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Das E-Magazin der Börse München März 2010 online Konjunktur Kommt sie oder kommt sie nicht? 4x jährlich! Nur noch ein Schatten seiner selbst Mit welcher Strategie kann der Dinosaurier NYSE überleben?

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Das eMagazin der Börse München

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Das E-Magazin der Börse München März 2010

online

KonjunkturKommt sie oder kommt sie nicht?

4xjährlich!

Nur noch ein Schatten seiner selbst

Mit welcher Strategie kann der Dinosaurier NYSE überleben?

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Handel(n) zum Guten

Der UN-Klimagipfel in Kopenhagen hat viel Wirbel und durch die vermehrte Reisetätigkeit der über 40 000 Teilnehmer auch ziemlich viel CO2-Ausstoß verursacht, aber leider wenige konkrete Ergebnisse erzielt. Immerhin, alle Staaten, auch China und die USA, wollen eine weltweite Reduzierung der Treibhausgase – darauf lässt sich aufbauen.

Europa hatte bei diesem Thema stets die Nase vorn, und wir sollten uns diese Vorreiterrolle nicht schlecht reden lassen. Als ein wichtiges Instrument, den CO2-Ausstoß in der Industrie zu begrenzen, führte die EU bereits 2005 den Emissionshandel ein. Branchen, die besonders hohe Emissionen verursachen, erhalten Zerti-fikate zugeteilt. Diese Zertifikate sind – und das ist der eigentliche Clou – handelbar. Nutzt also ein Unternehmen neueste Technologien zur Emissionsvermeidung, kann es überzählige Zertifikate veräußern, die notorische Verschmut-zer zukaufen müssen. Die Summe der ausge-gebenen Zertifikate wird Jahr für Jahr redu-

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ziert, gleichzeitig werden mehr Branchen und Unternehmen einbezogen. Das erhöht die Preise für die Zertifikate und damit die Inten-tion, in klimafreundliche Technologien zu inves-tieren.

Die Börse München sieht große Chancen in einem funktionierenden Emissionshandel. Des-halb haben wir Greenmarket als Handelsplatt-form für europäische CO2-Zertifikate gegrün-det. Bald werden Begriffe wie EUA (European Union Allowance) und CER (Certified Emis-sion Reduction) so selbstverständlich benutzt werden wie ETFs oder CFDs. Gewinnen können hier alle: die beteiligten Unternehmen wie inte-re ssierte Investoren und letzten Endes vor allem die Umwelt.

Christine Bortenlänger führt mit Andreas Schmidt

die Geschäfte der Börse München.

[email protected]

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Verlustängste

Die Finanzmarktkrise hat deutsche Privatan-leger eingeschüchtert. Für die große Mehrheit geht Sicherheit vor Rendite, hat die Gesell-schaft für Konsumforschung (GfK) im Okto-ber in einer Umfrage herausgefunden. Dem-nach würden nur drei Prozent der Deutschen risikoreiche Anlageformen wie Aktien oder Aktienfonds wählen, die hohe Renditen ver-sprechen. Bankeinlagen, Immobilien und Lebens-versicherungen sind dagegen beliebter gewor-den. Mehr als die Hälfte der Befragten hält Tagesgeld trotz der derzeit niedrigen Zinsen für eine attraktive Anlageform, ebenso viele schät-zen Wohneigentum.

Bei der Frage, wohin die Deutschen in den kommenden Monaten ihre Anlagen umschich-ten wollen, zeigt sich ein ähnliches Bild. Mehr als ein Drittel der Befragten will Geld auf ein Tagesgeldkonto einzahlen, jeder Fünfte ver-stärkt in Bausparverträge investieren. Ähnlich viele Menschen wollen ihr Geld zu Hause depo nieren. Offenbar fürchtet sich ein bedeu-tender Teil der Bevölkerung nicht nur vor Ver-lusten an der Börse, sondern misstraut auch den Banken.

Neue Differenzprodukte

Knapp ein Jahr nach dem Start des Handels mit Contracts for Difference (CFDs) hat die Bayerische Börse AG ihr Angebot erweitert. Seit Mitte Januar können Anleger auch 45 CFDs auf Exchange Traded Funds (ETFs) kaufen. Im Frühjahr sollen weitere Produkte auf CO2-Emissionsrechte folgen.

Mit CFDs können Anleger auf Kursänderungen eines Basiswerts spekulieren, darunter Aktien, Rohstoffe und Indizes. Die Bayerische Börse AG gewährleistet Transparenz und einen fairen Handel. Für CFD-Geschäfte brauchen Anleger ein Konto bei der FXdirekt-Bank, deren Preis-stellung die Mitarbeiter der Handelsüberwa-chungsstelle der Börse München kontrollieren.

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Einst unangreifbarer Gigant ...

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as Ritual hat nichts von seinem Reiz verloren. Gespannt warten die Zuschauer auf dem Balkon. Dann klatschen sie, aber immer ein paar Sekunden zu früh. Jemand drückt auf einen Knopf. Die Glocke läutet. Gedämpfter Jubel auf der Empore, während auf dem Parkett der Handel beginnt.

Jeden Tag verfolgen rund 100 Millionen Menschen weltweit die Opening Bell, den Handelsauftakt an der New York Stock Exchange. Über 30 Reporter berichten live, ein Video der Zere-monie ist auf der Webseite der NYSE abrufbar. Die NYSE, sie ist nicht nur die größte Börse der Welt, sie ist ein Mythos, ein Synonym für die Welt der Wall Street.

D

Die US-amerikanische Börsenlandschaft tritt in eine neue Epoche ein: Neue, superschnelle Elektronikplattformen und Dark Pools

gewinnen an Boden. Zu den Verlierern gehört vor allem die NYSE.

... heute reif fürs Museum?

Der Überlebenskampf der NYSE

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Doch hinter der Fassade sieht es nicht gut aus. Das „Big Board“ verliert Marktanteile: Nur noch 36 Prozent der Aktien, die an der NYSE gelistet sind, werden im Tagesgeschäft auch tatsächlich dort gehandelt – vor vier Jahren waren es noch 75 Prozent. Der Markt-anteil der gesamten NYSE-Euronext-Gruppe am amerikanischen Handel ist im vergangenen Herbst auf 28 Prozent gesunken, ein Verlust von über sechs Prozent gegenüber dem Vor-jahr. Die Aktie verlor seit 2005 fast zwei Drittel ihres Werts. „Rivalen bedrohen die New York Stock Exchange“, warnt die New York Times. Das Herzstück des amerikanischen Finanzwe-sens sei in Gefahr.

Der Bedeutungsverlust hat viele Gründe. International hat sich die Konkurrenz ver-schärft, immer erfolgreicher – und selbstbe-wusster – treten vor allem die Börsen in China und Indien auf. Deren Handels volumina wach-sen rasant, und viele asiatische Unternehmen verzichten auf das traditionell prestigeträch-tige Listing in New York. Das liegt auch an den strengen Vorschriften, die bereits zu einer Delis-ting-Welle europäischer Unternehmen beige-tragen haben. Zunehmend gerät die NYSE je-doch auch im eigenen Land unter Druck – etwa durch neue, superschnelle Elektronikplatt-formen, die den Traditionsbörsen aggressiv Konkurrenz machen. Zudem umgehen immer mehr Investoren die Börsen ganz und wickeln ihre Orders über sogenannte Dark Pools ab.

Nicht nur die NYSE spürt die Veränderungen. Amerikas gesamte Börsenlandschaft ist im Umbruch. Die Auswirkungen der Deregulie-rung der vergangenen Jahre, darunter die Zu-lassung neuer Elektronikplattformen und die „Trade-through“- Regel von 2005, die Inves-toren im elektronischen Handel den besten Preis garantiert, werden jetzt erst richtig sicht-bar. Der zunehmende Wettbewerb hat eine Innovationswelle mit sich gebracht, der aus Börsen mehr und mehr Software- Unternehmen werden lässt. Gefragt sind Schnelligkeit, Ver-netzung, Effizienz. Das eröffnet Chancen für kleine, flexible Marktteilnehmer, während der Marktführer NYSE zu kämpfen hat.

Rückblende: Noch zur Jahrtausendwende waren die meisten US-Börsen keine profitorientierten Unternehmen, sondern Vereine auf Gegensei-tigkeit. Das machte den Markt unbeweglich und konnte zu Interessenkonflikten führen, ins-besondere wenn es um Innovationen ging. In-dem sich die Börsen in Aktiengesellschaften um wandelten, erhielten sie Kapital, das sie zur Modernisierung und Akquisition verwenden konnten. Den Beginn machte 1993 die Börse Stockholm; London und Frankfurt folgten 2001, die NASDAQ 2002. Die SEC flankierte die Ent-wicklung durch den Abbau von Regulierungen. Innerhalb weniger Jahre entwickelte sich aus den althergebrachten Strukturen ein technolo-gieorientierter Markt mit harter Kon kurrenz.

Bei der NYSE leitete John Thain, CEO ab An-fang 2004, die Entwicklung ein. Er fusionierte die Börse mit der Firma Archipelago Holdings, die die Plattform ArcaEx betrieb, und brachte das neue Unternehmen 2006 als NYSE Group an die Börse; zwei Jahre später folgte die Über-nahme der American Stock Exchange (AMEX). Im Jahr darauf ging der Konzern mit der Mehr-länderbörse Euronext zusammen und formte die erste transatlantische Börse. Auch die übrige

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Börsenlandschaft konsolidierte sich. Die Tech-nologiebörse NASDAQ übernahm mehrere Regionalbörsen sowie die schwedische Börse OMX. Zu einem dritten großen Block formierte sich die Chicagoer Rohstoffbörse Merc, die als CME Group unter anderem die New York Mer-cantile Exchange schluckte.

Doch auch kleinere Marktteilnehmer nutzten die Entwicklung. Zum Beispiel die Chicagoer Natio nal Stock Exchange (NSX), 2006 zum profitorientierten Unternehmen gewandelt. „Die Konsolidierung der Branche hat eine starke Nachfrage nach hoch technisierten, preiswerten Anbietern ausgelöst, und wir übernehmen die-se Rolle“, gab der damalige CEO David Colker den Kurs vor. Die Börse entwickelte eine neue Elektronikplattform, NSX Blade, und verfolgt damit eine aggressive Niedrigpreis-Strategie. Vor zwei Jahren wurde die Plattform demons-trativ nach Jersey City verlegt und damit näher an die Konkurrenz der Wall Street. „Wir kön-nen mit den Großen mithalten“, verkündet der heutige CEO Joseph Rizzello.

Selbstbewusstsein zeigt auch die CBOE, Amerikas größte Optionsbörse mit Sitz in Chi-cago. 2007 erweiterte sie ihr Angebot um eine eigene Aktienbörse, CBSX, auf der inzwischen täglich rund 14 Millionen Aktien gehandelt werden, und um eine Futures-Börse. Sie ist im Übrigen ein Unikat – die letzte amerikanische Börse, die sich noch in der Hand ihrer Mitglieder befindet. Ihre Umwandlung in eine Aktienge-sellschaft wurde jahrelang durch einen Streit um Eigentumsrechte blockiert; erst im Dezem-ber konnte ein Kompromiss erzielt werden. Nun ist der Weg frei für einen Börsengang, der Mitte des Jahres stattfinden soll.

Im Schatten der Konsolidierung traten zu-dem, zunächst fast unbemerkt, neue Anbieter auf den Plan, die sogenannten ECNs, die den

Traditionsbörsen mit exzellenter Technologie und Discountpreisen Konkurrenz machten. Dazu zählt BATS Exchange: Die Firma, 2005von einem lokalen Broker gegründet, sitzt 1200 Meilen von der Wall Street entfernt an einer Ausfallstraße von Kansas City. Ihre Server sind in New Jersey. Sie brachte ihre Plattform Anfang 2006 auf den Markt und warb mit ei-ner bis dahin unerreichten Geschwindigkeit: Während die meisten ECNs Orders damals in-nerhalb von einer bis 30 Millisekunden aus-führten, garantierte BATS eine Erledigung in ein bis drei Millisekunden – und das zu Son-derkonditionen, bei denen sie pro Order zehn Cent Verlust machte. Das Einstiegsangebot zahlte sich aus: Heute hat BATS einen Markt-anteil von rund zehn Prozent am amerika-nischen Aktienhandel und ist seit August 2008 als Börse anerkannt. Inzwischen hat BATS auch eine Dependance in London gegründet und beziffert den Marktanteil in Europa auf knapp vier Prozent.

Einen ähnlich steilen Aufstieg hat Direct Edge in Jersey City hinter sich, deren Marktanteil inzwischen ebenfalls bei rund zehn Prozent liegt. Sie hat gleich für zwei ihrer Plattformen, EDGX und EDGA, bei der SEC Börsenzulas-sung beantragt. Seit 2008 betreibt Direct Edge außerdem die Aktienbörse ISE Stock Exchange, die im Zuge einer Fusion größter Anteilseigner von Direct Edge geworden ist. CEO William O’Brien, ein früherer NASDAQ-Manager, setzt auf weiteres Wachstum – und will, dass die Firma selbstständig bleibt: „Ich bin nicht zu Direct Edge gekommen, um aus einer kleinen eine große Plattform zu machen und diese an die NASDAQ zu verkaufen.“

Zum Erfolg von Direct Edge hat entscheidend beigetragen, dass die Plattform 2006 die erste war, die Kunden eine direkte multiple Anbin-

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dung an sogenannte Dark Pools bot. Damals spielten diese Plattformen, die den anonymen, kaum regulierten Aktienhandel außerhalb der Börsen ermöglichen, noch eine untergeordnete Rolle. ECNs boten, sofern überhaupt, Zugang zu lediglich einem Dark Pool – bei Direct Edge waren es 14. Heute ist ihre Existenz einer der Hauptgründe, weshalb Handelsvolumen von NYSE und NASDAQ abfließt. Acht bis elf Pro-zent des amerikanischen Wertpapierhandels finden bereits auf diesem Wege statt, besagen Schätzungen. Die genaue Zahl kennt niemand, denn Dark Pools melden der Aufsichtsbehörde SEC gegenwärtig nur alle drei Monate ihr aggregiertes Handelsvolumen, und das Verfah-ren ist nicht standardisiert. Auch in Europa sind Dark Pools seit 2007 auf dem Vormarsch. Nach einer Studie der Tabb Group laufen be-reits rund vier Prozent des Handelsvolumens über sie; in zwei Jahren könnten es mehr als sechs Prozent sein.

Die Gesamtzahl der Dark Pools in den USA wird auf über 40 geschätzt. Viele sind aus dem internen Handel der Großbanken hervorge-gangen, weshalb fast jedes globale Finanz-institut einen Dark Pool besitzt. Zu den größ-ten zählen Sigma X von Goldman Sachs und Cross Finder von Credit Suisse. Letztere wickelt etwa ein Drittel ihres Handels über die Platt-form ab – bis zu einer halben Milliarde Stücke täglich. Die Kunden sind ausschließlich instituti-onelle Anleger wie Pensionsfonds und Hedge-fonds, die große Positionen handeln, aber ver-hindern wollen, dass allein das Bekanntwerden eines Auftrags Marktbewegungen auslöst und seine Ausführung verteuert.

Der Charme der Dark Pools, ihre Intranspa-renz, ist zugleich ihr Problem. Die Aufsichtsbe-hörde SEC ist besorgt, dass der Öffentlichkeit

Informationen über Aktienpreise und Liquidi-tät vorenthalten werden, und will mit neuen Regeln mehr Licht in den dunklen Handel brin-gen. Und noch eine Tatsache stimmt bedenk-lich: Während Börsen nur aufgrund festge-legter Kriterien Marktteilnehmer vom Handel ausschließen dürfen, herrscht bei den Dark Pools reine Willkür. „Wenn ich mich in den Medien negativ über einen Dark Pool äußere, kann der sich rächen und mir ohne Weiteres den Zugang sperren“, räumt selbst Daniel Mathisson ein, Managing Director bei Credit Suisse und ein engagierter Befürworter von Dark Pools.

Unbestritten ist, dass Dark Pools die Liquidität der Märkte erhöhen. Vor allem aber erschweren sie das Geschäft von Spekulanten, die mit modernster Software blitzschnell das Tape aus-werten, mit Hilfe von Algorithmen Muster zu entdecken versuchen und von minimalen Kurs-differenzen profitieren. „Transparenz klingt gut, aber wenn davon vor allem die kurzfristig orien-tierten Händler profitieren, ist dies das Gegen-teil von dem, was die Regulierungsbehörde er-reichen will“, meint Mathisson.

Dieses Wetten auf Kursdifferenzen hat eine neue Dimension bekommen. In den ver-gangenen Jahren haben in den USA sogenann-te High-Frequency-Trader (HFT) einen Boom erlebt. Es sind Firmen wie Tradeworx in Red Bank (New Jersey), die vor einem Jahr mit HFT begann und bereits 30 Mitarbeiter zählt, Infor-matiker und Mathematiker, die meisten frisch vom College. Dank superschneller Computer-technik handeln sie buchstäblich in Lichtge-schwindigkeit. „Mit Fundamentaldaten hat de-ren Geschäft nichts mehr zu tun, nur noch mit Tempo“, sagt Alan Valdes, seit 33 Jahren Händler auf dem Parkett der NYSE. Ziel ist es, langsamere Händler auszumanövrieren, in dem Orders mikrosekun denschnell geschaltet wer-

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den. Einige HFT-Broker docken ihre Computer direkt an der Börse an, weil dies die Daten-transportzeit um Sekundenbruchteile verringert.

42 Prozent des Geschäfts lief im vergangenen Jahr schon über die superschnellen Händler, und 2010 soll dieser Anteil auf 54 Prozent stei-gen, so eine kürzlich erschienene Studie der Bostoner Consulting-Firma Celent. Sie sind die Hauptverantwortlichen dafür, dass sich das Handelsvolumen von Aktien, die an der NYSE gelistet sind, zwischen 2003 und 2008 verdrei-facht hat. Dabei wird nicht einmal jeder Auf-trag ausgeführt. NYSE-Verantwortliche schätzen, dass neun von zehn Orders von High-Fre qu-ency-Händlern gleich wieder storniert werden.

Der Grat zwischen einem Ausnutzen von Kurs-unterschieden und Kursmanipulationen ist schmal; die SEC prüft auch hier, ob sie eingrei-fen muss. Ihr sind vor allem die Liquidity De-tection Strategies suspekt, mit deren Hilfe die HFT Großaufträge von Fonds ausspionieren. Als unseriös betrachtet die Aufsichtsbehörde auch eine weitere Spielart des Frontrunnings: Flash Orders. Gegen eine Gebühr gestatten ei-nige Handelsplätze, etwa Direct Edge, Brokern einen kurzen Blick auf Orders, bevor sie an an-dere Plattformen oder Dark Pools weitergelei-tet werden. Den Vorsprung können die Händler zu Gewinnmitnahmen nutzen. Und im Januar hat die Behörde neue Regeln vorgeschlagen, die den direkten Marktzugang („naked access“) von High-Frequency-Tradern verbieten würden.

Doch was, fragen manche, ist gegen hohes Tempo einzuwenden? „Geschwindigkeit ist eine von vielen Dimensionen, in der Marktteilneh-mer konkurrieren, und Wettbewerb ist das Lebenselixier von effizienten Märkten“, sagt der Chefökonom der NASDAQ OMX Group, Frank Hatheway. Die Kunden jedenfalls profi-

tieren: Die Spreads, vor wenigen Jahren noch bei 25 Cent, sind inzwischen auf Pennys ge-schrumpft.

Zu den Verlierern gehören zweifelsohne die Parketthändler. Ihre Zahl an der NYSE hat sich in den vergangenen fünf Jahren halbiert, rund 1500 Broker sind es noch. Und sie haben im-mer weniger zu tun. „In der ersten und letzten Viertelstunde des Handelstags sind unsere Ein-schätzungen noch gefragt, dazwischen ist es ruhig“, sagt Alan Valdes. „Immer weniger Kol-legen können von dem Geschäft leben. Ich komme mir schon vor wie ein Dinosaurier.“

ECNs, Dark Pools, Flash- und High-Frequen-cy-Trading: Für eine Traditions börse wie die NYSE sind diese Entwicklungen ein Problem. Thains Nachfolger Duncan Niederauer hat das früh erkannt: „Wir haben unser Geschäftsmo-dell geändert und betrachten uns als Techno-logiekonzern“, sagte er im Mai 2008, ein halbes Jahr nach seinem Amtsantritt. Er kaufte mehrere IT-Firmen, zuletzt im vergangenen Herbst die Softwarefirma NYFIX, die zugleich einen eigenen Dark Pool betrieb. Das Ziel: technisches Wissen erwerben, um mit den neuen Konkurrenten mithalten zu können.

Aufgerüstet wurde etwa die hauseigene Elek-tronikplattform, NYSE Arca. Auch sie bietet inzwischen eine Anbindung an informelle Liqui-dität und brüstet sich damit, täglich mehr als 500 Millionen Stücke „schwarz“ zu handeln: „Wir lassen andere Dark Pools aussehen wie Pfützen.“ Vor einem Jahr nahm NYSE Euronext außerdem gemeinsam mit JP Morgan und HSBC den Dark Pool „SmartPool“ in Betrieb; an ihm sind inzwischen 15 weitere Investmentfirmen beteiligt. Auch die NASDAQ wirbt mittlerweile damit, Orders gegebenenfalls an Dark Pools weiterzuleiten, „damit Sie die schnellste Erledi-gung zum besten Preis erhalten“.

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Das zeigt zugleich das Problem von NYSE und NASDAQ: Sie versuchen, an den Innovationen teilzuhaben und dadurch konkurrenz fähig zu bleiben, kannibalisieren dadurch aber ihr bis-heriges Kerngeschäft. Insbesondere die NYSE fährt einen schwierigen Parallelkurs, denn der Präsenzhandel, anderswo längst abgeschafft, ist ihr Markenzeichen. Doch angesichts der Dominanz des elek tronischen Handels wird es immer schwieriger, das Parkett zu bevölkern. In einer Verzweiflungsaktion renoviert die NYSE jetzt ihre Haupthalle und gibt den Brokern die Möglichkeit, wahlweise via Bildschirm zu han-deln. Das Projekt kostet nach Branchenschät-zungen rund fünf Millionen Dollar.

Doch wo es um Effizienzgewinne geht, lässt sich das Rad selten zurückdrehen. Im Gegen-teil, die technische Aufrüs tung geht weiter: Die Chicagoer Optionsbörse CBOE hat bereits eine eigene High-Frequency-Plattform entwi-ckelt, C2 – eine Kampfansage an die Konkur-renz. Prompt kündigte auch AMEX Options die Weiterentwicklung ihrer Plattform an – im Verbund mit sieben Investmentbanken, die An-teile an der Börse erwerben.

Werden die Großen weiter Marktanteile an die Kleinen verlieren? Oder steht die Branche vor einer weiteren Fusionswelle? Diese Fragen stellen sich derzeit auch Banken und Finanz-dienstleister. „Wir wissen nicht, wo die Musik künftig spielt“, sagt der ranghohe Repräsen-tant einer internationalen Großbank, „deshalb versuchen wir uns bei möglichst vielen Neu-gründungen zu beteiligen.“ Bei BATS beispiels-weise haben sich Citi, Credit Suisse, Deutsche Bank, JP Morgan und Morgan Stanley einge-kauft. Zu den Eigentümern von Direct Edge zählen Knight Capital, Citadel, Goldman Sachs und JP Morgan. Und an der NSX sind unter anderem Citigroup, Credit Suisse, Knight Ca-pital und Bloomberg Tradebook beteiligt. „Ich

frage mich manchmal, ob bei uns die Effizienz-gewinne im Handel kompensiert werden durch den Abfluss von Equity“, sagt der Banker.

Viel wird davon abhängen, welche neuen Re-geln die SEC beschließt und wie der Markt sie aufnimmt. Bereits die öffentliche Diskussion über Dark Pools, High Frequency Trading und Flash Orders könnte dazu führen, dass sich die Kunden wieder stärker auf das traditionelle Geschäft besinnen, hoffen manche Broker. An-dere halten den Trend für unumkehrbar. Einen Lichtblick gibt es immerhin: Als Konsequenz aus der Finanzkrise will die amerikanische Re-gierung den Handel mit standardisierten Over-the-Counter-Derivaten wie Credit De fault Swaps regulieren. Die Einzelheiten sind noch unklar, doch dies könnte neues Handelsvolumen an die Börsen bringen.

Der Wettbewerb um Geschwindigkeit, so viel jedenfalls ist gewiss, hat ein technisches Ende. Schneller als mit Licht geschwindigkeit lässt sich nun einmal nicht handeln. Dann kommt es im globalen Wettstreit wohl wieder ver-stärkt auf andere Faktoren an – zum Beispiel auf Zuverlässigkeit und auf den Markenwert. Das jedenfalls hoffen Broker wie Alan Valdes. „Die NYSE ist eine Ikone, es wird sie immer ge-ben“, sagt er. Ein Börsentag ohne die Opening Bell ist für ihn undenkbar – und wohl auch für die Millionen, die jeden Morgen das Ritual ver-folgen. Vor die neuen elektronischen Börsen stellt sich bislang kein Reporter.

Die Autorin Christine Mattauch ist Diplom-Volkswirtin und

Fachjournalistin. Als freie Wirtschaftskorrespondentin in New York schreibt

sie unter anderem für das Handelsblatt und die Wirtschaftswoche.

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Sie kommt!

Sie kommt nicht!

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Zufall, Schicksal, reine Glückssache?

Wie erahnen wir die Launen der Konjunktur?

Selbst die Ökonomen haben kein Patentrezept –

und vertrauen auf ihren Instinkt.

Sie kommt! ....

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iel Gutes lässt sich den Nullerjahren nicht nachsagen, es sei denn, man gehört zum Kreis derjenigen, denen das vermaledeite Jahrzehnt eine unverdiente Mega-Abfindung beschert hat. Allen anderen bot diese Zeit zumindest ein unvergess liches Lehrstück – mit der Sprengung der Dotcom-Blase als Ouvertüre, etwas wieder-erwachender Hybris in der Mitte, der Deto-nation einer Hypothekenblase als schaurig-grandiosem Finale und einigen spektakulären Großpleiten als Zugabe. Die Moral dieser Ika-rus-Geschichte: Skeptiker fallen nicht so tief im Ansehen wie Euphoriker, ohne Höhenflug kein Absturz.

Die Lektion wirkt nach. An der Schwelle zu den Zehnerjahren melden die Konjunktur- Meteorologen des Münchener Ifo-Instituts ein zunehmend freund liches Geschäftsklima, doch die Chefs der großen Branchenverbände hüten sich vor Aussagen, die ihnen als optimistisch ausgelegt werden könnten. „Das Schlimmste liegt hinter uns“, befand immerhin Klaus Mit-telbach, Hauptgeschäftsführer des Zentral-verbandes der Elektrotechnik- und Elektronik-industrie (ZVEI), bei seinem Ausblick aufs Jahr 2010. „Die Nachfrage zieht wieder an“, meldet der Verband der Chemischen Industrie (VCI) vorsichtig und mit Wenns und Abers. Der düstere Horizont habe sich ein wenig aufge-hellt, meinte Matthias Wissmann vom Auto-mobilverband VDA; für eine „Entwarnung“ sei es aber noch zu früh: „Die Märkte sind nach wie vor in einem nervösen Zustand.“ Und die Maschinen- und Anlagenbauer vom VDMA klagen zwar schon, die Unis bildeten nicht genügend Ingenieure aus für den Arbeitskräf-tebedarf der kommenden Jahre. Gleichzeitig warnt aber Verbandspräsident Manfred Witten-stein: „Die Krise liegt noch lange nicht hinter uns.“

Springt sie nun wieder an, die Konjunktur, oder nicht? Wenn es nur so einfach wäre, dass sich das an einem einzigen Indikator festma-chen ließe. Politik, Medien und wirtschaftlich interessiertes Publikum horchen zwar immer auf, wenn der Geschäftsklimaindex sich dreht oder die Wirtschaftsweisen ihre Wachstums-schätzung abliefern. Diese Verdichtung hoch-komplexer Zusammenhänge auf eine Zahl (mit Nachkommastelle) oder eine griffige Schlag-zeile erleichtert zwar dem Finanzminister die Planung, nicht aber dem, der wissen will, was die Prognose für ihn persönlich konkret bedeu-tet – etwa weil er kaufmännische Entscheidungen treffen muss. „Kein Mensch investiert doch, weil der Ifo-Index hoch- oder runtergeht“, läs-tert Helmut Becker, Inhaber des Münchener Instituts für Wirtschaftsanalyse und Kommu-nikation (IWK) und ehemaliger Chefvolkswirt von BMW, „außer vielleicht ein Börsianer mit einem Zeithorizont von zwölf Stunden.“

Die Kunst besteht also darin, aus der Unmen-ge von wirtschaftlichen Kennzahlen, die um den Globus vagabundieren, diejenigen heraus-zufiltern, die wirklich hilf-, weil aufschlussreich sind. Zahlen, die zeitnah veranschaulichen, wie Konsumenten, Unternehmer, Investoren, Poli-tiker oder eben ganze Volkswirtschaften unter welchen Umständen agieren.

Selbst professionelle Konjunkturanalytiker tun sich schwer, das gesamte Angebot an poten-ziell relevanten Informationen zu überblicken und einzu ordnen. „Die 100 wichtigsten Kon-junkturindikatoren weltweit“ nennt sich ein Nachschlagewerk, das der Chefvolkswirt der DekaBank, Ulrich Kater, herausgegeben hat – eine Fleißarbeit, die nur als Teamwork möglich war. Katers Mitarbeiterstab hat für das kleine Kompendium sein gesammeltes Know-how über Branchen und Regionen zusammenge-

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höchst unterschiedlicher Verläufe: lange Zyklen, kurze, starke Ausschläge sowie leichte – und atypische Veränderungen dieser Muster. Alles schlägt sich nieder in diesen Daten, demogra-fischer Wandel und technischer Fortschritt ebenso wie Katastrophen und Kriege, Bank-pleiten und die Globa lisierung.

Statistische Daten kommen nur fast immer zu spät, um ohne Hektik auf sie zu reagieren. Selbst die sogenannten Frühindikatoren bieten nur Blicke in den Rückspiegel – etwa auf den Auftragseingang der vergangenen drei Monate. „Konjunkturprognosen sind eine Fortschrei-bung der Erfahrungsmuster der Vergangen-heit“, seufzt Helmut Becker. Der Blick müsse sich aber eigentlich auf die Bereiche konzentrie-ren, aus denen künftig die Wachstumsimpulse kämen: „Wir müssen uns mit Innovationen aus dem Sumpf ziehen, nicht mit der Mehrproduk-tion von altem Zeug.“

Im Alltag sind die meisten Anleger und Kauf-leute allerdings schon zufrieden, wenn ihnen die Volkswirte halbwegs realistische Einschät-zungen des laufenden Geschäfts einer be-stimmten Branche liefern können. Die Öko-nomen der großen Verbände sehen dabei die begrenzten Möglichkeiten, mit ihren Rechen-modellen der vor ihnen liegenden Realität na-hezukommen, illusionslos. „In der Wirtschaft gibt es keine Gesetzmäßigkeiten wie in der Phy-sik“, muss VDMA-Chefvolkswirt Ralph Wie-chers manchmal Maschinenbauern erklären, die sich als Ingenieure darüber wundern, dass er „mechanistische“ Ansätze skeptischer sieht als sie. Wollte er alle Variablen einbauen, die im Zeitalter weltumspannender Wertschöp-fungsketten, flexibler Geschäftsprozesse und chaotischer Verwerfungen auf dem Kapital-markt auf die Konjunktur der Maschinenbau-

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worfen. Jede Industrienation hat ihre spezi-fischen Indizes, es gibt jede Menge Früh- und Spätindikatoren, viele gelten nur für bestimmte Segmente der Wirtschaft.

Sich ein realistisches Bild der Lage zu machen ist in der Praxis manchmal noch vertrackter. So kommt es vor, dass Teile eines Industrie-zweigs boomen und gleichzeitig andere unter einer schweren Absatzflaute leiden. Eine solche heterogene Branche ist die Chemie. „Viele Un-ternehmer produzieren nur Konsumchemika-lien, andere liefern nur an die Autoindustrie“, erklärt Henrik Meincke, Chefvolkswirt des Ver-bandes der Chemischen Industrie (VCI), „je nachdem, mit wem Sie reden, haben Sie das Gefühl, Sie reden über zwei völlig verschiedene Dinge.“ Während zuletzt der Absatz von Autolacken und Dämmstoffen lahmte, mach-ten Hersteller von Kosmetika und Pharmaka durchaus gesunde Geschäfte. Einen groben Denkfehler macht auch, wer alle Halbleiter-Hersteller in einen Sack steckt: Rumpeln die Preise für Speicherchips in den Keller – was auch in wirtschaftlichen Blüteperioden pas-siert –, kann es dem Prozessor-Markt führer Intel immer noch gut gehen. Beide Teil märkte funktionieren nach völlig unterschiedlichen Spielregeln.

Volkswirte können über die laienhafte Vor-stellung vom großen, allumfassenden Kon-junkturzyklus, bei dem wie in der Bibel sieben fetten sieben magere Jahre folgen, deshalb auch nur müde lächeln. Die vergleichsweise sanften Anstiege und Abflachungen in der Kurve des Bruttoinlandsprodukts sind ja in Wahrheit nur das, was übrig bleibt, wenn man die Spitzen der einen Branche in die Dellen der anderen hineinbügelt. Wer die ungeglätteten Kurven betrachtet, sieht eine bunte Mischung

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kunden einwirken, würde er nie fertig: „Man kann gar nicht alles in einem Modell abbil-den.“ In Konsumentenmärkten ist es nicht an-ders. Ängste, Vertrauen, Bauchgefühl, der klas-sische Impulskauf – das alles ist im Wortsinn unberechenbar.

Eine große Unbekannte bei Konjunkturschät-zungen ist die Finanzierung. So verrät der Geschäftsklimaindex des Ifo – einer der meist-zitierten Frühindikatoren für konjunkturelle Trendwenden – nur, ob die Befragten eine erfreuliche Nachfrage registrieren und mit Auf-trägen rechnen. Ob die Kunden am Ende auch die nötigen Kredite bei ihren Banken erringen, wissen die Interviewten oft nicht. VDMA, ZVEI & Co. lassen zwar die nach Branchen aufge-schlüsselten Ifo-Daten in ihre Schätzungen ein-fließen, ergänzen diese aber mit möglichst viel Input aus den eigenen Reihen. „Ich nutze jede Gelegenheit, mit unseren Mitgliedern zu spre-chen“, sagt Wiechers. So habe er beispiels-weise erfahren, wie die Produktivität leide, wenn Kunden und Zulieferer ihre Kurz arbeits-phasen nicht aufeinander abstimmen. Manche Fabriken kämpften mit Lieferproblemen, weil ihre Spediteure zu viele LKW stillgelegt hätten. Wenn seine Zahlen stimmen sollen, hilft es ihm auch zu wissen, dass ein paar Betriebe im Dezember überraschend Werksferien einlegten und die Fertigstellung größerer Aufträge ins neue Jahr verschoben. Bei den Summen, die im Anlagenbau im Spiel sind, können solche Stichtagsprobleme sonst durchaus zu Fehlin-terpretationen führen.

„Man kommt nicht umhin, sich selbst ein Bild von der aktuellen Lage zu verschaffen“, bestätigt sein VCI-Kollege Henrik Meincke. Deshalb liest der volkswirtschaftliche Vorden-

ker der deutschen Chemiebranche nicht nur sehr viel, sondern zapft auch Wirtschaftsfor-schungsinstitute und andere Quellen in aller Welt an, nicht nur auf dem Hauptabsatzmarkt Europa. Fast jede andere Branche ist auf dem Radar des Frankfurter Ökonomen, denn ohne Vorleistungsprodukte der Chemie laufe wenig in den Fabriken: „Wer die Industrieproduktion in Europa richtig prognostiziert, hat auch rich-tige Chemieprognosen.“ Die Recherche muss schnell gehen, der Zeitdruck im schnellen Men-gengeschäft ist höher als bei den Maschinen-bauern mit ihren langen Vorlaufzeiten. „Wenn es abwärts geht, dann geht es in der Chemie beschleunigt runter“, erklärt Meincke, „Auftrags-eingang, Produktion und Umsatz finden fast im gleichen Monat statt.“ In der Krise schalte-ten die Kunden in den „Liquiditätssicherungs-modus“ um, führen also ihre Lager in die Nähe der Mindestbestände herunter, um bei Bedarf nur kleine Chargen nachzubestellen.

Damit wird die Chemieproduktion selbst zum Frühindikator für die Erholung anderer Industriezweige. Sobald die Fertigung auf Touren kommt, müssen Chemikalien nachge-ordert werden. Da diese Bestellungen sich zu-nächst am tatsächlichen Bedarf orientieren und nicht gleich wieder alle Lager bis an den Rand aufgefüllt werden, lässt der Verbrauch bestimmter Chemieprodukte zeitnah auf das Produktionsvolumen der Kundenindustrien schließen. Auch Klaus Abberger, Geschäfts-klimaforscher am Ifo, greift auf solche Daten zurück: „Wenn es um frühzei tige Signale geht, schaut man nach Vorprodukten wie Metallen oder Chemie.“ Es gebe aber keine feste Regel, dass eine Branche immer vorauseile. Klar ist nur: Wenn Schlüsselbranchen wie Maschinen-bau, Automobil und Elektrotechnik im Ab-schwung sind, wird es auch für die Dienstleis-ter hart, etwa für die Verlagsbranche. Anti -

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Der Autor Ulf Jochen Froitzheim schreibt für große Wirt-

schaftsmagazine (Capital, Brand eins); für die Technology Review

arbeitet er als Kolumnist und freier Redakteur.

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zyklisch zu werben – also dann, wenn es am dringendsten wäre – ist auch in Deutschland unüblich.

Exakte Mathematik ist es freilich nicht, was die Branchen-Volkswirte mit ihrem Instrumen-tarium zuwege bringen. Ihr Geschäft ist es, die richtigen Prämissen zu setzen und ein „Gefühl für Ungleichgewichte“ (Meincke) zu entwi-ckeln. Ralph Wiechers weiß ein Lied davon zu singen, wie schwierig, trotz aller Sorgfalt, pro-gnostische Punkt landungen sind. „Vor der jetzigen Krise deutete sich durch die Frühindi-katoren schon eine Abschwächung an“, erin-nert sich der VDMA-Mann, „nur wollte das niemand wahr haben, weil die Auftragsein-gänge noch wunderbar liefen.“ Stattdessen sei darüber diskutiert worden, wie man Engpässe bewältigen könne. Der Einbruch kam dann doch – mit einem knappen Jahr Verspätung und umso heftiger. Seinen Anspruch formuliert Wiechers bescheiden: „Ich bin schon zufrie-den, wenn wir die Wendepunkte erkennen.“ Helmut Becker, der Ex-BMW-Mann, ist ganz froh, dass er sich mit dem Klein-klein von Kurz-fristprognosen für eigentlich gesättigte Märkte nicht mehr herumzuschlagen braucht: „Die Autoindustrie hat zuletzt nur noch vom Aus-landsgeschäft gelebt, jetzt wächst auch der Export nicht mehr.“ Der selbstständige Volks-wirt wirbt dafür, im Sinne des russischen Wirt-schaftswissenschaftlers Nikolai Kondratjew und seiner Theorie der „langen Wellen“ mehr Energie auf potenzielle Wachstumsfelder zu verwenden, die ihre Hochkonjunktur erst noch vor sich haben: Nanotechnik etwa, erneuer-bare Energien und vor allem Energiespeiche-rung, Klimaschutz, CO2-freie Antriebe, die effi-ziente Gesundheitsversorgung einer alternden Gesellschaft.

Wer den Blick erst einmal in die Ferne rich-tet, sieht das Thema Konjunktur ohnehin mit anderen Augen. Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer zum Beispiel überraschte neulich mit der Mahnung, jetzt in den Ausbau des Schienennetzes zu investieren, weil der Güter-transport in den kommenden Jahrzehnten deutlich zunehmen werde. Der Hamburger Reeder Thomas Rehder, dessen Firma Carsten Rehder ein starkes Standbein in China aufge-baut hat, denkt im Prinzip ähnlich, nur dass er heute schon von Infrastruktur-Investitionen profitiert. So hält er sich in einer Zeit, in der die Logistikbranche eigentlich schwer gebeu-telt wird, ganz gut über Wasser, indem er seine 2010 neu abzuliefernden Schiffe Kohle, Stahl und Eisenerz aus Brasilien oder Australien nach Fernost schippern lässt. Während ein stattlicher Teil der weltweiten Containerflotte leer vor Anker liegt und die Frachtraten fast auf Grund laufen, setzt Rehder auf den langen Atem und die kaufmännische Vernunft seiner Mit-Investoren, Kollegen und Banken. Unge-achtet des „schlechten Wetters“, wie er die ak-tuelle Durststrecke mit hanseatischem Under-statement nennt, empfiehlt der Reeder die Schifffahrt als Branche mit Zukunft: „Bleiben Sie an Bord!“

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