Suhrkamp tb 3535

582

Transcript of Suhrkamp tb 3535

  • suhrkamp taschenbuch 3535

  • Zu den liebenswrdigsten Gestalten, die der weltberhmte polnische Science-Fiction-Autor Stanisaw Lem geschaffen hat, gehrt Pilot Pirx. Seine Geschichten sind im Grunde Variationen ber ein Thema: nmlich das Modell des Menschen in der kosmischen ra, wie der Kritiker Jerzy Jarzbski es formulierte.

    Es gibt Schriftsteller, die die Terminologie der Wis-senschaft wirklich beherrschen, schrieb die Times, zu den Meistern dieses Genres gehrt der Pole Stanisaw Lem, ein beiend satirischer Schriftsteller, dessen Romane und Erzhlungen die Anerkennung von so grundverschie-denen Lesern wie dem Kritiker Leslie Fiedler und dem russischen Kosmonauten German Titow gefunden haben. Er ist der Borges der wissenschaftlichen Kultur.

    Stanisaw Lem, 1921 in Lww geboren, lebt in Kra-kw. Er studierte Medizin und gilt als Gromeister der Kybernetik und Erfinder des Cyberspace. Berhmt wurde er nicht nur durch seine Science-Fiction-Romane, son-dern auch durch sein bedeutendes wissenschaftliches und essayistisches Werk. Seine Bcher in deutscher Sprache erscheinen im Insel Verlag und Suhrkamp Verlag.

  • Stanisaw Lem Pilot Pirx

    Erzhlungen

    Aus dem Polnischen von Roswitha Buschmann,

    Kurt Keim, Caesar Rymarowicz und Barbara Sparing

    Suhrkamp

  • Titel der polnischen Originalausgabe:

    Opowieci o pilocie Pirxie; Krakau: Wydawnictwo Literackie 1968.

    by Stanisaw Lem 1968 Umschlagfoto: Getty Images

    suhrkamp taschenbuch 3535 Erste Auflage dieser Ausgabe 2003

    der deutschen Ausgabe Insel Verlag Frankfurt am Main 1978

    Suhrkamp Taschenbuch Verlag Scan by Brrazo 11/2010

    Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der bersetzung, des ffentlichen Vortrags sowie der bertragung durch Rund-

    funk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

    (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

    oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfltigt oder verbreitet werden.

    Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Printed in Germany

    Umschlag nach Entwrfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

    ISBN 3-519-45535-4

    1 2 3 4 5 6 08 07 06 05 04 03

  • Inhalt Test..............................................................................................................7 Der bedingte Reflex ..................................................................................53 Albatros ...................................................................................................151 Terminus .................................................................................................170

    I ...........................................................................................................189 II ..........................................................................................................208 III.........................................................................................................222

    Die Patrouille ..........................................................................................231 Die Jagd...................................................................................................267 Der Unfall................................................................................................319 Pirx erzhlt ..............................................................................................363 Die Verhandlung .....................................................................................392 Ananke ....................................................................................................510 Editorische Notiz.....................................................................................596

  • Test Kadett Pirx!

    Eselswieses Stimme ri ihn aus seinen Trumen. Er hatte sich gerade vorgestellt, in dem Uhrtschchen seiner alten Zivilhose unten im Schrank stecke noch ein Zwei-kronenstck. Eine klingende silberne Mnze, lngst ver-gessen. Vor einer Weile war er noch sicher gewesen, da da nichts war, hchstens eine alte Postquittung, aber nach und nach nahm die Idee Gestalt an, da die Mnze dort sein konnte. Als Eselswiese ihn beim Namen rief, stand es fr ihn fest, da er das runde Geldstck deutlich zwi-schen den Fingern fhlte und sah, wie es sich in der klei-nen Tasche abzeichnete. Ich knnte ins Kino gehen und wrde dann immer noch eine halbe Krone brigbehalten, dachte er. Oder nur zur Wochenschau, dann blieben mir sogar anderthalb Kronen. Wenn ich eine Krone zurckle-ge, kann ich fr den Rest den Automaten spielen lassen. Wer wei, vielleicht spuckt er mir pausenlos Kleingeld in die hingehaltene Hand so viel, da ich es kaum in den Taschen unterbringen kann ... Ich wrde nur immer die Hand hinhalten, nur immer hinhalten ... Hatte nicht Smi-ga so etwas erlebt? Pirx beugte sich schon unter der Last des unverhofften Gewinns, da wurde er von Eselswiese unsanft geweckt.

    Der Dozent verschrnkte die Hnde auf dem Rcken, verlagerte sein Gewicht auf das gesunde Bein und fragte: Was tten Sie, Kadett, wenn Sie bei einem Patrouillen-flug auf das Schiff eines fremden Planeten stieen?

    Pirx ffnete den Mund, als wollte er die darin enthaltene Antwort vertreiben. Er sah aus wie der letzte Mensch

    7

  • der letzte Mensch auf Erden, der zu erklren wte, was er zu tun hat, wenn er Raketen von fremden Planeten be-gegnet.

    Ich wrde nher heranfliegen, sagte er mit dumpfer, merkwrdig rauher Stimme. Die Lehrgangsteilnehmer wurden still. Sie witterten eine willkommene Abwechs-lung.

    Sehr gut, sagte Eselswiese vterlich, aber was wei-ter?

    Ich wrde stoppen, platzte Kadett Pirx heraus, denn er fhlte, da er im Niemandsland umhertappte, weit vor der vordersten Linie seiner Kenntnisse. Fieberhaft durch-suchte er sein leeres Hirn nach Paragraphen fr das Ver-halten im Raum. Irgendwann mu ich mal was darber gelesen haben, dachte er. Bescheiden senkte er den Blick und sah, da Smiga ihm etwas vorsagen wollte er be-wegte dabei nur die Lippen. Pirx begriff und wiederholte laut, bevor ihm der Sinn der Worte klar wurde: Ich wr-de mich ihnen vorstellen.

    Das Auditorium brllte wie ein Mann. Eselswiese kmpfte eine Sekunde mit sich, lachte dann auch, wurde aber gleich wieder ernst.

    Kadett, Sie kommen morgen mit dem Navigations-buch zu mir. Kadett Boerst!

    Pirx setzte sich auf den Stuhl, als sei der aus noch nicht vllig erstarrtem Glas. Er nahm es Smiga nicht ein-mal sehr bel so war er eben, er lie sich keine Gele-genheit entgehen. Von dem, was Boerst sagte, hrte er kein Wort er zeichnete Kurven auf der Tabelle, und Eselswiese kommentierte die Antworten des Elektronen-kalkulators auf seine Art, so da der Antwortende den Faden verlor. Die Vorschrift lie die Hilfe eines Kalkula-tors zu, Eselswiese hatte in dieser Sache jedoch seine ei-

    8

  • gene Auffassung. Der Kalkulator ist auch nur ein Mensch, pflegte er zu sagen. Er kann entzweigehen. Pirx konnte ihm das nicht einmal belnehmen, er nahm nie etwas bel. Fast nie. Fnf Minuten spter weilte er in Gedanken schon wieder ganz woanders, er stand in der Dyerhoffstrae vor einem Schaufenster und sah sich Gas-pistolen an, die nicht nur fr Gaspatronen, sondern auch fr scharfe Munition oder Blindpatronen geeignet waren. Eine Pistole mit hundert Schu kostete sechs Kronen ... Pirx war nicht mehr anwesend, er war in der Dyerhoff-strae und starrte ins Schaufenster ...

    Als das Klingelzeichen ertnte, verlie er ruhig und gemessen den Saal, nicht lrmend und stampfend, wie der erste beste. Schlielich waren sie keine Kinder! Na-hezu die Hlfte bewegte sich in die Messe es gab zwar nichts zu essen um diese Zeit, aber es gab etwas zu se-hen: die neue Serviererin, von der es hie, sie sei schn. Pirx ging langsam zwischen den Glasschrnken hin-durch, die mit Sterngloben vollgestellt waren, und mit jedem Schritt brckelte ein Stck von der Hoffnung ab, da sich das Zweikronenstck in der Tasche anfinden knnte. Unten, auf der letzten Stufe, wute er, da dort noch nie ein Geldstck gewesen war.

    Am Ausgang standen Boerst, Payartz und Smiga. Pa-yartz war ein halbes Jahr sein Tischnachbar gewesen, im Kosmodsie-Unterricht. Er hatte ihm alle Atlanten mit Tusche beschmiert.

    Du hast morgen deinen Versuchsflug, sagte Boerst. In Ordnung, erwiderte Pirx phlegmatisch. So leicht

    lie er sich nicht foppen. Du glaubst es nicht? Lies! Boerst klopfte mit dem

    Finger an die Scheibe des Aushanges. Pirx wollte weitergehen, aber sein Kopf schien sich

    9

  • von selbst zu drehen. Nur drei Namen waren auf der Lis-te, und ganz oben, tatschlich, da stand es: Kadett Pirx. Unbersehbar!

    Einen Augenblick verschwamm alles um ihn herum. Dann hrte er wie aus der Ferne seine Stimme: Na und? Ich hab doch gesagt: in Ordnung.

    Er ging an ihnen vorber und lenkte seine Schritte durch die kleine, von Blumenbeeten gesumte Allee. In diesem Jahr wuchs dort eine Menge Vergimeinnicht, man hatte sie sinnigerweise in Form einer landenden Ra-kete gepflanzt. Pirx sah nichts von alledem, weder die Blumenrabatten, die Stege und die Vergimeinnicht noch den Chef, der eilig aus dem Seitenflgel des Instituts trat. Um ein Haar wre Pirx im Portal mit ihm zusammenge-stoen. Er salutierte.

    Hallo, Pirx! sagte Eselswiese. Sie fliegen morgen. Ich wnsche Ihnen einen guten Start! Vielleicht haben Sie Glck, Kadett, und begegnen denen von den anderen Planeten!

    Das Internat, hinter hohen Trauerweiden, lag am ande-ren Ende des Parks an einem Teich. Sein Seitenflgel, von Steinsulen gesttzt, ragte ber dem Wasser auf. Ir-gend jemand hatte das Gercht aufgebracht, da die Su-len vom Mond stammten. Das war natrlich ein Hirnge-spinst, aber schon die ersten Schler hatten voller Ehr-furcht ihre Initialen und Daten in den Stein geritzt. Auch Pirx Name stand dort irgendwo, er hatte ihn vor vier Jahren mit groem Eifer eingraviert.

    In seinem Zimmer es war so klein, da er es mit nie-mandem zu teilen brauchte zgerte er ein wenig. Sollte er den Schrank ffnen oder nicht? Er wute genau, wo die alte Hose lag. Man durfte eigentlich kein Zivilzeug haben, vielleicht hatte er sie gerade deshalb aufgehoben.

    10

  • Im Grunde hatte sie fr ihn keinen Wert. Er kniff die Augen zu, kauerte vor dem Schrank nieder, steckte die Hand durch die offene Tr und befhlte die Tasche. Na bitte er hatte es doch gewut. Sie war leer.

    Pirx stand in der Kombination, die noch nicht aufge-blasen war, auf dem sthlernen Brckenpodest dicht un-ter dem Hallendach und hielt sich mit der Armbeuge an der Leine fest, die als Gelnder gespannt war. Er hatte keine Hand frei. In der einen hielt er das Navigations-buch, in der anderen den Schmolch, eine Spickkladde, die ihm Smiga geliehen hatte. Es hie, der ganze Lehr-gang sei mit ihr geflogen. Niemand wute zu sagen, wie sie immer wieder zurckkehrte, denn nach dem Ver-suchsflug verlie man das Institut und ging nach Norden, zur Basis, wo die Paukerei fr das Schluexamen be-gann. Wie dem auch sei sie kam jedenfalls immer wie-der zurck. Wer wei, vielleicht wurde sie mit dem Fall-schirm abgeworfen. Es war ja nur ein Scherz.

    Pirx stand auf dem federnden Brett ber einem vierzig Meter tiefen Abgrund und verkrzte sich die Zeit, indem er berlegte, ob man ihn wohl filzen wrde, was leider hin und wieder vorkam. Die Kadetten nahmen zu den Versuchflgen die merkwrdigsten Dinge mit, auch sol-che, die streng verboten waren: flache Schnapsflsch-chen, Kautabak, Mdchenfotos von Spickkladden ganz zu schweigen. Pirx hatte lange nach einer Stelle gesucht, wo er die Kladde verbergen konnte. Er hatte sie wohl an die fnfzehnmal versteckt im Schuh unter der Ferse, zwischen beiden Socken, im Schaft, in der Innentasche der Kombination, in dem kleinen Sternatlas, den man mitnehmen durfte ... Auch ein Brillenfutteral htte sich gut geeignet, aber erstens htte es riesengro sein ms-

    11

  • sen, und zweitens trug er keine Brille. Als Brillentrger das fiel ihm erst ein wenig spter ein htte man ihn im Institut gar nicht aufgenommen.

    Er stand also auf dem sthlernen Podest und wartete auf den Chef und die beiden Instrukteure, die sich aus ir-gendeinem Grunde verspteten. Es war bereits neunzehn Uhr siebenundzwanzig. Der Start war auf neunzehn Uhr vierzig angesetzt. Ein Stckchen Heftpflaster mte man haben, dachte Pirx. Damit knnte man sich die Kladde unter den Arm kleben. Der kleine Yerkes soll das ver-sucht haben.

    Ich bin kitzlig! soll er geschrien haben, als der Instruk-teur ihn berhrte. Er hatte eben Glck ... Aber er, Pirx, sah nicht so aus, als wre er kitzlig. Nein, nein, er machte sich keine Illusionen, und deshalb hielt er die Spickklad-de ganz einfach in der Rechten. Erst jetzt fiel ihm ein, da er diese Hand den beiden Instrukteuren und dem Chef zum Gru reichen mute. Sofort wechselte er die beiden Gegenstnde aus, er nahm das Navigationsbuch in die rechte und die Kladde in die linke Hand. Durch diese Manipulation hatte er das sthlerne Podest in Schwingun-gen versetzt, so da es wie ein Sprungbrett schwankte. Pltzlich vernahm er Schritte auf der anderen Seite. Er hatte die drei nicht gleich bemerkt, denn es war dunkel unter der Hallendecke.

    Wie bei solchen Anlssen blich, waren alle in Uni-form, geputzt und geschniegelt, vor allem der Chef. Er, der Kadett Pirx, trug eine Kombination, die aussah wie zwanzig Footballdresse zusammengenommen, obwohl sie noch gar nicht aufgeblasen war. Von beiden Seiten des hohen Kragens hingen die langen Enden des Inter-koms und des ueren Radiophons herab, am Hals bau-melte eine Schlange, die in den Schlauch des Sauerstoff-

    12

  • gerts berging, und auf dem Rcken fhlte er den Druck der Reserveflasche. Ihm war unertrglich hei in der zweifachen Schweischutzwsche, am meisten machte ihm aber die Einrichtung zu schaffen, die dazu diente, da man whrend des Fluges zur Verrichtung der Not-durft nicht hinauszugehen braucht (brigens wre das in einer einstufigen Rakete, in der die Versuchsflge unter-nommen wurden, gar nicht so einfach gewesen).

    Auf einmal begann das ganze Gerst zu schwanken. Jemand nahte von hinten Boerst, in der gleichen Kom-bination; er salutierte stramm mit seinem groen Hand-schuh und blieb in dieser Haltung stehen, als ob er Pirx hinunterstoen wollte.

    Als die anderen vorangingen, fragte Pirx verwundert: Was, du fliegst auch? Hast du denn auf der Liste gestan-den?

    Brendan ist erkrankt. Ich fliege fr ihn, erwiderte Boerst.

    Pirx war ein wenig verlegen. Das war das einzige, aber wirklich das einzige, wodurch er wenigstens um ei-nen Millimeter den sphrischen Regionen nher kam, in denen Boerst so lebte, als ob ihm das nicht die geringste Mhe bereitete. Boerst war der Begabteste des ganzen Lehrganges, und Pirx verzieh ihm das leicht, ja er emp-fand fr dessen mathematisches Talent sogar eine gewis-se Hochachtung, seit er erlebt hatte, wie tapfer er mit dem Elektronenkalkulator gekmpft und erst bei den Wurzeln vierten Grades an Tempo verloren hatte. Boerst war der Sohn begterter Eltern, er hatte es berhaupt nicht ntig, von Zweikronenstcken zu trumen, die even-tuell in alten Buxen verborgen waren. Aber er war nicht nur der Begabteste, er hatte auch glnzende Erfolge in der Leichtathletik aufzuweisen; er sprang wie der Teufel,

    13

  • tanzte ausgezeichnet und es lie sich nicht leugnen er war eine stattliche Erscheinung, was man von Pirx nicht gerade behaupten konnte.

    Sie schritten ber das lange Podest zwischen den Git-tersttzen des Daches, vorbei an hintereinander aufge-stellten Raketen, bis die Helligkeit sie berflutete, denn dieser Teil des Daches war bereits in einer Breite von zweihundert Metern zurckgeschoben worden. Auf ge-waltigen Betontrichtern, die ineinandergriffen und dazu dienten, das Feuer der Dse abzuleiten, standen zwei ke-gelfrmige Kolosse nebeneinander in Pirx Augen wa-ren es jedenfalls Kolosse. Jeder von ihnen war achtund-vierzig Meter hoch und hatte unten, im Booster, einen Durchmesser von elf Metern.

    Zu den Luken, die bereits abgeschraubt waren, fhrten kleine Gangways. Den Durchgang versperrten bleierne Gewichte, die in der Mitte aufgestellt waren, jedes mit ei-nem roten Fhnchen an einem biegsamen Schaft. Pirx wute, was nun kam: die Frage, ob er bereit sei, die ihm gestellte Aufgabe zu erfllen. Er wrde die Frage das wre das erstemal in seinem Leben mit ja beantwor-ten und das Fhnchen beiseite schieben. Pltzlich be-drngte ihn das Gefhl, da er beim Entfernen des Fhn-chens ber das Seil stolpern und unweigerlich der Lnge nach hinschlagen wrde solche Dinge kamen vor. Wenn das berhaupt jemandem passieren sollte ihm bestimmt. Er hatte nie Glck, es kam ihm jedenfalls so vor. Die Dozenten waren da anderer Meinung. Er sei eben ein Trottel, sagten sie, ein Tlpel. Er denke immer an alles mgliche, nur nicht an das, woran er gerade zu denken habe. In der Tat, nichts fiel ihm so schwer wie das Reden, die Konversation. Zwar klaffte zwischen sei-nem Tun und seinem Denken, das sich in Worte kleidete,

    14

  • kein Abgrund, aber immerhin war dort ein Hindernis, das ihm das Leben schwermachte. Die Dozenten ahnten nicht, da Pirx ein Trumer war. Niemand ahnte das. Man glaubte, er denke berhaupt nicht und das stimmte nun wirklich nicht.

    Er schielte zu Boerst hinber und sah, da der sich so hingestellt hatte, wie es das Reglement vorschrieb: einen Schritt von der Gangway entfernt, die zur Luke fhrte, in strammer Haltung, die Hnde an den nicht aufgeblhten Gummireifen seiner Kombination.

    Boerst sieht sogar in dieser eigenartigen Kluft gut aus, dachte Pirx. Sie kleidet ihn, obwohl sie wirkt, als habe man sie aus hundert Fubllen zusammengesetzt ... Boe-rsts Kombination war tatschlich noch nicht aufgeblasen, seine dagegen schien an einigen Stellen gefllt zu sein. Wahrscheinlich konnte er sich deshalb so schlecht in ihr bewegen und war gezwungen, so breitbeinig dazustehen. Er stellte die Fe nebeneinander, so gut er es vermoch-te, aber die Abstze wollten einfach nicht zusammenrc-ken. Warum bekommt Boerst das fertig und ich nicht? fragte er sich. Schleierhaft! Ohne Boerst htte er brigens vllig vergessen, die vorschriftsmige Grundstellung einzunehmen: den Rcken der Rakete und das Gesicht den drei Uniformierten zugewandt. Die drei gingen zu-erst auf Boerst zu. Vielleicht taten sie das nur deshalb, weil sein Name rein zufllig mit B begann. Und dennoch ein absoluter Zufall wre das nicht, das heit ein Zufall schon, aber ein ungnstiger, wie immer. Er war zum Warten verurteilt, und das machte ihn nervs. Wenn ihm schon Unangenehmes bevorstand, dann sollte es lieber gleich geschehen.

    Pirx hrte nur Bruchstcke von dem, was die drei mit Boerst besprachen. Boerst war gespannt wie eine Bogen-

    15

  • sehne, er antwortete schnell, so schnell, da Pirx kein Wort verstand. Dann traten sie zu ihm, und als der Chef ihn anredete, fiel ihm pltzlich ein, da eigentlich nicht zwei Mann fliegen sollten, sondern drei. Wo war der drit-te? Zum Glck hatte er vernommen, was der Chef sagte, und so stie er im letzten Augenblick hervor: Kadett Pirx zum Start bereit.

    Hm ... tja, sagte der Chef. Und der Kadett Pirx er-klrt, da er an Leib und Seele gesund ist ... hm ... in den Grenzen seiner Mglichkeiten? Er liebte es, an die ste-reotypen Fragen solche Floskeln anzuhngen. Er konnte sich das gestatten, er war eben der Chef.

    Pirx erwiderte, er sei gesund. Fr die Dauer des Fluges ernenne ich den Kadetten

    zum Piloten ..., sagte der Chef, leierte die sakramentale Formel herunter und fuhr dann fort: Die Aufgabe: Senk-rechter Start im Booster mit halber Kraft. Aufstieg in die Ellipse B 68. Auf der Ellipsenbahn Korrektur zur festen Umlaufbahn mit einer Umlaufzeit von vier Stunden sechsundzwanzig Minuten. Warten, bis zwei direkte Ver-bindungsschiffe vom Typ JO 2 auf der Umlaufbahn sind. Wahrscheinliche Zone des Radarkontakts Sektor II, Sa-tellit PAL, mit mglicher zulssiger Abweichung von sechs Bogensekunden. Zur Abstimmung des Manvers phonischen Kontakt anknpfen. Manver: Herunterge-hen von der festen Umlaufbahn mit einem Kurs von sechzig Grad vierundzwanzig Minuten nrdlicher Breite, einhundertfnfzehn Grad drei Minuten elf Sekunden st-licher Lnge. Anfangsbeschleunigung 2,2 g. Endbe-schleunigung nach dreiundachtzig Minuten: null. Beide JO 2 in Dreierformation, ohne den Bereich der Phonie zu verlassen, zum Mond lotsen. In dessen quatorzone eine zeitweilige Umlaufbahn entsprechend den Angaben von

    16

  • LUNA PELENG erreichen, sich vergewissern, da sich die beiden gelotsten Raumschiffe auf der Umlaufbahn befinden. Von dieser Umlaufbahn mit Kurs und Be-schleunigung nach einem Gutdnken heruntergehen, um auf die feste Umlaufbahn im Bereich des Satelliten PAL zurckzukehren. Dort weitere Befehle abwarten.

    Die Kadetten erzhlten sich, da es demnchst anstelle der bisherigen Spickkladden elektronische Spicker ge-ben werde, das heit Mikrokerne von der Gre eines Kirschkerns, die man im Ohr oder unter der Zunge tra-gen knne. Mit denen wre man fein heraus, denn sie wrden einem alles vorsagen, immer und berall. Pirx glaubte nicht daran, er war der Meinung und das nicht zu Unrecht , da man dann keine Kadetten mehr ben-tigen wrde. Aber wie dem auch sei, vorlufig gab es so etwas nicht, und deshalb mute er den ganzen Text der Aufgabe wiederholen. Das tat er auch, wobei er sich nur ein einziges Mal irrte, allerdings grndlich, denn er verwechselte die Minuten und Sekunden der Zeit mit denen der Lnge und Breite. Was kommt nun? fragte er sich, als er fertig war. Ihm war unertrglich warm in der Antischweiwsche, die er unter der dicken Hlle der Kombination trug. Er wurde aufgefordert, den Wortlaut ein zweites Mal herzubeten. Er tat es, aber der Sinn wurde ihm nicht bewut. Haben die mir aber einge-heizt! Das war das einzige, was er zu denken imstande war.

    In der linken Hand hielt er die Spickkladde, in der rechten das Navigationsbuch, das er dem Chef reichte. Das mndliche Wiederholen der Aufgabe war reine Schi-kane, denn man bekam sie ja ohnehin schriftlich sogar der erste Kurs war darin vorgezeichnet. Der Chef steckte das Kuvert mit der Aufgabe in das kleine Tschchen un-

    17

  • ter dem Umschlag. Dann gab er ihm das Buch zurck und fragte: Pilot Pirx, sind Sie bereit?

    Bin bereit! antwortete Pirx. In diesem Augenblick hatte er nur noch einen Wunsch: im Steuerraum zu sit-zen. Er sehnte sich danach, die Kombination aufknpfen zu knnen, wenigstens am Hals.

    Der Chef trat einen Schritt zurck. Ins Projektil! rief er mit seiner herrlich metallischen Stimme, die wie ein Glockenschlag den dumpfen Lrm in der riesigen Halle bertnte.

    Pirx vollfhrte eine Kehrtwendung, ergriff das rote Fhnchen, stolperte ber das Seil, fand im letzten Augen-blick das Gleichgewicht wieder und tapste wie ein Go-lem ber den schmalen Steg. Als er ihn halb berquert hatte, betrat Boerst von hinten glich auch er einem Fuball bereits seine Rakete.

    Pirx steckte die Beine hinein, klammerte sich an die massive Verschalung der Luke, rutschte die elastische Rinne hinunter, ohne die Fe auf die Sprossen zu stellen Sprossen sind nur fr sterbende Piloten da, pflegte Eselswiese zu dozieren , und ging daran, die Klappe zu schlieen. Sie hatten das an Phantom-Gerten und an einer Klappe trainiert, die aus einer richtigen Rakete stammte und mitten im bungsraum befestigt war hun-dertmal, tausendmal: linke Kurbel, rechte Kurbel, halb herum, Kontrolle der Abdichtungen, wieder eine halbe Drehung beider Kurbeln, Festdrcken, Dichtekontrolle unter Druck, Absicherung der Luke mit innerem Schutz-deckel, Vorschieben der Antimeteoritenschutzhlle, Ver-lassen des Einstiegschachts, Verschlieen der Kabinen-tr, Andrcken, Kurbel, zweite Kurbel, Riegel es konn-te einem schlecht werden dabei.

    Pirx glaubte, da Boerst schon lange in seiner Glasku-

    18

  • gel se, whrend er erst den Anschlagring der Kammer festschraubte. Pltzlich fiel ihm ein, da sie ja ohnehin nicht zusammen starten wrden, es wurden sechsminti-ge Abstnde eingehalten, er brauchte sich also gar nicht zu beeilen. Dennoch war es besser, sich auf seinen Platz zu setzen und das Radiophon einzuschalten dadurch knnte er wenigstens die Befehle hren, die Boerst er-hielt. Es war interessant zu wissen, welche Aufgabe er wohl zu lsen htte.

    Als Pirx die Auenklappe zudrckte, schaltete sich au-tomatisch die Innenbeleuchtung ein. Er verriegelte alles, was es zu verriegeln gab, und stieg ber die mit sehr rau-hem, aber weichem Plastikstoff ausgelegten Stufen der kleinen Schrge zum Pilotensitz.

    Wei der Teufel, weshalb diese kleinen Einpersonen-raketen so eingerichtet sind, da der Pilot in einer groen Glaskugel von drei Meter Durchmesser sitzen mu, dachte Pirx. Sie war zwar durchsichtig, aber natrlich nicht aus Glas, sondern aus einem elastischen, federnden Material, das sehr hartem, grobem Gummi hnelte. Diese Kapsel mit dem zerlegbaren Pilotensitz in der Mitte war in einen kegelfrmigen Raum eingepat, den eigentli-chen Steuerraum. Der Pilot konnte sich in seinem Zahn-arztstuhl, wie man ihn nannte, nach allen Seiten drehen und durch die Wnde der Blase, in die er eingeschlossen war, alle Skalen, alle Zeiger und alle vorderen, hinteren und seitlichen Bildschirme sehen, dazu die Tafeln beider Rechenmaschinen und des Astrographen sowie das Al-lerheiligste das Trajektometer. Dieses Gert zeichnet mit einem dicken, stark leuchtenden Band auf der trben, gewlbten Scheibe den Weg des Projektils und setzte ihn in Beziehung zu den Fixsternen in der Harelsbergerschen Projektion. Der Pilot mute die Elemente ihrer Projekti-

    19

  • on auswendig kennen und imstande sein, sie in jeder La-ge vom Apparat abzulesen, auch wenn er mit dem Kopf nach unten hing. Wenn er den Sitz eingenommen hatte, hielt er links und rechts die beiden Hauptgriffe des Reak-tors und der Steuerdsen fr Abweichungen. Auerdem waren da noch drei Unfallgriffe, sechs Hebel fr die ein-fache Steuerung, die Drehknppel zum Starten und fr den Freilauf sowie den Leistungsregler, fr den Schub, fr das Durchblasen der Dsen, und dicht ber dem Fu-boden das groe Speichenrad der Klimaanlage, der Sau-erstoffapparatur, der Griff der Brandsicherungsanlage, der Griff der Reaktorschleuder fr den Fall, da eine unkontrollierte Kettenreaktion beginnen sollte , ein Seil mit einer Schleife, das an der Decke des Schrnkchens befestigt war, in dem sich die Thermosflaschen und das Essen befanden, und unter den Fen die weich gepol-sterten und mit Riemenschleifen versehenen Bremspeda-le und die Schleudersicherung. Wenn man die Sicherung bettigte man mute mit dem Fu die Haube einschla-gen und sie nach vorn stoen , wurde die Blase mit dem Sitz und dem Piloten und dem Ringband-Fallschirm hin-ausgeschleudert.

    Auer dem Hauptzweck Rettung des Piloten bei ei-ner Havarie, die nicht zu beheben ist gab es noch acht weitere wichtige Grnde fr die Konstruktion der Blase. Unter gnstigeren Umstnden htte Pirx all diese Grnde aufzhlen knnen, obwohl sie ihn allesamt nicht ber-zeugten und die anderen Kadetten auch nicht.

    Als er dann endlich sa, mute er sich mhevoll krm-men, um alle Rhrchen, Kabel und Leitungen, die aus dem Gurt heraushingen, in die Enden zu stecken, die aus dem Sitz emporragten. Jedesmal wenn er sich vorbeugte, schnrte ihm die Kombination den Leib ab. Es war kein

    20

  • Wunder, da er das kleine Kabel der Phonie mit dem Heizkabel verwechselte. Zum Glck hatten sie verschie-denfarbige Gewinde, aber der Irrtum wurde ihm erst be-wut, als er schon ganz in Schwei gebadet war. Wh-rend die Luft rauschend in die Kombination strmte und sie in Sekundenschnelle ausfllte, lehnte er sich seufzend zurck und legte mit beiden Hnden die Schenkel- und Schulterriemen an.

    Der rechte schnappte gleich ein, der linke wollte nicht. Sein Kragen, der wie ein Gummireifen aufgeblasen war, erlaubte ihm nicht, nach hinten zu schauen. So qulte er sich denn und tastete blindlings mit dem Karabinerhaken gleichzeitig vernahm er gedmpfte Stimmen in den Hrern:

    Pilot Boerst auf AMU 18! Start nach Phonie im Mo-ment Null! Die Antwort kam wie aus der Pistole ge-schossen.

    Pirx fluchte. Endlich der Verschlu rastete ein. Pirx sank tief in den weichen Sessel, so mde, als sei er gera-de von einem sehr langen interstellaren Flug zurckge-kehrt.

    Dreiundzwanzig zweiundzwanzig einund ..., tnte es in den Hrern.

    Einmal war es vorgekommen, da bei Null zwei Lehr-gangsteilnehmer zugleich starteten der richtige und der andere, der noch gar nicht an der Reihe war. Die beiden Raketen schossen im Abstand von zweihundert Metern in die Hhe, es htte nicht viel gefehlt, Sekundenbruchteile nur, und sie wren zusammengeprallt. So wenigstens wurde es erzhlt. Seit diesem Vorfall wurde das Zndka-bel erst im letzten Augenblick eingeschaltet, durch Fern-steuerung. Der Flugplatzkommandant tat das von seiner verglasten Navigationszentrale aus das Zhlen war also ein gewhnlicher Bluff, aber das wute niemand.

    21

  • Null! tnte es in den Hrern. Pirx vernahm ein ge-dmpftes Brausen, sein Sitz erbebte, auf der durchsichti-gen Hlle, die ihn umgab, zitterten Lichtreflexe. Er starr-te zur Decke, auf den Astrographen, und las die Werte ab Khlung, Schubkraft der Haupt- und Hilfsdsen, Neu-tronenstromdichte, Grad der Verunreinigung durch Isoto-pe und noch achtzehn weitere Werte, von denen sich die Hlfte ausschlielich mit dem Zustand des Boosters be-fate. Das Beben wurde schwcher, die Wand des dump-fen Lrms glitt vorber, schien oben zu zerflieen, als habe sich ein unsichtbarer Vorhang vor den Himmel ge-spannt. Auch das Brausen nahm ab, es hrte sich an wie fernes Donnergrollen. Dann wurde es still.

    Etwas summte und zischte Pirx fand nicht einmal Zeit, zu erschrecken. Die automatische Sicherung hatte die bisher blockierten Bildschirme eingeschaltet sie waren von auen abgesichert, wenn jemand in der Nhe startete, damit die blendende Flamme des atomaren Rckstoes die Objektive nicht beschdigte.

    Sehr ntzlich, diese automatischen Sicherungen! sagte sich Pirx. Er dachte an dies und das, bis ihm ein Schreck in die Glieder fuhr, ein Schreck, der ihm unter der gloc-kigen Haube die Haare zu Berge stehen lie. Herrgott, jetzt bin ich ja dran gleich fliege ich! ging es ihm durch den Sinn.

    Blitzschnell begann er die Hebel fr den Start vorzu-bereiten, das heit, sie der Reihe nach zu berhren und zu zhlen: Eins, zwei, drei wo ist der vierte? Der dort ... Ja ... und dann den Zeiger ... Das Pedal ... Nein, nicht das Pedal ... Die Griffe! Erst den roten, dann den grnen, dann den fr den Automaten ... So ... Oder kommt der grne vor dem roten ...?

    Pilot Pirx auf AMU 27! Seine eigene laute Stimme,

    22

  • die ihm durch die Kopfhrer geradewegs ins Ohr drang, ri ihn aus dem Dilemma. Start nach Phonie im Moment Null!

    Er htte beinahe Pilot Boerst gesagt, so sehr hatten sich ihm die Worte des anderen eingeprgt. Idiot! brllte er sich selbst in der Stille an, die nun herrschte. Dann bellte der Automat: Sechzehn fnfzehn vierzehn ... Mssen eigentlich alle Automaten solche Feldwebel-stimmen haben? fragte sich Pirx. Er schwitzte. Krampf-haft versuchte er, sich an etwas Wichtiges zu erinnern. Er wute, da dieses Etwas ausschlaggebend war, da es ber Leben und Tod entschied, aber es wollte ihm nicht einfallen.

    ... sechs fnf vier ... Mit feuchten Fingern umklammerte er den Startgriff.

    Gut, da er so rauh ist, dachte er. Ob alle so schwitzen? Wahrscheinlich ...

    Null! schnarrte es im Hrer. Seine Hand zog den Hebel von selbst, ganz von selbst,

    sie zog ihn bis zur Mitte und hielt ihn fest. Brllendes Getse ... Ihm war, als lege sich ihm eine elastische Pres-se um Kopf und Brust. Der Booster! vermochte er gerade noch zu denken, dann wurde es dunkel um ihn. All das dauerte nur wenige Augenblicke. Als es vorbei war, las-tete noch immer der unnachgiebige Druck auf seinem Krper. Auf den Bildschirmen, zumindest auf denen, die ihm gegenber angebracht waren, sah er eine weie, bro-delnde Masse, die ihn an Milch erinnerte, an Milch, die aus einer Million Tpfen berkocht.

    Aha! sagte er sich. Jetzt stoe ich durch die Wolken ... Sein Gehirn arbeitete noch ein wenig trge, aber er war immerhin wieder imstande, ruhig und klar zu berlegen. Er kam sich mit der Zeit vllig unbeteiligt vor, ihm war,

    23

  • als sei er nur noch Zeuge dieser sonderbaren Szenerie. Komisch! dachte er. Da flzt sich so ein Bursche im Zahnarztstuhl herum, rhrt weder Hand noch Fu, und dabei ... Die Wolken sind brigens verschwunden, der Himmel ist blau ... Eigenartig, dieses Blau ... Wie mit Tusche geflschtes Wscheblau ... Sind das dort Sterne, oder sind es keine ...? Ja, Sterne ...

    berall bewegten sich Zeiger ber ihm, vor ihm, ne-ben ihm. Jeder bewegte sich anders, jeder zeigte etwas anderes an. Pirx mute sie alle verfolgen, und er hatte nur zwei Augen. In den Hrern ertnten in regelmigen Abstnden kurze, pfeifende Signale; seine linke Hand zog von selbst wieder ganz von selbst an der Schleu-der des Boosters. Gleich darauf wurde es etwas ertrgli-cher. Die Geschwindigkeit betrug sieben Komma eins pro Sekunde, die Hhe zweihundertein Kilometer, die Beschleunigung eins Komma neun. Die Startkurve, die er mit auf den Weg bekommen hatte, war zu Ende. Nun heit es entspannen, dachte Pirx, denn bald wird es eine Menge Arbeit geben!

    Er machte es sich bequem, drckte auf die Lehne da-durch hob sich die Sttze des Sessels und erstarrte vor Schreck.

    Wo ist die Spicke?! durchfuhr es ihn. Die Spicke war wichtig, unsagbar wichtig, und er

    konnte sich nicht erinnern, wo er sie hingesteckt hatte. Er sah sich auf dem Fuboden um, als gbe es nicht die Un-menge von Zeigern, die ihn von allen Seiten anblinzel-ten. Da! Die Spicke lag unter dem Sessel! Er bckte sich, aber die Gurte lieen begreiflicherweise nicht locker. Nun blieb ihm keine Zeit mehr, und mit dem Gefhl, auf der Spitze eines sehr hohen Turmes zu stehen und mit ihm in die Tiefe zu strzen, schlug er das Navigations-

    24

  • buch auf, das in der Tasche ber dem Knie steckte, und zog die Aufgabe aus dem Umschlag. Zuerst begriff er gar nichts. Verflixt, wo ist die Umlaufbahn B 68? fragte er sich. Aha, die wirds wohl sein ... Er kontrollierte das Trajektometer und begann langsam zu wenden. Donner-wetter, es klappt sogar! dachte er staunend.

    Als er die Ellipsenbahn erreicht hatte, prsentierte ihm der Kalkulator freundlich die Daten zur Korrektur. Pirx manvrierte, sprang aus der Umlaufbahn, bremste gar zu heftig, hatte zehn Sekunden lang minus 3 g, aber das machte ihm nichts aus. Physisch war er sehr widerstands-fhig. Wre dein Hirn so wie dein Bizeps, hatte Esels-wiese einmal gesagt, dann knnte etwas aus dir wer-den!

    Mit Hilfe der Korrekturdaten ging Pirx auf die feste Umlaufbahn, bermittelte dem Kalkulator ber Phonie die Daten aber der Kalkulator gab keine Antwort, auf seinem Bildschirm oszillierten Leerlaufwellen. Pirx brllte noch einmal die Daten, bis ihm einfiel, da er vergessen hatte, umzuschalten. Er holte das Versumte nach, und sogleich erschien auf der Mattscheibe eine flimmernde vertikale Linie, und alle Fensterchen zeigten bereinstimmend lauter Einsen. Ich bin auf der Umlauf-bahn! dachte er erfreut. Die Umlaufbahn betrug aller-dings nicht vier Stunden und sechsundzwanzig Minuten wie vorgeschrieben, sondern vier Stunden und neunund-zwanzig Minuten. Ist diese Abweichung zulssig oder nicht? berlegte Pirx angestrengt. Ob ich die Gurte ab-knpfe und in der Spicke nachschaue? Sie liegt unter dem Sessel ... Ach, wei der Teufel, ob das berhaupt drin steht ... Pltzlich fiel ihm ein, was Professor Kaahl einmal gesagt hatte: Die Umlaufbahnen sind mit einem Fehler von null Komma drei Prozent berechnet. Den

    25

  • Daten nach, die ihm der Kalkulator bermittelte, bewegte er sich dicht an der Grenze des Zulssigen. Na also, das wars, sagte er sich und sah sich nun erst richtig um.

    Der Schweredruck schwand. Er sprte es nur daran, da er sich sehr leicht vorkam, denn er war ja an den Sitz geschnallt, wie es sich gehrte. Auf dem vorderen Bild-schirm sah er Sterne, nichts als Sterne, und am unteren Rand einen blendendweien Saum. Auf dem seitlichen Schirm war alles schwarz. Sterne, Sterne. Und auf dem unteren? Aha! Aufmerksam betrachtete Pirx die Erde er jagte in einer Hhe von siebenhundert bis zweitausend-vierhundert Kilometer ber sie hinweg. Sie war ungeheu-er gro, fllte den ganzen Schirm aus.

    Grnland! Das ist doch Grnland, oder ...? Ehe er sich Gewiheit verschaffen konnte, berquerte er bereits Nordkanada und die Arktis. Rings um den Nordpol glnzte Schnee. Der Ozean hatte eine schwarz-lila Farbe, seine Oberflche war gewlbt, aber glatt, sie schien aus Eisen gegossen zu sein. Die wenigen Wolken merk-wrdig, wie wenige es waren wirkten, als habe jemand hier und da einen dnnen Brei ber die erhabenen Stellen verspritzt.

    Pirx warf einen Blick auf die Uhr. Er flog schon sieb-zehn Minuten.

    Nun mute er die Radiosignale des Satelliten PAL auffangen und beim Kreuzen seiner Zone auf die Radar-schirme schauen. Wie hieen die beiden Schiffe doch gleich? RO? Nein, JO. Und die Nummern? Er warf einen Blick auf das Blatt mit der Aufgabe, steckte es zusam-men mit dem Navigationsbuch in die Tasche und beweg-te den Regulator der Kontrollkapsel auf der Brust. Nur ein Piepsen und Knacken war zu vernehmen. PAL? Wel-ches Signal hatte er eigentlich? Morse aha! Er hrte

    26

  • genauer hin und sah auf die Schirme. Langsam drehte sich die Erde unter ihm, die Sterne glitten rasch ber die Schirme, aber von PAL war nach wie vor weder etwas zu hren noch zu sehen.

    Pltzlich summte es. PAL! dachte er, aber er verwarf den Gedanken so-

    gleich. Unsinn! Diese Schlitten summen doch nicht ... Also was?

    Gar nichts summt! versuchte er sich einzureden. Oder ... Havarie?

    Das schreckte ihn keineswegs. Was konnte es schon fr eine Havarie sein, er flog doch mit abgeschaltetem Triebwerk! Zerfllt die Kiste etwa von selbst, oder was? Vielleicht ein Kurzschlu? Ach ja, das wirds sein! O Gott! Brandschutzbestimmung III a: Brand im Welt-raum auf Umlaufbahnen, Paragraph ... Hols der Teufel! Es summte und brummte in einem fort, das Piepsen der Signale war kaum noch zu hren.

    Klingt fast so, als ob ne Fliege im Gras herum-schwirrt, dachte er und sah von einer Uhr zur anderen.

    Da entdeckte er sie. Es war eine Riesenfliege grnlich-schwarz, ekelhaft,

    eines dieser Biester, die offenbar dazu geschaffen sind, dem Menschen den Nerv zu tten, frech, aufdringlich, idiotisch, aber zugleich schlau und listig. Wie durch ein Wunder wie sonst? hatte sie sich in die Rakete ge-schmuggelt, und nun schwirrte sie auerhalb der glser-nen Kapsel umher und prallte dabei hin und wieder wie ein summendes Kgelchen gegen die leuchtenden Schei-ben.

    Als sich die Fliege dem Kalkulator nherte, begann es in den Kopfhrern so laut zu brummen wie ein viermoto-riges Flugzeug, denn am oberen Rand des Kalkulators

    27

  • war ein Reservemikrofon angebracht. Es lie sich auer-halb des Sitzes ohne Laryngophon erreichen, wenn die Kabel der Bordphonie getrennt waren. Wozu? Fr alle Flle. Es gab mehrere solcher Einrichtungen.

    Pirx verfluchte das Mikrofon, wute er doch, da er Gefahr lief, die Signale des PAL zu berhren. Und nun begann die Fliege auch noch, nach allen Seiten Ausflle zu machen. Unwillkrlich verfolgte er sie mit dem Blick, dann aber sagte er sich in aller Strenge, da sie ihm ge-stohlen bleiben knne.

    Schade, da man hier nicht irgend so ein Zeug spritzen kann ...

    Ruhe! Es klirrte so laut, da er unwillkrlich eine Grimasse

    schnitt. Die Fliege kroch auf den Kalkulator. Es wurde still jetzt putzte sie sich die Flgel. Ein scheuliches Vieh!

    In den Hrern ertnte ein fernes, regelmiges Piep-sen: kurz-lang-lang-kurz kurz-lang kurz-lang-kurz-kurz. PAL! entschlsselte Pirx. So, jetzt heit es die Au-gen aufsperren ... Er hob den Sessel an nun hatte er drei Bildschirme auf einmal vor Augen , berprfte erneut, wie sich der fhrende Phosphorstrahl des Radargerts drehte, und wartete gespannt. Auf dem Radarschirm war nichts zu sehen, aber eine Stimme meldete sich.

    A sieben Terraluna, A sieben Terraluna, Sektor III- Kurs einhundertdreizehn, PAL PELENG ruft Bitte um Messung Schalte auf Empfang.

    Verflixt, wie soll ich jetzt blo meine JOs hren! dachte Pirx besorgt.

    Das Brummen in den Hrern verstummte pltzlich, und im gleichen Augenblick fiel von oben ein Schatten auf Pirx Gesicht, als habe sich eine Fledermaus an der

    28

  • Lampe festgesetzt. Die Fliege! Sie kroch ber die glser-ne Kapsel, als ob sie ihr Inneres ergrnden wollte.

    Inzwischen war es im ther eng geworden: Der Sa-tellit PAL war aufgetaucht. Pirx konnte ihn bereits sehen, er glich einem Pfahl, es war ein achthundert Meter langer Aluminiumzylinder mit einer Observatoriumskugel am Heck. Er flog ber ihm ungefhr vierhundert Kilometer entfernt, vielleicht auch etwas mehr und schickte sich an, ihn langsam zu berholen.

    PAL PELENG an A sieben Terraluna, einhundertacht-zig Komma vierzehn, einhundertsechs Komma sechs Linear wachsende Abweichung Ende.

    ALBATROS vier Aresterra ruft PAL Hauptstation, PAL Hauptstation Steige herab zum Tanken, Sektor II, steige herab zum Tanken, Sektor II Fliege mit Reserve Empfang.

    A sieben Terraluna, PAL PELENG ruft ... Alles Weitere wurde vom Brummen der Fliege ber-

    tnt. Endlich schien sie sich ein wenig zu beruhigen. Hauptstation an ALBATROS vier Aresterra Tanken

    Quadrant sieben, Omega Hauptstation Ende. Die haben sich hier absichtlich versammelt, damit ich

    nichts hre, sagte sich Pirx. Die Antischweiwsche klebte ihm am Krper. Die Fliege kreiste wtend ber der Scheibe des Kalkulators, sie schien zu versuchen, den eigenen Schatten einzuholen.

    ALBATROS vier Aresterra, ALBATROS vier Aresterra an PAL Hauptstation Laufe Quadranten sieben an, lau-fe Quadranten sieben an Bitte um Einlotsen durch In-terkom Ende.

    Pirx hrte das Pfeifen des Interkoms, es wurde leiser und ging im Brummen unter, das wieder anschwoll. Er verstand nur die Worte: JO zwei Terraluna, JO zwei Ter-

    29

  • raluna ruft AMU 27, AMU 27 Empfang. Interessant, meint der mich? Pirx zerrte vor Aufregung an den Gur-ten.

    AMU ..., wollte er sagen, aber seiner heiseren Kehle entrang sich kein Laut. In den Hrern brummte es. Die Fliege. Er schlo die Augen und begann zu sprechen: AMU 27 an JO zwei Terraluna Bin im Quadranten vier, Sektor PAL Schalte Positionslichter ein Emp-fang. Er schaltete die Positionslichter ein zwei rote an den Seiten, zwei grne an der Spitze, ein blaues am Heck und wartete. Auer der Fliege war nichts zu hren.

    JO zwei bis Terraluna, JO zwei bis Terraluna, ich rufe ...

    Es summte. Meint der mich? fragte er sich verzweifelt. AMU 27 an JO zwei bis Terraluna Bin im Quadran-

    ten vier, Randsektor PAL Trage alle Positionslichter Empfang.

    Nun meldeten sich die beiden JO-Schiffe gleichzeitig. Er schaltete den Selektor ein, der die Reihenfolge be-stimmte, aber es war sinnlos. Das Brummen verschluckte alles. Die Fliege, die Fliege! Ich werde mich hier noch aufhngen! dachte er. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, da dieser Ausweg infolge fehlender Schwerkraft un-mglich war.

    Pltzlich entdeckte er auf dem Radarschirm die beiden Schiffe sie folgten ihm in parallelen Kurven, nicht mehr als neun Kilometer voneinander entfernt, das heit in unzulssigem Abstand. Als Lotse war er verpflichtet, ihnen zu befehlen, den vorgeschriebenen Abstand von vierzehn Kilometern einzuhalten. Er wollte sich noch einmal vergewissern, aber als er die genaue Lage der beiden Schatten auf dem Radarschirm zu untersuchen

    30

  • begann, lie sich die Fliege auf der Scheibe nieder aus-gerechnet auf einem der Schatten. Wutentbrannt warf er das Navigationsbuch nach ihr im Zustand der Schwere-losigkeit ein aussichtsloses Unterfangen. Das Buch prall-te gegen die Kapselwand, fiel aber nicht nach unten, son-dern nach oben. Es stie gegen die Decke flog hin und her und blieb schlielich mitten in der Kapsel schweben. Auf die Fliege machte das nicht den geringsten Eindruck sie kroch seelenruhig weiter ber den Radarschirm.

    AMU 27 Terraluna an JO zwei, JO zwei bis Ich sehe euch Ihr habt Bordnhe Wechselt auf Parallelkurse ber mit Korrektur null Komma null eins Nach Durch-fhrung des Manvers auf Empfang gehen Ende.

    Die beiden Schatten begannen sich langsam voneinan-der zu entfernen. Pirx wute nicht, ob ihm die JO-Schiffe etwas bermittelten, denn in den Hrern brummte es oh-renbetubend: Die Fliege kreiste nun unmittelbar um das Mikrofon des Kalkulators. Pirx hatte nichts mehr, womit er nach ihr werfen konnte. ber ihm schwebte das Navi-gationsbuch und raschelte sanft mit seinen Seiten.

    PAL Hauptstation an AMU 27 Terraluna Verlassen Sie den Randquadranten, verlassen Sie den Randqua-dranten Empfange das Transsolare Empfang.

    Unverschmtheit, jetzt kommt mir auch noch das Transsolare in die Quere ... Was geht mich das an? Raumschiffe in Gruppenformation haben Vorrang! ber-legte Pirx. Er begann zu schreien, sein ohnmchtiger Ha auf die Fliege entlud sich.

    AMU 27 Terraluna an PAL Hauptstation Gehe vom Quadranten nicht herunter, das Transsolare geht mich nichts an Fliege in Dreierformation AMU 27, JO zwei, JO zwei bis, Geschwader Terraluna, an der Spitze AMU 27 Ende.

    31

  • Das mit dem nichts angehen war unntig! sagte er sich. Damit habe ich mir nur Strafpunkte eingehandelt ... Ach was, der Teufel soll sie holen! Und wer bekommt Strafpunkte fr die Fliege? Auch wieder ich, was? So was kann aber auch nur mir passieren ... Eine Fliege im Raumschiff eine Fliege! Smiga und Boerst werden platzen vor Lachen, wenn sie davon erfahren ... Ich sehe sie direkt vor mir ...! Es war das erstemal seit dem Start, da er einen Gedanken an Boerst verschwendete, und auch jetzt blieb ihm keine Zeit, denn PAL das war im-mer klarer zu erkennen fiel immer mehr zurck. Nun flogen sie schon fnf Minuten zu dritt.

    AMU 27 an JO zwei, JO zwei bis Terraluna Zwanzig Uhr sieben Das Manver mit dem Einbiegen auf den Parabolkurs Terraluna beginnen wir um zwanzig Uhr zehn Kurs einhundertelf ... Pirx las die Kurse vom Blatt ab. Die Schiffe antworteten. PAL war nun auer Sicht, man konnte ihn aber immer noch hren. Oder war es die Fliege? Auf einmal spaltete sich das Summen. Pirx rieb sich die Augen tatschlich! Es war nicht mehr eine Fliege, es waren zwei! Wo in aller Welt war die zweite hergekommen? Die machen mich fertig, dachte er seelen-ruhig.

    Seltsam ... Die Erkenntnis, da es sich nicht lohnte, zu kmpfen, hatte fr Pirx etwas Angenehmes. Sie machen mich fertig, so oder so ..., sagte er sich. Aber diese Resi-gnation whrte hchstens eine Sekunde. Ein Blick auf die Uhr trieb ihn zum Handeln. Der von ihm selbst bestimm-te Zeitpunkt fr den Beginn des Manvers war herange-rckt, und er hatte noch nicht mal die Hnde an den He-beln.

    Die Plackerei der tausendfachen bungen tat offenbar das Ihre. Blindlings ergriff er beide Knppel, betastete

    32

  • den linken, dann den rechten, whrend er auf das Trajek-tometer starrte. Das Triebwerk drhnte dumpf, ging ber in ein Zischen. Er sthnte auf irgend etwas hatte ihn an der Stirn getroffen, dicht unter dem Schirm des Helms. Das Navigationsbuch! Es schwebte vor seinen Augen, nahm ihm die Sicht, er konnte es nicht abstreifen, denn er hatte keine Hand frei. In den Hrern summte und brodel-te es, das Liebesleben der Fliegen auf dem Kalkulator war in vollem Gange. Einen Revolver mte man haben, dachte er und fhlte, wie ihm das Navigationsbuch infol-ge der wachsenden Beschleunigung die Nase plattdrck-te. Rasend vor Wut warf er den Kopf hin und her er mute das Trajektometer sehen! Das Buch, es wog ann-hernd drei Kilo, schlug krachend auf den Boden im-merhin betrug die Beschleunigung fast 4 g. Er bremste ein wenig, um sie in den Grenzen zu halten, die das Ma-nver erforderte. Als er die Beschleunigung bis auf 2 g gedrosselt hatte, rastete er die Riegel an den Hebeln ein. Den Fliegen scheint die Beschleunigung nichts auszuma-chen nichts, aber auch gar nichts, dachte er. Ihnen be-kommt das offensichtlich glnzend ... Und so soll ich nun dreiundachtzig Minuten fliegen ...! Er warf einen Blick auf den Radarschirm: Beide JO-Schiffe folgten ihm in einem Abstand, der auf etwa siebzig Kilometer ange-wachsen war. Kein Wunder, er war ja mehrere Sekunden mit 4 g geflogen und dadurch so weit vorgeschnellt. Macht nichts, dachte Pirx.

    Solange er mit Beschleunigung flog, hatte er ein we-nig Mue. 2 g das war gar nichts. Insgesamt wog er jetzt einhundertzweiundvierzig Kilogramm. Im Laborka-russell hatte er manchmal eine halbe Stunde lang 4 g aushalten mssen.

    Andererseits, versteht sich, waren auch diese 2 g nicht

    33

  • gerade angenehm. Hnde, Beine alles schien sich in Ei-sen verwandelt zu haben. Das Licht blendete ihn, er konnte nicht einmal den Kopf bewegen.

    Noch einmal berprfte er die Lage der beiden Schif-fe, die ihm folgten. Was mag Boerst wohl jetzt tun? frag-te er sich. Er stellte sich das Gesicht des anderen vor, die-ses Filmgesicht. Der hatte aber auch ein Kinn! Und dann die gerade Nase und die grauen, schillernden Augen ... Eine Spicke hatte der bestimmt nicht ntig ... Na ja, vor-lufig brauche ich sie auch nicht ... Das Summen in den Hrern wurde leiser. Beide Fliegen krochen an der Decke der Kapsel entlang, ihre Schatten streiften sein Gesicht, er zuckte zusammen, als er das merkte, und sah auf. An den Enden ihrer schwarzen Beine hatten sie teigartige Er-weiterungen, ihre Flgel glnzten metallisch im Lichte der Lampen. Ekelhaft.

    ELAN acht Aresterra ruft im Dreieck Terraluna Sechzehnter Quadrant, Kurs einhundertelf Komma sechs Ihr habt mit mir konvergierenden Kurs Elf Minuten, zweiunddreiig Sekunden Bitte eigenen Kurs ndern Schalte auf Empfang.

    Das hat noch gefehlt! sthnte er. Was mu sich dieser Narr einmischen! Sieht er nicht, da ich in Formation fliege?

    AMU 27 an der Spitze des Dreiecks Terraluna JO zwei, JO zwei bis ruft ELAN acht Aresterra Fliege in Formation, kann Kurs nicht ndern, fhre du das Aus-weichmanver durch Ende.

    Whrend er das sagte, forschte er auf dem Radar-schirm nach diesem Unverfrorenen. Da war er. Kaum an-derthalbtausend Kilometer entfernt!

    ELAN acht an AMU 27 Terraluna Habe defektes gravimetrisches System Beginnt unverzglich Aus-

    34

  • weichmanver Schnittpunkt der Kurse vierundzwanzig null acht, Quadrant Luna vier, Randzone Gehe auf Empfang.

    AMU 27 an ELAN acht Aresterra, JO zwei, JO zwei bis Terraluna Fhre Ausweichmanver durch, zwanzig Uhr neununddreiig Umkehrmanver gleichzeitig hinter dem fhrenden Schiff bei optischer Entfernung, nrdliche Ab-weichung Sektor Luna eins null Komma sechs Schalte Triebwerke mit geringer Schubkraft ein Empfang.

    Whrend er das sagte, schaltete er die beiden unteren Dsen fr die Wendemanver ein. Beide JO-Schiffe ant-worteten sofort, sie drehten ab. Die Sterne glitten ber die Bildschirme. ELAN dankte, er befand sich auf dem Flug zur Hauptstation Luna. Pirx hatte pltzlich Schneid, er wnschte ihm eine glckliche Landung, das gehrte zum guten Ton, vor allem, wenn jemand einen Schaden hatte. Eine Weile beobachtete er die Positionslichter des tausend Kilometer entfernten Raumkrpers, dann rief er wieder seine JO-Schiffe und begann, den alten Kurs an-zusteuern aussichtslos! Bekanntlich ist es kinderleicht, vom Kurs abzugehen, aber nahezu unmglich, das glei-che Stck Parabel wiederzufinden. Die Beschleunigung vernderte sich. Der Kalkulator speicherte die neuen Da-ten so rasch, da Pirx nicht Schritt halten konnte. Zu al-lem berflu krochen nun beide Fliegen auf dem Kalku-lator herum, bevor sie sich auf dem Radargert niederlie-en, wo sie einander munter weiterjagten. Ihre Schatten huschten nur so ber den Schirm. Woher nehmen die Biester nur die Vitalitt? fragte sich Pirx.

    Nach zwanzig Minuten war es endlich geschafft Pirx flog wieder auf dem ursprnglichen Kurs. Boerst hat be-stimmt eine Route, die so leer und sauber ist, als htte man sie mit einem Staubsauger gereinigt, dachte er. Und

    35

  • wenn nicht den kann ja sowieso nichts erschttern. Bo-erst erledigt alles im Vorbeigehen ...

    Er schaltete den Automaten zur Verringerung der Be-schleunigung ein, um auf der dreiundachtzigsten Minute die Beschleunigung null zu haben, wie es in der Instruk-tion vorgesehen war. Pltzlich erblickte er etwas ihm wurde eiskalt unter der nassen Antischweiwsche: Der weie Deckel ber der Schalttafel war im Begriff, aus den Klemmen zu rutschen, er glitt Millimeter um Milli-meter tiefer. Offenbar war er ein wenig locker einge-hngt, und beim Rtteln des Schiffes whrend der Wen-demanver er war in der Tat ziemlich unsanft mit der Rakete umgegangen hatten die Druckriegel nachgelas-sen. Die Beschleunigung betrug immer noch 1,7 g. Der Deckel rutschte langsam tiefer, als ob jemand mit einem unsichtbaren Faden an ihm zerrte bis er schlielich ab-sprang und herunterfiel. Er schlug von auen gegen die durchsichtige Kapselwand, glitt daran herunter und blieb am Boden liegen. Die vier kupfernen Hochspannungslei-tungen und die Sicherungen blitzten auf.

    Warum hatte ich blo solche Angst? dachte Pirx. Der Deckel ist heruntergefallen, na und? Mit oder ohne De-ckel, ist das nicht einerlei?

    Aber er war besorgt das htte nicht passieren drfen. Wenn der Deckel von der Sicherung herunterfallen kann, dann kann auch das Heck abbrechen, sagte er sich.

    Er wute, da er nur noch siebenundzwanzig Flugmi-nuten mit Beschleunigung vor sich hatte, und er befrch-tete, da der Deckel schwerelos werden und umherflie-gen knnte, wenn er die Triebwerke abschaltete. Konnte er etwas Schlimmes anrichten? Wohl kaum. Er war nicht schwer genug. Nicht einmal eine Scheibe wrde er ein-schlagen. Ach was ...

    36

  • Er suchte die Fliegen sie jagten einander, kreisten summend in der Kapsel umher, bis sie sich schlielich unter den Sicherungen niederlieen, so da er sie aus den Augen verlor.

    Im Radaroskop erblickte er seine beiden JO-Schiffe sie hielten Kurs. Der vordere Schirm zeigte die Mond-scheibe, sie war so gro, da sie den halben Schirm aus-fllte. Damals, bei den selenographischen bungen im Tycho-Krater, hatte Boerst mit Hilfe eines gewhnlichen tragbaren Theodoliten ... Ach, verflixt, was der nicht al-les konnte! Hatte er nicht auch versucht, die Luna-Hauptstation am ueren Abhang des Archimedes wie-derzufinden? Sie war fast gnzlich im Felsen vergraben und kaum zu erkennen gewesen, nur die glatte Lande-bahn mit den Signallichtern war zu sehen, aber nur, wenn sie in der Zone der Nacht lag, doch jetzt schien dort die Sonne. Die Station selbst ruhte zwar in einem Schatten-streifen, den der Krater warf, aber der Kontrast zu der gleienden Scheibe ringsherum war so stark, da sich die schwchlichen Flmmchen der Signallichter berhaupt nicht abhoben.

    Der Mond sah aus, als htte noch nie der Fu eines Menschen auf ihm gestanden von den Mondalpen fie-len berlange Schatten auf die Ebene des Meeres der Regen. Pirx erinnerte sich an seinen ersten Mondflug, damals war die ganze Gruppe dabei, als gewhnliche Passagiere. Eselswiese hatte ihn gebeten, nachzuprfen, ob Sterne siebenter Gre vom Mond aus noch sichtbar seien, und er, dumm wie er damals war, hatte sich mit dem grten Eifer an diese Aufgabe gemacht! Ihm war vllig entfallen, da vom Mond aus tagsber berhaupt keine Sterne zu sehen sind der Blick ist durch das Son-nenlicht, das sich am Boden widerspiegelt, viel zu sehr

    37

  • geblendet. Eselswiese hatte ihn noch lange mit diesen Sternen gehnselt.

    Die Mondscheibe auf den Schirmen wurde immer gr-er. Bald wrde sie die Reste des schwarzen Himmels vllig verdrngt haben, zumindest auf dem vorderen Schirm.

    Sonderbar, das Summen war verstummt. Pirx sah zur Seite und erstarrte.

    Auf der erhabenen Flche der Sicherung sa eine der beiden Fliegen und putzte sich die Flgel, die andere machte ihr whrenddessen den Hof. Ein paar Millimeter weiter glnzte das nchste Kabel. Die Isolierung endete ein wenig hher alle vier Kabel lagen frei. Jedes von ihnen war beinahe so stark wie ein Bleistift. Da die Span-nung nicht allzu hoch war tausend Volt , gab es zwi-schen den Kabeln nur geringe Abstnde jeweils nur sie-ben Millimeter. Pirx wute zufllig, da es genau sieben Millimeter waren. Sie hatten einmal die gesamte elektri-sche Installation auseinandergenommen, und er hatte sich vom Assistenten Unverschmtheiten anhren mssen, weil er die Abstnde zwischen den Leitungen nicht kann-te.

    Die eine Fliege hatte inzwischen vom Liebesspiel ab-gelassen und kroch jetzt auf der bloen Leitung entlang. Das schadete ihr nicht, aber wenn es sie gelstete, auf die zweite zu kriechen ... Offenbar versprte sie gerade diese Lust, denn nun brummte sie und setzte sich ganz auen auf die Kupferader so, als ob es in dem ganzen Steuer-raum keinen anderen Platz gegeben htte. Pirx berlegte fieberhaft. Wenn sie nun die Vorderbeine auf die erste und die Hinterbeine auf die zweite Leitung stellt, dann ... Ja, was eigentlich? Im schlimmsten Fall wrde es einen Kurzschlu geben, aber die Fliege war wohl doch nicht

    38

  • gro genug, um einen Kurzschlu zu verursachen. Und wenn, dann wre es auch nicht so gefhrlich. Die auto-matische Sicherung wrde den Strom abschalten, die Fliege wrde verbrennen, der Automat wrde den Strom erneut einschalten, und alles wre wieder in Ordnung. Und was die Fliege betraf, so htte er endlich Ruhe.

    Wie hypnotisiert starrte er auf das Hochspannungs-schrnkchen. Er wnschte sich nicht, da das Vieh es versuchte. Ein Kurzschlu war zwar eine Lappalie, aber daraus konnte wer wei was entstehen. Wozu das Risiko ...

    Ein Blick auf die Uhr: Es standen nur noch acht Minu-ten mit allmhlich schwcher werdendem Schub bevor. Gleich wrde damit Schlu sein. Pirx starrte auf das Zif-ferblatt da blitzte es auf, und die Lichter verloschen. Das Ganze dauerte kaum eine Drittelsekunde. Die Fliege! sagte er sich und hielt den Atem an. Wird der Automat den Strom einsch ... Er tat es.

    Die Lichter flammten wieder auf, aber sie brannten seltsam schwach und orangenrot, und gleich darauf sprang die Sicherung ein zweites Mal heraus. Dunkelheit. Der Automat schaltete ein das Licht verlschte. Ein aus, ein aus so ging es in einem fort. Was war los? Im regelmig aufblitzenden Lampenschein erkannte Pirx nur mit Mhe die Ursache: Von der Fliege das Biest hatte sich zwischen zwei Leitungen gezwngt war ein kleiner Rest briggeblieben, ein verkohlter Stumpf, der die beiden Kabel weiter miteinander verband.

    Man kann nicht behaupten, da Pirx sehr erschrocken war. Zugegeben, er war erregt, aber hatte er sich denn seit dem Start berhaupt schon beruhigt? Die Uhr war kaum zu sehen. Die Zifferbltter hatten ihre eigene Be-leuchtung auch das Radargert. Der Strom war noch so

    39

  • stark, da sich die Lichter und die Reserveleitungen noch nicht einschalteten, aber er war wiederum nicht so stark, da es hell wurde. Noch vier Minuten dann wrden sich die Triebwerke ausschalten.

    Darum brauchte er sich nicht zu kmmern der Auto-mat des Reduktors wrde das von selbst besorgen. Aber wie Pirx lief es kalt ber den Rcken , wie konnte er bei Kurzschlu funktionieren?

    War das berhaupt dieselbe Leitung? Er war sich nicht sicher, bis ihm einfiel, da es die Hauptsicherungen fr die ganze Rakete und fr smtliche Leitungen waren. Die Atomsule jedoch mute ein eigenes Netz haben ...

    Die Sule schon, aber nicht der Apparat. Er hatte ihn ja vorhin selbst eingestellt. Man mte ihn also abschal-ten ... Oder nicht? Vielleicht wrde es dennoch gehen ...

    Die Konstrukteure hatten mit allem gerechnet, nur nicht damit, da eine Fliege in den Steuerraum gelangen, da der Deckel herunterfallen und ein Kurzschlu entste-hen knnte.

    Die Lichter flackerten ununterbrochen. Ich mu irgend etwas tun! sagte sich Pirx. Aber was? Ganz einfach man brauchte nur den Hauptschalter umzuwerfen, der hinter dem Sitz unter dem Fuboden angebracht war. Der wrde die Hauptleitungen ausschalten und die Notleitun-gen bettigen. Dann wre alles in Ordnung ... Eigentlich ist sie gar nicht so schlecht konstruiert, die Rakete ... Man hat doch so manches bedacht und fr die ntige Si-cherheit gesorgt.

    Er htte gern gewut, ob auch Boerst gleich darauf ge-kommen wre. Ja, wahrscheinlich, das war zu befrch-ten. Vielleicht sogar ... Himmel, nur noch zwei Minuten! Das Manver ist nicht mehr zu schaffen ... Er sprang auf, er hatte die anderen auf den Tod vergessen!

    40

  • Eine Weile berlegte er mit geschlossenen Augen. AMU 27, Leitrakete Terraluna an JO zwei, JO zwei

    bis Habe Kurzschlu im Steuerraum Fhre Einbiege-manver auf zeitweilig feste Umlaufbahn ber dem Son-nenquator des Mondes mit Versptung von ... unbe-stimmter Dauer durch Vollendet das Manver selbst in der festgesetzten Frist Empfang.

    JO bis an fhrenden AMU 27 Terraluna Fhre Komplexmanver mit JO zwei durch, um ber quator-zone auf zeitweilig feste Umlaufbahn zu gelangen Hast neunzehn Minuten Zeit bis zur Scheibe Erfolg, Erfolg Ende.

    Pirx hatte kaum zugehrt. Er lste das Kabel der Ra-diophonie, die Sauerstoffschlange und das zweite kleine Kabel die Gurte hatte er bereits aufgeknpft. Als er aufstand, flammte der Automat des Reduktors rubinrot auf; die ganze Kapsel tauchte aus der Finsternis empor, dann versank sie wieder in dem trben, orangeroten Licht der verminderten Spannung. Die Triebwerke schalteten sich nicht aus. Das rote Licht starrte ihn aus dem Halb-dunkel an, als wollte es ihn um Rat fragen. Er hrte einen Brummton in regelmigen Abstnden das Warnsignal. Der Reduktor konnte die Triebwerke nicht automatisch abschalten.

    Pirx sprang taumelnd hinter den Sitz. Der Schalthebel steckte in einer Kassette, die in den Fuboden eingelas-sen war sie war verschlossen. Verschlossen, jawohl. Er zerrte an dem Deckel, aber er lie nicht locker. Wo ist der Schlssel? berlegte er.

    Der Schlssel war nicht zu finden. Pirx rttelte noch einmal an dem Deckel vergebens. Er sprang auf und starrte blind vor sich hin. Der Mond auf den vorderen Schirmen war nicht mehr silbern, sondern wei, ein gi-

    41

  • gantischer Mond, wei wie Bergschnee. Die gezackten Schatten der Krater huschten ber die Scheibe. Der Ra-darhhenmesser meldete sich arbeitete er schon lange? Er tickte regelmig, kleine grne Ziffern sprangen aus dem Halbdunkel: einundzwanzigtausend Kilometer Ent-fernung.

    Das Licht flackerte ununterbrochen, die Sicherung schaltete regelmig den Strom aus. Auch wenn es er-losch, wurde es nicht vllig dunkel der gespenstische Schein des Mondes fllte die Kapsel aus. Nur wenn die trben Lampen aufblitzten, schien das Mondlicht schw-cher zu werden.

    Das Schiff flog geradeaus, stndig geradeaus, die Ge-schwindigkeit erhhte sich bei der restlichen Beschleuni-gung von 0,2 g noch immer, und gleichzeitig wuchs die Anziehungskraft des Mondes. Was tun? Was tun? fragte sich Pirx verzweifelt. Er sprang noch einmal zu der Kas-sette, stie mit dem Fu gegen den Deckel, aber der Stahl gab nicht nach.

    Moment! O Gott, wie konnte er nur so dumm sein! Er mute ja, natrlich er mute auf die andere Seite der Kapsel! Und das war mglich! Am Ausgang, wo die Kapsel mit dem immer schmaler werdenden Tunnel in den Trichter berging, der an der Klappe endete, befand sich ein besonderer, rotlackierter Hebel unter dem Schild NUR BEI HAVARIE DES SYSTEMS. Man brauchte den Hebel nur umzulegen, und die Kapsel wrde sich fast um einen Meter heben und ihm erlauben, unter ihrem Rand auf die andere Seite hinberzukriechen! Dort knn-te er mit einem Stck Isolierung die Leitungen reinigen und ...

    Mit einem Satz war er am roten Hebel. Idiot! dachte er, packte den sthlernen Griff und zerrte daran, bis es in

    42

  • seinen Schultergelenken knackte. Der Griff, ein lgln-zender sthlerner Stab, sprang in seiner ganzen Lnge heraus aber die Wanne zitterte nicht einmal. Verdutzt starrte er sie an. Im Hintergrund sah er die Bildschirme, die im Mondlicht schimmerten. Hoch ber ihm flackerten noch immer die Lampen. Obwohl der Griff bereits vllig herausgezogen war, packte ihn Pirx erneut ... Nichts.

    Den Schlssel! Den Schlssel von der Kassette des Schalters! Pirx warf sich flach auf den Boden, sah unter den Sessel, aber dort lag nur die Spicke ...

    Die Lichter flackerten unaufhrlich, die Sicherung schaltete regelmig den Strom aus. Jedesmal wenn sie verlschten, wirkte ringsherum alles gespenstisch, als sei es aus den Knochen eines Skeletts geschnitzt.

    Das Ende! dachte er. Sollte er sich mit der Kapsel hin-ausschleudern mit dem Sitz in der Schutzhlle hinaus-katapultieren? Nein, das ging nicht, der Fallschirm wrde nicht bremsen, denn der Mond hatte ja keine Atmosphre ... Hilfe! wollte er schreien, aber es war niemand da, den er htte rufen knnen er war allein. Was tun? Es mu doch irgendeinen Ausweg geben ...

    Noch einmal ri er an dem Hebel fast wre ihm die Hand aus dem Gelenk gesprungen. Er wollte weinen vor Verzweiflung. Dumm, sehr dumm ... Wo steckte blo der Schlssel ... Warum klemmte der Mechanismus ... Der Hhenmesser er erfate alle Instrumente mit einem Blick zeigte neuneinhalbtausend Kilometer. Der ge-zackte Kamm des Timocharis hob sich deutlich von dem glhenden Hintergrund ab. Pirx glaubte bereits die Stelle zu sehen, an der sich sein Schiff in den mit Pumex be-deckten Felsen bohren wrde. Ein Donnerschlag, ein Blitzen, und dann ...

    Pltzlich, gerade als die Lichter aufflammten, fiel sein

    43

  • verzweifelt hin und her irrender Blick auf die vierfache Reihe von Kupferadern. Ganz deutlich war dort das schwarze Klmpchen zu sehen, das die Kabel miteinan-der verband der Rest der verbrannten Fliege. Mit ge-strecktem Hals, wie ein Torwart bei einer Parade sprang er nach vorn. Der Schlag war entsetzlich, die Erschtte-rung raubte ihm fast das Bewutsein. Die Kapselwand schleuderte ihn zurck wie einen aufgeblasenen Autorei-fen, er fiel zu Boden. Die Wand zitterte nicht einmal. Keuchend richtet er sich auf, mit blutendem Mund, be-reit, sich erneut auf die Wand zu strzen.

    Er blickte nach unten. Der Hebel fr begrenzte Steuerung ... Er war fr starke

    Beschleunigung von kurzer Dauer gedacht, in der Gr-enordnung 10 g, jedoch nur fr den Bruchteil einer Se-kunde. Der Hebel arbeitete direkt, auf mechanischem We-ge. Bei Schden gab er einen vorbergehenden Schub.

    Aber damit lie sich die Beschleunigung nur noch er-hhen das bedeutete also, da er noch schneller auf die Mondscheibe zurasen wrde ... Nein im Gegenteil, der Schub wrde bremsen! Aber er wre zu kurz, das Brem-sen mute ununterbrochen verlaufen. Sollte denn die be-grenzte Steuerung zu nichts nutze sein?

    Er warf sich auf den Hebel, ergriff ihn ihm Fallen, zerrte daran und hatte ohne den amortisierenden Schutz des Sitzes das Empfinden, als risse es ihm alle Knochen aus dem Leib so hart schlug er auf den Boden. Noch einmal zog er an dem Hebel der gleiche furchtbare Ruck! Sein Kopf prallte auf den Boden, und htte der nicht einen weichen Belag gehabt, er wre daran zer-schmettert.

    Die Sicherung summte, das Flimmern hrte auf, nor-maler, ruhiger Lampenschein fllte den Steuerraum.

    44

  • Der doppelte Sto der Beschleunigung durch die be-grenzte Steuerung hatte das kleine Kohlestckchen, das zwischen den Leitungen steckte, gelst. Der Kurzschlu war beseitigt. Pirx sprte salzigen Blutgeschmack im Mund. Er schnellte wie ein Taucher vom Sprungbrett nach vorn, aber er landete nicht, wie beabsichtigt, auf sei-nem Sitz, sondern scho ber die Lehne hinweg und prallte mit frchterlicher Wucht gegen die Decke.

    Im gleichen Augenblick, als er zum Sprung ansetzte, hatte der bereits ttige Automat des Reduktors die Trieb-werke ausgeschaltet. Der Rest der Schwerkraft war ver-schwunden. Das Raumschiff bewegte sich jetzt nur noch durch den eigenen Schwung wie ein Stein den Felsenrui-nen des Timocharis entgegen.

    Pirx war von der Decke zurckgeprallt. Der blutige Speichel, den er ausgespien hatte, schwebte neben ihm wie silbrig-rote Blschen im Raum. Pirx wand sich ver-zweifelt, streckte die Hnde nach der Sessellehne aus, holte den ganzen Tascheninhalt hervor und warf ihn hin-ter sich.

    Mit diesem Rcksto glitt er langsam voran, schwebte immer tiefer. Seine Finger, die so ausgestreckt waren, da die Sehnen zu reien drohten, schabten mit den N-geln ber das Nickelrohr, krallten sich fest und lieen nicht locker. Er duckte sich, zog den Kopf ein wie ein Akrobat, der auf einem Gelnder einen Handstand ma-chen will, erwischte einen Gurt, rutschte daran herunter, wickelte ihn um den Leib, den Karabinerhaken nahm er zwischen die Zhne er hielt. Nun die Hnde auf die Griffe und die Beine auf die Pedale!

    Ein Blick auf den Hhenmesser: achtzehnhundert Ki-lometer bis zur Mondoberflche. Wrde er es schaffen, rechtzeitig zu bremsen? Ausgeschlossen, bei fnfund-

    45

  • vierzig Kilometern pro Sekunde! Er mute abbiegen aus dem Sturzflug einen Ausfall machen , nur so war es zu schaffen!

    Er schaltete die Dsen fr das Wendemanver ein 2 g, 3 g, 4 g! Wenig! Sehr wenig!

    Pirx gab volle Zugkraft fr das Wendemanver. Die Scheibe auf dem Bildschirm, die wie Quecksilber leuch-tete und bisher festgemauert zu sein schien, erbebte und begann immer rascher zu sinken. Der Sitz gab unter der wachsenden Krperlast quietschende Gerusche von sich. Das Raumschiff beschrieb dicht ber der Oberfl-che des Mondes einen Bogen mit groem Radius der Radius mute so gro sein, denn das Schiff flog mit un-geheurer Geschwindigkeit. Der Griff war nicht mehr weiter zu bewegen. Pirx wurde mit furchtbarer Gewalt gegen die schwammartige Lehne gepret, ihm ging die Luft aus, denn die Kombination war nicht mit dem Sau-erstoffkompressor verbunden. Er fhlte, wie sich seine Rippen bogen, graue Flecke tanzten vor seinen Augen. Den Blick auf den Radarhhenmesser gerichtet, wartete er auf das Blackout. Im Fensterchen zeigten sich kleine Zahlen, eine Zeile lste die andere ab: 990 900 840 760 Kilometer ...

    Obwohl Pirx wute, da er mit voller Kraft flog, ver-suchte er den Griff noch weiter zu drcken. Er fhrte ei-ne Wendung aus, auf engstem Raum, verlor aber trotz alledem an Hhe. Die Zahlen wurden kleiner, obschon langsamer als vorhin. Das Schiff lag immer noch im sin-kenden Teil des groen Bogens. Pirx starrte unverwandt auf das Trajektometer.

    Wie immer, wenn sich das Raumschiff in der Gefah-renzone eines Himmelskrpers befand, zeigte die Schei-be des Gerts nicht nur die Flugkurve des Projektils und

    46

  • ihre mutmaliche, schwach angedeutete Verlngerung, sondern auch das erhabene Profil des Mondes, ber dem sich das ganze Manver abspielte.

    Beide Kurven die des Fluges und die der Mondober-flche liefen fast zusammen. Ob sie sich schnitten?

    Nein. Aber der Bauch dieses Bogens war eine Asym-ptote. Es stand nicht fest, ob das Schiff dicht ber der Scheibe durchschlpfen oder aufprallen wrde. Das Trajektometer arbeitete mit einer Fehlerabweichung von sieben bis acht Kilometern, und Pirx konnte nicht voraus-sagen, ob die Kurve drei Kilometer ber den Felsen ver-laufen wrde oder ...

    Ihm wurde schwarz vor Augen die 5 g taten ihre Wirkung. Das Bewutsein verlor er nicht. Er lag da, blind, umspannte die Hebel, fhlte dabei, wie die Amor-tisatoren des Sitzes allmhlich nachgaben. Er glaubte nicht, da er verloren war. Irgendwie konnte er nicht dar-an glauben. Er war nicht imstande, die Lippen zu bewe-gen, also zhlte er nur in Gedanken: einundzwanzig zweiundzwanzig dreiundzwanzig vierundzwanzig ...

    Bei fnfzig konnte er sich der Vorstellung nicht er-wehren, das sei nun schon der Zusammensto wenn berhaupt, so mte er nun erfolgen. Trotzdem lie er die Hebel nicht los. Er wurde schwcher und schwcher ... ein Gefhl der Enge in der Brust, ein Luten in den Ohren, Blut in der Kehle und in den Augen Schwrze, blutige Schwrze ...

    Die Finger lsten sich von selbst langsam schob sich der Griff zurck. Pirx hrte nichts, sah nichts. Allmhlich wurde es grau um ihn, das Atmen fiel ihm leichter. Er wollte die Augen aufreien, aber sie waren sie waren die ganze Zeit ber geffnet gewesen. Nun brannten sie wie Feuer, die Lider waren trocken.

    47

  • Er setzte sich auf. Der Schweremesser zeigte 2 g an. Auf dem vorderen

    Bildschirm war nichts zu sehen, nichts als Sternenhim-mel. Vom Mond keine Spur. Wo war der Mond geblie-ben?

    Er lag unten unter ihm. Pirx hatte den waghalsigen Sturzflug abgefangen, das Schiff war in die Hhe ge-schossen und entfernte sich nun mit allmhlich nachlas-sender Geschwindigkeit vom Erdtrabanten. In welcher Hhe war er ber der Scheibe durchgerutscht? Sicherlich hatte der Hhenmesser das registriert, aber Pirx versprte keine Lust, ihn nach Daten zu befragen. Nun erst fiel ihm auf, da das Alarmsignal verstummt war, das die ganze Zeit hindurch gebrummt hatte. Weshalb sie nur so einen Brummton gewhlt haben! fragte sich Pirx. Sie htten lieber eine Kirchenglocke an die Decke hngen sollen. Wenn schon Friedhof, dann auch richtig, mit allem Drum und Dran. Ein leises Summen ertnte die zweite Flie-ge! Das Biest lebte! Sie kreiste ber der Kapsel. Pirx ver-sprte einen ekelhaften Geschmack im Mund er war rauh und schmeckte nach Leder , das Ende des Sicher-heitsgurtes! Er hatte es die ganze Zeit ber zwischen den Zhnen gehabt und vllig vergessen.

    Er schnallte den Gurt fest, legte die Hnde auf die He-bel die Rakete mute auf die richtige Umlaufbahn ge-bracht werden. Von den beiden JO-Schiffen wrde er keine Spur mehr finden, das war ihm klar, aber er mute ans Ziel gelangen und sich bei Navigationsluna melden. Oder etwa bei Luna Hauptstation, weil er eine Havarie hatte? Wei der Teufel! Also wieder still sitzen? Ausge-schlossen! Sie werden das Blut bemerken, wenn ich wie-der unten bin ... Sogar an der Decke sind rote Spritzer ... brigens, der Registrator hat sicherlich alles, was ge-

    48

  • schehen ist, auf Band festgehalten alles, die Tcken der Sicherung und den Kampf mit dem Notgriff. Nicht bel, diese AMUs, das mu man schon sagen ... Aber man mu Humor haben, wenn man jemandem solch einen Sarg zumutet ...

    Melden, melden aber bei wem? Er beugte sich vor, lockerte dabei den Schultergurt und griff nach der Spi-cke, die unter dem Sitz lag. Warum soll ich eigentlich nicht einen Blick hineinwerfen? Vielleicht ntzt sie mir wenigstens jetzt irgendwie ...

    Da hrte er etwas knacken ganz so, als ginge eine Tr auf. Hinter ihm gab es keine Tr, das wute er ge-nau, brigens konnte er sich nicht umdrehen, denn die Gurte hielten ihn an den Sessel gefesselt. Ein Lichtstrei-fen fiel auf die Schirme, die Sterne darauf verblaten, und Pirx vernahm die gedmpfte Stimme des Chefs.

    Pilot Pirx! Er wollte aufspringen, aber die Gurte hielten ihn fest.

    Er fiel zurck, glaubte wahnsinnig zu sein. Im Gang zwi-schen der Wand des Steuerraums und der glsernen Hl-le erschien der Chef. Er stand vor ihm in seiner ganzen Uniform, sah ihn mit grauen Augen an und lchelte. Pirx wute nicht, wie ihm geschah.

    Die glserne Kapsel hob sich. Pirx begann instinktiv die Gurte zu lsen und stand auf. Die Schirme hinter dem Rcken des Chefs waren pltzlich wie weggeblasen.

    Recht so, Pilot Pirx, sagte der Chef. Bemerkens-wert.

    Pirx wute immer noch nicht, wie ihm geschah. Er stand stumm vor seinem Chef und machte etwas schrecklich Unvorschriftsmiges er streckte den Kopf zur Seite, soweit der halb aufgeblasene Kragen das zulie.

    49

  • Der ganze Gang mit der Klappe war beiseite gescho-ben als sei die Rakete an dieser Stelle auseinanderge-brochen. Pirx erkannte im Abendlicht die Gangway der Halle, die Menschen, die darauf standen, die Seile, die Gitter ... Er starrte den Chef mit halboffenem Mund an.

    Komm, Junge, sagte der. Langsam streckte er ihm die Hand entgegen. Pirx ergriff sie und fhlte, da der Hndedruck sich verstrkte. Ich drcke dir im Namen aller meine Anerkennung aus, und in meinem eigenen Namen bitte ich dich um Verzeihung. Das ... mu so sein. Jetzt komm mit. Kannst dich bei mir waschen.

    Er ging auf den Ausgang zu. Pirx folgte ihm, stakste schwer und unbeholfen. Drauen war es khl, ein schwa-cher Wind wehte, er fiel in die Halle durch den Teil der Decke, der weggeschoben war. Beide Projektile standen an der gleichen Stelle wie zuvor nur ein paar dicke Ka-bel, die in einem Bogen ber dem freien Raum hingen, fhrten zu ihren Spitzen. Vorher waren diese Kabel nicht dagewesen.

    Der Instrukteur, der auf der Gangway stand, sagte ir-gend etwas zu ihm. Er verstand es nicht, durch die Haube knnte er schlecht hren.

    Wie? fragte er mechanisch. Die Luft! La die Luft aus der Kombination! Ach so, die Luft ... Er drckte auf das Ventil es zischte. Er stand auf der

    Plattform. An den Seilen der Barriere warteten zwei Leu-te in weien Kitteln. Seine Rakete sah aus, als habe sie einen gespaltenen Schnabel. Eine merkwrdige Schw-che berkam ihn Verwunderung, Enttuschung, die sich immer deutlicher in rger verwandelten.

    Sie ffneten die Klappe des zweiten Projektils. Der Chef stand auf der Gangway, weibekittelte Menschen

    50

  • unterhielten sich mit ihm. Aus dem Innern der Rakete drang ein schwaches Knacken.

    Ein braunes, taumelndes Bndel Mensch strzte her-aus, der Kopf ohne Helm pendelte wie ein verschwim-mender Fleck hin und her.

    Die Beine unter ihm knickten ein. Dieser Mensch dort, Boerst, war mit dem Mond zu-

    sammengestoen.

    51

  • Der bedingte Reflex Es geschah im vierten Jahr, kurz vor den Ferien. Pirx, der alle praktischen bungen hinter sich hatte, stand nun vor weiteren Bewhrungsproben: Es galt, mehrere Flge auf Simulatoren zu bestehen, danach zwei echte Raumstarts und schlielich einen sogenannten Kreis selbstndig einen Mondflug mit Landung und Rckkehr. Er kam sich bereits vor wie ein alter Hase, der auf den Planeten zu Hause ist, wie ein ausgefuchster Weltraumfahrer, der sich nur in seinem abgetragenen Skaphander wohl fhlt, wie ein khner Retter, der mit dem beschwrenden Ruf Achtung, ein Meteoritenschwarm! und einem blitz-schnellen Wendemanver das Raumschiff, sich selbst und die weniger aufmerksamen Gefhrten vor dem Un-tergang bewahrt. Wenigstens stellte er sich das so vor, aber zu seinem Bedauern mute er beim Rasieren immer wieder aufs neue konstatieren, da man ihm die vielen schweren Erlebnisse so gar nicht ansah. Keines seiner Abenteuer hatte ihm bisher auch nur ein einziges graues Haar eingebracht nicht einmal das schauderhafte Mi-geschick mit dem Harrelsbergerschen Apparat, der ihm bei der Landung auf dem Sinus Medii unter den Hnden explodiert war. Ach was! Pirx erkannte betrbt, da es sinnlos war, in dieser Hinsicht irgendwelchen Illusionen nachzuhngen der Traum von den graumelierten Schl-fen wollte sich nicht erfllen. Wenn sich doch wenig-stens um die Augen ein paar Fltchen bilden wrden, die auf den ersten Blick erkennen lieen, wie mhevoll er, Pirx, nach Kurssternen Ausschau hielt! Aber nicht ein-mal das war ihm vergnnt, er blieb glatt und pausbckig wie eh und je. So schabte er sich denn mit der stumpfen

    52

  • Klinge das Kinn, schmte sich seines vollen Gesichts und dachte sich immer gefhrlichere Situationen aus, die er samt und sonders meisterte.

    Matters, der diesen Kummer kannte oder zumindest ahnte, riet Pirx, sich einen Schnurrbart wachsen zu las-sen. Ob er es ehrlich meinte, lie sich kaum feststellen Pirx jedenfalls machte die Probe aufs Exempel. Er hielt sich eines Morgens einen schwarzen Schnrsenkel an die Oberlippe, sah in den Spiegel und fuhr entsetzt zurck: Er blickte in eine Visage, die noch idiotischer wirkte als vorher. Von Stund an begann er an Matters zu zweifeln, obwohl gar nicht erwiesen war, da er es bse gemeint hatte. Matters hbsche Schwester konnte man erst recht keine Bswilligkeit nachsagen, und dennoch hatte es Pirx den Rest gegeben, als sie einmal zu ihm sagte, er sehe sehr, sehr rechtschaffen aus. In dem Lokal, in dem sie tanzten, geschah zwar nichts von dem, was Pirx befrch-tet hatte. Nur einmal verwechselte er einen Tanz, aber seine Partnerin war taktvoll genug, das mit Schweigen zu bergehen. Als er schlielich merkte, da die brigen Paare etwas ganz anderes tanzten, korrigierte er sich und gab sich Mhe, ernst und wrdig dreinzuschauen, denn er wute, da sich die Menschen auf der Strae umdreh-ten, wenn er grinste. Abends brachte er sie nach Hause. Von der letzten Haltestelle hatten sie noch ein gutes Stck zu laufen. Pirx zermarterte sich das Hirn, er wollte irgend etwas tun, um ihr zu beweisen, da er gar nicht so sehr, sehr rechtschaffen sei, aber ihm fiel nichts Pas-sendes ein. Da er so intensiv nachdachte, blieb er stumm wie ein Fisch, und je lnger er schwieg, desto peinlicher erschien ihm die Situation. In seinem Kopf herrschte eine Leere, die sich nur insoweit vom kosmischen Vakuum unterschied, als sie von verzweifeltem Bemhen ausge-

    53

  • fllt war. Im letzten Augenblick kamen ihm mehrere Ein-flle auf einmal, sie durchfuhren ihn wie Meteore. Er wollte sich mit ihr verabreden, wollte sie kssen, wollte er hatte das irgendwo gelesen ihre Hnde drcken, zrt-lich, gefhlvoll, zugleich aber leidenschaftlich und sinn-lich ... Aber daraus wurde nichts. Er kte sie nicht, ver-abredete sich nicht mit ihr, reichte ihr auch nicht die Hand ... Ach, wenn es wenigstens dabei geblieben wre! Als sie ihm nmlich mit ihrer angenehm kehligen Stim-me Gute Nacht wnschte, sich abwandte und die Trklinke ergriff, erwachte in ihm der Teufel. Mglich, da er ihre Ironie sprte, mglich, da er sich diese Iro-nie nur einbildete jedenfalls ... Als sie sich umwandte, gelassen, selbstbewut und kniglich, wie es sich bei hbschen Mdchen von selbst versteht ...

    ... nun gut, als sie sich umwandte, hatte er ihr diesen Klaps aufs Ges gegeben, einen recht derben Klaps, ne-benbei bemerkt. Was dann kam, ging rasend schnell. Sie stie einen kleinen Schrei aus vor berraschung, und er, er machte kehrt und nahm Reiaus, als sei ihm jemand auf den Fersen. Tags darauf pirschte er sich an Matters heran wie an eine Zeitznderbombe, aber der Freund wute berhaupt nichts von dem Vorfall.

    Pirx htte nicht sagen knnen, wie es dazu gekommen war. Er hatte sich halt nichts dabei gedacht das war ihm leider schon immer leichtgefallen. Aber handelte so ein rechtschaffener Mann?

    Er war sich nicht ganz sicher, aber er befrchtete, da es wohl an dem sein msse. Nach der Geschichte mit Matters Schwester er mied das Mdchen fortan wie der Teufel das Weihwasser hrte er auf, Grimassen vor dem Spiegel zu schneiden. Es war ihm peinlich, wenn er daran dachte, wie er mit zwei Spiegeln herumhantiert

    54

  • hatte, um sein Profil zu begutachten. ber die Lcher-lichkeit solch ffischer Grimassen war er sich im klaren, andererseits hatte er aber gar nicht nach Schnheit ge-sucht, sondern nach Charakter nach Charakter, jawohl! Er las nmlich Conrad, und wenn er mit vor Eifer gerte-ten Wangen an das groe Schweigen der Milchstrae dachte, an einsame Tapferkeit da drngte sich ihm je-desmal die gleiche Frage auf: Kann man sich einen Hel-den der ewigen Nacht, einen khnen Einzelgnger mit solch einem Gesicht vorstellen? Kann man das? Die Zweifel blieben, aber mit dem Grimassenschneiden machte er ein fr allemal Schlu und bewies sich selbst damit, wie hart und unerschtterlich sein Wille sein konnte.

    All diese Sorgen verblaten jedoch, als die Prfung bei Professor Merinus heranrckte, der auch Merynos ge-nannt wurde. Angst vor Merynos hatte er nicht, er war berhaupt erst dreimal zum Gebude des Instituts fr Astrognosie gegangen, im Gegensatz zu den anderen Studenten, die sich vor den Saaltren drngten und den Prflingen auflauerten. Sie taten dies nicht, um ihre Ka-meraden zu beglckwnschen, sondern um zu erfahren, welche neuen tckischen Fragen sich der bsartige Hammel ausgedacht habe auch so wurde der grausa-me Professor genannt. Dieser Greis, der noch nie im Le-ben den Fu auf den Mond gesetzt oder eine Rakete be-treten hatte, wute einfach alles. Er kannte kraft theoreti-schen Allwissens jeden Stein smtlicher Krater des Mee-res der Regen, kannte die Felsenrcken der Planetoiden und die unzugnglichsten Gefilde der Jupitermonde. Man erzhlte sich, da er umfassend ber Meteore und Kome-ten informiert sei, deren Entdeckung bevorstehe mgli-cherweise erst in tausend Jahren. Diese Fhigkeit ver-

    55

  • dankte er seiner Lieblingsbeschftigung, der Perturbati-onsanalyse der himmlischen Krper. Gesttzt auf sein umfassendes Wissen, reagierte er boshaft und gering-schtzig auf die drftigen Kenntnisse der Studenten.

    Pirx aber frchtete sich nicht vor Merynos, denn er glaubte, den Schlssel zum Erfolg gefunden zu haben. Der Alte, so wute er, bediente sich einer eigenen Termi-nologie, die auer ihm niemand in den Fachschriften be-nutzte. Von seinem angeborenen Scharfsinn geleitet, be-stellte sich Pirx in der Bibliothek alle wissenschaftlichen Aufstze des Giganten und nein, nein, da er sie nicht las, versteht sich von selbst. Er bltterte sie nur durch, schrieb sich etwa zweihundert dieser Wortungetme auf und lernte sie auswendig. Von nun an lebte er in der berzeugung, da er das Examen bestehen wrde, und das besttigte sich denn auch. Der Professor erbebte, als er den Stil der Antworten vernahm, er hob die buschigen Brauen und lauschte den Ausfhrungen des Prflings wie dem Gesang einer Nachtigall. Die finsteren Wolken in seinem Gesicht lsten sich auf, er wirkte jnger als sonst, ihm war, als hre er seine eigene Stimme. Pirx, der diese Wandlung bemerkte, ging nun, beflgelt von seiner eige-nen Unverschmtheit, aufs Ganze. Er hatte Erfolg. Me-rynos belohnte ihn mit einer groen runden Zwei und be-dauerte sogar, ihm keine Eins geben zu knnen, weil er, Pirx, bei der letzten Frage vllig versagt hatte. Bei der Beantwortung dieser Frage war mit der Terminologie des Professors nicht viel anzufangen es ging um die genaue Kenntnis eines Modells.

    Wie dem auch sei, Pirx war es gelungen, Merynos zu bndigen er hatte ihn einfach bei den Hrnern gepackt. Viel mehr Angst hatte er vor dem Irrsinnigen Bad, dem letzten Prfungstest vor dem Diplomexamen. Gegen

    56

  • das Irrsinnige Bad war kein Kraut gewachsen. Pirx sah keinen anderen Weg, als zu Albert zu gehen. Albert fun-gierte nur nach auen hin als Pfrtner am Institut fr Astropsychologie, in Wirklichkeit war er die rechte Hand des Dozenten, und sein Wort galt mehr als die Meinungen aller Assistenten. Er hatte schon dem grei-sen Professor Balloe als Faktotum gedient, der vor ei-nem Jahr zur Freude der Studenten und zum Leidwesen des Pfrtners in Pension gegangen war. Niemand hat mich so gut verstanden wie der Professor emeritus, pflegte er zu sagen.

    Das Irrsinnige Bad verlief ungefhr so: Albert fhr-te den Kandidaten in einen kleinen Raum im Souterrain, fertigte eine Paraffinmaske seines Gesichts an und schob zwei Metallrhrchen in das Negativ der Nase. Das war alles der Kandidat hatte nun nichts weiter zu tun, als in die erste Etage zu gehen, wo das Bad auf ihn wartete, das heit, ein Bad war es natrlich nicht, die Studenten nann-ten die Dinge ja nie beim Namen. Der Kandidat oder der Patient, wie es im studentischen Jargon hie, betrat ein gerumiges Zimmer, entkleidete sich und stieg in ein Wasserbassin. Das Wasser wurde erwrmt, und zwar so lange, bis der rcklings im Bassin liegende Prfling die Hand hob. Was dann geschah, war unterschiedlich fr die einen hrte das Wasser bei neunundzwanzig Grad auf zu existieren, fr die anderen erst bei zweiunddreiig. Sobald das Zeichen kam, wurde die Erwrmung des Wassers gestoppt, und einer der Assistenten setzte dem Kandidaten die Paraffinmaske auf. Dann wurde dem Wasser Salz beigemengt gewhnliches Kochsalz, kein Zyankali, wie die Absolventen des Irrsinnigen Bades allen Ernstes behaupteten. Man schttete so lange Salz hinein, bis der Patient oder der Ertrunkene sich vom

    57

  • Boden lste und unter der Wasserflche schwamm, ohne aufzutauchen. Das einzige, was aus dem Bassin hervor-lugte, waren die Metallrhrchen der Student konnte al-so frei atmen. Das war im Grunde alles. Das Ganze nann-ten die Wissenschaftler Behinderung der afferenten Stimuli. Der Ertrunkene schwamm, die Arme ber der Brust gekreuzt, im Bassin. Schon nach kurzer Zeit sprte er nicht mehr, da er im Wasser war. Er sah nichts, hrte nichts, hatte weder Geruchs- noch Tastsinn er glich einer gyptischen Mumie, und die Frage war nur, wie lange er das aushielt. Wie lange?

    Eigentlich schien an dem Test nichts Besonderes zu sein, aber Pirx wute, da der Mensch in diesem Zustand die merkwrdigsten Dinge erlebte. Es hatte nicht viel Sinn, in den Lehrbchern ber experimentelle Psycholo-gie zu blttern, denn die Erlebnisse der Ertrunkenen waren individuell sehr verschieden. Ein Drittel der Kan-didaten brachte es brigens