Studien zur Geschichte der Aufführungspraxis Alter Musik. Bd. 1...auf die klangbar zu machende...

344
Dieter Gutknecht Studien zur Geschichte der Aufführungspraxis Alter Musik Ein Überblick vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg Veröffentlicht unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 CONCERTO

Transcript of Studien zur Geschichte der Aufführungspraxis Alter Musik. Bd. 1...auf die klangbar zu machende...

  • Dieter Gutknecht

    Studien zur Geschichte der Aufführungspraxis Alter Musik

    Ein Überblick vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg

    Veröffentlicht unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-NC-ND 4.0

    CONCERTO

  • CONCERTO

  • Studien zur Geschichte der Aufführungspraxis

    Alter MusikEin Überblick vom Beginn des

    19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg

    Dieter Gutknecht

    CONCERTO

  • 3-9803578-9-9 (Originalausgabe)

    Unveränderte Open-Access-Veröffentlichungder 2. bearb. und erweit. Auflage (1997), Erstausgabe 1993,

    mit freundlicher Genehmigung des Verlages© CONCERTO VERLAG Johannes Jansen

    www.schott-campus.com

    Veröffentlicht unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY-NC-ND 4.0

  • I. Die terminologische Diskussion 9

    1. Der Terminus Aufführungspraxis 92. Historische Aufführungspraxis undHistorische Musikpraxis

    10

    3. Historisierende Aufführungspraxis 124. Versuche der Definition und zeitlichen Eingrenzung 14

    a) 1750, ein Endpunkt der Alten Musik? 14b) Alte Musik – Musik mit unterbrochenerinterpretatorischer Tradition

    15

    c) Neue Musik – Alte Musik 175. Der Wandel des Instrumentariums und das Musikverständnis der Musikbewegung

    18

    a) Der Wandel des Instrumentariums 18b) Wandel des Musizierstils 23c) Die Deutsche Musikbewegung 26

    6. Die Authentizitäts-Problematik 28a) Das deutsche Schrifttum 28b) Das englische Schrifttum 33

    Anmerkungen zu Kapitel I. 43

    II. Aufführungspraxis und Musikwissenschaft im 19. Jh. 48

    1. Das Problem der Aufführung Alter Musik im 19. Jh. 48a) Alte Musik zur Zeit der Restauration 48b) Bearbeitungspraxis 64c) Die Bearbeitungen von Robert Franz 78d) Ausführung des Akkompagnements 82e) Die historisch-archäologische Richtung 86Ausblick: Weitere Entwicklung 104

    Anmerkungen zu Kapitel II.1 109

    2. Auswirkungen der Wissenschaft 128a) Szientifizierung der Musik 128b) Gesamtausgaben: Bach, Händel, Schütz; Denkmäler Deutscher Tonkunst

    129

    c) Instrumentensammlungen 154d) Instrumentenkunde 159e) Verzierungsforschung 164f) Stimmton und historische Temperaturen 173g) Paläographie, Notenschrift, Tabulatur 175h) Das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis 176i) Rekonstruktionsbewegung und Historismus 180

    Anmerkungen zu Kapitel II.2 183

    Inhalt

  • III. Das Musizieren auf originalem Instrumentarium 201

    1. Kirchenmusikschule Regensburg,Schola Cantorum Paris

    201201

    2. Société de concerts des instruments anciens 2023. Deutsche Vereinigung für alte Musik 2054. Protagonisten 211

    a) Christian Döbereiner 211b) Wanda Landowska 216c) Paul Grümmer 220

    5. Fritz Neumeyer unddie Saarbrücker Vereinigung für Alte Musik

    222

    6. August Wenzinger 2307. Kabeler Kammermusik und Hans Eberhard Hoesch 2318. Kasseler Musiktage 2429. Schola Cantorum Basiliensis 24310. Kleines Musikfest Lüdenscheid 24811. Safford Cape und Pro Musica Antiqua 251Anmerkungen zu Kapitel III. 253

    IV. Alte Musik und Deutsche Musikbewegungin der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts

    266

    1. Die Jugendmusikbewegung 2662. Das Musikheim Frankfurt an der Oder 2703. Alte Musik und Nationalsozialismus 2734. Bach-Bewegung 2765. Orgelbewegung 2836. Verlage 2867. Collegia musica 2898. Zeitgenössische Komponisten und Alte Musik 291Anmerkungen zu Kapitel IV. 294

    V. Zum Stand aufführungspraktischer Bemühungen heute 302

    Anmerkungen zu Kapitel V. 308

    VI. Literaturverzeichnis 311

    VII. Register 334

    Inhalt

  • Zum Geleit

    Zum Geleit

    Die Quellen und Zeugnisse der Alten Musik, wie aller darstellender Künste,enthalten nur einen kleineren oder größeren Teil des lebendigen Kunstwerkes,das durch den Interpreten realisiert werden muß. Die Studien zur Geschich-te der Aufführungspraxis Alter Musik stützen sich daher ihrerseits auf diemehr oder weniger erfolgreichen Studien der Aufführungspraxis und ihrerAuswertung des Interpreten.

    Es wird uns nie gelingen, so zu singen, zu spielen und zu hören, wie es einZeitgenosse eines vergangenen Jahrhunderts tat. Jede Aufführung war und istein einmaliges Ereignis, das geprägt ist von so vielen zeitlichen, musika-lischen, sozialen, nationalen und persönlichen Einflüssen, daß es eben keinenallgemeinen ›Kanon der Alten Musik‹ gibt. Es bleibt der Sensibilität, demWissen und Können des Ausführenden vorbehalten, dem inneren Wesen einesWerkes so nahe als möglich zu kommen und es dem Hörer lebendig darzu-bieten.

    In den sieben Jahrzehnten, in denen ich aktiv und passiv die Bemühungenum die Aufführungspraxis verfolgt habe, bin ich guten und schlechten Resul-taten begegnet. Das Werk Dieter Gutknechts bringt eine umfassende undprofunde Darstellung dieser Entwicklung, für die er als Wissenschaftler undaktiv tätiger Musiker besonders berufen ist.

    August Wenzinger †

    Die t ermin ologische Diskussion

    Zum Geleit

    7

  • I. Die terminologische Diskussion

    Es hat den Anschein, als komme die Beschäftigung mit der musikali-schen Aufführungspraxis in allen ihren wissenschaftlichen und prakti-schen Aspekten immer noch einer Wanderung auf nicht gesichertemTerrain gleich. Man könnte beinahe den Eindruck gewinnen, es hande-le sich dabei um ein Phänomen, das sich einer klaren, eindeutigenBestimmung um so mehr entzieht, je intensiver sich Forschung undPraxis um eine Klärung bemühen.

    Die heutige Zeit ist charakterisiert durch Versuche der Ausarbeitungvon dringend benötigten Definitionen – Begriffen also wie ›Auffüh-rungspraxis‹, ›historische Aufführungspraxis‹, ›historisierende Auf-führungspraxis‹ – und durch das Auftauchen des Terminus Alte Musik(mit großem A), der eine Parallelbildung zum fest etablierten BegriffNeue Musik darstellt. Was aber die sogenannte Alte Musik ausmacht,wo sie beginnt und wo sie endet, ist eine Frage, auf die es bis heutekeine völlig befriedigende Antwort gibt.

    Die Unsicherheit der terminologischen Fixierung setzt sich in der auswissenschaftlicher Erforschung und praktischer musikalischer Arbeitgewonnenen rezeptiven Frage nach den Möglichkeiten und nach demGrad der Authentizität des Erreichten fort. Gerade die Diskussiondieser Problematik wurde besonders intensiv im englischsprachigenRaum geführt.1

    Die deutschsprachige Literatur ist älter und zieht sich durch dengesamten Zeitraum der Alte-Musik-Bewegung.2

    1. Der Terminus Aufführungspraxis

    Als Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Rückbesin-nung auf die Alte Musik immer größere Bedeutung im öffentlichenMusikleben zukam, wurde sie terminologisch noch als »musikalischeRenaissance«3, ausgehend von der »praktischen Bachbewegung undpraktischen Händelbewegung« (Niemann, S. 34), oder auch als »musi-kalische Renaissancebewegung«4 gekennzeichnet. Daneben trat jedochschon bald der heute geläufige Terminus ›Aufführungspraxis‹ in Er-scheinung. In einem für die Aufführung Händelscher Oratorien in derdamaligen Frühzeit der Auseinandersetzung grundlegenden Aufsatzführt Max Seiffert (1868-1948) den Begriff »Händelsche Aufführungs-praxis«5 erstmalig auf. Dieser Terminus für ein musikalisch-prakti-sches und musikalisch-wissenschaftliches Phänomen erhielt durch diezwei fast gleichzeitig erscheinenden Veröffentlichungen unter dem Ti-tel »Aufführungspraxis« von Robert Haas (1886-1960) und ArnoldSchering (1877-1941) den Charakter einer Teilbereichsbenennung dermusikwissenschaftlichen Gesamtforschung, zumal Haas seine Arbeitals Band 5 des »Handbuchs der Musikwissenschaft« (hrsg. von ErnstBücken) konzipiert hatte.6

    Die terminologische Diskussion

    9

  • Hatte Haas den Begriff Aufführungspraxis noch im weitesten Sinneauf die klangbar zu machende Musik bis weit ins 19. Jh. verstanden, soerfolgt bei Schering schon die spezielle Einengung auf die Wiederbele-bung der Alten Musik und damit auch implizit die Problematik derzeitlichen Umgrenzung, die er bei den mittelalterlichen Anfängen undin der Mitte des 18. Jhs. ansetzt (auf Scherings detaillierte Begründungsoll weiter unten im Zusammenhang mit der Erörterung des Begriffs›Alte Musik‹ und seiner zeitlichen Ausdehnung eingegangen werden).

    2. Historische Aufführungspraxis / Historische Musikpraxis

    Der Terminus ›historische Musikpraxis‹ ist eng mit der Schola Canto-rum Basiliensis verbunden, auch wenn er, wie es scheint, nicht primärdort ›gefunden‹ wurde. In seiner Festrede zur Eröffnung des Instru-menten-Museums und gleichzeitig des musikwissenschaftlichen Insti-tuts in Leipzig spricht Theodor Kroyer (1873-1945) von einer »Normder historischen Aufführungspraxis«.7 Trotz des Unterschieds der bei-den Begriffe wird die Übereinstimmung bei der Betrachtung der Defi-nition Peter Reidemeisters, des heutigen Direktors der ScholaCantorum Basiliensis, deutlich: »Die Historische Musikpraxis geht davonaus, daß man alter Musik und ihrem Geist in der heutigen Aufführung nurdann gerecht wird, wenn man den Dialog mit ihr unter ihren eigenen Bedin-gungen aufnimmt, also mit alten Instrumenten, den adäquaten Vortragswei-sen und einem Hören, das sich an dieser Musik orientiert, ohne daß die Musikan unserem Hören orientiert und dafür hergerichtet werden muß.«8 Diemittlerweile auf elf Jahrgänge angewachsene Veröffentlichungsreiheder Schola führt den Terminus ›historische Musikpraxis‹ bereits imTitel.9

    Um 1930 erscheint der Terminus ›Aufführungspraxis‹ auch erstmalsin den musikalischen Fachlexika. In Hugo Riemanns Musik-Lexikonwird er noch unter dem Stichwort ›Interpretation‹ mitbehandelt, dannaber doch eingeengt: »So hat sich auf Grund geschichtlicher Erkenntnis fürWerke bestimmter Stilperioden eine Aufführungspraxis herausgebildet, die,für das 14. und 15. Jahrhundert noch unsicher [...], vom 16. Jahrhundert anauf ziemlich sicherem Boden steht. Wir kennen heute die wechselnden Bedin-gungen für die Aufführung der Werke der sogenannten a-cappella-Periode, dieinstrumentale Verdoppelungen in weitem Maße gestattet, für den veneziani-schen Chorstil, für die Periode Bachs und Händels, die (vor allem bei Bach) dieim 19. Jahrhundert übliche vokale Massenbesetzung verbieten.«10

    In dieser Definition klingt viel von einer zu wenig in Zweifel gezo-genen Wissenschaftsgläubigkeit an, z.B. wenn als Faktum geschildertwird, daß man »auf Grund geschichtlicher Erkenntnis« zu klaren Er-gebnissen in der Frage der richtigen Wiedergabe von Musik einesbestimmten Stils und einer bestimmten Zeit gelangt sei. Sie suggeriertKlarheit über die Wiedergabe eines Repertoires vom 16. bis zum 18. Jh.,läßt aber nichts von den immensen Schwierigkeiten der heutigen For-schung mit diesen Problemen ahnen. In der Erläuterung des Terminus

    Die terminologische Diskussion

    10

  • sind nur Besetzungsprobleme erwähnt, alle anderen Parameter ausge-lassen.

    Wesentlich differenzierter erscheint der Begriff ›Aufführungspraxis‹in der fünf Jahre späteren Ausgabe des Musiklexikons von H.J. Moser(1889-1967). Schon der Beginn des folgenden Zitats deutet die Unsi-cherheiten an, die sich in der aufführungspraktischen Betätigung undForschung ergeben haben: »Aufführungspraxis ist ein den bildenden Kün-sten fehlendes, schwieriges Sondergebiet der Musik: das Notenbild in denjeni-gen Klang umzusetzen, der am wahrscheinlichsten dem betreffenden altenMeister vorgeschwebt hat.«11

    Moser lehnt sich bei seiner Definition ganz an Gurlitts (1889-1963)Begriff des »Klangideals« an, den dieser in seinem wichtigen, ja epoche-machenden Vortrag zur Eröffnung der Freiburger Orgeltagung 1926erstmalig ausgeführt hatte. Am Beispiel des Barockzeitalters erläutertGurlitt: »In vorwiegend historischer, stets aber zugleich systematischer Fra-gerichtung soll bei tunlichster Beschränkung auf den geschichtlichen Umkreisdes Barockzeitalters in Deutschland (rund: 1600 bis 1750) das dieser Epocheund ihren Wandlungen innewohnende Klangideal untersucht werden undzwar als Zeitbegriff für die Erfassung der historischen Klangstile, die alsAusdruck individuell, zeitlich und national begrenzten geschichtlichen Lebenszu verstehen sind und in denen sich zurechtzufinden und heimisch zu werdeneine zu Unrecht vernachlässigte wichtige Forschungsaufgabe der Musikwis-senschaft ist.«12

    Neben der Klangstil-Theorie, die die Probleme mehr vom äußerenErgebnis ableitet, erwähnt Moser ferner »das Problem des geistigenAufführungsstils«: »sind alle ›Alten‹ von den Organa des 12. Jahrhundertsbis zu Bach und Händel ›objektiv‹ (liturgisch, zünftig und umgangsmäßig[Besseler]) oder geradeso subjektiv und ausdrucksgesättigt zu musizieren wiedie Musik von Mozart bis Reger?« (S. 35). Diese Fragen der Darbietungknüpfen an die damals gängige Entgegensetzung von objektiver Dar-stellung und subjektiver Interpretation an, wie sie durch die Geisteshal-tung der Jugend-, der Jugendmusikbewegung und der deutschen Mu-sikbewegung schlechthin geprägt wurde.

    Schon Mosers negativ-kritische Einstellung zu dieser Tendenz machtdeutlich, daß es kein Entweder-Oder, sondern nur eine innerhalb dereinzelnen Epochen zu treffende Entscheidung gibt.

    Ferner führt Moser das Raumproblem, das Ad-libitum-Musizierenmit wechselndem Instrumentarium und die Improvisation an, umdann aber auf das entscheidende Problem zu kommen: »... endlich undvor allem aber sind wir heutigen Ausführenden und Zuhörer ja gar nicht mehrdieselben Menschen, für die damals geschrieben wurde, so daß der innereWegabstand zwischen Meister und Interpret durch absolute historische›Treue‹ des Klang- und Affektbildes heute eher nachgeformt werden dürfte,wenn wir – in Grenzen höchsten Feingefühls und strengster Verantwortlich-keit – etwas von unserem Empfinden in die alte Musik mit einfließen lassen«.

    Dieser Artikel Mosers markiert den damaligen Stand der Erfor-schung und Tätigkeit der Aufführungspraxis; er hat in wesentlichenGrundzügen nichts von seiner Aktualität eingebüßt.

    Die terminologische Diskussion

    11

  • Nach Carl Dahlhaus (1928-1990) bedeutet Aufführungspraxis AlterMusik »die Rekonstruktion geschichtlicher Aufführungsweisen in der heuti-gen Praxis.«13 Diese prägnante Definition schließt objektiv alle proble-matischen Fragen ein, hält sie aber gleichsam auf Distanz.

    Eine disziplinäre Deutung des Begriffs schlägt Holschneider vor,wenn er Aufführungspraxis als »Bereich einer angewandten Musikfor-schung«14 bezeichnet: »Angewandte Musikforschung und musikalische In-terpretation stehen zueinander in Wechselbeziehung. Der Forscher ist auf denInterpreten, der Interpret auf den Forscher angewiesen. Sie brauchen einanderunter anderem auch zur gegenseitigen Kontrolle. Der Interpret Alter Musiksucht in der Darbietung seinen eigenen Stil, seine Identität als Künstler«(S. 217).

    Diese Gedanken Holschneiders erscheinen brauchbar, eine Grundsi-tuation zu erhellen, wenn auch die Rede von der Wechselwirkung, dergegenseitigen Aufeinanderbezogenheit von Wissenschaft und künstle-rischer Tätigkeit so alt ist wie die gesamte Bestrebung, Alte Musikwiederzuentdecken.

    Vor allem der Ansatz der ›Wissenschaftlichkeit‹ deutet auf die cha-rakteristischen Probleme hin. Gewiß, Holschneider analysiert die ge-genseitige Beeinflussung von Praxis und Wissenschaft exakt, unterläßtes jedoch, eine der wirklichen Situation entsprechende Gewichtungdahin gehend vorzunehmen, daß vom Praktiker die Ergebnisse wissen-schaftlicher Erkenntnis oft nur als Marginalien verstanden werden –wenn auch als wichtige –, die er als neuschaffender Künstler ›unteranderem‹ in sein Tun übernimmt. Zwar geht er von einem wissen-schaftlich gesicherten Fundament aus, schafft aber darauf kraft seinerkünstlerischen Persönlichkeit Neues. Holschneider läßt die Gefähr-dung der Kunst außer acht, wenn der Wissenschaft die von ihm ange-strebte Kontrollfunktion zugewiesen werden soll. Schon Ende des ver-gangenen Jahrhunderts hat Philipp Spitta (1841-1894) in seinem wich-tigen Aufsatz »Kunstwissenschaft und Kunst« diese Gefährdungformuliert: »Die Arbeitswege der Kunstwissenschaft und der Kunst dürfenniemals ineinander laufen. Zur Verhütung gegenseitiger Schädigung mußzwischen beiden Gebieten die Scheidelinie scharf gezogen sein. Wohl aberdürfen über diese Scheidelinie hinüber beide die Resultate ihrer Arbeit einan-der zureichen.«15

    Dieser für die junge Disziplin Musikwissenschaft und die Wiederbe-lebung Alter Musik so programmatische Aufsatz wird an anderer Stellezu noch weiteren Diskussionen herangezogen werden, da er, singulärin seiner Zeit, ästhetisch-philosophische Fragestellungen anspricht, dieden Beginn der Alte-Musik-Bewegung mitprägten.

    3. Historisierende Aufführungspraxis

    Der Terminus ›historisierende Musikpraxis‹ ist nicht so weit von demder ›Aufführungspraxis Alter Musik‹ entfernt, wie es bei flüchtigerBetrachtung erscheinen mag. Ein Novum tritt jedoch mit dem Hörziel

    Die terminologische Diskussion

    12

  • in Erscheinung, das ganz von der jeweiligen Musik determiniert wird.Es scheint, um einen Begriff aus der Kunstgeschichte zu verwenden,eine Art ›innerer Archäologie‹ von der Musikwissenschaft und denMusikern praktiziert zu werden, die darin besteht, auf dem Weg dereigenen intensiven Versenkung und aus den Gesetzmäßigkeiten derQuelle und des eigenen Darstellens (nach Erforschung aller zur Verfü-gung stehenden Sekundärquellen) eine unbeeinflußte, nur dem Stil derjeweilig aufgeführten Musik verpflichtete Hörweise zu erlangen. Die-ses aufregende Postulat erscheint spezieller als die bislang geliefertenDefinitionen, hat aber sicherlich seine erste und tiefste Begründung inGurlitts Klangstil-Ideal der 20er Jahre. Auch die Feststellung Reidemei-sters: »So historisch diese Interpretationsart auch ausgerichtet ist, so sehr ginges ihr doch seit ihren Anfängen um etwas Neues in bewußtem Kontrast zumTradierten und Traditionellen« (Reidemeister, Aufführungspraxis, S. 8) ent-hält nichts vollkommen anderes im Vergleich zu den Gedanken undBestrebungen am Beginn der Beschäftigung mit Alter Musik, vor allemnicht, seit die Erkenntnisse von Gurlitt, Pietzsch und Kroyer vorlie-gen.16

    Richtig ist, daß die ›historische Musikpraxis‹ ein anderes Musizierenund Hören erreichte und dadurch einen Bruch mit dem vorausgegan-genen spätromantischen Klangideal vollzog. Übersehen wurde dabeijedoch vielfach, daß die jeweilige ›historische Musikpraxis‹ selbst nurimmer wieder eine historische Zwischenstation ist, da auch sie demhistorischen Prozeß unterliegt. Terminologisch wird dieser Prozeß inder Benennung »historisierende Aufführungspraxis« verdeutlicht, wiesie von Martin Elste mehrfach verwendet worden ist.17 Elste unter-scheidet deshalb auch strikt zwischen historischer und historisierenderAufführungspraxis, da erstere das »Wissen [...] über das Klanggesche-hen vergangener Epochen« beinhalte, letztere aber »die heutigen Re-konstruktionen der alten Aufführungspraxis« meint (Konstanz undWandel, S. 31). Erläuternd fügt Elste an, historische Aufführungspraxissei »das Eruieren und Deuten des Musizierens in der Vergangenheit. Danngeht es um das Umsetzen der erforschten Fakten in Klang – historischeAufführungspraxis wird zum gegenwärtigen Aufführungsklang. Das Ergeb-nis dieser beiden Ebenen bildet den Komplex der historisierenden Auffüh-rungspraxis – historisierend, weil sie nicht historisch ist, aber die Historiebeschwört« (S. 31).

    Die Analyse Elstes bringt das Dilemma der Wiederbelebung AlterMusik recht klar zum Ausdruck: Einerseits wählt man für zeitgenössi-sches Musizieren ein Repertoire der Vergangenheit, das man akribischund mit enormem Aufwand bis in die Seinstiefen hinein zu rekonstru-ieren versucht, andererseits ist man sich aber immer bewußt, eineKongruenz nicht erreichen zu können. Vergessen wird dabei jedoch,daß man Neues schafft, also musikalisch kreativ wirkt.

    In der Beschäftigung mit der Alten Musik sind klare Entwicklungs-stufen erkennbar. Ein nachgebautes Pleyel-Cembalo der Jahrhundert-wende hat wenig gemein mit den sogenannten Klangkopien der Ge-genwart und eine »Orfeo«-Aufnahme August Wenzingers (geb. 1905)

    Die terminologische Diskussion

    13

  • aus dem Jahr 1955 wenig mit den Einspielungen von Nikolaus Harnon-court (geb. 1929), die zwanzig Jahre später entstanden, und auch dasSpiel einer Wanda Landowska (1879-1959), so virtuos und überzeu-gend es nach den Dokumenten zu veranschlagen ist, wird sich gegendas eines Gustav Leonhardt, Ton Koopman oder Kenneth Gilbert gera-dezu archaisch ausnehmen. Noch eklatanter stellt sich die Situationdar, wenn man bei Instrumenten wie Violine, Trompete, Oboe oderauch Blockflöte daran denkt, welche Möglichkeiten – um das Beispielder Blockflöte aufzugreifen – diesem in jugendmusikbewegten Zeitenubiquitär gewordenen Instrument durch Solisten wie Günther Hölleroder Frans Brüggen eröffnet wurden. Die Alte-Musik-Bewegung hatihre Traditionen, aber damit auch ihre Geschichtlichkeit.

    4. Versuche der Definition und zeitlichen Eingrenzung

    Die Diskussion um die Benennung der ›Aufführungspraxis‹ als einerpraktisch-wissenschaftlichen Disziplin ist nur ein Nebenaspekt dereigentlichen Frage: Was ist Alte Musik und wie läßt sich das, was siebezeichnet, zeitlich umgrenzen?

    Eine landläufige Definition ist die, daß Alte Musik alles das sei, wasvor Bachs Tod, also vor 1750, komponiert wurde. Eine andere nennt alsHauptkriterium die unterbrochene Musiziertradition – ein Faktum, dasbeispielsweise für die Musik der Wiener Klassik nicht gelten soll, da sieunserer gegenwärtigen Musikpraxis angeblich noch entspricht.

    a) 1750, ein Endpunkt der Alten Musik?

    Die genannte Eingrenzung hatte sicherlich vom Beginn der Alte-Mu-sik-Bewegung bis in die 1970er Jahre hinein Bestand. Erstmalig formu-liert wurde sie von Schering (»Aufführungspraxis alter Musik«, 1931).Schering führt aus: »Um die Mitte des 18. Jahrhunderts, als mit dem Hin-tritt der beiden Großen Bach und Händel auch das Barock in den Schatten derGeschichte hinabtauchte, änderte sich mit der Musikanschauung, mit demSatzstil, mit dem Fühlen und Denken auch die Art des Musizierens selbst«(S. 173). Folgende Symptome sind dabei für Schering charakteristisch:

    — das Verschwinden des »Zufalls-Orchesters« der Renaissance,— barocke Instrumente wie Oboe da caccia und Oboe d'amore,

    Blockflöte, Gambe, Theorbe und Laute geraten in Vergessenheit,

    — der Klang wandelt sich hin zum Ideal eines »verschmelzenden«Klangs (S. 173),

    — die Etablierung eines allgemeinen, öffentlichen Konzertlebens.Schering zufolge hat sich die allgemeine Aufführungspraxis also inso-fern geändert, als »nunmehr alles Zufällige, Willkürliche, Einmalige[...] ausgeschaltet und, soweit irgendmöglich, festgelegt wird« (S. 174).

    Das Vorhandensein des von Schering benannten deutlichen Ein-schnitts innerhalb der Musikgeschichte läßt sich nicht leugnen. An

    Die terminologische Diskussion

    14

  • gleicher Stelle setzt deswegen wohl Howard Mayer Brown an, wenn erschreibt: »The study of performing practice in music since 1750 is fundamen-tally different from the study of earlier performing practice [...] there is no ›losttradition‹ separating the modern performer from the music of Haydn, Mozartand their successors.«18 Schering und Mayer Brown vertreten die Auffas-sung, daß das Musizieren ihrer Zeit in wesentlichen Bereichen noch inÜbereinstimmung mit dem der Nach-Bach-Zeit zu sehen sei.19

    Die praktische Entwicklung schuf insofern Anlaß zum Umdenken,als die Musiker mit ihrem sogenannten Original-Instrumentarium sichimmer weiter in die Klassik vorwagten, d.h. Mozart, Haydn und Beet-hoven für die Alte-Musik-Bewegung aufgearbeitet wurden.20 Die zeit-liche Begrenzung bzw. der Begriff Alte Musik mußte entsprechendganz neu gefaßt werden.

    Im »New Grove Dictionary of Musical Instruments« heißt es folglich(unter der Überschrift »Apparent continuity of tradition«): »Superficial-ly, there is a fundamental difference between the study of performing practicebefore 1750 and the study of it after that date [...]. But on closer examinationneither the assumption of an unbroken performing history nor the corollary ofan unbroken performing tradition stands up«.21 Eine zeitliche Begrenzungscheint damit aufgehoben.

    b) Alte Musik – Musik mit unterbrochener interpretatorischerTradition

    Seit Beginn der 1980er Jahre drängt sich verstärkt eine andere Defini-tion in den Vordergrund, wie sie zunächst Holschneider propagierte:»Alte Musik ist Musik mit unterbrochener interpretatorischer Tradition.«22Er fügt seiner Definition an, daß sie nicht zu einer »Periodisierung vonMusik gedacht« sei, sondern ihren Sinn durch die Interpretationsbezo-genheit erhalte (Holschneider, »Über Alte Musik«, S. 345). Diese Sichtder Alten Musik und ihrer Aufführungspraxis führt jedoch in ein Di-lemma, denn auch Holschneider gelingt es durch sein Hinlenken aufden interpretatorischen Ansatz nicht, eine zeitliche Umgrenzung, die inder Definition, wenn auch unausgesprochen, enthalten ist, zu leugnen.Deutlich wird das Problem, wenn er selbst feststellt: »Doch auch wirhaben uns weiterhin damit auseinanderzusetzen, daß die Interpretation derAlten Musik nicht bruchlos aus ihrer Zeit in die unsere tradiert worden ist. ImBereich der klassischen und romantischen Musik wird die Interpretationswei-se im großen und ganzen aus der Tradition hergeleitet« (S. 345).

    Anfechtbar erscheint diese Definition, weil davon ausgegangen wer-den kann – dies sei als Behauptung aufgestellt –, daß trotz vorgeblicherInterpretations-Kontinuität des klassisch-romantischen Repertoiresunsere zeitgenössischen Aufführungen eklatant anders klingen, als sieder Hörer von damals und vor allem der Schöpfer und Interpret erlebte.Im übrigen ist die Annahme, daß das klassisch-romantische Repertoireeine aufführungspraktische Kontinuität bis heute hätte, kaum über-prüfbar.

    Die terminologische Diskussion

    15

  • Eingedenk der Tatsache, daß die historisierende Musikpraxis selbsteinem historischen Prozeß unterworfen ist, läßt sich verdeutlichen, wieradikal sich die musikalische Interpretation verändert und sich aufimmer neue Art und Weise vom Ursprung entfernt, sich ihm vielleichtauch wieder angenähert hat, dies jedoch in der Weise, daß die Eigendy-namik des musikalischen Kunstwerkes das immer Andere und Neuenatürlicherweise dem jeweiligen Interpretationszeitpunkt abfordernmußte. Zwar lassen sich einige Parameter wie Instrumentarium, Ton-gebung, instrumentale Techniken usw. nahezu identisch wiederherstel-len, aber das jeweilige Ergebnis ist immer neu.

    Zum anderen darf der Wandel, dem das gesamte symphonischeInstrumentarium unterworfen war, nicht übersehen werden. Es bestehtnun einmal ein gravierender Unterschied zwischen einem Flügel etwader Brahms-Zeit und dem Standard eines modernen Konzertflügels.Auch die Streichinstrumente, die zwar in ihrem inneren Bau unverän-dert geblieben sind, klangen durch die Darmbesaitung, die bis zumBeginn unseres Jhs. für die hohen Saiten ausschließlich verwendetwurde, anders als heute.23 Nicht vergessen sei auch die Tempoproble-matik.

    Bedenklich scheint die Definition auch, weil der selektive Charakterdes heutigen Musizierens des klassisch-romantischen Repertoires sicheine eigene Auswahl erschafft, die sich nur an zeitüberdauernden›großen‹ Werken orientiert. Musikwerke, die für das Musikleben einerbestimmten Epoche mitprägend gewesen sind, gerieten in Vergessen-heit, wurden von Neuem verdrängt, so etwa das »Weltgericht« vonFriedrich Schneider (1786-1853), um nur ein Beispiel zu nennen.

    Wulf Arlt nennt mit den folgenden drei Gründen weitere Einwändegegen die von Holschneider vorgeschlagene Definition der Alten Mu-sik und ihre Kriterien: »Diese greifen ineinander und betreffen (1) dieProbleme einer historischen Abgrenzung zwischen dieser ›alten‹ und einerneueren Musik, (2) die Bestimmung des damit umschriebenen Arbeitsbereichsaufgrund des Repertoires und nicht aufgrund einer spezifischen Haltung desInterpreten und (3) die Tatsache, daß das Stichwort der ›unterbrochenen‹Tradition den Gegensatz zu einer kontinuierlichen, wenn nicht gar ›ungebro-chenen‹ interpretatorischen Tradition impliziert.«24

    Arlt weist darauf hin, daß ja durchaus Werke z.B. Händels (1685-1759) oder Bachs (1685-1750) kontinuierlich durch das 18. und 19. Jh.hindurch aufgeführt wurden. Somit kann gefolgert werden, daß Hol-schneiders Terminus kein ›Wie‹ der Darstellung berücksichtigt, son-dern das Repertoire allein als Ansatz der Definition heranzieht. Arltverweist auch auf den interpretatorischen Wandel, dem die musikali-schen Werke durch die Zeitläufte unterworfen sind. Die Diskussion umdiese von ihm vorgeschlagene Definition als Gegenstand der histori-schen Aufführungspraxis mag verdeutlichen, wie schwierig der Begriff›Alte Musik‹ zu fassen ist. Aber trotzdem spricht man von Alter Musik,Early Music, Musique ancienne, und jeder meint zu wissen, worum esgeht, welche Musik gemeint ist. Es muß offensichtlich andere Kriteriengeben, nach denen eine sinnvolle Umschreibung möglich ist.

    Die terminologische Diskussion

    16

  • c) Neue Musik – Alte Musik

    Es ist hier nicht der Ort, den Begriff ›Neue Musik‹ zu problematisieren.Aber in Entgegensetzung zum Begriff ›Alte Musik‹ kann vielleicht dereine vom anderen abgegrenzt werden. An drei Stellen der Musikge-schichte tritt eine solche Konfrontation terminologisch in Erscheinung.

    Zu Beginn des 14. Jhs. spricht Philippe de Vitry (1291-1361) – nebenanderen Theoretikern – »von einer ars nova in der Musik«.25 Schondamals wurde dieser Stilbegriff einer ›Ars antiqua‹ entgegengesetzt,die sich in strenger, modaler Rhythmik und vollkommenen Konsonan-zen in den Motettenkompositionen Leoninus' (12. Jh.) und Perotinus'(1155/60-1200/05) zeigte. Dem entgegen tritt z.B. die kantable Melodikeines Petrus de Cruce (Mitte 13. Jh.). Auch die zweite Wandlung um1600 vollzieht den Schritt von einer verfestigten Satzstruktur der alt-klassischen Polyphonie eines Palestrina (1526-1594) hin zur ausdrucks-geladenen, durch das Wort geprägten Ausdrucksmusik Claudio Mon-teverdis (1567-1643).

    An dieser musikgeschichtlichen Nahtstelle spricht Giulio Caccini(ca. 1550-1618) ebenfalls von »Le Nuove Musiche«, wie er sein theore-tisches Manifest der ›Neuen Musik‹ betitelt (Florenz 1602).

    Weitaus problematischer stellt sich der Begriff in seiner jüngstenWandlung dar. Nach Fellerer (1902-1984) gibt es eine terminologischeUnterscheidung von »moderner« und »neuer Musik«, wobei unterdem ersten Begriff Komponisten wie Reger (1873-1916), Pfitzner (1869-1949) oder Richard Strauss (1864-1949), unter dem zweiten Schönberg(1874-1951), Webern (1883-1945) und Berg (1885-1935) mit der vonihnen begründeten Entwicklung dodekaphoner und serieller Musik zusubsumieren wären. So revolutionär aber der satztechnische Ansatzder aufgeführten Komponisten der zweiten Gruppe auch genannt wer-den muß, so darf doch nicht übersehen werden, daß ein entscheidendesMerkmal der Kontinuität, der musikalische Expressionismus des frü-hen 20. Jhs. nämlich, nicht aufgehoben wird, sondern lediglich eineSteigerung erfährt: »Ein neues Ausdruckswollen und eine neue Ausdrucks-Gestalt haben in unserer Zeit einer subjektiven Pathossteigerung ein objekti-vierendes Interesse an der Struktur des Satzes gegenübergestellt. Darin ist inder Gegenwart der Begriff Neue Musik begründet. Die Struktur des Satzes biszur rationalen Konstruktion ist einer gefühls- und empfindungsbetonten Mu-sik gegenübergetreten. Harmonie und Klang, die seit dem ausgehenden15. Jahrhundert die Entwicklung der abendländischen Musik bestimmt haben,werden durch eine harmoniefreie Kontrapunktik abgelöst.« (Fellerer, S. 7f.)

    So bleibt festzuhalten, daß bei allen Einschnitten innerhalb der Mu-sikgeschichte mit ›Neuer Musik‹ eine Ausdruckssteigerung mit neuenMitteln einhergeht; beim letzten traten zusätzlich noch strukturelleNeuerungen hinzu, die gewaltige, dem Beginn der Mehrstimmigkeitvergleichbare Dimensionen aufweisen.

    Es wäre nun zu fragen, inwiefern die obige Gegenüberstellung für

    Die terminologische Diskussion

    17

  • die Definition des hier interessierenden Begriffes ›Alte Musik‹ Konkre-tes abwirft. Immerhin wird deutlich, daß der Begriff ›Alte Musik‹, sowie er in der Aufführungspraxis verwendet wird, nichts mit demhistorisch überlieferten gemein hat. Offenbar geht es um andere inhalt-liche Bedingungen, die mehr durch die Musizierpraxis als durch diehistorische Veränderung charakteristisch geprägt zu sein scheinen.26Mit dem Begriff ›Neue Musik‹ hat der der ›Alten Musik‹ allerdingsinsofern Gemeinsamkeit, als auch er emphatisch verstanden werdenkann, als ein Signal für eine andere, im oben beschriebenen Sinne›gesteigerte‹ Form des musikalischen Ausdrucks.

    5. Der Wandel des Instrumentariums und das Musikverständnis derMusikbewegung

    Auf zwei Aspekte, die bislang unbeachtet geblieben sind, könnte eineerneute Diskussion ausgerichtet sein: zum ersten auf den Wandel deshistorischen Instrumentariums, zum zweiten auf die Musik und dieMusikanschauungen, gegen die sich die Wiederbelebungs-Bewegungvor allem in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts so vehement ge-wandt hat. Das erste wäre ein primär instrumentenkundlich nachvoll-ziehbares, musikrezeptives Phänomen, das andere einmusikästhetisches.

    a) Der Wandel des Instrumentariums

    An keiner anderen Instrumentengruppe läßt sich der Wandel derMusizieransprüche so deutlich ablesen wie an den Streichinstrumen-ten. Als Begründung für die in die Substanz der Instrumente eingrei-fenden Umbaumaßnahmen nennt Kolneder vor allem die Veränderungdes Musiklebens der ›höfischen Sphäre‹ zum bürgerlich-öffentlichenKonzert, das größere Säle und größere Orchesterbesetzungen mitklangstärkeren Instrumenten erforderte.27

    Parallel zu dieser Entwicklung veränderte sich auch die Spieltechnikder Streichinstrumente: der Tonumfang wurde erweitert, das Lagen-spiel mehr und mehr gefordert, das Solokonzert gepflegt, in dem einemSolisten mehr Orchestermusiker und eine größere Blasinstrumenten-gruppe gegenüberstanden als in der Barockzeit.

    All die aufgeführten Gründe bedingten seit der Mitte des 18. Jhs.,oder schon seit den 30er Jahren, Modifikationen vor allem beim Gei-genbau. Der im 17. Jh. rechtwinklig an die Zarge ohne Randüberstandangeleimte und manchmal mit Nägeln durch den Oberklotz befestigteHals wies zuviel Holz im Bereich des korpusnahen Handbereichs amHalsfuß auf. Dadurch war ein ständig wechselndes Lagenspiel ohneHaltehilfen wie Kinnhalter und Schulterstütze durch zu große Hand-spannung sehr erschwert.28 So sind schon Instrumente aus der erstenHälfte des 18. Jhs. überliefert, die einen schlankeren Hals aufweisen.29

    Die terminologische Diskussion

    18

  • Das wesentlichste Merkmal sämtlicher damals gebräuchlicher Streich-instrumente ist die fehlende Normierung in dem Sinne, daß jederGeigenbauer die Instrumente nach eigenen Kriterien oder physiologi-schen Gegebenheiten der Auftraggeber baute. So ergibt sich im Über-blick die Situation, daß weder eine einheitliche Halslänge – es ist nachvorliegenden Originalhälsen nicht mehr möglich, von ›Kurzhals‹-Gei-gen zu reden (Kolneder, S. 205), da auch zur Zeit von Barock undKlassik heutige Maße vorkommen –, noch eine standardisierte Formge-bung des Halses, beim Violoncello auch des Korpus', auszumachen ist.Gerade dieses Instrument machte im Verlauf der ersten Hälfte des18. Jhs. eine grundlegende Wandlung vom ungelenken großen, einemkleinen Kontrabaß angenäherten Instrument zum kleineren vier-saitigen Solo-Instrument durch. Ähnlich, jedoch typenbildender ist dieSituation beim Kontrabaß. Die im Barock zu beobachtende Vielfalt derInstrumentenformen standardisiert sich vom sechssaitigen, mit Bün-den versehenen, ganz dem Gambentyp zuzuschreibenden Instrument,vom überdimensionalen Großkorpus bis hin zum kleinen Baß, demBassettl, zu einem viersaitigen Typ verschiedener Größe.30

    Es kann also festgestellt werden, daß sich bei allen Streichinstrumen-ten zur zweiten Hälfte des 18. Jhs. hin eine gewisse Vereinheitlichungim Aussehen einstellt, die durch die neuen musikalischen Erfordernissebedingt wurde.

    Hatten im Verlaufe vom späten 17. Jh. durch das 18. Jh. die neuenAnforderungen zu Detail-Modifikationen beim Bau neuer Instrumentegeführt – einmal abgesehen vom Ausschaben, Verdünnen von Bodenund Decken oder Umfangsreduzierungen bei den Violoncelli, aberauch Violen –, so läßt sich ab der Wende vom 18. zum 19. Jh. das in derInstrumentengeschichte einmalige Phänomen beobachten, daß für dieAnsprüche der ›neuen‹ Musik nicht mehr nur neue Instrumente gebautwurden, sondern vor allem der ungeheuer große Bestand der altenmeisterlichen Instrumente durch substantiell eingreifende Maßnah-men ›modernisiert‹ wurde.

    Die Umbaumaßnahmen zielten vor allem auf Tonverstärkung, ebenauf ein Musizieren in größeren Sälen und anderen akustischen Dimen-sionen. Um das zu erreichen, mußten die alten Instrumente für einehöhere Saitendruckbelastung umgerüstet werden. Um die Spannungder Saiten zu erhöhen, mußte der Halsansatz-Winkel noch mehr verrin-gert, der Steg erhöht und an den Füßen verdünnt31 sowie der Baß-balken im Innern des Korpus so verändert werden, daß die teilweiseschon 100-150 Jahre alten Instrumente, die für ganz andere akustischeGegebenheiten konzipiert waren, die höheren Belastungen aushaltenkonnten.

    Um die neue Halsneigung und damit größere Belastung durch höhe-re Spannung zu ermöglichen, mußte eine neue Halsbefestigung kon-struiert werden. Die alte Methode, den Hals unmittelbar an den Ober-klotz anzuleimen, war dem erhöhten Druck nicht angemessen. Nun-mehr wurde der Halsfuß in eine Nut des Oberklotzes im neuen Winkeleingeschoben und festgeleimt. Dadurch hätte der alte Hals sicherlich

    Die terminologische Diskussion

    19

  • 5 bis 8 mm an Länge eingebüßt und wäre unverwendbar geworden.Aus diesem Grunde wurde der Halskopf in Höhe des unteren Wirbel-kastens durch feine Längsschnitte in den Wandungen abgetrennt unddurch ein neues Halsstück ersetzt, das den neuen Längenanforderun-gen entsprach.

    Aufgrund der bis jetzt vorliegenden Kenntnis kann gesagt werden,daß nicht jedes Instrument mit einem ›modernen‹ längeren Hals ausge-stattet wurde, nur weil die alten Instrumente ›Kurzhals‹-Instrumente(s.o.) waren.32 Es ist zwar richtig, daß die Hälse verlängert werdenmußten, aber eben aus bautechnischen Gründen, die mit der Befesti-gungsart zusammenhingen. Die heutigen Streichinstrumente habeneinen Randüberstand am Halsfuß unter dem Griffbrett, der noch überdie Einlage hinausreicht. Diese Konstruktion bedingte eine Verlänge-rung des Halses, die somit durch die geringere Dimension der angeb-lich typischen ›Kurzhals‹-Geige notwendig wurde. Der zeitliche Rah-men, in welchem der Neubau bzw. Umbau zum neuen Instrumenten-typus erfolgte, läßt sich anhand einiger weniger Instrumenteannähernd bestimmen. Hellwig führt zwei Instrumente des Nürnber-ger Geigenbauers Martin Leopold Widhalm (1722-1776) auf,33 vondenen das eine Instrument 1804 noch in alter Weise gebaut ist (Halsan-satz am Deckenrand), eine zweite Violine aus dem Jahr 1805 aber schondie neue Konzeption bzw. Konstruktion erkennen läßt (Halsfußüber-stand über dem Deckenrand).34

    Den Beginn der Umbauphase meint Hellwig um 1800 nach einemGragnani-Cello festlegen zu können, das einen originalen Hals in ›mo-derner‹ Befestigungsart aufweist (Hellwig, S. 128). Bis spätestens um1830/40 scheint der Umbau der alten Instrumente vollzogen, bzw. dieneue Bauart mit den genannten Konstruktionsmerkmalen und anderenModifikationen allgemein üblich geworden zu sein (Kolneder, S. 206).

    Auch der Streichbogen macht eine Parallelentwicklung von der Viel-falt zur Standardisierung durch. Die Längen der Bögen differierenstark, wobei allgemein gilt, daß die französischen Bögen kürzer, dieitalienischen länger sind. Typische Merkmale können in den sog.Hechtkopf- oder Schwanenhals-Spitzen, den mehr oder weniger kon-vex gespannten Stangen und den schlanken Fröschen gesehen werden.Im Verlauf des 18. Jhs. verändern sich durch eine weiterentwickelteSpieltechnik die Bogenformen. Die schlanke Spitze erhält mehr undmehr eine Kopfform, die die Haare weiter von der Bogenstange fern-hält und deren Form sich von der konvexen hin zur konkaven wölbt.Durch diese Neugestaltung tritt eine ausgeglichenere Gewichtsvertei-lung über den gesamten Spielbereich des Bogenhaares ein. Hatte derbarocke Bogen einen eindeutig schweren Bereich in der Nähe desFrosches und somit eine entlastete Spitze, so war der klassische undspäter dann durch François Tourte (1748-1835) standardisierte Bogenfast an allen Stellen ›gewichtsgleich‹. Der ›alte‹ Bogen bewirkte durchseine Gewichtsverhältnisse bestimmte Strichregeln, wie die sog. Ab-strichregel bei Taktbeginn, um die Betonung der Takt-Eins zu gewähr-leisten. Die Abfolge betonte/unbetonte Noten (schwer-leichte Zeiten)

    Die terminologische Diskussion

    20

  • wurde allein durch Abstrich ausgeführt, da der schwere, betonendeTeil des Bogens im Froschbereich lag. Die neuen Bögen eröffneten mehrMöglichkeiten, ganz nach spieltechnischen Gesichtspunkten, unabhän-giger von baulichen Vorgaben des Instruments zu musizieren und zukomponieren. Es kamen damit Stricharten in Gebrauch, die deutlicheine Tendenz zur Virtuosität erkennen lassen.35

    Für das Streichinstrumentenspiel kann zusammenfassend festge-stellt werden, daß nach diesen Umbau- bzw. Neubaumaßnahmen imVerlauf der nachfolgenden Musikentwicklung keine Veränderungenmehr vorgenommen wurden, die derartig einschneidend gewesen wä-ren. Von der Wahl des Saitenmaterials sei hier abgesehen.

    Auch die anderen Instrumente traten in einen Umänderungs- bzw.Neukonzeptions-Prozeß ein, der sie letztendlich in die uns heute be-kannten Formen brachte. Um 1800 hatten die HolzblasinstrumenteOboe, Klarinette und Fagott fast durchweg lediglich zwei Klappen alsSpielhilfen. Bei der Traversflöte kommt nur die Dis-Klappe vor. Bei derKlarinette kommt schon früh zu den beiden Klappen für a' und b' eineE-Klappe hinzu, die es durch Überblasen ermöglicht, das h' zu errei-chen.

    Die an allen Holzblasinstrumenten immer zahlreicheren Klappenbewirkten einerseits eine Umfangserweiterung, lösten aber auf deranderen Seite die jahrhundertealte Tradition ab, Halbtöne »mit Hilfevon Gabelgriffen und Abdecken tieferliegender Tonlöcher zu erzie-len.«36

    Die Einführung der Klappen bewirkte eine einschneidende, jedenTon in gleichwertiger Klangqualität erzeugende Vereinheitlichung. Da-durch verschwand das ehemals so bedeutende Phänomen der Tonar-tencharakteristik, da es keine ›charakteristischen Töne‹ mehr gab, diedurch andere Klangqualität auffielen und die so die Unterscheidungder verschiedenen Tonarten ermöglichten. Um 1800 wurde dieser Aus-gleich jedoch als Gewinn angesehen, wie Johann Georg Tromlitz (1725-1805) verdeutlicht: »Was die Gleichheit des Tones in der eingestrichenenOktave betrifft, so kann sie zwar in einigen Fällen bewirket werden, aber nichtin allen. Durch die angebrachten Klappen F, gis und b ist zwar vieles gewon-nen, aber lange noch nicht alles.« Tromlitz beschreibt des weiteren denVorteil der von ihm eingeführten je zwei Klappen für f und b und derC-Klappe. Zur C-Klappe erwähnt er folgende Notwendigkeit: »Auch istdie Fortschreitung c''-b', oder umgekehrt, ungleich, denn b' ist helle und c'' iststumpf. C'' auf andere Art gegriffen, um es heller zu machen, ist unsicher undmehrentheils zu hoch, wenn man nicht Zeit hat, es tiefer zu künsteln. Alsohierher gehört eine c''-Klappe, welche ich mit vieler Mühe, so wie sie jetzt ist,erfunden habe.«37

    Die Entwicklung zum neuartigen Instrument war bei der Flöte 1827abgeschlossen, als Theobald Boehm (1794-1881) seine »konische Ring-klappenflöte« vorlegte, die sich durch eine neuartige Anlage der Löcherund ein neues Griffsystem grundlegend von allen vorherigen Kon-struktionen unterschied (Joppig, S. 62).

    Auch bei den anderen Holzblasinstrumenten gab es zeitgenössische

    Die terminologische Diskussion

    21

  • Veröffentlichungen, die die Veränderungen der Instrumente beschrie-ben. Karl Almenräders (1786-1843) »Abhandlung über die Verbesse-rung des Fagotts« (1820), Gottfried Webers (1779-1839) »Versuch einerpraktischen Akustik der Blasinstrumente«, Iwan Müllers (1786-1854)»Méthode pour la nouvelle Clarinette et Clarinette-Alto« (1825), eben-falls auf deutsch erschienen, mögen Belege für das rege Forschen undExperimentieren zu Beginn des 19. Jhs. sein (s. Joppig, S. 62).

    Auch auf diesem Instrumentensektor wird die radikale Abkehr voninstrumentenbaulichen Gegebenheiten des 18. Jhs. deutlich. Hier wirddas Ziel, eine neue Klangästhetik, eine Ausweitung der klanglichenBereiche zur Darstellung einer ›neuen Musik‹ zu erreichen, durch dasmodifizierte alte Instrumentarium oder durch Neukonstruktionen be-werkstelligt. Der zeitliche Rahmen entspricht fast genau dem der Um-bauphase bei den Streichinstrumenten. Auch bei den Trompeten erfolg-te nach längerer Experimentierphase in der zweiten Hälfte des 18. Jhs.bis zum Beginn des 19. Jhs. eine Neukonzeption des Instruments, dievor allem der »Chromatisierung in der Tiefe« diente.38 In der Klangäs-thetik war eine Tendenz weg von der Clarin-Lage zur tieferen bzw.mittleren Lage zu beobachten. Noch einschneidender war eine Rück-wärtsentwicklung vom barocken, alles überstrahlenden, symbolträch-tigen Solo-Instrument zum harmoniefärbenden Tutti-Instrument derKlassik: Der horizontale Einsatz im Barock war einer rein akkordischvertikalen Verwendung in der Klassik gewichen. Die Clarinblaskunstwar durch die andersgeartete Musikauffassung in Vergessenheit gera-ten, die Trompete als Soloinstrument nicht mehr gefragt.

    In der zweiten Hälfte des 18. Jhs. setzten dann Versuche mit derStopf- und Klappentrompete ein, für die Johann Nepomuk Hummel(1778-1837) und Joseph Haydn (1732-1809) ihre Konzerte schrieben, dieeine in Höhe und Tiefe gleichwertige Ausnutzung des Tonumfangs inchromatischer Weise garantieren sollten. Stopf- und Klappentrompetewiesen jedoch unterschiedliche Tonqualitäten auf, die nicht befriedig-ten. Vor allem die Stopftechnik brachte zu viele unschöne Töne hervor,die sowohl durch abweichende Tonhöhen als auch durch spektraleMerkmale unangenehm auffielen. Die Klappentrompete entsprachnoch am ehesten dem klassischen Ideal des Tonqualität-Unterschieds,den wir auch bei den klappenarmen Holzblasinstrumenten, und dabesonders bei der Querflöte, vorfanden.

    In diesem Zusammenhang und als besonders wichtiger Beleg für dieZeichen des Wandels mag eine Nachricht erwähnt werden, die EdwardH. Tarr über den damalig berühmtesten Trompeter Anton Weidinger(1767-1852), dem die Erfindung der Klappentrompete zugeschriebenwird, mitteilt: »Dieses Klangideal [die instrumentenbedingte unter-scheidbare Tongebung, Verf.] wandelte sich allmählich und ist an Weidin-gers Karriere abzulesen: Am Anfang wurde er stürmisch gefeiert, später aber,etwa von 1825 an, spielte er vor halbleeren Sälen; erst dann registrierte mandie Ungleichheit der Klangfarbe bei geöffneten und geschlossenen Klappen«(Tarr, S. 108).

    Durch die Erfindung der Ventile um 1815 wurde die volle Chroma-

    Die terminologische Diskussion

    22

  • tisierung der Trompete, natürlich auch des Horns, erreicht.39 Damitwurden die Instrumente den durch die ›neue Musik‹ bedingten Anfor-derungen voll gerecht, vor allem was die »melodische Beweglichkeit«und den neuen Einsatzbereich der Trompeten und Hörner anbelangt(Haas, S. 255).

    b) Wandel des Musizierstils

    Neben den augenfälligen instrumentalen Abänderungen und Neue-rungen wandelte sich auch der Musizierstil in wesentlichen Bereichen.Einschneidende Veränderungen traten auf dem Gebiet des Verzie-rungswesens und der Leitung von größer besetzten Aufführungendurch die neu eingeführte Gestalt des Dirigenten in Erscheinung, dernicht mehr ausschließlich Interpret eigener Werke war.

    Was die Abschaffung der vokalen und instrumentalen Zierpraxisbetrifft, finden sich schon Belege bei Gluck (1714-1787) und Haydn. Vorallem ersterer wandte sich strikt gegen die vokale Mode des Diminuie-rens und verlangte die Ausführung dessen, was der Komponist festge-legt hatte. In diesem Zusammenhang fordert er auch die unbedingteAnwesenheit des Komponisten bei den Einstudierungsproben.40

    Durch die Anwesenheit des Komponisten sei nach Gluck gewährlei-stet, daß nichts, was der Komponist seiner Niederschrift beigab, anderseinstudiert und dargeboten werde. »Bei seinen Aufführungen gab es keineeigenmächtigen Improvisationen der Solisten und Konzertspieler mehr. AlleMitwirkenden durften nur den Notentext bringen, keine Manieren oder will-kürliche Veränderungen einlegen. Seine Opern sind in ihrer Einfachheit undSchlichtheit auf die strengste und peinlichste Genauigkeit im Vortrag ange-legt. Ein Arie wie ›Che farò senza Euridice‹ [!] aus dem Orpheus wird nachGlucks Worten durch die geringste Veränderung im Tempo oder Ausdruck zueiner Arie für das Marionettentheater. Ein Triller, eine Passage, ein Tempover-sehen könne den Effekt der ganzen Szene zerstören.«41

    Im gleichen Sinne sind Haydns Aufführungshinweise zu verstehen,die er zur Einstudierung und Aufführung seiner Kantate »Applausus«1768 in Zwettl vorausschickt, bei der er selbst nicht hat zugegen seinkönnen.42

    Aus beiden Quellen wird deutlich, daß es einigen Komponisten inder zweiten Hälfte des 18. Jhs. darauf ankam, die Wiedergabe ihrerWerke von allem Willkürlichen, von Verzierungen und Neugestaltun-gen zu befreien und nur das von ihnen selbst Intendierte gelten zulassen.

    Haas erblickt im Wandel dieser Praxis gar einen der gewichtigstenEinschnitte innerhalb der Aufführungspraxis: »Das Wirken der WienerKlassiker bedeutet die entscheidende Wendung für die Aufführungspraxis derMusik, in dem nun das Verhältnis zwischen dem Kunstwerk an sich und denausübenden Organen einseitig bindend im Sinne der schriftlich niedergelegtenWillensäußerung des Komponisten festgelegt, somit das Betätigungsfeld derWiedergabe über alle früheren Vorstöße in dieser Richtung hinaus in ganzenge Grenzen eingeschränkt erscheint« (Haas, S. 249).

    Die terminologische Diskussion

    23

  • Zu Beginn des 19. Jhs. mehren sich die schriftlichen Äußerungen, diedie alte Praxis der Auszierungen, vor allem im Orchesterbereich, aufseindringlichste ablehnen. Spohr (1784-1859) berichtet von seinen Erfah-rungen mit italienischen Orchestern: »Jeder einzelne macht Verzierungen,wie's ihm einfällt, Doppelschläge auf fast jedem Ton, so daß ihr Ensemble mehrdem Lärm gleicht, wenn ein Orchester präludiert und einstimmt, als einerharmonischen Musik.«43

    Aber auch in Deutschland war das Ad-hoc-Musizieren im Orchesterweit verbreitet. Von Berlioz sind Berichte überliefert, aus denen seineVerwunderung über die Zierpraxis der Flötisten in Stuttgart und He-chingen hervorgeht (s. Haas, S. 255). Eine zeitgenössische Quelle erläu-tert: »Da ein gutes Ensemble hauptsächlich die größte Einheit im Vortrageerheischt, so würde es stören, dürfte sich der Einzelne irgendeine nicht vorge-schriebene, wenn auch noch so geschmackvolle Verzierung erlauben; weil,wenn Jeder, der dieselbe Stelle zu spielen hat, auch seine Ausschmückungmachen wollte, offenbar statt Verzierungen Verzerrungen entstehen wür-den.«44

    Mit dem Auszierungsverbot im Orchesterspiel, vor allem bei denBläsern, ging das Verschwinden des Basso continuo in der sinfonischenLiteratur einher, wodurch die Leitung zunächst auch vom Generalbaß-spieler auf den Konzertmeister überging, wie wir es bei Haydn schonfinden können, der viele seiner Sinfonie-Aufführungen vom Konzert-meisterpult aus leitete.45

    Von der Konzertmeisterleitung mit all ihren Problemen der Koordi-nation, vor allem bei Opern- und Oratorien-Aufführungen, war es keinweiter Schritt zur Herausbildung des Nur-Dirigenten, der als zentraleFigur für alle Belange des Musizierens verantwortlich wurde. Es ist indiesem Zusammenhang sicherlich verständlich, daß die ersten Diri-genten des neuen Musikzeitalters auch Komponisten gewesen sind, diezwar vornehmlich ihre eigenen Werke zur Aufführung brachten, inKonzertprogrammen aber auch Werke anderer Komponisten einstu-dierten und erklingen ließen. Hier sind zu nennen: Louis Spohr (1784-1859), Carl Maria von Weber (1786-1826), Felix Mendelssohn Bartholdy(1809-1847), Otto Nicolai (1810-1849) und Gaspare Spontini (1774-1851), der gar Berlins erster Generalmusikdirektor wurde (s. Schüne-mann, S. 274).

    Die Position des Dirigenten wird frühzeitig (1807) definiert, wie beiGottfried Weber zu lesen ist: »Ich kenne keinen bodenlosern Streit, als überdas Instrument, das bey Aufführung vollstimmiger Musikstücke zum Dirigi-ren das geschickteste sey? – Keines, als der Taktirstab! ist mein Bekenntnis.[...] Dirigiren heisst, die Anordnung und Leitung des Ganzen, und die Sorgefür Erhaltung der Einheit während der Ausführung – mithin die Leitung allerIndividuen nach einer und derselben Richtung; und die Entscheidung für denAugenblick über jede etwa entstehende Ungewißheit übernehmen. Der Direk-tor ist während der Ausführung eines Tonstücks als Repräsentant des gemei-nen Willens, eben so wie der Regent in seinem Staate, anzusehen; und da esunmöglich ist, dass bey Anstandsfällen der musikalische Regent während derAufführung erst den geheimen Rath und die Granden des Reichs zu Rathe

    Die terminologische Diskussion

    24

  • ziehen kann, so bleibt für das Reich keine andere, als die monarchische oderdespotische Verfassung (während der Ausführung wenigstens) möglich. DerDirigirende hat als Diktator allein zu entscheiden, da alles Debattieren undAbwägen von Gründen, ob derselbe in diesem oder jenem Punkte recht oderunrecht thue, unmöglich ist, und der schlimmste Unfug immer dadurchentsteht, wenn, wie leider an manchen Orten der Fall ist, einer oder einige derAngesehenern unter dem Personal den Dirigierenden hofmeistern, ihm vor-greifen, ihre Idee durchsetzen, und die übrigen mit sich fortreissen wollen.«46

    So wären noch viele Einzelheiten zu nennen, die dem neuen Standdes Dirigenten in der Frühzeit eigen waren. Für unseren Zusammen-hang muß aber genügen, aufgezeigt zu haben, daß zu dieser Zeit derkompletten Um- und Neugestaltung des Musizierens der Dirigent alsneue Komponente des Musiklebens erstmalig etabliert wurde.

    Den langwährenden Wandel, den Übergang des Instrumentariumsvon der barock-klassischen Bauweise zu einer neuen, der romantischenbis zeitgenössischen Musik gerecht werdenden Ausprägung darzustel-len, schien notwendig, um den gewichtigen, nicht nur stilistischenEinschnitt zu verdeutlichen. Diese alle Bereiche des Musizierens verän-dernde Zäsur gehört sicherlich zu den tiefgreifendsten Veränderungeninnerhalb der Musikgeschichte, nur vergleichbar mit dem Wandel um1600.

    Hilfreich zur Verdeutlichung mag der Hinweis auf die Stellung derMusik im literarischen Umfeld der damaligen Zeit sein. Die gewandel-te Position der Musik in der Dichtung, verglichen mit der vorhergehen-den Dichtungs-Periode, macht sich vor allem bemerkbar in den Werkendes Musiker-Dichters E.Th.A. Hoffmann (1776-1822). Hoffmann spürtden der Musik innewohnenden geheimen Kräften nach, denen dieMenschen – zumal natürlich diejenigen, die sich intensiv der Musikhingeben – ausgeliefert sind bis zur Zerstörung ihrer physischen Exi-stenz (Rat Krespel, Kreisler). Niemals zuvor hat die Musik die geistigeHaltung einer ganzen Kulturepoche so dominiert wie in der Zeit dermusikalischen Romantik.

    Das eher rationale, intellektuelle Wahrnehmen des Klassisch-Schö-nen in Musik, Dichtung und Kunst des 18. Jhs. wird im ›neuen Zeital-ter‹ ganz von einem Erleben abgelöst, das alle sensorischen Möglichkei-ten des Empfindens umfaßt, bis hin zu tiefster Ergriffenheit und Er-schütterung des Einzelnen. Es werden, vor allem durch die Musik,seelische Bereiche der menschlichen Existenz angesprochen, erreichtund erregt, wie es auf diese individualistische Art und Weise – imHinblick auf den Interpreten wie auf den Hörer – bislang nicht vorge-kommen war.

    Das Paradoxe an der romantischen Musikauffassung E.Th.A. Hoff-manns war, daß seine Sicht nicht der ihm zeitgenössischen – mit Aus-nahme der Werke Beethovens (1770-1827) vielleicht – Musik entsprang,sondern vor allem durch die musikalischen Werke der Klassik (beson-ders Glucks und Mozarts) und sogar älterer Epochen determiniertwar.47 Diese Tatsache könnte uns als Argumentationshilfe bei der Ein-grenzung des Begriffs ›Alte Musik‹ ohne weiteres dienlich sein, da hier

    Die terminologische Diskussion

    25

  • erstmalig ein Rezeptionsbruch in der Musikgeschichte vorliegt, wie er,in dieser Dimension, erst wieder mit dem Beginn der historischenMusikpraxis eingetreten ist.

    Der Wandel des Musizierens, der Musikauffassung von der barock-klassischen Epoche hin zur damalig ›neuen‹ Musik zeigt sich umfas-send in allen Bereichen. Zusammenfassend sei folgendes festgehalten:Die Streichinstrumente werden in ihrer Vielfalt reduziert bzw. für die›neue‹ Musik modifiziert und es werden neue Instrumente nach denveränderten Erfordernissen – größere Säle, sinfonische Besetzungen –konzipiert. Die Holzblasinstrumente werden durch Klappenkonstruk-tionen klanglich standardisiert. Ihnen wird im allgemeinen die indivi-duelle Tongebung zugunsten einer größeren Ausgeglichenheit genom-men. Durch die Erfindung der Ventile erhalten die Blechblasinstrumen-te den vollen chromatischen Spielbereich und werden ammelodisch-musikalischen Geschehen stärker beteiligt. Die individuelleZierpraxis wird aus den Orchestern verbannt, der Dirigent als neue,alles prägende Instanz eingeführt.

    Eine andere Qualität von Musikauffassung und -wirkung wird inder Dichtung (Wilhelm Heinrich Wackenroder, E.Th.A. Hoffmann) er-kennbar, die vor allem auf die der Musik innewohnenden ›dämoni-schen‹ Kräfte aufmerksam macht.

    c) Die Deutsche Musikbewegung

    Nach der Darstellung des Wandels des historischen Instrumentariumsspeziell und der Musikpraxis allgemein in den ersten Dezennien des19. Jhs. soll nun versucht werden, eine ähnliche Eingrenzung zu errei-chen, indem dargestellt wird, wogegen sich all die ›Bewegungen‹ vonder Jugend- und Sing- über die Orgel- und Alte-Musik-Bewegung inihrer Abkehr und Oppositionshaltung gewandt haben. GemeinsameTendenzen sind in diesen ›Bewegung‹ genannten Zeitströmungen derersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts unverkennbar, wie Eggebrechtausführt: »Die definitorischen Merkmale des Begriffs ›Bewegung‹ sind dem-nach: die Entscheidung gegen etwas (der Protest), die Entscheidung für etwas(die fixierte Wertsetzung) und die Erhebung dieser Entscheidung zur Richt-schnur für und zur Forderung an alle (der normative Anspruch).«48

    In unserem Zusammenhang kommt es darauf an, zu den ersten zweiTeilpunkten ausführliche Belege zu bringen und die Frage zu beant-worten, wogegen sich der Protest der Musikbewegung im einzelnenrichtete, und darauf zu sehen, was sie dagegensetzen wollte.

    »Zu einer Ablehnung der herrschenden Musikpraxis führte nicht eineAuseinandersetzung mit der gesamten bürgerlichen Musikkultur. Der An-satzpunkt der Kritik ist stets das Konzert – als Institution, als Rahmen für dasAuftreten von Berufskünstlern, als Domäne bestimmter Instrumente, alsAufführungsort bestimmter Musik: Im Konzert konzentrieren sich alle Proble-me und Gefahren unseres Musiklebens.«49 Diese Analyse kann nicht unwi-dersprochen bleiben. Nimmt man die neueren Veröffentlichungen,

    Die terminologische Diskussion

    26

  • auch analytische Stimmen der damaligen ›bewegten‹ Zeit hinzu, sokann Kolland zugestimmt werden, was die Ablehnung des Konzerts ansich betrifft; aber es ist nicht die Gattung gemeint, sondern all das, wasdie Konzertpraxis an vermeintlich Negativem mit sich brachte.

    Diese neue Haltung richtete sich gegen Manifestationen des Kon-zertlebens, die sich vom Beginn des nachklassischen ›neuartigen‹ Mu-sizierens zu Anfang des 19. Jhs. bis zu den 20er Jahren unseres Jahrhun-derts entwickelt hatten. Am Ausgangspunkt dieser Entwicklung tratendie ersten ›Nur‹-Solisten auf, die es verstanden, eine Aura des Un-durchschaubaren, des Romantisch-Dämonischen um sich zu verbrei-ten, deren hervorragendster Protagonist Niccolo Paganini (1782-1840)war. Die Herausbildung der großen Dirigentenpersönlichkeiten warder Musikbewegung gleichfalls suspekt. Das Hauptanliegen lag darin,den Musikbetrieb weg vom Individualismus und krassen Subjektivis-mus hin zum Gruppen-, zum Gemeinschaftgemäßen umzugestalten.Aber diese vermeintlichen Äußerlichkeiten des Musizierens seit Beginnder Romantik treffen im Kern auch musikästhetische Probleme, gegendie die Musikbewegung anging: »Romantisches Schwelgen in der Musikführte zu ›Selbstverhätschelung‹ des Individuums. Dieses Rezeptionsverhal-ten, bei dessen Schilderung Höckner den emotionalen Faktor des Rezipierensals ›individualistisch‹ verteufelt, sei das Pendant zur ›Verkörperung höchsterSubjektivität‹ in der von der Jugendbewegung abgelehnten Musik der Roman-tik« (Kolland, S. 57).

    Festzuhalten ist also ferner, daß die Musikbewegung gegen das›Schwelgerische‹ in der romantischen Musik antritt, das zu »Selbstver-hätschelung« führe und damit zu einer zu verdammenden Art desindividuellen Musikgenusses. Fragt man sich, welche Musik die Mu-sikbewegung ihrerseits praktizierte, so finden sich vornehmlich zweiRepertoirebereiche: »Die Singbewegung hatte das alte Volkslied, und dieMusikwissenschaft half ihr, den Zugang zu finden zur Liedbearbeitungskunstder Reformationszeit, zur deutschen Kirchenmusik des Dreißigjährigen Krie-ges, zu dem ganzen reichen Erbe deutscher Musik. Es ist wirklich so, daß diese›alte Musik‹ der Konzertmasse des vorigen Jahrhunderts vorgezogen wurde,daß der Kampf gegen den Ungeist des Jahrhunderts, gegen das, was dieVereinfachung des Angriffs mit den Schlagworten ›Liberalismus‹ und ›Indi-vidualismus‹ zu treffen pflegt, von der deutschen Musikbewegung in solcherBevorzugung geführt wurde, in der liebevollen Pflege einer Musik, die mitVolk und Volkslied, mit Choral und Gemeinde noch eng verwachsen ist. Undes ist kein Zweifel, daß man dieser ›Verachtung des 19. Jahrhunderts‹ nichtentgegentreten kann, wenn man alles beim Alten läßt. Vielmehr wird das echteErbe dieser Zeit erst neu erobert werden müssen von einer siegreichen Gene-ration, die ihres Geistes gewiß mit souveräner Hand sich neu gewinnen kann,was anderem Geist verbunden war.«50

    An dieser Stelle sollen nicht alle Tendenzen dieses Textes ausgelotet,sondern soll nur das näher beleuchtet werden, was für eine Definitionzur Eingrenzung des Terminus ›Alte Musik‹ hilfreich erscheint. Zusam-menfassend läßt sich sagen: Die deutsche Musikbewegung entstandaus Protest gegen den herrschenden Musikbetrieb schlechthin, wie er

    Die terminologische Diskussion

    27

  • sich seit Beginn der Romantik im 19. Jahrhundert herausgebildet hatte.Im einzelnen richtete sich der Protest gegen den Konzertbetrieb mitSolisten und Dirigenten, die als Verkörperung einer ›Subjektivierung‹der Musik angesehen wurden. In diesem Zusammenhang wurde jedesVirtuosentum abgelehnt; man wandte sich gegen die Überfeinerung imKlanglichen, gegen das Schwelgerische der romantischen Musik, gegeneine Musikauffassung, die zu sehr auf das Individuum ausgerichtetwar und folglich von der Gemeinschaft wegführte. Das Wahre, Echte,Gemeinschaftsbildende glaubte man im Repertoire der vermeintlichschlichteren ›Alten Musik‹ und des Volksliedes zu finden. (Die hierstichwortartig plazierten Gedanken sind nur als vorläufiges Resümeezu verstehen, da in anderem Zusammenhang auf die Musikbewegungin ihrer Bedeutung für die Wiederbelebung der Alten Musik ausführli-cher einzugehen sein wird.)

    Geht man zu den Anfängen der romantischen Musik bei Spohr,Mendelssohn Bartholdy, Carl Maria von Weber oder Hector Berliozzurück, trifft man auf eine Grenze, die mit einer Zäsur in der Instru-mentenentwicklung und einem Wandel des Musiklebens und -erlebenszusammenfällt. Dieser Einschnitt könnte, mit aller Vorsicht und ohnedie ablehnende Haltung der Musikbewegung gegenüber der Romantikzum Kriterium zu machen, den Begriff ›Alte Musik‹ zum Ende hinbegrenzen und definieren: als Musik, die auf vorromantischem bzw.noch unmodifiziertem Instrumentarium gespielt wurde, als Musik, dienicht der romantischen Auffassung zuzurechnen ist.

    An der zeitlichen Begrenzung der Alten Musik durch das Jahr 1750jedenfalls kann im Ergebnis der bisherigen Untersuchungen nicht fest-gehalten werden. Aufgrund der dargestellten Modifikationen am In-strumentarium und in der Rückschau auf die Änderung des Musikver-ständnisses nicht zuletzt durch die Einflüsse der Musikbewegung er-scheint es jedoch sinnvoll, eine Zäsur um 1820/30 anzusetzen.

    6. Die Authentizitäts-Problematik

    a) Das deutsche Schrifttum

    ›Originalklang‹, ›Original-Instrumentarium‹, ›Original-Besetzung‹,›historisch getreue Interpretation‹, ›authentische‹, ›stilechte‹ oder ›stil-getreue Wiedergabe‹, ›nach dem Urtext‹ – mit Termini wie diesen, diezuallermeist den Begleittexten auf Schallplattenhüllen entstammen,werden heute Ernsthaftigkeit und Wissenschaftlichkeit zahlreicher Re-konstruktionsbemühungen suggeriert. Sie sollen glauben machen, die»Seinsweisen«51 eines der Alten Musik zugehörenden musikalischenKunstwerkes würden exakt so dargestellt, wie es den Vorstellungenihres jeweiligen Urhebers entsprach. Es geht darum, um einen Termi-nus Heideggers zu gebrauchen, die ›Eigentlichkeit‹ vorzuführen, einenBegriff, dem das allgegenwärtige Schlagwort ›Authentizität‹ (oder ›au-

    Die terminologische Diskussion

    28

  • thenticity‹, denn in der englischen Sprachregion wird die Diskussionzur Zeit am lebhaftesten geführt) verpflichtet ist.

    Die ›Wissenschaftlichkeit‹, aber auch das Mißtrauen ihr gegenüber,eignet der Alte-Musik-Bewegung von Anbeginn ihrer Existenz. Legtman ihre Anfänge in die Zeit der Herausgabe der Bach- (1850-1899) undHändel-Gesamtausgabe (1858-1896), die nach neuen wissenschaftli-chen Gesichtspunkten der sich formierenden geisteswissenschaftlichenDisziplin ›Musikwissenschaft‹ erfolgte, so findet sich frühzeitig derWunsch, die so wieder zugänglich gemachte Alte Musik auch aufeinem adäquaten Instrumentarium und in der Art und Weise zumKlingen zu bringen, wie es ihrer Entstehungszeit entspricht.

    Ausnahmen wie die praktische Arbeit der Berliner Singakademieunter Carl Friedrich Zelter (1758-1832) mit ihren Bach-Aufführungenschon seit dem Ende des 18. Jhs., die in der Wiederaufführung derMatthäuspassion in stark gekürzter und instrumental modifizierterGestalt 1829 unter Mendelssohn gipfelte, die Heidelberger Initiativeum Thibaut (1772-1840), der Wiener Kreis um Kiesewetter (1773-1850)und die Aufführungen aus dem Geiste des sog. Cäcilianismus, dieseAusnahmen seien hier unberücksichtigt, da sie das alte Instrumentari-um und die Aufführungskriterien außer acht ließen.

    Diese Anfangszeit wird durch eine Art Authentizitätsgläubigkeitcharakterisiert, die ihre unerschütterliche Sicherheit aus der alle Berei-che des Geisteslebens durchwaltenden Haltung des Positivismus be-zog. Nur so ist es zu verstehen, daß Hermann Kretzschmar seineForderungen zur Wiederbelebung Alter Musik, die zu seiner Zeit inNeuausgaben erstmals wieder vorlag und nicht erneut in Vergessen-heit geraten sollte, sowohl an die Wissenschaft als auch und vor alleman die praktische Ausbildung richtet.

    In seinem zum Zeitdokument gewordenen Aufsatz »Einige Bemer-kungen über den Vortrag alter Musik« (1900) schreibt er zunächst: »Solldie für Neuausgaben alter Musik getane Arbeit mehr sein als ein zweitesBegräbnis, so muß in Zukunft energischer dafür gesorgt werden, daß diepraktischen Musiker mit jenen Neuausgaben wirklich bekannt werden und siebenutzen lernen. Diese Aufgabe fällt naturgemäß den Konservatorien zu.Schon jetzt hat sich keins von ihnen dem Wiedereindringen der alten in dieneue Musik ganz verschlossen oder verschließen können, die Königliche Hoch-schule für Musik in Berlin ist sogar eine Hauptstütze der Bewegung gewor-den. Aber das was von den Musikschulen verlangt werden muß, sind voll-ständige Spezialkurse für alte Musik. Die gilt es überall erst zu schaffenoder aber es müssen in den großen Städten, ähnlich wie Haberl in Regensburggetan hat, besondere Musikschulen für alte Musik gegründet werden, in denendie Jugend systematisch in die Technik und das Wesen der älteren Kunsteingeführt wird. Das Weitere findet sich dann schon allein. Das Publikum istbisher meistens für alte Musik willig und dankbar gewesen. Es hat nicht nurbloß Leistungen wie denen des Amsterdamer Kirchenchores, es hat auchSurrogaten und verfehlten Versuchen Interesse und Beifall geschenkt.«52

    Für unseren Zusammenhang kommt jedem Satz Kretzschmars Be-deutung zu, da hinter allem der naive Glaube steht, daß durch intensi-

    Die terminologische Diskussion

    29

  • ve Schulung der musikalischen Jugend die Alte Musik ohne Zweifelwieder authentisch darstellbar, erlernbar werde – »Das Weitere findetsich dann schon allein« ist eine symptomatische Aussage. Es wird ankeiner Stelle ein Zweifel laut, der auf eine unsichere Annäherung hin-weisen könnte. Im weiteren berichtet Kretzschmar von Arbeiten da-mals tätiger Wissenschaftler wie Emil Vogel (1859-1908), Robert Eitner(1832-1905) u.a., die diese vor allem in den musikwissenschaftlichenOrganen wie der »Vierteljahresschrift für Musikwissenschaft«, »Sam-melbände der Internationalen Musikgesellschaft« usw. veröffentlich-ten, um zu zeigen, daß schon Grundlagen erarbeitet worden waren.Laut Kretzschmar enthalten diese Schriften »eine große Summe wert-voller Mitteilungen und gründlicher Aufklärung über Praxis und Theo-rie alter Tonkunst« (Kretzschmar, S. 100).

    Kretzschmars zweifelentbehrende Grundeinstellung zur Wiederbe-lebungsbewegung, die aufgrund tiefgreifender Forschung seiner Mei-nung nach möglich war, wird besonders deutlich in der Forderung:»Aber dem praktischen Musiker kann man nicht zumuten das alles durchzu-arbeiten; für ihn fehlt ein Lehrbuch, das die feststehenden Ergebnisse vereinigt,in dem er nachschlagen kann, sooft ihn die alten Noten befremden« (S. 102).Allerdings meint Kretzschmar, daß es bis zum Erscheinen eines solchenLehrbuchs noch lange dauern werde, da noch viel geforscht werdenmüsse. Im folgenden führt er die noch zu klärenden Probleme auf, dieeine Erforschung der alten Theoretica, der Instrumente, der Besetzun-gen aufgrund alter Besoldungslisten usw. notwendig machten.

    Aus den Gedanken und Schlußfolgerungen Kretzschmars sprichteine unerschütterliche Wissenschaftsgläubigkeit: Es sei nur eine Frageder Zeit und intensiver Forschung, wann das authentische Bild derAlten Musik zweifelsfrei erarbeitet und so aufbereitet worden sei, daßsie in echter alter ›Seinsweise‹ vermittelt werden könne, nicht nur demausübenden Musiker, sondern auch dem Publikum.

    Eine ähnlich positivistische Einstellung zur vermeintlich echten Wie-derbelebung der Alten Musik läßt sich vorher bei Forschern wie PhilippSpitta (1841-1894), Friedrich Chrysander (1826-1901), später dann auchbei Alfred Heuß (1877-1934), Max Seiffert (1868-1948), Fritz Volbach(1861-1940) und, in frühen Arbeiten, bei Arnold Schering (1877-1941)erkennen.

    Allerdings traten auch skeptische Stimmen aus der Praxis auf, diesensibler für die Schwierigkeiten waren, denen die Alte-Musik-Bewe-gung im Innersten ausgesetzt war. Die Skepsis betraf vor allem auch dieFrage der Authentizität. Als ›historisch treu‹ galt schon die Bearbeitungeines Händelschen Oratoriums im Sinne Chrysanders »mit Benutzungdes Cembalo (Blüthnerflügel) und der von Händel vorgesehenen Or-chesterbesetzung (Streichinstrumente, Oboen, Fagotte).«53

    Diese problembewußte Einstellung zur ›historischen Treue‹ läßt sichdahin gehend charakterisieren, daß nur einigen wenigen, die sich ausrein museal-musikalischem Interesse damit beschäftigen wollten, sei esals Ausübende oder Rezipierende, der Zugang zu Alter Musik alsmöglich zuerkannt wurde. Ein noch tieferes Eindringen in das musika-

    Die terminologische Diskussion

    30

  • lische Kunstwerk im Sinne des Verständnisses der Zeit schien aber nurmit den modernen Mitteln der weiterentwickelten Instrumente, sprich:der ›besseren‹ Instrumente und auf dem Hintergrund der herrschen-den musikästhetischen Anschauungen möglich: »...und so wird eineAufführung, bei der sich die Ausführenden erst künstlich in eine ihnen fremdeArt des Fühlens einleben müssen, auch des unmittelbaren Schwunges und derspontanen Wärme entbehren, die für die intensive Wirkung auf den Zuhörerunerläßlich sind. Es ist daher im Interesse einer Vortragsweise, die nicht nurkorrekt, sondern auch künstlerisch sein soll, wünschenswert, die Aufführungso zu gestalten, daß auch die Ausführenden sich nicht einer ihnen gar zufernliegenden Art des Ablaufs psychischer Vorgänge anzupassen brauchen«(Cahn-Speyer, S. 210). Die Skepsis bezieht sich nicht auf die möglicheoder unmögliche Authentizität der Wiedergabe Alter Musik, sondernvor allem auf den Aussagewert einer wie auch immer historisch abge-sicherten Darbietung.

    Die tiefere Problematik der Authentizitätsfrage stellte sich im weite-ren Verlauf der Alte-Musik-Bewegung nicht, da man davon ausging,die authentische Wiedergabe prinzipiell erreichen zu können. Selbstauf Fachtagungen zur Alten Musik wie derjenigen im März 1930 inFrankfurt/Oder standen Themen nicht zur Diskussion, die solche Ge-danken behandelt hätten. Es scheint, als stelle dieses Problembewußt-sein erst ein Ergebnis der noch nie zuvor so intensiven und breitgefä-cherten Beschäftigung mit Alter Musik und der daraus resultierendenkritischeren Haltung zur Wiederbelebungs-Bewegung in unserer Zeitdar.

    Selbst die Analyse der Frankfurter Nachfolge-Tagung, 37 Jahre spä-ter in Kassel, die sich mit dem Thema »Alte Musik in unserer Zeit«beschäftigte,54 vermittelt den Eindruck, als wäre eine Authentizitäts-problematik – zumindest für die Musikwissenschaft – nicht existent. Imeinleitenden Referat von Karl Grebe, dem wohl ältesten Teilnehmerdieses Kongresses, der schon die Frankfurter Tagung miterlebt hatte,finden sich Sätze, die das belegen: »Die Frage, inwieweit man heute AlteMusik historisch getreu wiedergeben kann, d.h. in jeder Hinsicht und mitgrößtmöglicher Annäherung die vermutbare Interpretation jener Zeit wieder-holend, diese Frage ist eine reine Sachfrage« (Grebe, S. 21). Und im weiterenheißt es dann noch eindeutiger: »Möglicherweise kommen wir dann zu derÜberzeugung, daß die historische Treue kein grundsätzliches Problem derAlten Musik ist, sondern ein partielles« (S. 22). Bei Grebe findet sich eineungetrübte Wissenschaftsgläubigkeit, die davon ausgeht, daß Rekon-struktionen in fast absolut zu nennender historischer Treue durch For-schung möglich sind. Grebe spricht davon, daß »historische Treue einklares Ziel, eine eindeutige Bestimmung« sei (S. 22); ferner ist die Redevon einer »historisch orientierten, auf Grund von wissenschaftlichenErgebnissen fixierten und rekonstruktiv gerichteten Musikausübung«(S. 22).

    Darüber hinaus ist er der Auffassung, daß eine solcherart erarbeiteteInterpretation nicht dem historischen Prozeß unterworfen sei: »Die nachheutigem Stand historisch getreue Interpretation eines Barockstückes beinhal-

    Die terminologische Diskussion

    31

  • tet die Erwartung, daß sie in zehn oder zwanzig Jahren noch genauso richtigist« (S. 23). Auf einer solchen gedanklichen Grundlage ruhend, konntenkeinerlei Zweifel an den Möglichkeiten der Rekonstruierbarkeit AlterMusik aufkommen.

    In mannigfacher Weise behandelt Ludwig Finscher das Problem der›historischen Treue‹, wobei er sich nicht allein auf die interpretatorischeWiedergabe bezieht, sondern Fragen nach der Werktreue und der Ge-schichtlichkeit des musikalischen Kunstwerks einschließt: »Das Werk,das wir interpretieren wollen, ist uns als Werk greifbar und als Werk dieBemühung um Interpretation wert, aber es ist uns zugleich Objektivationeines Moments der Musikgeschichte, den wir im Werk und durch das Werkrekonstruieren zu müssen und zu können glauben« (Finscher, S. 25). Wennnun aber Finscher weiter darlegt: »Je nachdem, ob der Werkcharakter oderdie Geschichtlichkeit des Werkes Ziel unserer Bemühungen sind, muß ›histo-risch getreu‹ sehr verschiedenes meinen«, so schafft er damit eine neueProblemkonstellation. Was ›historisch getreu‹ nämlich jeweils bedeu-ten solle, sagt auch er nicht. Er erwähnt nur, daß Treue »nur sehr schwerund nur auf sehr problematische Weise anzustreben, geschweige dennzu erreichen« sei (S. 25f.).

    In Finschers Gedankengängen deutet sich symptomatisch eine nochweiter zu ergründende Frage an. Es wird eine Haltung innerhalb derMusikwissenschaft bis in die jüngste Zeit erkennbar, die, vergröberndgesagt, davon ausgeht, daß eine heutige Aufführung, die sich um ein›historisch getreues‹ Wissen um die aufführungspraktischen Gegeben-heiten der Entstehungszeit eines geschichtlichen Werkes bemüht, eineInterpretation eines überzeitlichen Kunstwerks im Sinne des 19. Jhs.wohl schwerlich zu leisten imstande sei. Die Frage der Authentizitätwäre dann, so denn eine solche Rekonstruktion als unerreichbar gilt,gar nicht zu stellen, könnte dagegen höchstens als Mittel zum Zweckgebraucht werden.55

    Die Frage, »ob und inwieweit der Klang der alten Instrumente, demheute so außerordentliches Interesse gilt, für die Interpretation ältererMusik substantiell« sei (Finscher, S. 31), beantwortet der Autor so: »Umaber zu erkennen, was dieses historische Klangbild musikalisch bewirkte undwarum nur dieses eine der möglichen historischen Klangbilder dem Werkangemessen war, bedarf es weniger der historischen Schulung als vielmehr vorallem immer wieder der Analyse, der erkennenden Versenkung in das Werkselbst, so wie es uns in der schriftlichen Fixierung überliefert ist« (S. 33). Hiergilt es aber doch, etwas richtigzustellen. Es kommt auf die ›historischeSchulung‹ in der ganzen Breite ihrer Bedeutung an, wenn Musik derVergangenheit mit einiger Zeitbezogenheit und Ernsthaftigkeit heuteaufgeführt werden soll. Fehlt diese als Voraussetzung und beschränktman sich auf die von Finscher so vehement geforderte Analyse, dannsteht einer rein subjektiven Interpretationsweise nichts mehr im Wege.Es müßte aber zu einem Zusammenwirken aller genannten Faktorenkommen und nicht das eine gegen ein anderes, vermeintlich Wichtige-res, ausgetauscht werden.

    »Wer dieses Bemühen [Finscher meint die oben geforderte Analyse

    Die terminologische Diskussion

    32

  • und ›erkennende Versenkung‹] bewußt oder unbewußt, leichtfertig, oderaus Überzeugung überspringt und vermeint, schon im bloßen historischenKlangbild das Werk selbst zum Sprechen zu bringen, hält am Ende nur denFetisch einer historisch getreuen akustischen Realität in Händen, mit dem erdie musikalische Realität ganz gewiß verfehlt. Historisch getreue Interpreta-tion ist immer und vor allem Interpretation. Nur als werkgetreue Interpreta-tion kann sie sich legitimieren, und erst indem sie dieses Ziel erreicht, kann siehistorisch getreu – der historischen Situation ihrer selbst wie der historischenAusgangssituation des Werkes in tieferem Sinne ›getreu‹ – werden« (S. 33).

    Diese in den 60er Jahren ausgearbeiteten Thesen Finschers wareninsofern kaum zu widerlegen, als damals das praktische Können derAusführenden und der Standard der Wissenschaft vom heutigen Standnoch weit entfernt waren. Die ausschließliche Beschäftigung vielerPraktiker mit der Rekonstruktion Alter Musik und mit alten Instrumen-ten, wie sie sich heute darstellt, hat zu Ergebnissen geführt, die eineRevision der Standpunkte von damals notwendig machen.

    Finscher brachte seine Deutung auf die abschließende, ›zeittypische‹Formel: »Historisch getreue Interpretation, verstanden als Rekonstruktionhistorischer Klangbilder und Aufführungspraktiken im weitesten Sinne kannnicht das Ziel interpretatorischer Bemühung sein, wenn es darum geht,musikalische Kunstwerke zur sinnlichen Erscheinung zu bringen« (Finscher,S. 34). Ähnliche Äußerungen finden sich bei Gönnenwein: »Eine histo-risch-getreue Interpretation kann es nicht geben, sie ist ein Widerspruch insich selbst! [...] Eine authentische Interpretation gibt es nicht«.56

    Finschers durchaus als konstruktiv zu wertende Einschätzung wur-de in der Folgezeit durch die gewaltige Expansion der Alte-Musik-Be-wegung korrigiert. Zum Glück ließ man im Streben nach weitererAnnäherung durch intensivere und breiter angelegte, auch der Praxismehr zugewandte Forschung nicht nach. Die seither neu aufgetretenenEnsembles haben bewiesen, daß das, was man in den 60er Jahren fürutopisch hielt, in den Bereich des Möglichen gerückt ist.

    b) Das englische Schrifttum

    Die neue Qualität der Rekonstruktionsversuche seit den 60er Jahren hatzwingend die Frage der Authentizität wieder aufgeworfen. Sie ist bis-lang jedoch ausschließlich im englischsprachigen Schrifttum erörtertworden. Seit nahezu 30 Jahren beschäftigen sich Forscher in Englandund Amerika mit der Frage, inwieweit Authentizität bei der Rekon-struktion Alter Musik überhaupt möglich ist, worauf sich dieser Begriffbeziehen könnte und was er beinhalten müßte.

    Schon in den 50er Jahren befaßten sich Putnam Aldrich und DonaldJay Grout in zwei Aufsätzen (in der Festschrift für Archibald ThompsonDavison) mit der Thematik57. Aldrich setzt den Beginn aufführungs-praktischer Bemühungen, die auf eine authentische Wiedergabe AlterMusik zielen, mit dem Erscheinen der Gesamtausgaben von Bach undHändel und den Denkmälerausgaben seit der Mitte des 19. Jhs. fest.Daran anschließend stellt er die beiden folgenden zentralen Fragen: »To

    Die terminologische Diskussion

    33

  • what extent is authenticity in the performance of Baroque music attainable?«und »Insofar as it is attainable, what degree of authenticity is desirable andsuitable for present-day concerts?« (»Essays on Music«, S. 162). Als Ergeb-nis seiner auch heute noch schlüssig wirkenden Überlegungen beant-wortet er die Fragen dahin gehend, daß Authentizität eine Chimäreund folglich nicht zu erreichen sei. Es sei möglich, durch gewissenhaf-teste Forschung eine Annäherung an das Original zu erreichen, nichtaber eine Übereinstimmung mit ihm (s. »Essays on Music«, S. 170).

    Aus heutiger Sicht überraschend nimmt sich Aldrichs folgende The-se aus: »Secondly, if the music is to fulfill its proper function, the participationof the audience must be regarded as part of the performance. Consequently,there must be some willingness to compromise on points of too great perceptualdifficulty« (S. 170). Diese Forderung nach Rücksichtnahme auf das Pu-blikum ist nur durch Aldrichs im weiteren Verlauf seines Aufsatzesgeäußerte Befürchtung zu verstehen, daß die Wiedergabe Alter Musikauf originalem oder rekonstruiertem Instrumentarium nur aus einersehr speziellen Begeisterung heraus geschehe, daß sie sozusagen La-bor-Charakter habe und aus diesem Grund nur eine Angelegenheit fürSpezialisten bleibe. Er stützt sich bei seiner Argumentation – in seinemAufsatz geht er nicht darauf ein – sicherlich auf den Standard, denAufführungen Alter Musik zu seiner Zeit hatten.

    Donald Jay Grout rückt in seinem Aufsatz »On Historical Authenti-city in the Performance of Old Music« den folgenden Gedanken insZentrum seiner Betrachtungen: »Was there one authoritative, ›correct‹ wayof performing this music in the composer's day or did he allow for considerablelatitude in certain respects, including possibly some matters that we now areaccustomed to regard as not properly within the discretion of the performer?«(»Essays on Music«, S. 107). Die Aktualität dieser Fragestellung beweistsich auch heute noch bei der Wiedergabe Alter Musik, zumal wennman an Haydns aufführungspraktische Hinweise zur Kantate »Ap-plausus« und Glucks Äußerungen denkt, die zeigten, wie akribisch dieKomponisten über die Ausführung ihrer Werke wachten, auch wennsie selbst bei einer Aufführung nicht zugegen sein konnten. Groutfindet auf seine Frage, ob man heute eine Tradition ›wiederaufdecken‹und neu beleben könne, selbst die Antwort: »It is evident that a completelyauthentic modern performance of old music is, at least in the overwhelmingmajority of cases, an impossibility« (S. 345). Dennoch fordert er darüberhinaus, sich bei heutigen Aufführungen mit größtmöglichem Bemühenaller Techniken zu bedienen, um nahe an das Original heranzukom-men.

    Eine andere, nochmals erweiterte Problemsicht bringt der PraktikerMichael Morrow in die Diskussion ein: Kann man sich mit dem Auffüh-rungsstil der Musik eines alten Meisters wie z.B. Dufays (1390/1400-1474) überhaupt vertraut wähnen, wo sich dieser Stil doch im Laufeeines Komponistenlebens fortwährend geändert hat?58 Damit hat Mor-row die Frage der Authentizität aufs äußerste zugespitzt. Aber auchwenn man die Einschränkung gelten läßt, daß es innerhalb einer Epo-che verschiedene Personalstile und innerhalb dieser natürlich auch

    Die terminologische Diskussion

    34

  • Entwicklungen vom Früh- bis zum Spätwerk eines Komponisten gab,ist doch schwerlich zu leugnen, daß es immer auch einen über-indivi-duellen, allerdings nach Einflußbereichen (z.B. dem italienischen) dif-ferierenden Zeitstil gab, der Konventionen für die Aufführungsweiseschuf.

    Zu Beginn der 80er Jahre nahm Richard Taruskin das Thema Au-thentizität erneut auf. Taruskin äußerte sich dahin gehend, daß derausübende Künstler, der sich im Bewußtsein der historischen Gegeben-heiten um eine adäquat-korrekte Darstellung bemüht, trotzdem keinhistorisches Bild darbiete, sondern sich immer als Künstler seiner Ge-genwart zu erkennen gäbe.59

    In vier umfangreichen Beiträgen ließ die Zeitschrift »Early Music«im Februar 1984 verschiedene Musikwissenschaftler und Praktikerüber »The Limits of Authenticity« diskutieren,60 unter ihnen auchRichard Taruskin (»The authenticity movement can become a positivisticpurgatory, literalistic and dehumanizing«, S. 3). Seine Warnung erscheintheute ein wenig anachronistisch, da sich wohl kein ausübender Künst-ler, der sich mit Alter Musik und ihrer klanglich-künstlerischen Rekon-struktion beschäftigt, auf eine so rein theoretische Darstellungsweisezurückziehen würde. Vielleicht war eine solche Attitüde wirklich zuBeginn der Bewegung oder in den 20er Jahren denkbar, als eine durchdie Jahrzehnte gewachsene Erfahrung noch fehlte und ein vermeintlichabgesicherter Aufführungsstil durch wissenschaftliche Erforschungvorstellbar war. Auf das ›labormäßige‹ Musizieren in Musikwissen-schaftlichen Seminaren (Freiburg, Heidelberg, Leipzig) und ihren Col-legia musica muß auch eine weitere Äußerung Taruskins bezogenwerden: »Modern performers seem to regard their performances as textsrather than acts« (S. 4). Der Standard des heutigen Musizierens und dieVielzahl der unterschiedlichen Interpretationen derselben Werke las-sen eine solche Behauptung als unhaltbar erscheinen.

    Aber Taruskin schildert entgegen diesen provokanten Feststellungenauch, was er letztlich unter ›authentischer Rekonstruktion‹ verstandenwissen will: »And here, in my view, is where the ›old instruments‹ arevaluable and perhaps indispensable in achieving truly authentic performances:as part of the mental process I am describing.61 The unfamiliarity of theinstrument forces mind, hand and ear out of their familiar routines and intomore direct confrontation with the