Strafrecht Allgemeiner Teil I - rwi.uzh.chb1d2c029-52f0-411a... · Wichtige Rechtfertigungsgründe...

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Rechtswissenschaftliche Fakultät Strafrecht Allgemeiner Teil I §8 Das vorsätzliche vollendete Begehungserfolgsdelikt – Rechtswidrigkeit Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi, LL.M., RA Vgl. DONATSCH/TAG, S. 217 ff.; STRATENWERTH,§10

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Strafrecht Allgemeiner Teil I

§8 Das vorsätzliche vollendete Begehungserfolgsdelikt – Rechtswidrigkeit

Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi, LL.M., RA

Vgl. DONATSCH/TAG, S. 217 ff.; STRATENWERTH,§10

Art. 15 Rechtfertigende NotwehrWird jemand ohne Recht angegriffen oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht, so ist der Angegriffene und jeder andere berechtigt, den Angriff in einer den Umständen angemessenen Weise abzuwehren.

Art. 16 Entschuldbare Notwehr1 Überschreitet der Abwehrende die Grenzen der Notwehr nach Artikel 15, so mildert das Gericht die Strafe.2 Überschreitet der Abwehrende die Grenzen der Notwehr in entschuldbarer Aufregung oder Bestürzung über den Angriff, so handelt er nicht schuldhaft.

Art. 17 Rechtfertigender NotstandWer eine mit Strafe bedrohte Tat begeht, um ein eigenes oder das Rechtsgut einer anderen Person aus einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr zu retten, handelt rechtmässig, wenn er dadurch höherwertige Interessen wahrt.

Art. 18 Entschuldbarer Notstand1 Wer eine mit Strafe bedrohte Tat begeht, um sich oder eine andere Person aus einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leib, Leben, Freiheit, Ehre, Vermögen oder andere hochwertige Güter zu retten, wird milder bestraft, wenn ihm zuzumuten war, das gefährdete Gut preiszugeben.2 War dem Täter nicht zuzumuten, das gefährdete Gut preiszugeben, so handelt er nicht schuldhaft.

Strafrechts-Puzzle:1. Lesen Sie diese Bestimmungen. 2. Legen Sie fest, WO, d.h. an welchem Prüfungsstandort, diese Bestimmungen im Straftataufbau

unterzubringen sind. Bei mehreren Absätzen: Zuweisung für jeden Absatz vornehmen.3. Begründen Sie Ihre Wahl des Prüfungsstandortes.

Gehört das Verhalten zu einem Typus von Verhaltensweisen, die grundsätzlich als Unrecht einzustufen sind (Unrechtsbegründung)?

I. Tatbestand

Liegen Gründe vor, wegen denen die Einstufung als Unrecht für den konkreten Fall zu korrigieren ist (Unrechtsausschluss)?

II. Rechtswidrigkeit(= Fehlen von Rechtfertigungs-gründen)

Kann dem Täter kann sein Verhalten als persönliches Verschulden vorgeworfenwerden?

III. Schuld(= Fehlen von Schuldaus-schliessungsgründen)

Gibt es sonstige Gründe, die einem Schuldspruch/der Verhängung von Strafe entgegenstehen?

u.U. objektive Bedingung der Strafbarkeit (z.B. bei Art. 133, 134 StGB) u.U. Strafausschliessungs-/Strafaufhebungsgründe (z.B. Art. 54 StGB) u.U. prozessuale Verfolgungshindernisse (z.B. fehlender Strafantrag, Eintritt der

Verjährung)

Gliederungsstufen der Straftat:

Gehört das Verhalten zu einem Typus von Verhaltensweisen, die grundsätzlich als Unrecht einzustufen sind?

I. Tatbestand 1. objektiver Tatbestand Elemente je nach BT-Bestimmung

2. subjektiver Tatbestand Vorsatz in Bezug auf alle obj. TBM u.U. weitere subjektive Merkmale

Liegen Gründe vor, wegen denen die Einstufung als Unrecht für den konkreten Fall zu korrigieren ist?

II. Rechtswidrigkeit(= Fehlen von Rechtfertigungs-gründen)

Wenn möglicherweise doch ein RFG eingreift, prüfen Sie diesen nach seinen:1. objektiven Elementen2. subjektiven Elementen

Kann dem Täter kann sein Verhalten als persönliches Verschulden vorgeworfenwerden?

III. Schuld(= Fehlen von Schuldaus-schliessungsgründen)

Gibt es sonstige Gründe, die einem Schuldspruch/der Verhängung von Strafe entgegenstehen?

u.U. objektive Bedingung der Strafbarkeit u.U. Strafausschliessungs-/Strafaufhebungsgründe u.U. prozessuale Strafverfolgungshindernisse (z.B. fehlender Strafantrag,

Eintritt der Verjährung)

Unrechtsbegründung – Unrechtsausschluss:

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Struktur der Rechtfertigungsgründe

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Tatbestandsverwirklichung

objektiver Unwert (Erfolgsunwert): Aussenwirkung des Verhaltens; Verletzung/Gefährdung des Rechtsguts

subjektiver Unwert (Handlungsunwert): innere Einstellung des Täters, insbesondere vorsätzliche/fahrlässige Begehung (u.U. weitere subj. Merkmale)

Rechtfertigung

objektives Rechtfertigungselement (Erfolgswert): Vorliegen einer rechtfertigenden SV-Konstellation

subjektives Rechtfertigungselement (Handlungswert): Handeln mindestens in Kenntnis der rechtfertigenden SV-Konstellation (pro RFG zu präzisieren)

gleicht aus

gleicht aus

Vgl. DONATSCH/TAG, S. 221; STRATENWERTH, § 10 N 102 ff.

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Die Rechtswidrigkeit als Prüfungsstufe

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Rechtfertigungsgründe: können sich aus der gesamten Rechtsordnung ergeben (Art. 14 StGB hat rein deklaratorische

Bedeutung)

können auch auf der Grundlage des Gewohnheitsrechts entstehen

können auch im Wege der Analogie gewonnen werden

Es gibt keinen abgeschlossenen Kreis von Rechtfertigungsgründen (sie können neu entstehen und alte Rechtfertigungsgründe können an Bedeutung verlieren).

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Wichtige Rechtfertigungsgründe im Überblick

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Strafgesetzliche Rechtfertigungsgründe: rechtfertigende Notwehr (Art. 15 StGB) rechtfertigender Notstand (Art. 17 StGB) andere (z.B. Art. 119 Abs. 1 StGB bei Schwangerschaftsabbruch)

Ausserstrafgesetzliche und übergesetzliche Rechtfertigungsgründe, z.B.: rechtfertigende Pflichtenkollision Einwilligung des Opfers Wahrung berechtigter Interessen Festnahmerecht (Art. 217 f. StPO), Beschlagnahmebefugnis usw. zivilrechtliche Gefahrenabwehrbefugnisse (Art. 52 OR; Art. 701 [Eingriff in Grundeigentum], 926

ZGB [Besitzesschutz]), Erziehungspflicht (Art. 327b Abs. 1 i.V.m. Art. 302 ZGB), etc., etc., etc.!

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Die Rechtswidrigkeit als Prüfungsstufe

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Beachte: es werden nur diejenigen Rechtfertigungsgründe geprüft, für die es im Einzelfall

Anknüpfungspunkte gibt ansonsten beschränkt man sich auf den Satz, dass Rechtfertigungsgründe nicht ersichtlich sind

und damit die Tat als rechtswidrig anzusehen ist bestehen Anknüpfungspunkte für mehrere Rechtfertigungsgründe, kann, sobald ein

Rechtfertigungsgrund bejaht wurde, auf die Prüfung weiterer Rechtfertigungsgründe verzichtetwerden

Sonderfall: positive Feststellung der Rechtswidrigkeit bei offenen Tatbeständen (z.B. Nötigunggem. Art. 180 StGB – mehr dazu im BT I)

Gehört das Verhalten zu einem Typus von Verhaltensweisen, die grundsätzlich als Unrecht einzustufen sind?

I. Tatbestand 1. objektiver Tatbestand (bei Sonderdelikten: Täterqualifikation) Taterfolg (rechtlich relevante) Tathandlung Verursachungszusammenhang zwischen Taterfolg

und Verhalten des Täters: Kausalität, objektive Zurechnung

2. subjektiver Tatbestand Vorsatz in Bezug auf alle obj. TBM u.U. weitere subjektive Merkmale

Liegen Gründe vor, wegen denen die Einstufung als Unrecht für den konkreten Fall zu korrigieren ist?

II. Rechtswidrigkeit(= Fehlen von Rechtfertigungs-gründen)

Wenn möglicherweise doch ein RFG eingreift, prüfen Sie diesen nach seinen:1. objektiven Elementen2. subjektiven Elementen

Kann dem Täter kann sein Verhalten als persönliches Verschulden vorgeworfenwerden?

III. Schuld(= Fehlen von Schuldaus-schliessungsgründen)

Gibt es sonstige Gründe, die einem Schuldspruch/der Verhängung von Strafe entgegenstehen?

u.U. objektive Bedingung der Strafbarkeit u.U. Strafausschliessungs-/Strafaufhebungsgründe prozessuale Strafverfolgungshindernisse (z.B. fehlender Strafantrag, Eintritt der

Verjährung)

Prüfungsaufbau vorsätzliches vollendetes Begehungserfolgsdelikt:

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Rechtfertigung durch Notwehr (Art. 15 StGB)?

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Auf einem Busbahnhof wird ein Mann von zwei jungen Männern angegriffen. Diese sind mitBaseballschläger und Jagdmesser bewaffnet. Dem Mann gelingt es, sie abzuwehren undsie mit ihren eigenen Waffen zu töten.

Szene aus: Ferdinand von Schirach, Crime, Episode: Self Defense, Deutschland 2012

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Rechtfertigung durch Notwehr (Art. 15 StGB)?

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https://www.youtube.com/watch?v=1zgI4SINf3A

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Rechtfertigung durch Notwehr (Art. 15 StGB)

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1. Bestehen einer Notwehrlage («Wird jemand ohne Recht angegriffen oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht») Angriff gegen jemand der gerade stattfindet oder unmittelbar droht (zeitliche Grenze)

Rechtswidrigkeit des Angriffs («ohne Recht»)2. Abwehrhandlung

in die Rechtsgüter des Angreifers eingreifend in einer den Umständen angemessenen Weise:

Erforderlichkeit der Abwehrhandlung

Abwehrhandlung darf nicht unverhältnismässig sein3. Handeln mit Abwehrwillen: Kenntnis der rechtfertigenden Sachlage + Wille zur Verteidigung

Wird jemand ohne Recht angegriffen oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht, so ist der Angegriffene und jeder andere berechtigt, den Angriff in einer den Umständen angemessenen Weise abzuwehren.

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Normatives Fundament (= Legitimationsgrundlagen) des Notwehrrechts

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Prinzip des Individualschutzes Prinzip der Rechtsbewährung

Rechtfertigung nur, wenn Handlung erforderlich ist, um rechtswidrigen Angriff auf ein Individualrechtsgut abzuwehren (universales Selbstschutzrecht)

Rechtfertigung auch deshalb, weil Abwehr eines rw Angriffs zugleich Verteidigung der vom Angreifer gebrochenen Norm bedeutet (Verteidigung des Rechts gegen das Unrecht)

das bedeutet

Vgl. DONATSCH/TAG, S. 225; STRATENWERTH,§10 N 67

in der Angriffs-situation

+

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1. Notwehrlage: Angriff

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Fallbeispiele: 1. Hartmut hetzt seinen Hund auf den Radfahrer Rico. Rico wehrt den Hund mit

einem Tritt ab, der Hund erleidet einen Rippenbruch. 2. Hotelier Stalder hielt zwei bissige Bernhardiner mit einem Gewicht von 80 und 90

Kilos. Von H schlecht beaufsichtigt, gelangten sie auf die Strasse und machten sich über Morard her. Der ging zu Boden, die Hunde stürzten immer wieder auf ihn und bissen zu. Mottier beobachte das vom Fenster des Hotels aus. Um das Leben von Morard fürchtend, nahm er seinen Karabiner und erschoss einen der Hunde. (BGE 97 IV 73 ff)In beiden Fällen ist der TB der Sachbeschädigung (Art. 144 StGB) erfüllt, aber möglicherweise Rechtfertigung durch Notwehr: Haben Rico und Mottier einen «Angriff» i.S.v. Art. 15 StGB abgewehrt?

= jede Bedrohung durch menschliches Verhalten

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1. Notwehrlage: Angriff gegen «jemand»

Notwehrfähig/notwehrhilfefähig sind ALLE Rechtsgüter des Einzelnen (Individualrechtsgüter) – aber auch NUR diese. Problematisch: Notwehr/Notwehrhilfe, wenn persönliche Rechtsgüter «mittelbar betroffen» sind? HS 2017 Strafrecht AT I, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 15

Fallbeispiele:1. Greenpeace-Aktivisten entern eine Ölplattform der Gazprom

(Hausfriedensbruch) zur Verhinderung von Ölbohrungen, welche die Umwelt gefährden. Rechtfertigung des Verhaltens der Greenpeace-Aktivisten (Art. 186 StGB) durch Notwehr möglich?

2. X setzt sich angetrunken ans Steuer seines PW und steckt den Zündschlüssel ein. Der Passant P sieht dies, packt X am Kragen und zerrt ihn aus dem Fahrzeug (Nötigung). Rechtfertigung des Verhaltens von P (Art. 181 StGB) durch Notwehr möglich?

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1. Notwehrlage: zeitliche Begrenzung des Notwehrrechts

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Wird jemand …angegriffen oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht….

«unmittelbar mit einem Angriff bedroht» → wann beginnt das Notwehrrecht? konkrete Anzeichen eines Angriffs nötig, die eine sofortige Verteidigung nahelegen

Angriff, der gerade stattfindet («wird…angegriffen») → wann endet das Notwehrrecht? Notwehrrecht, solange weitere Verletzungen zu erwarten sind oder Vertiefung/Vergrösserung

einer bereits eingetretenen Verletzung unmittelbar bevorsteht

Besteht in diesen Fällen schon oder noch ein Notwehrrecht?1. Anton kündigt dem Barbesitzer Beat an, ihn zu verprügeln, sobald alle Gäste gegangen sind. 2. Frauke schiesst drei Mal auf Vito, der im Begriff ist, sie zu vergewaltigen. Als Vito schwer verletzt am

Boden liegen bleibt, gibt sie einen vierten Schuss auf ihn ab, der tödlich ist.

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1. Notwehrlage: Rechtswidrigkeit des Angriffs

ohne Recht = rechtswidrig, bedeutet hier: gegen eine allgemeine, für jedermann geltende Rechtspflicht verstossend

keine Notwehr gegen einen seinerseits gerechtfertigten Angriff (deswegen: chronologische Prüfung!) Angriff muss nicht schuldhaft sein → aber Achtung: in solchen Fällen kommt es dann zu

Einschränkungen des Notwehrrechts (dazu später)

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Wird jemand ohne Recht angegriffen oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht…

Fallbeispiele: 1. Der Mieter hat schon wieder seine Miete nicht bezahlt. Um ihn zur Zahlung anzutreiben, verpasst ihm der

Vermieter eine Ohrfeige (Tätlichkeit). War die durch Notwehr gerechtfertigt?2. Ein Polizist sieht, wie Dario mit Drogen deal. Der Polizist will ihn festnehmen und stellt Dario auf dessen Flucht

ein Bein, so dass Dario stürzt. Dario schlägt auf den Polizisten ein, um zu entkommen, der Polizist erleidet eine Platzwunde. Strafbarkeit der Beteiligten?

3. Der 8-Jährige Max prügelt auf dem Spielplatz auf den Vater eines Spielkameraden ein, der Vater haut zurück (Tätlichkeit) – in Notwehr?

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keine Notwehrrechtfertigung für die Beeinträchtigung von Rechtsgütern unbeteiligter (= nichtangreifender) Dritter, denn ihnen gegenüber kommt das Prinzip der Rechtsbewährung nicht zumTragen

gilt für alle Auswirkungen der Notwehr auf Unbeteiligte, auch für ungewollte und unerwartete

ob für solche Auswirkungen dann eine Rechtfertigung durch Notstand (Art. 17 StGB) in Fragekommt, ist allein nach dessen Voraussetzungen zu prüfen

2. Abwehrhandlung: gegen Rechtsgüter des Angreifers gerichtet

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Beispiele: zur Abwehr eines Angriffs stösst der Angegriffene den Angreifer in den Gartenzaun einesunbeteiligten Anwohners, der Zaun wird dabei beschädigt; Opfer flüchtet vor dem Räuber durch eineangelehnte Haustür in ein fremdes Haus

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durch den Angegriffenen selbst (Notwehr) oder einen Dritten (sog. Notwehrhilfe)

Einschränkung bei Notwehrhilfe: nicht gegen den Willen des Angegriffenen, Individualschutzprinzip greift dann nicht

2. Abwehrhandlung: durch wen?

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Beispiel: David wird in einem Restaurant von seinem Gegenüber lautstark beschimpft und angespuckt.Um die peinliche Lage nicht eskalieren zu lassen, weist David die Leute an den Nebentischen an, sichnicht einzumischen.

schwieriger wird es, wenn ein gegen eine Notwehrhilfe gerichteter Wille des Angegriffenen nicht frei gebildet worden ist:

Beispiel: Geisel, die aus Angst um ihr Leben eine riskante Rettungsaktion der Polizei ablehnt

Lösungsmöglichkeit: an Einwilligungslehre orientieren; soweit Wille der Geisel als unfrei gelten muss,kann er der Zulässigkeit der Notwehrhilfe nicht entgegen stehen

Vgl. dazu z.T. DONATSCH/TAG, S. 233; STRATENWERTH, § 10 N 84

Wird jemand ohne Recht angegriffen oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht, so ist der Angegriffene und jeder andere berechtigt, den Angriff in einer den Umständen angemessenen Weise abzuwehren.

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2. Abwehrhandlung: in einer den Umständen angemessenen Weise

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Strenge Anforderungen an Träger von Schusswaffen:A. parkt abends in engem Hinterhof seinen Porsche nahe nebendem Fahrzeug des B, der mit drei Begleitern daneben steht. Bstört sich an der Parkplatzwahl, schimpft: «Du Porsche-Arschloch.» Wortgefecht folgt. B packt verschlossene Halbliter-Bierbüchse, schlägt sie A fest auf den Kopf, Bier spritzt. A ziehtmitgeführten Revolver, fordert B zum Rückzug auf. B kommtnäher, sagt: «Ich werde Dir die Waffe in den Arsch stecken»,grinst, schreit. B zieht sich auf eine Treppe zurück, bedroht Aminutenlang mit der Waffe. B rückt weiter auf, auch seineFreundin kann ihn nicht zurückhalten. Schliesslich feuert A ausnächster Nähe einen Schuss in den Bauch von B ab, trifft. B wirdim Spital gerettet. Versuchte vorsätzliche Tötung von B durchNotwehr gerechtfertigt?

( vgl. BGer 6P.66/2000 v. 22. November 2000)

1. Bestehen einer Notwehrlage Angriff gegen jemand der gerade stattfindet oder unmittelbar

droht Rechtswidrigkeit des Angriffs

2. Abwehrhandlung in die Rechtsgüter des Angreifers

eingreifend in einer den Umständen angemessenen

Weise: Erforderlichkeit der Abwehrhandlung:

«Abwehr» zulässig; aber: schonendstes Mittel zu wählen, mit dem Angriff sicher und endgültig abgewehrt werden kann

Abwehrhandlung darf nicht unverhältnismässig sein

3. Handeln mit Abwehrwillen

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2. Abwehrhandlung: in einer den Umständen angemessenen Weise

Abwehrhandlung darf nicht unverhältnismässig sein: ist Aufhänger für Einschränkungen des Notwehrrechts

Problematische Fallgruppen sind insbesondere:

(krasses) Missverhältnis des angegriffenen und des beeinträchtigten Interesses

Angriffe erkennbar schuldlos Handelnder (Kinder, Geisteskranke) oder Irrender

selbstverschuldete Notwehrlage

Angriffe nahestehender Personen (z.B. durch Lebenspartner, Schwiegersohn, erwachsene Tochter)

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1. Bestehen einer Notwehrlage Angriff gegen jemand der gerade stattfindet oder unmittelbar droht Rechtswidrigkeit des Angriffs

2. Abwehrhandlung in die Rechtsgüter des Angreifers eingreifend in einer den Umständen angemessenen Weise:

Erforderlichkeit der Abwehrhandlung: «Abwehr» zulässig, schonendstes Mittel zu wählen, mit dem Angriff sicher und endgültig abgewehrt werden kann

Abwehrhandlung darf nicht unverhältnismässig sein

3. Handeln mit Abwehrwillen

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2. Abwehrhandlung: in einer den Umständen angemessenen Weise

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Notwehr bei Verletzung des Angreifers auf Vermögenswerte?

A. betrieb eine Wechselstube. Das Bargeld packte er abends ineine Mappe, um sie im Tresor zu verwahren. M. hatte diesenAugenblick abgepasst. Er schlich sich von hinten an, packte dieMappe und rannte mit ihr davon. S., der zu seinem Schutzmeistens eine Pistole auf sich trägt, schrie «Halt» und gab, alsdies nichts nützte, einen Warnschuss in die Luft ab, nahm dieVerfolgung auf, gab einen zweiten und dritten Warnschuss ab. M.rannte mit der Mappe weiter. Als S. erkannte, dass M mit derBeute entwischen werde, blieb er stehen und gab auf 10-15 meinen Schuss auf den Unterschenkel des M. ab, der traf. DieMappe enthielt Werte von insgesamt ca. Fr. 53'000.-, was demVerdienst des S. während 1,5 – 2 J. entsprach. Die Werte warennicht versichert und nicht versicherbar. S war ein ausgezeichneterSchütze. Strafbarkeit von S?

(BGE 107 IV 12)

1. Bestehen einer Notwehrlage Angriff gegen jemand der gerade stattfindet oder unmittelbar

droht: hier________________ Rechtswidrigkeit des Angriffs

2. Abwehrhandlung in die Rechtsgüter des Angreifers

eingreifend in einer den Umständen angemessenen

Weise: Erforderlichkeit der Abwehrhandlung:

«Abwehr» zulässig, schonendstes Mittel zu wählen, mit dem Angriff sicher und endgültig abgewehrt werden kann

Abwehrhandlung darf nicht unverhältnismässig sein

3. Handeln mit Abwehrwillen

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2. Abwehrhandlung: in einer den Umständen angemessenen Weise Bei Angriffen von schuldunfähigen Personen (Kinder, Geisteskranke, Personen im Drogenrausch usw.) ist eine Notwehrlage gegeben, weil für diese nur ein

rechtswidriger Angriff gefordert wird

aber: Rechtsordnung wird durch solche Angriffe nicht ernstlich in Frage gestellt, Rechtsbewährungsprinzip kommt daher nicht voll zum Tragen

→ Wie muss sich der Angegriffene verhalten: Ausweichen soweit möglich; Hilfe Dritter in Anspruch nehmen, soweit diese verfügbar ist und der Angriff dadurch schonender abgewehrt werden kann; Bagatelleingriffe notfalls dulden

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Vgl. DONATSCH/TAG, S. 228; STRATENWERTH,§10 N 80

1. Bestehen einer Notwehrlage Angriff gegen jemand der gerade stattfindet oder unmittelbar droht Rechtswidrigkeit des Angriffs

2. Abwehrhandlung in die Rechtsgüter des Angreifers eingreifend in einer den Umständen angemessenen Weise:

Erforderlichkeit der Abwehrhandlung: «Abwehr» zulässig, schonendstes Mittel zu wählen, mit dem Angriff sicher und endgültig abgewehrt werden kann

Abwehrhandlung darf nicht unverhältnismässig sein

3. Handeln mit Abwehrwillen

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Fallbeispiel: Willkommener Angriff

Im Zürcher Kreis 5 haben sich Bürger zu einer «Nachbarschaftswache»zusammengeschlossen. George Zimmermann, ein Nachbarschaftswächter mitfremdenfeindlichen Attituden, ist tagsüber auf offener Strasse auf Patrouille. Erfolgt einem 17-jährigen Schwarzen, Trayvon Martin, der die Kapuze seines Pullisüber den Kopf gezogen hat und grimmig drein schaut. Zimmermann findet ihnsuspekt.

Martin fühlt sich von Zimmermanns Hinterherlaufen provoziert. Nach einer Weileverliert er die Nerven und geht auf Zimmermann los. Zimmermann, der Martinkörperlich weit überlegen ist, freut sich über die günstige Gelegenheit und schlägtMartin mit einem wuchtigen Haken nieder. Martin bleibt benommen liegen.Strafbarkeit von Zimmermann?

Variante: Ändert sich an der rechtlichen Beurteilung etwas, wenn ZimmermannMartin durch nahes Auflaufen, lautes Pfeifen und verbale Hänseleien absichtlichgereizt hat, damit Martin «angreift»?

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(vgl. BGE 102 IV 228; 104 IV 53;142 IV 16; Sachverhalt angelehntan ein weltweit diskutiertes Urteilin Florida, USA, gegen GeorgeZimmerman, der Trayvon Martinam 26. Februar 2012 in Notwehrerschossen hat)

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Selbstverschuldete Notwehrlage

Absichtsprovokation = Angriff wird absichtlich herbeigeführt, um den Angreifer gleichsam unter dem Deckmantel der Notwehr zu beeinträchtigen

seltener Fall

Konsequenzen für das Notwehrrecht streitig:

1. Ansicht (BGer): Verlust des Notwehrrechts insgesamt = Art. 15 StGB nicht anwendbar, Strafbarkeit in vollem Umfang

2. Ansicht: Notwehrrecht soll allenfalls eingeschränkt sein (vgl. dazu STRATENWERTH, § 10 N 81 m.w.N.) → Rechtfertigung durch Notwehr bleibt möglich

3. Ansicht: Abwehrwille fehlt (DONATSCH/TAG, S. 228) → Tat ist rechtswidrig, aber nur Versuchsstrafbarkeit

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Vgl. BGer, Urteil 6B_352/2016 v. 29.7.2016, E. 1.2 m.w.N.; BGE 142 IV 14 ff.

1. Bestehen einer Notwehrlage Angriff gegen jemand der gerade stattfindet oder

unmittelbar droht Rechtswidrigkeit des Angriffs

2. Abwehrhandlung in die Rechtsgüter des Angreifers

eingreifend in einer den Umständen

angemessenen Weise: Erforderlichkeit der

Abwehrhandlung: «Abwehr» zulässig, schonendstes Mittel zu wählen, mit dem Angriff sicher und endgültig abgewehrt werden kann

Abwehrhandlung darf nicht unverhältnismässig sein

3. Handeln mit Abwehrwillen

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Selbstverschuldete NotwehrlageVeranlassung des Angriffs in sonstiger Weise: häufiger Fall

Einschränkungen des Notwehrrechts?:

BGer: sind möglich, wenn Notwehrlage «mit verschuldet bzw. verursacht» (vgl. Urteil 6B_352/2016 v. 29.7.2016, E. 1.2 m.w.N)→ jemandem den Handschlag verweigern, vor die Füsse rotzen, jemanden auslachen?

Ansichten in der Lehre (beispielhaft): allenfalls bei ernster Provokation (STRATENWERTH, § 10 N 81); allenfalls bei rechtswidrigem Vorverhalten (SEELMANN/GETH, Strafrecht AT I, N 203); keine Einschränkung (DONATSCH/TAG, S. 228)

bei Einschränkungen: welche Gegenwehr gilt dann als «angemessen»?

Hinweis: Ob dem Angegriffenen bei «zu intensiver» Abwehr ein entschuldigender Notwehrexzess nach Art. 16 Abs. 2 StGB zugute zu halten ist, richtet sich nach dessen Voraussetzungen und ist in der Schuld zu prüfen!

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Notwehr «in einer den Umständen angemessenen Weise» –Zusammenfassung

«Nach der Rechtsprechung muss die Abwehr […] nach der Gesamtheit der Umstände als verhältnismässigerscheinen. Eine Rolle spielen vor allem die Schwere des Angriffs, die durch den Angriff und die Abwehrbedrohten Rechtsgüter, die Art des Abwehrmittels und dessen tatsächliche Verwendung. DieAngemessenheit der Abwehr ist aufgrund jener Situation zu beurteilen, in der sich der rechtswidrigAngegriffene im Zeitpunkt seiner Tat befand. Es dürfen nicht nachträglich allzu subtile Überlegungendarüber angestellt werden, ob der Angegriffene sich nicht allenfalls auch mit anderen, wenigereinschneidenden Massnahmen hätte begnügen können und sollen.» (BGE 136 IV 51 f.)

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