklöster und wurde gleichsam zu Teresas „spirituellem Arm“ der Reform

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Spiritualität des Karmel – Freude und Dunkelheit: Teresa von Avila (1515-1582), Johannes vom Kreuz (1542-1591) und

Therese von Lisieux (1873-1891)b. Johannes vom Kreuz- Wurde von seinen Brüdern wegen der Reform verfolgt, gefangengesetzt,

misshandelt und beinahe zu Tode gebracht- Fast ein ganzes Jahr (1577/78) verbrachte er in einem Kerker bei seinen

„Mitbrüdern“ in Toledo. - Nach dem Tod Teresas wurde er in seinem Orden immer mehr an den

Rand gedrängt- Kurz vor seinem Tod verlor Johannes alle Ämter. Man bot ihm aber an, mit

einigen Mitbrüdern in die Mission nach Mexiko zu gehen. Bei den Vorbereitungen dafür starb er in Ubeda (Jaén), verlassen und unverstanden am 14. Dezember 1591

- 1726 Heiligsprechung- 1926 Erhebung zum Kirchenlehrer

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Spiritualität des Karmel – Freude und Dunkelheit: Teresa von Avila (1515-1582), Johannes vom Kreuz (1542-1591) und

Therese von Lisieux (1873-1891)b. Johannes vom Kreuz- Vier große Werke

- Aufstieg zum Berge Karmel - Dunkle Nacht- Geistlicher Gesang - Lebendige Liebesflamme

- Drei große Themen- Gott als zentrale Wirklichkeit der menschlichen Lebens; „liebevolles Aufmerken auf Gott“ (vgl.

Geistlicher Gesang, Strophe 13 und 14); spricht von Gott gerne in poetischer Weise; Ansätze einer „ästhetischen Theologie“; Jesus Christus als letzte Offenbarung Gottes („Weihnachtspredigt Gottes an die Menschen“), zentrale Bedeutung für das Christusbild hat das Kreuz; Gottesunmittelbarkeit und Kreuz gehören zusammen

- Mensch und menschliche Seele als die Geliebte und Braut; ohne eine echte Läuterung kann die Seele nicht zur Einheit mit Gott gelangen; die drei Nächte, die der Mensch auf dem Weg zu Gott durchleben muss: dunkle Nacht der Sinne, des Geistes und der Gottes

- Liebe als verlangende Liebe („liebendes Aufmerken“) und als missionarische Liebe (die lebendige Liebesflamme weitertragen); wir werden am Abend unseres Lebens an der Liebe gemessen

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Spiritualität des Karmel – Freude und Dunkelheit: Teresa von Avila (1515-1582), Johannes vom Kreuz (1542-1591) und

Therese von Lisieux (1873-1891)b. Johannes vom Kreuz- Die drei Nächte des Menschen auf dem geistlichen Weg

- Dunkle Nacht der Sinne: Beginn des geistlichen Weges; der Mensch soll lernen, seine Gefühlszustände und Sinneswahrnehmungen zu relativieren, indem er sie nicht mehr absolut setzt, sondern in sein Leben mit Gott (bzw. auf Gott hin) integriert; die Dunkelheit dieser Erfahrung besteht darin, dass man auf dem geistlichen Weg eine gewisse Vereinsamung und Absonderung von weltlichen Werten in Kauf nimmt, aber auch den Abschied von manch vertrauten religiösen Formen und Gottesbildern

- Dunkle Nacht des Geistes: für geistliche Fortgeschrittene; der radikale, bedingungslose Glaube macht diese Nacht zu einer aktiven Nacht des Geistes („Ich überließ mich dem Dunkel in purem Glauben, der für die erwähnten natürlichen Fähigkeiten dunkle Nacht ist. Nur in meinem Willen war ich von Schmerz, Trübsal und brennender Liebessehnsucht nach Gott berührt.“ vgl. DN II, 4, 1-2); Weg zu Gott als Weg der Läuterung; Bild vom Feuer (Gott) und dem nassen Holzscheit (Mensch)

- Dunkle Nacht Gottes: Erkenntnis der göttlichen Fülle; rein passiv- Die drei Nächte dürfen nicht zu statisch verstanden werden; es sind

menschliche Erfahrungen innerhalb des geistlichen Lebens, die immer wieder auftreten können (d.h. auf allen Stufen)

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Spiritualität des Karmel – Freude und Dunkelheit: Teresa von Avila (1515-1582), Johannes vom Kreuz (1542-1591) und

Therese von Lisieux (1873-1891)b. Johannes vom Kreuz- Erfahrungen der Trockenheit, Leere, Vereinsamung und des Leids in

seinen vielfältigen Formen werden zum Gegenstand der Gottesbegegnung und -erfahrung gemacht: zum einen konkret-physisch, aber auch innerlich-geistlich

- Der Mensch hat die Aufgabe, aus der passiven eine aktive Nacht zu machen, die Zeit der Prüfung fruchtbar zu machen für sein geistliches Leben

- Die Richtung des Glaubensweges dreht sich dabei um: aus einer Aufstiegsmystik wird eine „Mystik des Abstiegs“

- Der Mensch wird zu Werken der Nächstenliebe veranlasst, die aus der Liebe zu Gott erwachsen

- Johannes vom Kreuz: „Von Gott getrennt kann ich nicht leben; ohn‘ ihn bin ich auch ohne mich.“

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Spiritualität des Karmel – Freude und Dunkelheit: Teresa von Avila (1515-1582), Johannes vom Kreuz (1542-1591) und

Therese von Lisieux (1873-1891)c. Therese von Lisieux- Papst Johannes Paul II. hat Therese von Lisieux 1997 zur Kirchenlehrerin erhoben und damit deutlich gemacht, dass man von ihr einiges lernen kann- wurde als Therese Martin am 2. Januar 1873 in Alençon geboren und wuchs in einer gläubigen Familie auf- Ihre Eltern (Ludwig und Zélie Martin), die 2008 als eines der wenigen

Ehepaare selig gesprochen wurden, waren sehr stille, religiöse Menschen- Alle fünf überlebenden Kinder traten später in einen Orden ein- Der erste Schicksalsschlag traf Therese schon mit vier Jahren, als 1877 ihre

Mutter starb- Nach dem Tod der Mutter zog die Familie von Alençon nach Lisieux um- Eine zweite Zäsur war für sie die Erstkommunion im Mai 1824, „der

schönste aller Tage“

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Spiritualität des Karmel – Freude und Dunkelheit: Teresa von Avila (1515-1582), Johannes vom Kreuz (1542-1591) und

Therese von Lisieux (1873-1891)c. Therese von Lisieux- die eigentliche Bekehrung mit ihrer Berufung für das Ordensleben im

Karmel an Weihnachten 1886 (von der äußerlichen, verhätschelten Kindheit zur geistlichen Kindheit der Fürsorge und Nächstenliebe)

- Sympathie zu den Sündern (Pranzini): Alle Verbrechen dieser Welt werden durch einen Tropfen der Barmherzigkeit Gottes getilgt

- Pfingsten 1887 Entschluss zum Ordensleben- Pilgerreise nach Rom (Audienz bei Papst Leo XIII. am 20.11.1887)- 9. April 1888 Eintritt in den Karmel in Lisieux („Kampf“ zwischen ihrer

Schwester Pauline und überhaupt der „Partei Martin“ gegen die Priorin und den Rest des Klosters)

- 8. September 1890 Profess- 29. Juli 1894 Tod des Vaters- Wahl ihrer Schwester Pauline zu Priorin des Konvents in Lisieux

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Spiritualität des Karmel – Freude und Dunkelheit: Teresa von Avila (1515-1582), Johannes vom Kreuz (1542-1591) und

Therese von Lisieux (1873-1891)c. Therese von Lisieux- Auftrag, ihre Kindheitserinnerungen niederzuschreiben („Geschichte einer

Seele“)- 9. Juni 1895 Weihe ihrer selbst als Ganz-Brandopfer an die barmherzige Liebe

des lieben Gottes - Ostern 1896 Beginn des „Kampfes mit der Nacht“ (neben der schweren

Tuberkulose, die sie die letzten 18 Monate ihres Lebens begleitete und häufig ans Bett fesselte, hatte sie auch mit noch nie da gewesenen Glaubenszweifeln zu kämpfen, so dass man die letzten 1 ½ Jahre ihres Lebens als eine einzige „Osternacht“ begreifen kann)

- wird selbst in eine Nacht geführt, die ihren Glauben existenziell in Frage stellt- Die Nacht der Seele, die sie erlebt, ist „kein Schleier mehr, es ist bereits eine

Mauer“- Widersprüchlichkeit: Sie hat immer noch teil am Licht des Glaubens, zugleich

aber auch an der Finsternis, in der die Ungläubigen leben

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Spiritualität des Karmel – Freude und Dunkelheit: Teresa von Avila (1515-1582), Johannes vom Kreuz (1542-1591) und

Therese von Lisieux (1873-1891)c. Therese von Lisieux- stellvertretendes Leiden und Solidarität mit den Ungläubigen- Besondere Liebe für die Ausgestoßenen und Sünder (Pranzini, Loyson)- Die letzten Wochen ihres Lebens waren für Therese völlige Finsternis- „Es sind die Überlegungen der schlimmsten Materialisten, die sich in

meinem Geist aufdrängen.“ - 30. September 1897 Tod, unverstanden, innerlich arm und allein (wenn auch äußerlich umhegt) mit den Worten auf den Lippen: „Ich bereue nicht, mich der Liebe ausgeliefert zu haben.“

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Spiritualität des Karmel – Freude und Dunkelheit: Teresa von Avila (1515-1582), Johannes vom Kreuz (1542-1591) und

Therese von Lisieux (1873-1891)c. Therese von LisieuxKennzeichen der Spiritualität- Liebe zu den Sündern und Ausgestoßenen

- Gott der Güte, nicht des Opfers - Hingabe an Gott, nicht Leistung- „Ich verstand, dass die Kirche ein Herz hat und dass dieses Herz von Liebe glüht. Ich

verstand, dass die Liebe allein die Triebkraft der Glieder der Kirche ist, dass wenn die Liebe erlöschen sollte, die Apostel das Evangelium nicht mehr verkündigen und die Märtyrer sich weigern würden, ihr Blut zu vergießen ... Ich verstand, dass die Liebe alle Berufungen in sich einschließt.“

- Therese verspürte auch die Berufung zum Priester in sich- wollte das Herz in der Kirche sein- Gleichheit der Geschlechter in der Kirche, die in der gemeinsamen Liebe zu Christus

begründet liegt- Sendungsgemeinschaft von Priestern und Laien

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Spiritualität des Karmel – Freude und Dunkelheit: Teresa von Avila (1515-1582), Johannes vom Kreuz (1542-1591) und

Therese von Lisieux (1873-1891)c. Therese von LisieuxKennzeichen der Spiritualität- Einsatz für die Priester, besonders in der Mission

- „Nicht dass der Priester irgendwo zwischen Himmel und Erde stünde, sondern dass Jesus wirklich, sichtbar und leibhaftig wirken will, dass er Menschen in den kleinen Dingen des Alltags begegnen will, dazu hat er die Sakramente gestiftet und dem soll auch der Priester dienen. Um also priesterlich Wirken zu können, muss dieser wie jeder Christ zuallererst immer einer sein, der Jesus bei sich aufnimmt.“

- „Priestersöhne“ Maurice Bellière und Adolph Roulland- betrachtet sich nicht als den verlorenen Sohn, sondern als den älteren Sohn aus dem

Gleichnis vom barmherzigen Vater, zu dem Gott gesagt hat: „Alles, was mein ist, ist dein“ (Lk 15, 31)

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Spiritualität des Karmel – Freude und Dunkelheit: Teresa von Avila (1515-1582), Johannes vom Kreuz (1542-1591) und

Therese von Lisieux (1873-1891)c. Therese von LisieuxKennzeichen der Spiritualität- Der kleine Weg der Brüderlichkeit

- Will einen Aufzug benutzen, um zu Gott zu gelangen- Theologische Aussage: Gott ist es letztendlich, der allein mich zu sich ziehen kann. Noch

so viele Anstrengungen können es nicht bewirken. - Es kommt nicht auf die großen Leistungen an, sondern auf die kleinen Dinge des Alltags,

auf die einfachen menschlichen Dinge, die uns tagtäglich begegnen. Das ist der Stoff, an dem man heilig werden kann

- Kindschaftsgeheimnis als das eigentliche Geheimnis der christlichen Existenz- Spiritualität der Zukunft: Ein dreifacher Weg, der auf die kleinen Dinge im Alltag schaut, der sich auf die Verkündigung der Liebe und Barmherzigkeit Gottes konzentriert, und uns ganz – auch hinsichtlich der Opferbereitschaft – mit Christus gleich gestaltet

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Spiritualität und Alltag: Franz von Sales (1567-1622)- wurde am 21. August 1567 auf Schloss Sales in Savoyen geboren- Als ältestes von zehn Kindern genoss er eine gute religiöse Erziehung, doch

war sein Vater auch darauf bedacht, ihn wissenschaftlich auszubilden- Studium der „Artes“ und der Philosophie (1584)- Beginn des Studiums der Theologie- Versuchung der Verzweiflung- Entscheidend für sein geistliches Leben wurde das Buch „Der Geistliche Kampf“ des Theatiners Lorenzo Scupoli († 1610)- 1591 Abschluss der weltlichen Studien (Doktorat der Rechte) - 18. Dezember 1593 Priesterweihe- Propst von St. Peter in Genf (intensive Predigt- und Beichttätigkeit)- Rückführung der protestantischen Gebiete um Genf herum zum

katholischen Glauben

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Spiritualität und Alltag: Franz von Sales (1567-1622)- 1602 Bischofsweihe in Thorens- Als Bischof um Seelsorge und die Ausbildung des Klerus bemüht („Wenige,

aber gute Priester“ waren sein Ideal)- Firmungs- und Visitationsreisen, Bemühungen um Predigt und Katechese - Werke: „Philothea“ und „Theotimus“; dazu umfangreiche

Briefkorrespondenz- mit der hl. Johanna Franziska von Chantal (1572-1641) Gründung eines

weiblichen Ordens- In Paris Begegnung mit Vinzenz von Paul („O Gott, wie gut musst erst du

sein, da schon der Bischof von Genf so gut ist!“)- „Nichts Menschliches soll mir fremd sein; ich will Mensch sein und nichts

weiter.“- „Zuviel und zu wenig nachsichtig sein – beides ist gefehlt. Es ist für uns

Menschen schwer, die Mitte zu halten. Doch wenn ich fehle, will ich lieber durch zu große Milde als durch zu große Strenge fehlen.“

- 28.12.1622 Tod in Lyon (1661 selig, 1665 heilig, seit 1877 Kirchenlehrer)

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Spiritualität und Alltag: Franz von Sales (1567-1622)- „Philothea“ gehört zu den meist gelesenen Erbauungsbüchern der

Weltliteratur (nach dem Evangelium und der Nachfolge Christi)- Spiritualität für Laien (Franz von Sales wendet sich ganz bewusst an die

Menschen in der Welt: „Ich möchte jene unterweisen, die mitten in der Welt, in den Städten, im Familienkreise leben.“)

- Verschiedene Formen von Frömmigkeit („Es gibt so viele Arten von Frömmigkeit, als es Berufe gibt.“)

- Franz war vertraut mit der Tradition der Spiritualitätsgeschichte (Cassian, Wüstenväter, Bernhard von Clairvaux, Thomas von Kempen)

- bei den Vätern der Gesellschaft Jesu erzogen (Hang zur Pragmatik)- gegen alle übertriebenen Formen der Frömmigkeit - aus Religion und Beruf eine Einheit zu Wege bringen- Nachdem im ersten Teil von den verschiedenen Neigungen zur Sünde in

menschlich und psychologisch sehr feinfühliger Weise die Rede war, geht es im zweiten Teil der „Philothea“ um das Gebet und die heiligen Sakramente als Mittel des religiösen Lebens (Ratschläge für eine Spiritualität des Alltags)

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Spiritualität und Alltag: Franz von Sales (1567-1622)- Wert der gemeinschaftlichen Frömmigkeit- „Wir haben uns nichts anderes vorgenommen, als gute Menschen zu sein:

edle, religiöse Frauen und Männer. Darauf sollen wir uns ganz verlegen ... Lassen wir ruhig das Außergewöhnliche den Außergewöhnlichen: wir verdienen nicht so hohen Grad vor Gott.“

- „Gar oft sind solche, die schon Engel zu sein vermeinen, nicht einmal gute Menschen.“

- „Eine stete Mäßigkeit ist – vom gesundheitlichen wie vom ethischen Standpunkt aus – periodischen Gewaltkuren vorzuziehen.“

- Es geht Franz immer um eine menschliche, natürliche Frömmigkeit (will, dass unser Umgang mit Menschen durch heitere Freundlichkeit gekennzeichnet ist)

- In der „Philothea“ geht es um eine Spiritualität des Alltags mit Tiefe- Treue im Kleinen und Großen: „Ertrage freundlich die kleinen

Widerwärtigkeiten, Beleidigungen, Verluste! (…) Weil diese kleinen Gelegenheiten sich alltäglich, von Stunde zu Stunde bieten, sind sie ebenso viele Anlässe, aus denen dir Segen quillt.“

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Spiritualität und Alltag: Franz von Sales (1567-1622)- Theotimus: Intention - möchte „die Geschichte der Entstehung, des

Fortschritts und Verfalls der göttlichen Liebe, ihre Werke, Eigenschaften, Vorzüge und Erhabenheit“ beschreiben

- Thema der göttlichen Eingebungen: „Eines der sichersten Kennzeichen, dass eine Einsprechung von Gott kommt, ist der Friede und die Ruhe des Herzens, die damit verbunden sind.“

- Entscheidung soll ruhig und gelassen geschehen: „Bleiben wir ruhig und beharrlich bei der einmal gefällten Entscheidung.“

- Zentral sind für Franz die Hoffnung, die Beharrlichkeit, die Wachsamkeit und die selbstlose Liebe

- „Seien wir wie weiches Wachs in den Händen des Herrn. Verzichten wir darauf, dies und jenes zu wünschen und zu wollen; lassen wir Gott für uns wählen.“

- Bedingungslose Hingabe an Gott: Geheimnis des christlichen Lebens besteht darin, dass man sein Leben nur dann gewinnt, wenn man es nach irdischen Maßstäben verliert; wenn man bereit ist, sich wegzuschenken, um sich dadurch erst zu gewinnen.

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4. Spirituelle „Querdenker“: Blaise Pascal (1623-1662) und Sören Kierkegaard (1813-1855)

a. Blaise Pascal- Am 19. Juni 1623 in Clermont geboren, war er in seiner Kindheit und Jugend in erster Linie ein genialer Naturwissenschaftler und Mathematiker- Versuch über die Kegelschnitte (1640)- „Neue Experimente die Leere betreffend“ (1647)- Seit 1642 Beschäftigung mit der Konstruktion einer Rechenmaschine- Ab dem 25. Lebensjahr Beschäftigung mit Fragen der

Religion und Theologie (Kontakt zum Kloster Port-Royal in Paris, wo ein strenger Augustinismus gelehrt wurde)

- Bis zum Schluss behielt er den „doppelten Weg“ von Naturwissenschaft und Religion bei

- Es wächst allerdings die Skepsis gegenüber den menschlichen Fähigkeiten und die Überzeugung der absoluten Wirkmacht Gottes

- Tod am 19. August 1662 in Paris

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4. Spirituelle „Querdenker“: Blaise Pascal (1623-1662) und Sören Kierkegaard (1813-1855)

a. Blaise Pascal- Mémorial (23. November 1654): Erinnerungszettel an ein mystischer

Erlebnis- „Feuer: Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs, nicht der Philosophen

und Gelehrten. Gewissheit, Gewissheit, Empfinden: Freude, Friede.“ - Nach dieser entscheidenden Bekehrung seines Lebens verfasste er die

beiden wirkmächtigsten Schriften, die allerdings beide Fragmente blieben: die „Lettres Provinciales“, in denen er im Gnadenstreit Stellung für die augustinische und paulinische Richtung der Jansenisten bezog und die Apologie über den christlichen Glauben, die so genannten „Pensées“

- In den „Lettres Provinciales“ hat Pascal mehrere Anliegen - Verteidigung der sog. „wirksamen Gnade“, die von Gott kommt und den Menschen erst

zu gutem Handeln befähigt, gegenüber der sog. „hinreichenden Gnade“, die nach dem Verständnis der Jesuiten eine natürliche Disposition zum Guten im Menschen annimmt

- Kritik an der kasuistischen Moraltheologie der Jesuiten- Ärger darüber, dass vor lauter Diskussionen um die verschiedenen Formen der Gnade die

alleinige Wirkmacht Gottes in Frage gestellt wird

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4. Spirituelle „Querdenker“: Blaise Pascal (1623-1662) und Sören Kierkegaard (1813-1855)

a. Blaise PascalPensées / „Gedanken über die Religion und über einige andere Gegenstände“- „die einzig wirkliche Apologie des Christentums in der Neuzeit“ (K. Löwith)- Die Gedanken Pascals kreisen um die Mitte christlicher Existenz und die

Frage nach dem Sinn des Daseins, die Suche nach Gott und die Bedeutung der Gestalt Jesu Christi

- Er sieht den Menschen in der Mitte zwischen Nichts und All, immer auf der Suche nach seiner wahren Mitte, Jesus Christus

- „Alles Wahrnehmbare zeigt weder völlige Abwesenheit noch eine offenbare Gegenwärtigkeit des Göttlichen, wohl aber die Gegenwart eines Gottes, der sich verbirgt. Alles trägt dieses Merkzeichen“ (Pensées 556)

- Mitte der pascalschen Mystik liegt in Jesus Christus (nur durch Christus kennen wir Gott und uns selbst)

- ist von der Wahrheit Jesu Christi so überzeugt, dass er alle anderen Religionen demgegenüber für minderwertig hält („Nur die Berichte glaube ich, deren Zeugen sich umbringen lassen würden“, Pensées 593)

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4. Spirituelle „Querdenker“: Blaise Pascal (1623-1662) und Sören Kierkegaard (1813-1855)

a. Blaise Pascal- Kritik am Islam, besonders Mohammed: „Während

Mohammed den Weg wählte, um menschlich erfolgreich zu sein, wählte Jesus Christus den, um Menschlich umzukommen“ (Pens. 599).

- Proprium der christlichen Religion ist die äußere Erfolglosigkeit: „Die einzige Religion, die gegen die Natur, gegen den gesunden Menschenverstand, gegen unsere Vergnügungen ist, ist die Einzige, die immer gewesen ist“ (Pens. 605).

- Verhältnis zur jüdischen Religion ist zwiespältig (die Erwartung eines Messias ist etwas, was Judentum und Christentum miteinander verbindet; andererseits ist es für ihn „erstaunlich und besonderer Beachtung würdig, dass die Juden seit so vielen Jahren bestehen und dass man sie immer in Elend findet“; Pens. 640/641)

- Christozentrik ist Zentrum von Pascals Gedanken auch im Hinblick auf andere Religionen

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4. Spirituelle „Querdenker“: Blaise Pascal (1623-1662) und Sören Kierkegaard (1813-1855)

a. Blaise Pascal- Verständnis der Eucharistie: „Wie hasse ich diese Dummheiten, nicht an

die Eucharistie usw. zu glauben! Wenn das Evangelium wahr ist, wenn Jesus Christus Gott ist, was ist dann hier schwierig?“ (Pens. 224)

- Bipolarität des christlichen Glaubens: So wie der Mensch zwischen Größe und Elend ausgespannt ist, ist es Jesus Christus zwischen absoluter Macht und absoluter Niedrigkeit

- Auch in der Kirche setzt sich das fort. In ihr gibt es Klarheit und Dunkelheit, und das ist gut so.

- Die größte aller christlichen Wahrheiten die Liebe zur Wahrheit selbst- Blaise Pascal ist als leidenschaftlicher Sucher dieser Wahrheit, die uns in

Jesus Christus offenbart wurde und die Mitte unserer Existenz ausmacht, ein bleibender Profilgeber für alle Christen

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4. Spirituelle „Querdenker“: Blaise Pascal (1623-1662) und Sören Kierkegaard (1813-1855)

b. Sören Kierkegaard- Kierkegaards kurzes Leben – er wurde nur 42 Jahre alt – begann am 5. Mai 1813 in Kopenhagen- Tiefe religiöse Schwermut vom Vater- Studium der Philosophie und Theologie (u.a. beiSchelling in Berlin), Erwerb des theol. Doktorgrads- einjährige Verlobungszeit mit Regine Olsen, danach Bruch- Schicksal eines Einzelgängers: Als Einzelgänger und Außenseiter verfasste er

auch seine Schriften, die z.T. unter Pseudonym herausgebracht wurden- Wichtige Werke für die Spiritualität

- Entweder – Oder (1843): Unterschied von Ästhetik und Ethik aufmerksam macht. „Nur die Wahrheit, die erbaut, ist Wahrheit für dich.“

- Einübung im Christentum (1850): Kritik am Christentum lutherischer Prägung in der dänischen Staatskirche, das er als selbstverständliche, spießbürgerliche Religion des Bürgertums verstand (v.a. an Landesbischof Mynster als den Hauptrepräsentanten einer verbürgerlichten, lau gewordenen Kirche)

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4. Spirituelle „Querdenker“: Blaise Pascal (1623-1662) und Sören Kierkegaard (1813-1855)

b. Sören Kierkegaard- Gegen ein Christentum, welches im Grunde nur geistliche

Selbstbefriedigung und Selbstbestätigung ist, setzt Kierkegaard ein „Christentum, das die intensiv stärkste, die größtmögliche Unruhe“ ist

- Theologisch betrachtet ging es Kierkegaard v.a. um Jesus Christus als den Erniedrigten, den von der politischen und religiösen Welt Verachteten, den Verworfenen und Gekreuzigten

- Gegen Ende seines Lebens geriet er durch wachsenden Widerspruch zu seiner Umgebung in eine immer größere Einsamkeit und Isolierung (1854, ein Jahr vor seinem Tod, verließ er die dänische Staatskirche)

- Am 2. Oktober 1855 ließ sich Kierkegaard ins Krankenhaus bringen, wo er am 11. November starb

- Keine Reue hinsichtlich seiner scharfen Kritik: „So soll es auch sein, sonst hilft es nichts. (…) Meinst du, ich solle das verschleiern? Erst zur Erweckung reden und dann zur Beruhigung? (…) Du musst beachten, dass ich vom Innersten des Christentums aus geblickt habe.“

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4. Spirituelle „Querdenker“: Blaise Pascal (1623-1662) und Sören Kierkegaard (1813-1855)

b. Sören Kierkegaard- Hauptthemen der Spiritualität sind der einzelne Mensch vor Gott und die

Radikalität des Evangeliums (Impuls zur Erneuerung des Christentums)- Christus wollte Nachfolger, keine Bewunderer: „Es ist bekannt genug, dass

Christus fort und fort von ‚ihm nachfolgen’ spricht; er redet nie davon, dass er Bewunderer, anbetende Bewunderer, Anhänger, begehre.“

- „Wenn alles dem Christentum günstig ist, so ist es nur allzu leicht, einen Bewunderer mit einem Nachfolgenden zu verwechseln, und das kann ganz unmerklich geschehen. … Darum achte auf die Gleichzeitigkeit.“

- „Gleichzeitigkeit“ als der Versuch des Menschen, seinem Vorbild – als Christ ist es Jesus Christus – immer mehr zu gleichen

- Beispiele falscher Bewunderung: Judas und Nikodemus- „Da ist ein unendlicher Unterschied zwischen einem Bewunderer und

einem Nachfolgenden; denn ein Nachfolgender ist, was er bewundert, oder strebt doch danach, es zu sein.“

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4. Spirituelle „Querdenker“: Blaise Pascal (1623-1662) und Sören Kierkegaard (1813-1855)

b. Sören Kierkegaard- „Der Bewunderer, er will keine Opfer bringen, keinem Ding entsagen, nichts Irdisches aufgeben, nicht sein Leben umbilden, nicht das Bewunderte sein, nicht sein Leben das Bewunderte ausdrücken lassen. (…) Der Nachfolgende hingegen trachtet danach, das Bewunderte zu sein.“- Kierkegaard sieht die Christenheit auf einem schlimmen Weg, nämlich auf

dem Weg der Perversion, dass der Bewunderer zum wahren Christ wird und der Nachfolger ein seltsamer Eigenbrödler (es geht nicht um echte Christen, sondern um „Ehrenchristen“)

- In dieser bitteren und schonungslosen Analyse des Christentums seiner Zeit wird deutlich, wie sehr ihn ein verbürgerlichtes Christentum angeekelt hat (eine Wildgans muss aufpassen, dass sie im Kontakt mit den zahmen Gänsen nicht ihre Wildheit verliert)

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4. Spirituelle „Querdenker“: Blaise Pascal (1623-1662) und Sören Kierkegaard (1813-1855)

b. Sören Kierkegaard- Beispiel der Schulklasse mit 100 Schülern: „Was ist Spießbürgerlichkeit, was ist

Geistlosigkeit? Es ist dies, dass man den Maßstab verändert hat durch Fortlassen der Ideale, dass man den Maßstab verändert hat gemäß dem, wie wir Menschen, die jetzt hierzuort leben, nun einmal sind.“

- Das Christentum muss himmelstürmend und beunruhigend sein, nicht erdverhaftet und beruhigend (Beispiel vom Arzt in einem Land, in dem Abführmittel und Mittel gegen Durchfall vertauscht wurden): „Ebenso mit dem Christentum in der Christenheit. Im NT ist das Christentum die nachdrücklichste Unruhe, die möglich ist. (…) Und in der Christenheit wird das Christentum beruhigend gebraucht.“

- Für Kierkegaard ist das Christentum des Neuen Testamentes gar nicht mehr da. Man hat versucht, „das Christentum Stück für Stück Gott abzulisten, und es dahin gebracht, dass das Christentum genau das Gegenteil dessen ist, was es im NT ist.“

- Wenn Christus heute zur Welt käme, werde er vielleicht gar nicht getötet werden, sondern ausgelacht

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4. Spirituelle „Querdenker“: Blaise Pascal (1623-1662) und Sören Kierkegaard (1813-1855)

b. Sören Kierkegaard- Das Problem ist, dass man Jesus als Person nicht mehr ernst nimmt.

Vielmehr ist er zu einem Prinzip des Lebens geworden, das letztlich mir persönlich nichts mehr zu sagen hat

- Die Wahl des Kleinen, Schwachen, Ausgestoßenen und Sündigen macht nach Kierkegaard die Nachfolge Christi aus; demgegenüber hat sich das Christentum auf die Seite der Reichen, Satten, Hochgestellten und scheinbar Sündlosen gestellt und ist damit nicht mehr auf der Seite Christi

- Kierkegaards Priesterbild- „Ein Priester ist, was er ist, durch die Ordination. Hier ist die Möglichkeit des

Ärgernisses, das Paradox.“- Autorität („Ein Priester soll Autorität gebrauchen, er sollte den Menschen sagen: Ihr

sollt.“)- Kritik an der Priesterehe („Die Christenheit bräuchte wirklich aufs dringendste wieder

eine unverheiratete Person, um das Christentum neu aufzugreifen, nicht als wäre da etwas einzuwenden gegen die Ehe, aber sie hat doch allzu sehr das Übergewicht erhalten. … Niemals vergisst es den Platz für die entscheidenderen Existenzen.“)

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4. Spirituelle „Querdenker“: Blaise Pascal (1623-1662) und Sören Kierkegaard (1813-1855)

b. Sören Kierkegaard- Kierkegaard hatte persönliche Schwierigkeiten mit dem Verheiratetsein,

worin er eine allzu große Anpassung an ein bürgerliches Leben sah- Der Zölibat ist geradezu ein Echtheitskriterium entschiedener Nachfolge

für ihn- Hintergrund ist seine Verlobung mit Regine Olsen- Nach dem Bruch schreibt er: „Es hat mich tief und lebendig daran

erinnert, dass sie ja doch nicht die erste Hypothek in meinem Leben hat. Menschlich gesprochen hat sie die erste Hypothek,

und sie soll sie haben – aber Gott hat doch die erste. Meine Verlobung mit ihr und der Bruch ist, wenn ich so sagen darf, göttlich gesprochen meine Verlobung mit Gott.“

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