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Leseprobe Nooteboom, Cees In der langsamsten Uhr der Welt Reisen in Afrika Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen und Rosemarie Still. Herausgegeben von Susanne Schaber © Suhrkamp Verlag suhrkamp taschenbuch 3996 978-3-518-45996-6 Suhrkamp Verlag

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Leseprobe

Nooteboom, Cees

In der langsamsten Uhr der Welt

Reisen in Afrika

Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen und Rosemarie Still. Herausgegeben

von Susanne Schaber

© Suhrkamp Verlag

suhrkamp taschenbuch 3996

978-3-518-45996-6

Suhrkamp Verlag

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»Eines Tages«, hatCeesNooteboomeinmal erz�hlt, »habe ichmeinenRucksack gepackt, Abschied von meiner Mutter und den Zug nachBreda genommen, mich an der belgischen Grenze an den Straßen-rand gestellt und den Daumen hochgestreckt. Und ich bin eigentlichniemehr zur�ckgekehrt.« Seit dieser erstenReise ist der großenieder-l�ndische Autor unterwegs, ist zu jenem Reiseschriftsteller mit �ber-w�ltigendem Werk geworden, den wir heute kennen.Der vorliegende Band bietet eine Auswahl seiner besten, zum Teilerstmals verçffentlichten Reisegeschichten aus Afrika. Ein Meisterder Nebenrouten, ein Spezialist f�r die unsichtbaren G�rten jenseitsder hohen Mauern, ein Kenner der R�ume, die hinter fest verschlos-senen T�ren warten – Cees Nooteboom f�hrt mit Leidenschaft undBrillanz, sachkundig, leichtf�ßig und selbstironisch durchLandschaf-ten und St�dte eines Kontinents.Cees Nooteboom, 1933 in Den Haag geboren, lebt in Amsterdamund aufMenorca. SeineGesammeltenWerke liegen im SuhrkampVer-lag vor. Im suhrkamp taschenbuch erschienen zuletzt neben In derlangsamsten Uhr der Welt die B�nde Leere umkreist von Land. Reisenin Australien (st 3993), Eine Karte so groß wie der Kontinent. Reisen inEuropa (st 3994),Auf der anderenWange der Erde. Reisen in denAmerikas(st 3995) und Gefl�ster auf Seide gemalt. Reisen in Asien (st 3997).

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Cees NooteboomIn der langsamsten Uhr der Welt

Reisen in Afrika

Aus dem Niederl�ndischen vonHelga van Beuningen und

Rosemarie Still

Herausgegeben vonSusanne Schaber

Suhrkamp

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Umschlagillustration: Jan Vanriet

suhrkamp taschenbuch 3996Originalausgabe

Erste Auflage 2008� Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008Quellennachweise am Schluß des Bandes

Suhrkamp Taschenbuch VerlagAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das

der �bersetzung, des çffentlichen Vortrags sowie der �bertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotograf ie, Mikrof ilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.

Druck: Druckhaus Nomos, SinzheimPrinted in Germany

Umschlag: Gçllner, Michels, ZegarzewskiISBN 978-3-518-45996-6

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In der langsamsten Uhrder Welt

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Hinter den brennenden Mauernverderben die Stundenin der langsamsten Uhr der Welt.

Keiner geht �ber die Erde.Keiner fliegt durch die Luft.

In einem Feuer geht das Leben vorbei,so blind wie eine Euleund so dumm wie ein Huhn.

Cees Nooteboom,Ksar, Jbel Sarhro – Atlas, Sahara

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Am Rande der Sahara

Als ich ungef�hr sechs Jahre alt war, gab es vor unse-rem Haus in Rijswijk ein verwildertes Gel�nde, dasich das »landje«1 nannte. Es war voller Geheimnisse.Hohe Pflanzen, die mir heute nur bis zur Taille rei-chen, verliehen ihm den Charakter eines Urwalds,und immer noch sehe ich es vor mir: ein gef�hrlichesGebiet, das ich mit meinen �ngsten und Phantasienbevçlkern konnte.Inzwischen ist, denke ich, die Welt das »landje« ge-worden. Die �ngste haben sich mit der Zeit gleicher-maßen auf Zuhause und Anderswo verteilt, habenaber einen, sagen wir mal, mechanischen Charakterangenommen. Sie sind also nicht l�nger interessant,es sei denn als Verschwendung vonEnergie. DieHirn-gespinste und Phantasien werden durch das Reisenangeregt, vor allem dort, wo sich das Sichtbare nichtganz benennen l�ßt. Die Aversion, mitten im Un-benennbaren zu leben, hat mich veranlaßt, Sprachenzu lernen. Ich kann mir nicht vorstellen, mich in Spa-nien oder Peru zu bewegen, ohne mit den Leuten re-den, die Zeitung lesen zu kçnnen. Selbst dann bleibtnoch genug R�tselhaftes. Aber erst sp�ter, bei meinenAfrikareisen, und jetzt wieder, bei dieser zweitenReise entlang dem nçrdlichen Rand der Sahara, binich mir der Erregung des Fremdseins bewußt.

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Es ist die gleiche Erregung wie fr�her, als das »landje«dieWelt war: Dinge zu sehen, die man nicht begreift,Zeichen, die man nicht lesen kann, eine Sprache,die man nicht versteht, eine Religion, die man nichtwirklich kennt, eine Landschaft, die einen zur�ck-weist, Lebensweisen, die man nicht teilen kçnnte.Heute empf inde ich das, merkw�rdiges Wort, alsWohltat. Der Schock des vçllig Unbekannten ist ausleiser Wollust gemacht. Wenn man nicht teilhabenkann, gibt es vieles, was man zu Hause lassen kann.Die eigenen Masken gelten hier nicht. In den Augeneines Berbers aus Goulimine kçnnte man genausogutaus Ohio kommen, und das bedeutet: Viele Nuancen,die man sich unter großen M�hen zugelegt hat, wer-den hinf�llig. Damit wird das Reisen zu einer Art an-genehmer Leere, einem Zustand der Schwerelosig-keit, in dem man zwar nicht alle Aktualit�t f�r sichselbst verliert, aber doch vieles erlassen bekommt –man treibt in fremdem Gebiet, sieht, schaut, sieht,hinterl�ßt hier und da einen Ritz in der unverletz-lichen Oberfl�che, verschwindet wieder und kehrtleerer zur�ck, freilich auch mit Worten.Dieses Gef�hl hat mir fr�her Spanien vermittelt.Durch das Erlernen der Sprache und ein gewisses Ta-lent f�r Mimikry hat sich meine Freude an Spanienjedoch in etwas anderes verwandelt: In diesem Landkann ich mich auff�hren wie ein Spanier, in das Ent-z�cken eintauchen, vor�bergehend ein anderer zusein, jemand, der auf einer Caf�terrasse in C�rdoba

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die çrtliche Zeitung liest; auch eine Art Verschwin-den, und genau darum geht es ja. So liest man denNice-Matin in Cannes und verfl�chtigt sich im As-phalt der Croisette, oder den Corriere della Sera undbleibt dreihundert oder sechstausend Jahre auf demGroßen Platz von Catania sitzen.Marokko ist anders. Es ist eine Steigerung, eine Stufehçher, man wird zwar zum ausl�ndischen Idioten er-nannt, doch durch die Gesetze der Gegenseitigkeitkomme ich selbst auch nicht weiter und erreiche da-mit einen Grad an Unsichtbarkeit, in dem das Gese-hene selbst wieder verschwindet, denn was ich sehe,das wenige, das ich zu sehen vermag, ist etwas anderesals das, was ich sehe, genausowenig wie das, was ichhçre, Mitteilungen sind, es ist nur Sprache, die ichnicht verstehe, obwohl sie genau daf�r da ist: umzu verstehen und verstanden zu werden.Man ist da, und man ist nicht da, und so bin ich – zumzweitenmal – durch Marokko gereist. Eine solcheReise beginnt noch an einemOrt, f�r den all das ebenGesagte nicht gilt, in einem Hotel aus den Reise-prospekten, das von sich im Hintergrund haltendenschweigenden,eff izientenSchweizern betriebenwird,wo die europ�ischen Kçrper sich in der heißen No-vembersonne aalen, sich in das uneigentlich blaueWasser des Swimmingpools fallen lassen und als We-sen eines hochm�tigen, in sich geschlossenen Luxus-clans die Ersparnisse verprassen, bedient von wiesel-flinken Marokkanern, die, weil es so zweckm�ßiger

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ist, nicht ihre verh�llende Kleidung tragen und wiedie f ixen mageren spanischen und italienischen Kell-ner aussehen, die der Hocheurop�er schon fr�her inseinem eigenen Restaurant zu dulden gelernt hat.DieKellner wiederum f�hlen sich durch diesen atem-beraubenden internationalen Kontakt unendlich er-haben �ber das Dorf, den Stamm, den Kreis, ausdem sie kommen, sie haben den ersten Schritt indas Schattentheater des Fortschritts getan, der Wurmsteckt im Apfel, und jedes Land hat das Recht auf sei-nen eigenen verfaulten Apfel.

Goulimine. Von der Fahrt nach Goulimine, tief imS�den gelegen, sind mir die Jungen mit den Eich-hçrnchen noch am lebhaftesten in Erinnerung. Plçtz-lich, in den H�geln, an einer Straßenbiegung, stehensie da, ihre Jungenleiber wie etwas vçllig Nat�rlichesin die Landschaft geschmiegt,wie etwas, das dort auchw�chst. Sie halten einen sich bewegenden Gegen-stand in die Hçhe. Als ich stoppe, sehe ich, daß esein Eichhçrnchen ist, das sie gefangen haben undnun verkaufen wollen. Wie ein arabisches Schriftzei-chen aus Pelz h�ngt das Tier an einem Strick um denHals in der Luft, den langen Schwanz so dicht wiemçglich angezogen, die Augen hin und her flitzendvor Angst. Sp�ter, im Atlasgebirge,werde ich Zeuge,wie ein schwer ramponierter deutscher Volkswagenbei ein paar dieser Jungen stoppt. Ein blondes M�d-chen steigt aus und geht auf sie zu. Als sie sieht, was

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sie verkaufen wollen, steht sie einen Moment langstill und beginnt sich dann an die steinerne Bergwandzu �bergeben. Die Jungen lachen, weil sie nicht wis-sen, was sie tun sollen.Goulimine, Stadt der Blauen M�nner. Als ich michihr endlich n�here, versp�re ich so etwas wie Aufre-gung. Warum? Es wird wohl so sein wie Timbuktu,Zagora,Orte,wohin die M�nner aus derW�ste kom-men, bevor sie wieder in ihr verschwinden. Etwasalso, was ich bereits kenne. Ich denke, ein solcherOrt def iniert sich durch das Extreme der Landschaftringsum, durch das ganz Besondere seiner Lebens-weise, genausowie er schon imwçrtlichen Sinne aus-gesondert ist aus dem ihn umgebenden Nichts. Aberauch hier hat der Tourismus zugeschlagen. Sich ander Ausnahme, dem anderen zu erfreuen, ist nichtl�nger ein Privileg von Schriftstellern. Zwischen dasunvorstellbar Andere und Echte schiebt sich jetztdas vorstellbar Unechte und Schlaffe, amerikanischesGençrgel, Hausiererei mit popeligen Schundobjek-ten.Doch der Kamelmarkt selbst ist nicht f�r uns. Esscheint, als h�tten sogar die Wolken den Platz gemie-den. Offen, staubig und eigentlich leer liegt er da,bedeckt mit Mist und einzelnen Steinen. Um ihnherum stehen ein paar mißgl�ckte Eukalyptusb�um-chen, ein r�hrender Versuch, der an der heißen Zwei-Uhr-Nachmittags-Sonne abprallt. Br�llende Kamelemit zusammengebundenen Vorder- und Hinterbei-

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nen wechseln den Besitzer, M�nner in Dschellabasmachen mit Fußtritten und scharfenWendungen gif-tige Proberitte auf drahtigen Eseln. Zwei wunder-volle schwarze Geheimnisse, gelbe Plastikschuhe un-ter ihrer Finsternis, bezipfelm�tzt und verschleiert,sitzen im Staub vor einer Mauer und f�hren unterall ihren T�chern ein Gespr�ch. In einer Ecke wirdGetreide verkauft, wheat furnished by the people of theUSA, not to be sold.Hinter Goulimine kommt nichts mehr, die rote Stra-ße auf der Karte durchquert ein vollkommen weißesGebiet nach Tan-Tan, aber Tan-Tan ist noch nichts.Angezogen von der Leere auf der Karte fahre ich die-se Straße ein St�ck entlang, verlasse sie dann, in diegetrocknete Erde hinein, am weißgl�nzenden Skeletteiner Ziege vorbei, und halte an, als eine große Ka-melgruppe vollkommen still vor�berzieht. Ich neh-me mir vor, einmal so weiterzufahren, von Tan-Tannach Tarfaya und dann nach Aaiffln, in die SpanischeSahara und nachMauretanien, aber jetzt drehe ich umund fahre zur�ck nach Norden.

Taroudant. Es ist bereits dunkel, als ich Taroudant er-reiche. Meterdicke d�stere, abweisende Mauern, indenen die Stadt geborgen liegt. Nicht wie in Avi-gnon, wo die Stadt aus ihren Mauern geplatzt istund auf der anderen Seite einfach weitergeht – wo-durch die Mauern etwas �berfl�ssiges und damit L�-cherliches erhalten; nein, sie wird eindeutig um-

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grenzt von ihnen, ein Raum f�r Menschen, ausge-spart aus der �brigenWelt, eine feste Burg. Das Hotelist ein kleiner orientalischer Palast ohne große Zu-gest�ndnisse an westlichen Geschmack, mich �ber-kommt ein orientalisches, leicht weihevolles Gef�hl,ich gehe etwas langsamer und gleichfalls ein wenigschlurfend und trinke im Mondlicht neben dem ge-kacheltenTeich einGlas Tee unter denHibiskusstr�u-chern. Irgendwo aus den B�umen ruft eine Eule, vonder mir jemand erz�hlt, sie sei weiß, ein wehm�tigerRuf, als m�sse sie ihren Eulenkummer an den Mondloswerden.AmMorgen darauf wird lauter geschrien. Bereits umf�nf Uhr setzt das Kr�hen von Allahs Hahn ein, sodurchdringend,daß ich aus dem Schlaf hochschrecke,ein nicht enden wollender Aufruf zum Gebet, eineStimme, die gemartert und zugleich routiniert klingtmit ihren endlosen schreienden Wendungen. Mankommt nicht darum herum, der Tag hat begon-nen, und Allah w�nscht, angebetet zu werden. Alsder Muezzin nach einer halben Stunde endlich ver-stummt, versinke ich wieder in undeutlichen Tr�u-men ohne Zeit und Ort.DerMorgen ist kalt und neblig. Ich gehe hinaus in dieBibel. Was es an Sonne gibt, setzt die ockerfarbeneStadtmauer in Brand, und an ihr gehen die Jungenmit ihren Schafen, mit Reisigb�ndeln beladene Esel,Berber aus der Umgebung mit Waren f�r den Marktvorbei. Die Vçgel murmeln in den Mandarinenb�u-

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men, skandiert vom Hammer des Kupferschmieds.M�nner lassen pr�fend Getreide durch die Handrieseln, Pferde werden beschlagen, eine Frau lecktschnell an frischemTongeschirr, Kr�uter werdenwie-der und wieder gewogen mit einem Gewicht, leichtwie eine Feder, der Schlangenbeschwçrer hat sofr�h schon sein Publikum, beim Schlachter stehendie Kamelf�ße ordentlich in Reih und Glied, balek!balek! schreit der Eseltreiber mit seiner Last von gro-ßen Brocken glitzerndem Salz, ich sehe die Welt,wie sie nicht mehr ist, Fleisch duftet aus hohen, spitzzulaufendenTontçpfen in gl�henderHolzkohle, Frau-en in langen schwarzen Gew�ndern und mit phan-tastischem Schmuck trennen die Spreu vom Wei-zen.Wasmacht mich hier so gl�cklich? Vielleicht ist es dieStille, es gibt nur Ger�usche von Menschen und Tie-ren. In einer Ecke des Marktes parken s�mtliche Esel.In wenigen Jahren werden es Mopeds sein, noch sp�-ter Autos. Aber jetzt noch nicht. Vielleicht ist es auchdie Sichtbarkeit von allem: wie Dinge hergestelltwerden. Schmiede, Gerber, B�cker, alles schart sichum diesen Markt, Schreiber und Geschichtenerz�h-ler, Bettler und Schlachter, der gesamte Kosmos aufeinem Haufen, eine Welt, die in sich geschlossen ist,sich selbst bedient und versorgt, eine Welt im Lot,wie es scheint. Nur mit den Augen und der Stimmeschl�gt der Geschichtenerz�hler einen Bombentrich-ter der Fiktion mitten in die Menge. Seine Zuhçrer

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sind f�r die Welt verloren. In ihrer Aufmerksamkeitsteckt eine schreckliche Unschuld. Die Stimme desErz�hlers pl�tschert, stockt, jagt, schreit, verebbt wie-der, und sie folgen ihr, von nichts abgelenkt. Dasnenne ich Schreiben! Ichw�rde gern in dieserMengeversinken oder vielleicht auch nur dazugehçren.Wei-ter als bis zu einem Glas Krauseminztee komme ichaber nicht. Als ich durch den endlosen Irrgarten derKasbah zum Stadttor zur�ckspaziere, hçre ich hintermir noch immer die Trommeln und die hohe m�an-dernde Flçte des Schlangenbeschwçrers.Taourirt. »R�ckkehr an einenOrt, an demwir fr�hergeweilt haben, ist sehr gut mçglich, R�ckkehr zueinem Augenblick dagegen, den wir fr�her erlebt ha-ben, leider nicht.« Das ist der letzte Satz des BuchesHet mysterie tijd (Das Mysterium Zeit) von Dr. P. J.Zwart. 1960 reiste ich durch Marokko. In Marra-kesch fuhr ich mit dem Bus, damals ein �ußerst unbe-quemes Befçrderungsmittel, durch den Hohen Atlas�ber Ouarzazate zum letzten Grenzposten vor Mau-retanien, der Oase M’Hamid in der Sahara, wo dasFl�ßchen Draa unter dem Sand verschwindet undder Sand selbst und ein paar Kamele und sehr wenigeBerber sich auf den langen Marsch nach Timbuktubegeben. Es war eine großartige Fahrt durch hohes,wildes Gebirge – heiß, was vor allem unangenehmwar,weil der Mann neben mir den ganzen Tag einenKalbskopf auf dem Schoß hielt, und geheimnisvolldurch die eigenartigen hohen, assyrisch anmutenden

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rotenund ockerfarbenen Forts entlang der Straße, dieksar genannt werden.Damals war ich noch unbelastet von jeglichem Wis-sen �ber die Berber, ich schaute nur. Nun, da ichmehr von ihnenweiß,weiß ichwie gewçhnlichweni-ger – ein geheimnisvolles Volk, dessen Ursprung un-bekannt ist, St�mme mit Namen wie Tachelheit undTamazirt, eine Schrift, Tif inar, geschrieben in einemgeheimnisvollen Alphabet, das wahrscheinlich nurBorges lesen kann, und hundert Theorien, woherdiese Imasirenen gekommen, wer sie gewesen sind:Gab es sie bereits, als Dido, die Prinzessin von Tyros,nach Nordafrika kam und Karthago gr�ndete? Oderwaren es die G�tuler, die Hannibal zu Purpur undElefanten verhalfen? Oder die �thiopier, von denenSkylax von Karthago berichtet? Oder die Lixitenvon Hamon? Oder waren es, wie Malek Ibn Ma-rahbet sagt, »himyaritische, moderitische, koptische,amalekitische St�mme, die gemeinsam aus Syriennach Nordafrika wanderten«?Alt, alt ist das Wort, das sich am st�rksten aufdr�ngt,die Sprache, die Namen, die ungekl�rte Geschichte,die Forts, die W�ste, der steinige Boden, die T�ler,eine Welt, noch umschlossen von den Eih�uten derAntike und somit von einer fast verbotenen Anzie-hungskraft, jahrhundertealte, versteinerte Talmud-weisheit in den mellahs, den j�dischen Vierteln in-nerhalb der Kasbahmauern, kabbalistische R�tsel,Geschichten, ausschließlich m�ndlich aus der Bibel

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�berliefert, Fossilien,bestehend aus Sprache, Fossilienaus Gesten, der Stab des Hirten, der Pflug des Bauern,die Stimme des Erz�hlers, das Feuer des Schmieds, dieG�ltigkeit der Parabeln.Ich stehe vor der Kasbah von Taourirt. Dort stand ichschon einmal vor dreizehn Jahren. Damals f�hrtemich ein alter Mann hinein, zeigte mir die Synagoge,eine Lehmhçhle, in der Gold blinkte, zeigte mir aneinemMittagmit bestialischer Sonne einen verborge-nen Garten, in dem sich im Wasser leise Schilf be-wegte und aberwitzige Frçsche quakten. Mit einemGriff riß er Rosen von einem Strauch und zerdr�cktedie Bl�tenbl�tter in meiner Hand. Und als wir ausdem Garten herauskamen, sah ich eine Frau in einemhellfarbenen langen Gewand, schwarzgl�nzende Au-gen und eine auf ihre Stirn herabh�ngende Rose. Jetztist nichts mehr da, nur die Erinnerung.Ich streife durch die verwirrenden Gassen aus Sand,vorbei an endlosen Lehmw�nden, die ineinanderflie-ßen,verschwinden,wieder von vorn beginnen, f indeden Garten aber nicht mehr. Die Juden sind fort, dieSynagoge gibt es nicht mehr, oder man will sie mirnicht zeigen, und wenn ich die Frau gesehen habe,habe ich sie nicht wiedererkannt. Daf�r habe ichden Tod gesehen. Irgendwo in einer dunklen Ecke,wo es feucht und klamm ist, liegt eine Stimme ausschmutzigem Staub, denn das ist das einzige, wasich in dieser Dunkelheit sehen kann, ein Mensch, vondem nichts mehr �brig ist als ein B�ndel Kleider,

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es scheint, als kçnne es kein Kilo wiegen, doch dieStimme klagt und murmelt und weint leise, jemand,etwas, das da im Sterben liegt, etwas Altes und schonfast Verschwundenes, ein unsichtbarer Mund ohneKçrper, eine Seele, von Menschen in eine Ecke ge-legt. Ich gehe auf sie zu, die Stimme geht �ber in Ge-wisper und Gerçchel, aber ich sehe noch immerkeinen Kopf, und dann kommt eine Frau, die mir be-deutet, wegzugehen, diese Schande darf ein Fremdernicht sehen.

Tinerhir. Taourirt, Tizi’n’Taddeght, Inassine, El-Ke-la-des-Mgouna, El Goumt, Boumalne, Imiter, soheißen die Orte bis Tinerhir. Die Welt ist w�st undleer, und ich hoffe, daß es so bleibt. In diesen Land-schaften gibt es keine Wollust, keine Verlockung,nichts Angenehmes, außer daß ich es angenehm fin-de, eine Art Exerzitium.Wem begegnet man? EinemSchakal, einemArmeefahrzeug, drei Frauen, gebeugtunter bizarren Schilfb�ndeln, die sie von nirgendwogeholt haben kçnnen – aber sie gehen auch nirgend-wohin, also hat alles seine Richtigkeit. Ferner Last-wagen, derentwegen man die schmale Straße in denSchotter hinein verlassen muß, manchmal GruppenvonM�nnern auf Eseln oder Pferden, und dann plçtz-lich, in einer Wegbiegung, ein Ziegenhirt – dessenZiegen allerdings nicht auf der Weide grasen, denndie gibt es nicht, sondern oben und seitlich im Ge�stharter, dorniger B�ume. Ich bleibe stehen,undwir be-

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