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Strafrecht BT Tötungsdelikte (Fortsetzung) Vorlesung vom 4. Oktober 2010 HS 2010 Jonas Weber Institut für Strafrecht und Kriminologie Universität Bern

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Strafrecht BT

Tötungsdelikte (Fortsetzung)

Vorlesung vom 4. Oktober 2010

HS 2010

Jonas Weber

Institut für Strafrecht und Kriminologie

Universität Bern

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Jonas Weber: Strafrecht BT I (Vorlesung HS 10) Tötungsdelikte (Teil 2) − Folie 2

bitte beachten Sie

• am Montag, 11. Oktober 2010, fällt die Vorlesung aus

• für Minor-Studierende ist die Vorlesung BT I 1. Teil (Herbstsemester) sowie die Übungen (Klausurenkurs) im Frühjahr-semester obligatorisch

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Jonas Weber: Strafrecht BT I (Vorlesung HS 10) Tötungsdelikte (Teil 2) − Folie 3

Mord (Art. 112) – Tatbestand

Mord (Art. 112)

=

Vorsätzliche Verursachung des Todes eines anderen Menschen (Art. 111)

plus

besonders skrupelloses Handeln

Subjektive Indikatoren:- Beweggrund- Zweck- ...

Objektive Indikatoren:- Art der Ausführung- ...

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Jonas Weber: Strafrecht BT I (Vorlesung HS 10) Tötungsdelikte (Teil 2) − Folie 4

Mord (Art. 112) – Qualifizierendes Merkmal: Besondere Skrupellosigkeit

> muss unmittelbar aus der Straftat selbst hervorgehen (Qualifikation der Tat)- grundsätzlich nicht zu berücksichtigen: Verhalten des Täters vor oder nach der

Straftat; Vorleben etc.- keine Bewertung des Charakters oder der Persönlichkeitsmerkmale des Täters, soweit

diese nicht in der Tat selbst zum Ausdruck kommen

> Gesamtbewertung der äusseren (= objektiven) und inneren (= subjektiven) Umstände, unter denen der Täter im konkreten Fall gehandelt hat

- alle empirisch feststellbaren Gegebenheiten sind für Gesamtbewertung heranzuziehen; insbesondere eine psychiatrische Begutachtung

> Art. 112 mit exemplarischer (nicht abschliessender) Aufzählung von Indizien, die besondere Skrupellosigkeit begründen können: "verwerflicher Beweggrund, verwerflicher Zweck, verwerfliche Ausführung"

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Jonas Weber: Strafrecht BT I (Vorlesung HS 10) Tötungsdelikte (Teil 2) − Folie 5

Mord (Art. 112) – Übersicht: Indikatoren für besonders skrupelloses Handeln

Besonders skrupelloses Handeln im Sinne von Art. 112

Subjektive Indikatoren(täterbezogen; Handlungsunwert)

Objektiver Indikator(tatbezogen; Erfolgsunwert)

(besonders verwerflicher) Beweggrund

• Habgier• Rache• Hass• fundament. od. polit.• Mordlust• Sexuelle Befriedigung

(bes. verwerflicher)Zweck

• Extremer Egois-mus (Elimination)

• Verdeckung einer Straftat

• Erbmord

(besonders verwerfliche)Tatausführung

• ausserordentl. Grausamkeit

• Heimtücke• Gift, Feuer, etc. (???)• unbeteiligte Drittper-

sonen als Opfer

Regelbeispiele gemäss Art. 112

Fallgruppen aus der Praxis

weitere Indikatoren/Indizien: Umsicht und Planung; besondere Kaltblütigkeit

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Mord (Art. 112) – Subjektiver Tatbestand

> Mord kann auch eventualvorsätzlich begangen werden

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Totschlag (Art. 113) – Allgemeines

Art. 113: Totschlag

Handelt der Täter in einer nach den Umständen entschuldbaren heftigen Gemütsbewegung oder unter grosser seelischer Belastung, so ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren.

> Definition: Totschlag = vorsätzliche Tötung im Zustand einer entschuld-baren heftigen Gemütsbewegung (Affekt) oder grossen seelischen Belastung

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Totschlag (Art. 113) – Tatbestand

Totschlag (Art. 113)

=

Vorsätzliche Verursachung des Todes eines anderen Menschen (Art. 111)

plus

bestimmter entschuldbarer Gefühlszustand

heftige Gemütsbewegung (Affekt)• akute Drucksituationen mit starker Gefühls-

regung, welche die Fähigkeit zur Selbstbe-herrschung und im Extremfall auch die intellektuelle Fähigkeit bis hin zur Zurech-nungsunfähigkeit beeinträchtigen (BGE 118 IV 236)

• Mögliche Gründe für Affekt: Wut, Zorn, Ei-fersucht, Verzweiflung, Angst, Bestürzung

grosse seelische Belastung• Zwangslagen, Erschöpfungssitua-

tionen• Bsp.: Tötung eines unheilbar

Kranken durch einen Angehöri-gen, der dessen Leiden nicht länger erträgt

oder

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Totschlag (Art. 113) – Entschuldbarer Gefühlszustand

> Gefühlszustand (Affekt oder grosse seelische Belastung) als Ausnahmezustand muss unmittelbar vor oder während der Tat bestanden haben.

> Entscheidend für die Privilegierung gemäss Art. 113: Entschuldbarkeit der heftigen Gemütsbewegung bzw. der grossen seelischen Belastung

- Wichtig: nicht die Straftat selbst muss entschuldbar sein, sondern der psychisch-seelische Ausnahmezustand

- Massstab: Durchschnittsperson (siehe etwa BGE 107 IV 206); Entstehung der heftigen Gemütsbewegung muss verständlich erscheinen

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Fall: BGE 127 IV 10 vom 14. Dez. 2000

X, Vater von 5 Kindern, wuchs in einem anatolischen Bergdorf auf und emigrierte 1988 in die Schweiz, wo ihm und seiner Familie eine Aufenthaltsbewilligung aus humanitären Gründen erteilt wurde. Integrations-schwierigkeiten, die prekären Wohnverhältnisse der siebenköpfigen Familie in einer 2-Zimmer-Wohnung und die Arbeit in einem Spätschichtbetrieb führten zu einer "Anpassungsstörung mit Krankheitswert" (ICD-10 F43.2). Ab 1992 entwickelte sich neben dem Kultur- ein Generationenkonflikt mit der ältesten, im Dezember 1976 geborenen Tochter. Deren Kontakte zu einem jungen Mann veranlassten X zu einer "Rekurdisierung" der Familie und insbesondere der Tochter, die er u.a. mit dem Tode bedrohte. Die Tochter ging den Auseinandersetzungen möglichst aus dem Weg, liess sich aber die Freiräume in ihrem schweizerischen Beziehungsnetz nicht nehmen.

X, der erkannte, dass seine häufigen Drohungen nicht ernst genommen wurden, verprügelte sie 1995 brutal, als er sie zusammen mit einem eine Drogenspritze ansetzenden Mann sah. Im gleichen Jahr erzwang er während eines Ferienaufenthaltes die Verheiratung seiner Tochter mit einem Cousin. Anders als er es sich vorgestellt hatte, waren die Probleme mit der traditionellen Kusinenheirat jedoch nicht gelöst, zumal die Ehe nicht vollzogen wurde, weil der Ehemann nicht in die Schweiz einreisen konnte. X war der Gedanke, dass seine inzwischen verheiratete Tochter mit anderen Männern gesehen wurde, unerträglich. Die Verwandten seines Schwiegersohnes warfen ihm Verrat vor, so dass er im Sommer 1996 dessen illegale Einreise in die Schweiz organisierte. Auch dieser Versuch erwies sich als Fehlschlag: Die eheliche Gemeinschaft kam trotz des ausgeübten Druckes nicht zustande.

X wurde es zur Gewissheit, dass dieser Skandal bekannt und ihn der Lächerlichkeit und Entehrung preis-geben würde. In der dadurch ausgelösten chronischen psychosozialen Dauerbelastung tötete er in Abwe-senheit seiner hospitalisierten Ehefrau, die jeweils vermittelnd eingegriffen hatte, am Morgen des 19. Juni 1996 seine älteste Tochter bei einer verbalen Auseinandersetzung in der Küche mit einem zufällig dort liegenden Küchenmesser. Er verliess hierauf die Wohnung und rief aus einer Telefonkabine den Bruder seiner Frau in der Türkei und eine Familie aus seinem Bekanntenkreis in der Schweiz an und teilte ihnen mit, dass er die Tochter umgebracht habe. Dann stellte er sich der Polizei.

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Tötung auf Verlangen (Art. 114) – Allgemeines

Art. 114: Tötung auf Verlangen

Wer aus achtenswerten Beweggründen, namentlich aus Mitleid, einen Menschen auf dessen ernsthaftes und eindringliches Verlangen tötet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.

> Definition: Tötung auf Verlangen ist die vorsätzliche Tötung eines anderen Menschen auf dessen ernsthaftes und eindringliches Verlangen aus achtenswerten Beweggründen, namentlich Mitleid.

> "ernsthaftes und eindringliches Verlangen des Opfers"- Zeichen für erloschenen Lebenswillen des Opfers; daher erscheint Unrecht

der Tötung reduziert (= Begründung der Privilegierung)

> Unterscheidung zwischen Tötung auf Verlangen und Suizidhilfe:Kriterium der Tatherrschaft

- Tötung auf Verlangen: Tatherrschaft liegt beim Täter - Suizidhilfe: Tatherrschaft liegt beim "Opfer" (= Person, die sich das Leben

nehmen will)

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Tötung auf Verlangen (Art. 114) – Tatbestand

Tötung auf Verlangen (Art. 114)

=Vorsätzliche Verursachung des Todes

eines anderen Menschen (Art. 111)

plus

ernsthaftes und eindringliches Verlangen des Opfers

(Merkmal des objektiven Tatbestands)

• = qualifizierte Einwilligung des urteilsfähigen Opfers (wohlüberlegt; ausdrücklich und unmiss-verständlich erklärt)

• eindringliches Verlangen: beharrliches, sehr intensives Bitten, das auf den Täter einen eigentlichen Druck ausübt

• ernsthaftes Verlangen: hinreichend urteilsfähige Person; darf nicht auf Irrtum oder Zwang beru-hen und nicht einer vorübergehenden (depres-siven) Verstimmung entspringen

achtenswerte Beweggründe

(Merkmal des subj. TB)• insbesondere Mitleid

(= Bsp. im Gesetzeswortlaut)und

Vorsatzinsb.:• Wissen um das ernsthafte und

eindringliche Verlangen des Opfers

• Handeln wegen dieses Verlangens des Opfers

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Kindestötung (Art. 116)

Art. 116: Kindestötung

Tötet eine Mutter ihr Kind während der Geburt oder solange sie unter dem Einfluss des Geburtsvorganges steht, so wird sie mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.

> Definition: Kindestötung i.S.v. Art. 116 ist die vorsätzliche Tötung des eigenen Kindes durch die Kindsmutter während der Geburt (= Abgrenzung von der Abtreibung) oder unter dem Einfluss des Geburtsvorgangs.

- Sonderdelikt: als Täterin kommt nur die Mutter in Frage- Tatobjekt: neugeborenes Kind der Täterin- während der Geburt: nach Einsetzen der Eröffnungswehen (vorher:

Abtreibung)- gleich nach der Geburt: psychologisch zu verstehen; entscheidend: Die

durch die Geburt hervorgerufene Gemütsbewegung hält noch an.

> Begründung der Privilegierung: Einfluss des Geburtsvorgangs; gesetzliche Vermutung einer Verminderung der Zurechnungsfähigkeit der Mutter (Herabsetzung der Schuld)

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Kindestötung (Art. 116) – Besonderheiten

> fahrlässige Kindestötung: fährlässige Tötung gemäss Art. 117

> Teilnehmer an Kindestötung: Bestrafung gemäss Art. 111; Geburtseinfluss als persönlicher Umstand i.S.v. Art. 27

> Mutter als Teilnehmerin an der von einer anderen Person begangenen Tötung ihres Kindes: Bestrafung gemäss Art. 116

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Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord (Art. 115) – Allgemeines

Art. 115: Verleitung und Beilhilfe zum Selbstmord

Wer aus selbstsüchtigen Beweggründen jemanden zum Selbstmorde verleitet oder ihm dazu Hilfe leistet, wird, wenn der Selbstmord ausgeführt oder versucht wurde, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.

> Selbsttötung: Betroffener verursacht seinen eigenen Tod; alleinige Tatherrschaft des Betroffenen

> grundsätzlich ist Selbsttötung bzw. versuchte Selbsttötung straflos

- Theoretische Konsequenz aus den allgemeinen Zurechnungsregeln: Teilnahme (Anstiftung oder Gehilfenschaft) an Selbsttötung wäre ebenfalls straflos

- Art. 115: Ausnahme zur allgemeinen Regel; inhaltlich keine Privilegierung einer vorsätzlichen Tötung, sondern eigenständiger Tatbestand

- Anknüpfung der Strafbarkeit an "selbstsüchtige Beweggründe"

- Charakterisierung von Art. 115: Teilnahme an einer nicht tatbestands-mässigen Selbsttötung (eines anderen), aus selbstsüchtigen Beweggründen

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Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord (Art. 115) – Tatbestand

> objektiver Tatbestand- keine Tatherrschaft beim "Sterbehelfer"; sonst Art. 114 oder gar

Art. 111- Voraussetzungen der Tatherrschaft des Betroffenen: Zurechnungsfähigkeit

des Betroffenen- Selbsttötung muss zumindest versucht worden sein; versuchte Verleitung

ist nicht strafbar (Art. 115 als abschliessende Regelung der strafbaren Beteiligung an einer eigenverantwortlich begangenen Selbsttötung)

- Tathandlung: verleiten (= Anstiftung im Sinne von Art. 24) oder Hilfe leisten (= Gehilfenschaft im Sinne von Art. 25)

> subjektiver Tatbestand- Vorsatz: dolus eventualis ausreichend- Selbstsüchtige Beweggründe

– finanzielle Motive– andere Motive wie etwa Befriedigung von Rachsucht, Hass,

Boshaftigkeit

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Fall: BGer-Urteil 6B_48/2009 vom 11. Juni 2009

Dr. med. X., Psychiater mit Praxis in Zürich, war während geraumer Zeit als verschreibender Arzt und Mitglied der Ethik-Kommission bei der Sterbehilfeorganisation Exit tätig. Seit einigen Jahren ist er über die Medien in der Öffentlichkeit bekannt und umstritten, weil er sich unter anderem für die Suizidbeihilfe auch an psychisch Kranken einsetzt. Der im Jahr 1955 geborene und seit 1982 als Postbeamter tätig gewesene A. wurde 1986 infolge psychischer Erkrankung arbeitsunfähig und bezog seit 1987 eine 100%ige IV-Rente. Im Jahr 1986 hielt er sich einige Monate in der Psychiatri-schen Klinik Solothurn auf. Im Dez. 1986 unternahm er einen Suizid-Versuch durch Aufschneiden der Pulsadern. Sein Todeswunsch wurde in der Folge immer stärker. Weitere Suizidversuche unternahm der körperlich gesunde A. allerdings nicht. Eine Behandlung seiner psychischen Krankheit durch Therapien und/oder Medikamente lehnte er ab. Er wandte sich zwecks Suizid-Beihilfe an verschiedene Ärzte und an die Organisation Exit, welche ihn aber abwiesen, da ihm gegenüber eine Sterbehilfe ausser Betracht falle. Schliesslich gelangte A. an X. persönlich, welchen er am 4. April 2001 in dessen Praxis in Zürich aufsuchte. Dabei übergab er X. ein handschriftliches Schreiben, worin er in einigen Sätzen seine Befindlichkeit beschrieb, worauf der Beschwerdeführer mit ihm ein rund 2-stündiges Gespräch führte. Am 9., 10., 11. und 18. April 2001 fanden Telefongespräche zwischen A. und dem Beschwerdeführer von jeweils zirka einer halben Stunde Dauer statt. Es wurde vereinbart, dass der begleitete Suizid am 20. April 2001 in der Wohnung von A. in Basel durchgeführt werde. Das Geschehen am 20. April 2001 von 13.10 bis 15.18 Uhr zeichnete X. mit einer Videokamera in Wort und Bild auf. Mehrere Suizidversuche unter Verwendung der von X. mitgebrachten und eigens präparierten Maler-Atemschutzmaske, deren Filterstück mit Natronkalk versetzt war, schlugen fehl, unter anderem, weil A. massive Probleme mit der als sehr quälend empfundenen Atemnot hatte. In der Folge wurde der Suizid unter Verwendung von Lachgas (N2O) durchgeführt, welches X. sich zunächst noch beschaffte, indem er in einem Supermarkt zwei Rahmbläserflaschen samt diversen Gaspatronen erwarb. X. füllte Lachgas aus drei Gaspatronen in einen transparenten Plastiksack. Er befestigte diesen an dem mit Natronkalk versetzten Mundstück der genannten Atemschutzmaske und überreichte diese A. Dieser atmete das Lachgas ein und starb nach wenigen Minuten. Todesursache war Ersticken durch eine Sauerstoffunterversorgung des Gehirns, verursacht durch das Einatmen von N2O in Kombination mit dem Rückatmen es ausgeatmeten CO2. Nachdem er den Tod von A. festgestellt hatte, avisierte X. telefonisch die Polizei Basel-Stadt. Er wartete in der Wohnung von A. das Eintreffen der Beamten ab und gab diesen bereitwillig Auskunft.Das gerichtlichen Gutachten von Prof. Dr. med. E vom 8. Juli 2005 kommt zum Schluss, dass A. zum Zeitpunkt seines Entschlusses, mit Hilfe des X. aus dem Leben zu scheiden, an einer krankhaften Fehlbeurteilung der Realität gelitten habe, indem er sich für unheilbar psychisch krank gehalten habe, was mangels einer adäquaten Therapie, die er, wahrscheinlich ebenfalls krankheitsbedingt, abgelehnt habe, nicht den Tatsachen entsprochen habe. Damit seien eine objektive Erkenntnis und Bewertungsfähigkeit nicht gegeben gewesen und habe nach forensisch-psychiatrischem Ermessen Urteilsunfähigkeit vorgelegen.

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Sterbehilfe

Sterbehilfe

Sterbehilfeorganisationen wie Exit oder Dignitas

Ärztliche Sterbehilfe

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Jonas Weber: Strafrecht BT I (Vorlesung HS 10) Tötungsdelikte (Teil 2) − Folie 19

Sterbehilfe: Sterbehilfeorganisationen

Sterbehilfeorganisationen wie Exit oder Dignitas

Hilfeleistung für Sterbewillige durch Zurverfügungstellung von tödlichen Stoffen und/oder Anleitung zur SelbsttötungKonzept: Tatherrschaft beim Suizidenten; keine "tatherr-schaftliche" Tötungshandlung durch den SterbehelferProblem: Zurechnungsfähigkeit des Sterbewilligen (v.a. bei psychisch Kranken)

bei fehlender Zurechnungsfähigkeit des Sterbewilligen: Art. 115 und Art. 114 scheiden aus;anwendbar ist grundsätzlich Art. 111Problem: evtl. Sachverhaltsirrtum hinsichtl. Art. 115 (Irrtum über Zurech-nungsfähigkeit des Sterbewilligen); dann wohl Art. 116 fahrl. Tötung

Normalfall: Zurechnungsfähigkeit des Sterbewilligen gegeben (Normalfall): Beihilfe zum Selbstmord (Art. 115) selbstsüchtige Beweggründe?• in der Praxis meist zu verneinen• jedoch: Entschädigung für Hilfeleis- tung; Aufmerksamkeit in Medien und Öffentlichkeit ("Geltungssucht")

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Sterbehilfe: Ärztliche Sterbehilfe

Ärztliche Sterbehilfeim Rahmen der ärztlichen Behandlung oder Betreuung;

bei unheilbarer Krankheit mit baldigem Todeseintritt; reales od. mutmassliches Einverständnis des Betroffenen

Aktive Sterbehilfe(Handeln)

Passive Sterbehilfe(Unterlassen)

Verzicht auf lebensver-längernde Therapien; nach h.L. auch Abbruch von lebensverlängern-den Therapien

nicht strafbar

Indirekteaktive Sterbehilfeschmerzlinderde Mittel mit Herabset-zung der Lebens-dauer als Nebenwir-kung

nicht strafbar

Direkteaktive Sterbehilfe

zielgerichtete Tötung zur Verkürzung des Leidens

strafbar gemäss Art. 114

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Fahrlässige Tötung (Art. 117) – Allgemeines

Art. 117: Fahrlässige Tötung

Wer fahrlässig den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.

>Tathandlung: fahrlässiges Verursachen des Todes eines anderen

- fahrlässig: pflichtwidrig unvorsichtig

– Verstoss gegen eine Sorgfaltspflicht: besondere (insbesondere gesetzlich geregelte) Sorgfaltspflichten und allgemeine Grundsätze

– besondere Sorgfaltspflichten: z.B. SVG– allgemeine Grundsätze: z.B. allgemeiner Gefahrensatz

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Fahrlässige Tötung (Art. 117) – Konkurrenzen

> zu Gefährdungsdelikten: echte Konkurrenz, wenn neben der verletzten Person noch weitere Personen konkret gefährdet worden sind

- z.B.: Art. 90 SVG

Art. 90 SVG: Verletzung der Verkehrsregeln

1. Wer Verkehrsregeln dieses Gesetzes oder der Vollziehungsvorschriften des Bundesrates verletzt, wird mit Busse bestraft.

2. Wer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt, wird mit Freiheits-strafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.

3. (...)

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Tötungsdelikte (Art. 111 - 117) – Strafmass

Vorsätzliche Begehung(Art. 111 - 116)

Fahrlässige Tötung(Art. 117)

FS 1 Tag bis 3 JahreGrundtatbestand:

Vorsätzliche Tötung (Art. 111)FS 5 bis 20 Jahre

Qualifizierter Tatbestand:Mord (Art. 112)FS 10 bis 20 Jahre oder lebenslänglich

Privilegierte Tatbestände:- Totschlag (Art. 113)

FS 1 bis 10 Jahre

- Tötung auf Verlangen (Art. 114)

FS 1 Tag bis 3 Jahre

- Kindestötung (Art. 116)FS 1 Tag bis 3 Jahre

Sondertatbestand:Verleitung und Bei-hilfe zum Selbstmord (Art. 115)FS 1 Tag bis 5 Jahre

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Jonas Weber: Strafrecht BT I (Vorlesung HS 10) Tötungsdelikte (Teil 2) − Folie 24

Tötungsdelikte – Strafmass

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