Swr2-Essay-20150406 Von Tinnitus Bis Taubheit

15
SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Essay Von Tinnitus bis Taubheit Wenn Musiker gehörkrank werden Von Jens Hagestedt Sendung: 6. April 2015, 22.03 Uhr Redaktion: Lydia Jeschke Regie: Maria Ohmer Produktion: SWR 2015 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Essay sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de

description

tinnitus

Transcript of Swr2-Essay-20150406 Von Tinnitus Bis Taubheit

Page 1: Swr2-Essay-20150406 Von Tinnitus Bis Taubheit

SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE

SWR2 Essay Von Tinnitus bis Taubheit

Wenn Musiker gehörkrank werden

Von Jens Hagestedt

Sendung: 6. April 2015, 22.03 Uhr

Redaktion: Lydia Jeschke

Regie: Maria Ohmer

Produktion: SWR 2015

Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

Service: Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Essay sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030

Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de

Page 2: Swr2-Essay-20150406 Von Tinnitus Bis Taubheit

1

<S 2> »Eines Morgens, da es mir nicht schlechter als gewöhnlich ging und ich gerade damit beschäftigt war, eine kleine Tischplatte auf ihrem Fuß zu befestigen, fühlte ich mit einem Schlage in meinem ganzen Körper einen plötzlichen und fast unbegreiflichen Aufruhr. Ich weiß ihn nicht besser als mit einem Sturme zu vergleichen, der sich in meinem Blute erhob und mir augenblicks in alle Glieder fuhr. Meine Adern fingen mit solcher Gewalt zu schlagen an, daß ich ihr Klopfen nicht nur fühlte, sondern sogar hörte, vor allem das der Kopfschlagader! Damit verband sich ein mächtiges Ohrensausen, und dieses Sausen war dreifach oder vielmehr vierfach. Nämlich zunächst ein dumpfes schweres Brausen, dann ein helles Murmeln wie von fließendem Wasser, endlich ein grelles Pfeifen, und dazu trat dann noch das Klopfen, dessen einzelne Schläge ich zählen konnte, ohne meinen Puls zu fühlen oder meinen Leib überhaupt mit den Händen zu berühren. Dieses innere Geräusch war so groß, daß es mir das feine Gehör, dessen ich mich bis dahin erfreut, völlig raubte und mich zwar nicht ganz taub, aber so schwerhörig gemacht hat, wie ich es seitdem geblieben bin.« [Jean-Jacques Rousseau, Bekenntnisse, dt. von Ernst Hardt, Frankfurt am Main (Insel Verlag) 1956]

<S 1> Jean-Jacques Rousseau war vierundzwanzig, als das Schicksal ihn für immer mit Ohrensausen und Schwerhörigkeit heimsuchte. Er hatte ein bißchen Singen und Flötespielen gelernt und sich mit einiger Hochstapelei und entsprechend wechselndem Erfolg als Musiklehrer versucht. Jeder andere junge Mensch an seiner Stelle hätte den Verlust des feinen Gehörs nicht nur allgemein als Katastrophe im Hinblick auf sein Leben in Natur und Gesellschaft empfunden, sondern auch als Bedrohung einer Möglichkeit des Broterwerbs. Doch so weit dachte Rousseau nicht. Er glaubte sein Ende nah. Die vergeblichen Bemühungen eines Arztes und eine »völlige Schlaflosigkeit«[wie oben], die zu den Gehörserkrankungen hinzutrat, bestärkten ihn darin und überhoben ihn, wie er in seiner Autobiographie schreibt, »wenigstens eine Zeitlang aller Gesundungsversuche«. Rousseau gelang also, was die Schulmedizin, die für die meisten Erscheinungsformen von Ohrengeräuschen, für den sogenannten »Tinnitus«, bis heute keine Therapie zu bieten hat, den Betroffenen empfiehlt: sich mit den Symptomen abzufinden und sich dadurch von ihrem Leidensdruck zu befreien. Rousseau war sogar noch mehr beschieden: sein Leiden läuterte ihn: <S 2> »Dieses Leiden, das meinen Körper hätte töten müssen, tötete nur meine Leidenschaften, und so segne ich denn noch heute täglich den Himmel für die glückliche Wirkung, die es auf meine Seele übte. Wohl kann ich sagen, ich fing erst da zu leben an, als ich mich für einen toten Menschen hielt. Indem ich den Dingen, die ich verlassen mußte, ihren wahren Wert zuerteilte, fing ich an, mich um edlere zu kümmern […].«[wie oben], Musik 1: Jean-Jacques Rousseau: Textdichter: William Shakespeare Romance de Shakespeare, chantée par Desdemona dans Othello Rosemarie Bühler-Fey (Mezzosopran) Joachim Draheim (Klavier) Eigenproduktion des SWR

Page 3: Swr2-Essay-20150406 Von Tinnitus Bis Taubheit

2

<S 1> Vielleicht ist es hierauf zurückzuführen, daß der Mittfünfziger, den sein Tinnitus nach eigenen Worten »seit dreißig Jahren nie mehr auch nur für eine Minute verlassen hat[te]« [wie oben],, diese Behinderung auch im Zusammenhang mit Musik nie erwähnt hat. Musik blieb ein wichtiger Teil seines Lebens: er unterrichtete zeitweilig weiter, er arbeitete als Notenkopist, er entwickelte eine Musikschrift auf Zahlenbasis, er verfaßte musiktheoretische Abhandlungen und ein Dictionnaire de Musique. Vor allem: er komponierte, wohnte Proben und Aufführungen seiner trotz allen Dilettantismus zukunftsweisenden Opern und Singspiele bei und war dadurch mit der klingenden Wirklichkeit von Musik besonders eng befaßt. Das »feine Gehör« wird ihm gefehlt, das »Brausen« wird ihn gestört haben. Geklagt, so scheint es, hat er nie. Die Geschichte von Beethovens Ohrenleiden ist weithin bekannt. Die ersten Hörstörungen stellten sich bei ihm im Alter von sechsundzwanzig Jahren ein. Für den Zweiunddreißigjährigen waren sie so gravierend geworden, daß er sich mit Selbstmordgedanken trug und sein Testament machte – das berühmte Heiligenstädter Testament vom 6. Oktober 1802. Am genauesten beschrieben hat Beethoven die Krankheit und ihre sozialen Folgen in einem Brief, den er am 29. Juni 1801 an den Arzt Dr. Franz Gerhard Wegeler, einen Freund aus Bonner Tagen, schrieb: <S 2> »[D]er neidische Dämon, meine schlimme Gesundheit, [hat] mir einen schlechten Stein ins Brett geworfen nemlich: mein Gehör ist seit 3 Jahren immer schwächer geworden […]. [Und] meine ohren, die sausen und Brausen tag und Nacht fort; ich kann sagen, ich bringe mein Leben elend zu, seit 2 Jahren fast meide ich alle gesellschaften, weils mir nun nicht möglich ist, den Leuten zu sagen, ich bin Taub, hätte ich irgend ein anderes Fach, so giengs noch eher, aber in meinem Fach ist das ein schrecklicher Zustand […] um dir einen Begriff von dieser wunderbaren Taubheit zu geben, so sage ich dir, daß ich mich im Theater ganz dicht am Orchester gar anlehnen muß, um den schauspieler zu verstehen, die hohen Töne von Instrumenten [oder] singstimmen, wenn ich etwas weit weg bin höre ich nicht, im sprechen ist es zu verwundern daß es Leute giebt die es niemals merken, da ich meistens Zerstreuungen hatte, so hält man es dafür, manchmal auch hör ich den Redenden der leise spricht kaum, ja die Töne wohl, aber die worte nicht, und doch sobald jemand schreit, ist es mir unausstehlich«. [Ludwig van Beethoven, Briefwechsel Gesamtausgabe, hg. von Sieghard Brandenburg, Beethoven-Haus Bonn. Bd. 1, 1783-1807. München (Henle) 1996]

<S 1> 1814 war Beethoven auf dem rechten Ohr so gut wie taub. Eine Zeitlang machte er von einem Hörrohr Gebrauch, das Johann Nepomuk Mälzel, der Erfinder des Metronoms, für ihn konstruiert hatte. Von 1818 an konnte er Gespräche nur noch schriftlich, mit Hilfe der sogenannten Konversationshefte, führen. Was ihm blieb, war die Fähigkeit zu komponieren – eingeschränkt mit Sicherheit nicht qualitativ, sondern höchstens quantitativ. Selbst das ist fraglich: seine von Johann Friedrich Rochlitz überlieferte Äußerung, »er bringe sich nicht so leicht zum Schreiben, ihm graue vor dem Anfang großer Werke« « [Dieter Kerner, Krankheiten großer Musiker. Stuttgart (Schattauer) 1963], kann ihren Grund statt in der Angewiesenheit auf das Komponieren im Kopf auch in der enorm gewachsenen Schwierigkeit seiner selbstgestellten kompositorischen Aufgaben gehabt haben.

Page 4: Swr2-Essay-20150406 Von Tinnitus Bis Taubheit

3

Der Neurologe Oliver Sacks hat in seinem Buch Der einarmige Pianist: Über Musik und das Gehirn von Patienten berichtet, die ihn wegen musikalischer Pseudohalluzinationen konsultiert hatten, d. h. wegen Halluzinationen, die nicht psychotisch, sondern neurologisch bedingt waren. Ein australischer Geiger etwa habe ihm geschrieben: <S 2> »Um 1980 bemerkte ich die ersten Anzeichen eines Tinnitus, der sich als konstanter hoher Ton manifestierte, als hohes F. Im Laufe der nächsten Jahre veränderte der Tinnitus seine Tonhöhe mehrfach und wurde störender. Zu dieser Zeit litt ich unter starkem Hörverlust und Lautverzerrung im rechten Ohr. Im November 2001, während einer zweistündigen Bahnfahrt, löste die Diesellok ein entsetzlich mahlendes Geräusch in meinem Kopf aus, das noch einige Stunden nach Verlassen des Zuges anhielt. Während der nächsten Wochen hörte ich ständiges Mahlen. [… Dann] wurde das Mahlen durch musikalische Klänge ersetzt, die mich seither vierundzwanzig Stunden am Tag begleiten, wie eine Endlos-CD. […] Alle anderen Geräusche, das Mahlen, der Tinnitus, sind verschwunden.« .« [Oliver Sacks, Der einarmige Pianist: Über Musik und das Gehirn. Reinbek (Rowohlt) 2008] <S 1> Bei den besagten Klängen, so der Geiger, handle es sich meistens um »musikalische Hintergrundgeräusche, bedeutungslose musikalische Phrasen und Motive« [wie oben].. Doch manchmal beruhten sie auch auf dem Stück, das er gerade übe, und würden dieses kreativ verwandeln – aus einem Bachschen Violinsolo, an dem er arbeite, werde unter Umständen eine Halluzination, die von einem wunderbaren Orchester gespielt werde, und wenn das geschehe, folgten noch Variationen über die Themen. Bloße Muster könnten sich stundenlang wiederholen, sogar wenn er Geige spiele, so daß er gleichzeitig sein Spiel und die Halluzination höre. Erstaunlich, ja »ein Triumph des Willens und der Konzentration«, wie Sacks zurecht bemerkt, »daß [der Geiger] unter diesen Umständen weiterhin spielen und sogar auftreten [könne]«! Konzerte von Kollegen besuche er allerdings nicht mehr, da er die Erfahrung gemacht habe, »daß die Musik in [s]einem Kopf ungefähr genauso laut [sei] wie die auf der Bühne« [wie oben].. Der Ablösung von Tinnitus und anderen Geräuschen durch Musik war bei diesem Geiger, wie von ihm selbst erwähnt, ein »starker Hörverlust« vorausgegangen. Sacks sieht hier einen Zusammenhang, und zwar dergestalt, daß – allgemein gesprochen – die für das Hören zuständigen Hirnregionen anfangen, von selbst aktiv zu werden, wenn sie von den Ohren nicht mehr in normalem Umfang beschäftigt werden. Experimente, bei denen die Testpersonen viele Stunden lang in schalldichten Räumen ohne Geräuschquelle verbrachten, haben diesen Zusammenhang bestätigt: nach einiger Zeit glaubten die Testpersonen, Geräusche zu hören. Unterbeschäftigung der Hörrinde im Gehirn, zumeist also Hörverlust, ist Oliver Sacks zufolge aber keine Bedingung für musikalische Halluzinationen; ein Fünftel seiner einschlägigen Patienten hätten normales Hörvermögen. Dieses Faktum wirft vielleicht ein Licht auf die Halluzinationen musikalischer Art, von denen Robert Schumann im Februar 1854 vor seinem Sprung in den Rhein gequält wurde. Was, wenn bei Schumann neurologische von psychotischen Halluzinationen überlagert worden wären? Erstmals dokumentiert sind Störungen des Gehörs bei Schumann für das Jahr 1846. Am 4. März hält Clara in ihrem Notizbuch »beständiges Singen und Brausen im Ohr«

Page 5: Swr2-Essay-20150406 Von Tinnitus Bis Taubheit

4

[Berthold Litzmann, Clara Schumann: Ein Künstlerleben nach Tagebüchern und Briefen. Zweiter Band: Ehejahre 1840-1856. Leipzig (Breitkopf & Härtel) 1920] fest, von dem Robert ihr berichtet habe. Schumann selbst schreibt zwei Tage später ins Haushaltsbuch: »Abends merkwürdige Verstimmung des Gehörorgans«. [Robert Schumann, Tagebücher. Bd. 3: Haushaltbücher. Teil 1: 1837-1847, hg. von Gerd Nauhaus. Leipzig (Breitkopf & Härtel) 1982] Diese Irritationen scheinen sich dann wieder verloren zu haben – bis Schumann 1852 ständig einen bestimmten Ton, ein A, zu hören glaubte. Ein typischer Fall von Tinnitus? Dagegen mag der Realitätsverlust sprechen, der eindeutig aus einer Frage hervorgeht, die Schumann in einem Brief an Friedrich Hieronymus Truhn, einen früheren Korrespondenten der Neuen Zeitschrift für Musik, richtete: »Hören Sie auch immer [ein] A?« ?« [Wilhelm Joseph von Wasielewski, Robert Schumann: Eine Biographie. Bonn (Strauß) 1880] Trotzdem kann Schumanns A natürlich ein echter Tinnitus gewesen sein. Ende 1853 notierte Clara einen nächtlichen Anfall von »unnatürlichen Gehörsaffektionen« bei ihrem Mann, der zur Folge gehabt habe, daß er nicht schlafen konnte und sie auch nicht, denn es habe ihn »beängstigt«[Litzmann, Clara Schumann: Ein Künstlerleben nach Tagebüchern und Briefen. Zweiter Band: Ehejahre 1840-1856. Leipzig (Breitkopf & Härtel) 1920]. Die Krise begann am 10. Februar 1854 mit einem neuerlichen Anfall. Darüber und über die weitere Entwicklung Clara Schumann: <S 3> »Er hörte immer ein und denselben Ton und dazu zuweilen noch ein andres Intervall. Den Tag über legte es sich. Die Nacht auf Sonntag, den 12. war wieder eben so schlimm und der Tag auch, denn das Leiden blieb nur zwei Stunden am Morgen aus und stellte sich schon um 10 Uhr wieder ein. Mein armer Robert [litt] schrecklich! alles Geräusch [klang] ihm wie Musik! er sagt[e], es sei Musik so herrlich mit so wundervoll klingenden Instrumenten, wie man auf der Erde nie hörte! aber es [griff] ihn natürlich furchtbar an. Der Arzt sagt[e], er könne gar nichts tun. Die nächstfolgenden Nächte waren sehr schlimm – wir schliefen fast gar nicht. […] Den Tag über versuchte er zu arbeiten, doch es gelang ihm nur mit entsetzlicher Anstrengung. Er äußerte mehrmals, wenn das nicht aufhöre, müsse es seinen Geist zerstören. […] Die Gehörsaffektionen hatten sich [schließlich] so weit gesteigert, daß er ganze Stücke wie von einem vollen Orchester hörte, von Anfang bis zum Ende, und auf dem letzten Akkorde blieb der Klang, bis Robert die Gedanken auf ein andres Stück lenkte. Ach, und nichts konnte man tun zu seiner Erleichterung!« [Litzmann, Clara Schumann: Ein Künstlerleben nach Tagebüchern und Briefen. Zweiter Band: Ehejahre 1840-1856. Leipzig (Breitkopf & Härtel) 1920]

<S 1> Schumanns eigene Eintragungen im Haushaltsbuch lauten für den 10. Februar: <S 2>»Abends sehr starke u. peinliche Gehöraff[ec]tion«, <S 1> für den 11.: <S 2>»Traurige Nacht, Gehör= u. Kopfleiden«, <S 1>für den 12.:

Page 6: Swr2-Essay-20150406 Von Tinnitus Bis Taubheit

5

<S 2>»Noch schlimmer, aber auch wunderbar«, <S 1>für den 13.: <S 2>»Wunderbare Leiden«, <S 1>und für den 14.: <S 2>»Am Tage zieml[ich] verschont. Gegen Abend sehr stark, musiciren (Wunderschöne Musik)« [Robert Schumann, Tagebücher. Bd. 3: Haushaltbücher. Teil 1: 1837-1847, hg. von Gerd Nauhaus. Leipzig (Breitkopf & Härtel) 1982]. <S 1>Die Rede von der »Gehöraffection« und von »Gehör= u. Kopfleiden« spricht für ein neurologisches Krankheitsbild, und auch die übrigen Notizen Schumanns sind mit den Erfahrungen, die die geistesklaren Patienten von Oliver Sacks beschrieben haben, zumindest vereinbar. Für das, was Schumann drei Tage später zu vernehmen glaubte, gilt das nicht mehr. Clara hat davon wie folgt berichtet: <S 3> »Freitag, den 17. nachts, als wir nicht lange zu Bett waren, stand Robert wieder auf und schrieb ein Thema auf, welches, wie er sagte, ihm die Engel vorsangen; nachdem er es beendet, legte er sich nieder und phantasierte nun die ganze Nacht, immer mit offenen, zum Himmel aufgeschlagenen Blicken, er war des festen Glaubens, Engel umschweben ihn und machen ihm die herrlichsten Offenbarungen, alles das in wundervoller Musik; sie riefen uns Willkomm zu, und wir würden beide vereint, noch ehe das Jahr verflossen, bei ihnen sein. […] Der Morgen kam und mit ihm eine furchtbare Änderung! Die Engelstimmen verwandelten sich in Dämonenstimmen mit gräßlicher Musik; sie sagten ihm, er sei ein Sünder, und sie wollen ihn in die Hölle werfen, kurz, sein Zustand wuchs bis zu einem förmlichen Nervenparoxysmus; er schrie vor Schmerzen (denn wie er mir nachher sagte, waren sie in Gestalten von Tigern und Hyänen auf ihn losgestürzt, um ihn zu packen), und zwei Ärzte, die glücklicherweise schnell genug kamen, konnten ihn kaum halten.« [Litzmann, Clara Schumann: Ein Künstlerleben nach Tagebüchern und Briefen. Zweiter Band: Ehejahre 1840-1856. Leipzig (Breitkopf & Härtel) 1920]

<S 1> Die »gräßliche Musik« als solche, zunächst, könnte durchaus eine neurologische Ursache gehabt haben. Es ist keineswegs so, daß Patienten wie die von Oliver Sacks nur Musik pseudo-halluzinieren, die ihnen gefiele, wenn sie sie nicht hören müßten. Sacks berichtet von einem in den dreißiger Jahren aus Deutschland emigrierten Juden, der Jahrzehnte später im inneren Ohr von Marschliedern der Nazis heimgesucht wurde. [Oliver Sacks, Der einarmige Pianist: Über Musik und das Gehirn. Reinbek (Rowohlt) 2008] Wenn Schumann aber

»des festen Glaubens« war, Engel umschwebten ihn, dann war das auf jeden Fall Ausdruck einer Psychose und ein etwaiges neurologisches Phänomen von dieser Psychose überlagert worden. Nach dem 21. Februar war Schumann immerhin so weit bei Sinnen, daß er vier Variationen auf das Thema aus der Nacht vom 17. auf den 18. schreiben konnte. Dann, am 27., kam der mißlungene Suizidversuch – Schumann wurde aus dem Rhein gefischt. Am nächsten Tag schrieb er eine abschließende fünfte Variation. Die

Page 7: Swr2-Essay-20150406 Von Tinnitus Bis Taubheit

6

sogenannten »Geistervariationen« sind das letzte Werk, das Schumann vollendet hat. Musik 2: Robert Schumann: Nr. 5: (Grazioso) aus: Papillons. 12 Stücke für Klavier, op. 2 András Schiff (Klavier) ECM-Records (02516),Best.-Nr. 4763909 Seit 1994, seit der Veröffentlichung der lange verloren geglaubten Krankenakten Schumanns aus der privaten Nervenheilanstalt von Dr. Franz Richarz in Bonn-Endenich, ist bekannt, daß der Komponist sich eigenen Angaben zufolge 1831 mit Syphilis infiziert hatte und mit Arsenik »curirt« [Dagmar Hoffmann-Axthelm, Robert Schumann. Eine musikalisch-psychologische Studie. Stuttgart (Reclam) 2010] worden war. Schumanns Wahnvorstellungen und sein nachfolgender Verfall in der Anstalt werden seither auf Spätfolgen dieser Erkrankung, auf eine sogenannte Neurosyphilis des Zentralen Nervensystems, zurückgeführt. Denkbar, daß seine »Gehörsaffectionen« wie der persistente Ton A dieselbe Ursache hatten. Tinnitus und Hörstörungen können sich nämlich im dritten Stadium einer Neurosyphilis einstellen. Dieses Faktum hat den Spekulationen über Syphilis als Ursache von Beethovens Taubheit neue Nahrung gegeben. Und noch bei einem weiteren Komponisten, der das Gehör verlor, bei Bedřich Smetana, ist Neurosyphilis, wie immer auch spekulativ, diagnostiziert worden. Smetana war fünfzig, als er innerhalb eines Vierteljahres für den Rest seines Lebens auf beiden Ohren fast völlig ertaubte. Seine Leidenzeit begann im Juli 1874, als er, im Brotberuf Kapellmeister am Tschechischen Interimstheater in Prag, nach einer Probe bemerkte, daß die Töne der höheren Oktaven in dem einen Ohr, so wörtlich, »anders gestimmt« [Musikerbriefe: Smetana – Dvorák – Janácek. Ausgewählt von Alena Wagnerová zusammen mit Barbara Srámková. Aus dem Tschechischen von Alexandra Baumrucker, Silke Klein und Christa Rothmeier. München (DVA) 2004] waren als in dem anderen, wozu zeitweise belegte Ohren und Rauschen traten. Umfangreichere Chormusik, so Smetana wenig später in einem Brief an Antonin Čížek, den stellvertretenden Vorsitzenden des Theaterkonsortiums, verdichte sich ihm zu einem Knäuel, so daß er die einzelnen Stimmen nicht auseinanderhalten könne. [wie oben] Im Oktober verlor er zunächst das Gehör im rechten und dann am 20. des Monats plötzlich, mit einem Schlag, fast vollständig auch das Gehör im linken Ohr. Sieben Jahre später beschrieb er seinen Zustand in einem Brief an den Engländer John Finch Thorne wie folgt: <S 2> »Das Sausen und heftige Rauschen im Kopf, als stünde ich unter einem großen Wasserfall, ist bis heute geblieben und hält ohne Unterlaß Tag und Nacht an. Es wird stärker, wenn mein Gemüt bewegt ist, schwächer bei ruhigerer Stimmung. Beim Komponieren wird das Sausen heftiger. Ich höre einfach nichts, nicht einmal die eigene Stimme. Grelle deutliche Laute, wie zum Beispiel ein schreiendes Kind, einen bellenden Hund, […] höre ich ganz gut, kann aber nicht ausmachen, was für ein Laut das ist und woher er kommt. All das, wie auch menschliche Stimmen – bei Verwendung von Tonmaschinen und Kautschukröhren <bei Verwendung von Hörrohren> – höre ich nur mit dem linken Ohr, kann aber nichts unterscheiden.

Page 8: Swr2-Essay-20150406 Von Tinnitus Bis Taubheit

7

Sprechen kann man nicht mit mir, mein eigenes Klavierspiel höre ich ideell, in Wirklichkeit nicht. Andere spielen zu hören, selbst wenn es ein ganzes Orchester in der Oper oder in einem Konzert wäre, ist für mein Ohr eine Sache der Unmöglichkeit. [… Und d]as rechte Ohr ist für mich tot.« [wie oben] <S 1> Daß Smetanas kompositorische Arbeit durch das Sausen und Rauschen »im Kopf« aufs enervierendste behindert wurde, liegt auf der Hand. Schon nach einer Stunde trat zudem ein schwindelerregendes Augenflimmern hinzu, das Smetana zwang, vom Schreiben abzulassen und zu warten, bis sich alles wieder beruhigt hatte. Wie sehr aber das kreative »innere« Hören, das Hören in der Imagination, beeinträchtigt werden kann, wenn es nicht immer wieder durch äußeres Hören genährt wird, geht daraus hervor, daß sich Smetana Motive und Themen einer Komposition beim Weiterarbeiten immer wieder visuell vergegenwärtigen mußte – eine »grauenhaft umständliche« [wie oben] Arbeitsweise, wie er in einem Brief an Adolf Čech, seinen Nachfolger am Prager Interimstheater, schrieb. Der Verlust seines Gehörs habe auch seinem Gedächtnis geschadet: was er nie gehört habe, könne er sich aus der Erinnerung nicht vergegenwärtigen. [wie oben] Smetana, der als Schöpfer der tschechischen Nationalmusik gilt, hat seinem Ohrenleiden 1876 im Finale seines e-moll-Streichquartetts Gestalt verliehen, indem er dem Satz seinen Tinnituston inkorporierte. Das ganze Werk hat autobiographischen Charakter und trägt den programmatischen Titel »Aus meinem Leben«. Der vierte Satz beginnt dem Programm nach mit dem Ausdruck der Freude, so Smetana in Briefen an die Geiger Otokar Kopecky und August Krömpel, über die »Erkenntnis des Nationalbewußtseins in unserer schönen Kunst«, »über den in der nationalen Kunst schon gefundenen Weg« und über den »glücklichen Erfolg auf diesem Weg, bis schließlich der schrecklich klingende hohe Pfeifton in meinem Ohr ertönte«[wie oben]: <S 2> »Ich wurde nämlich vor Eintritt der völligen Taubheit viele Wochen lang zuvor immer des Abends zwischen 6 und 7 Uhr durch den starken Pfiff des As-Dur-Sextakkordes as es c in höchster Piccolo-Lage verfolgt, eine halbe, oft die ganze Stunde lang ununterbrochen, ohne daß ich mich davon in irgendeiner Weise hätte befreien können. Dies geschah regelmäßig täglich, gleichsam als warnender Mahnruf für die Zukunft. Ich habe daher die schreckliche Katastrophe in meinem Schicksal mit dem hellpfeifenden E im Finale zu schildern getrachtet.« [wie oben] <S 1> Smetana wurde also nicht nur von einem oder zwei, sondern gleich von drei Tinnitustönen, einem »Trinnitus« sozusagen, einem Tinnitusakkord, gequält. In seinem Quartettsatz geht dem eigentlichen, sechs Takte lang erklingenden Tinnitus-E der viergestrichenen Oktave in der ersten Violine fünfmal ein E der dreigestrichenen Oktave voraus: Musik 3: Bedrich Smetana: 4. Satz aus dem Streichquartett Nr. 1 e-Moll, JB 1:105 Bennewitz Quartett Coviello Classics (12403), Bestellnummer: COV 51004 <S 1> Wie dieses viergestrichene E zu verstehen ist, daran lassen die Unheil verkündenden Tremoli der drei tieferen Parts keinen Zweifel. In Schmerz und

Page 9: Swr2-Essay-20150406 Von Tinnitus Bis Taubheit

8

Hoffnungslosigkeit, nur kurz unterbrochen von einer scheuen Reminiszenz an bessere Zeiten, endet der Satz. Hören wir das Bennewitz-Quartett mit dem zweiten Teil. Musik 4: (s. Musik 3) <S 1> Wie Beethoven und Smetana aufs großartigste bewiesen haben, können ertaubte Musiker sehr wohl noch komponieren, weil Hören auch Hören in der Imagination sein kann, also die Funktionstüchtigkeit des Sinnesorgans Ohr nicht voraussetzt. Martin Heidegger hat dies einmal so formuliert: <S 2> »Wenn […] das menschliche Ohr stumpf wird, das heißt taub, dann kann es sein, daß, wie der Fall Beethoven zeigt, ein Mensch gleichwohl noch hört, vielleicht noch mehr hört und Größeres hört als zuvor.« [Martin Heidegger, Der Satz vom Grund. Pfullingen (Neske) 1957]

<S 1> Aber können ertaubte Musiker auch Musik machen, musizieren? Beethoven trat als Pianist zum letzten Mal zur Uraufführung des »Erzherzogstrios« op. 97 auf. Wir haben kein Zeugnis von diesem Konzert, aber Komponistenkollege Ludwig Spohr war bei einer Probe zugegen und hat berichtet: <S 2> »Ein Genuß war's nicht, denn erstlich stimmte das Pianoforte sehr schlecht, was Beethoven wenig bekümmerte, da er ohnehin nichts davon hörte, und zweitens war von der früher so bewunderten Virtuosität des Künstlers infolge seiner Taubheit fast gar nichts übriggeblieben. Im Forte schlug der arme Taube so darauf, daß die Saiten klirrten, und im Piano spielte er wieder so zart, daß ganze Tongruppen ausblieben, so daß man das Verständnis verlor, wenn man nicht zugleich in die Klavierstimme blicken konnte.« [Stephan Ley, Beethoven: Sein Leben in Selbstzeugnissen, Briefen und Berichten. Wien (Paul Neff Verlag) 1954]

Musik: 5 Ludwig van Beethoven: Die Weihe des Hauses. Ouvertüre für Orchester, op. 124 Allegro e sostenuto - Allegro con brio ( 09.51 ) Orchester: New York Philharmonic Orchestra Leitung: Leonard Bernstein CBS (00149) Bestellnummer: MK 42222 EAN: 5099704222226

<S 1> Als Dirigent setzte sich Beethoven noch zehn weitere Jahre gelegentlich für seine Werke ein, das letzte Mal am 7. Mai 1824. Im Rahmen einer »Großen musikalischen Akademie« wurden die Ouvertüre Die Weihe des Hauses, drei Sätze aus der Missa solemnis und die 9. Symphonie uraufgeführt. Beethoven hatte sich klugerweise damit einverstanden erklärt, daß für alle Fälle ein »assistierender« Dirigent namens Michael Umlauf hinter ihm stehen würde. Der Geiger Böhm, ein Mitglied des Orchesters, erinnerte sich an das Konzert wie folgt:

Page 10: Swr2-Essay-20150406 Von Tinnitus Bis Taubheit

9

<S 2> »Beethoven dirigirte selbst, d. h. er stand vor einem Dirigentenpulte und fuhr wie ein Wahnsinniger hin und her. Bald streckte er sich hoch empor, bald kauerte er bis zur Erde, er schlug mit Händen und Füßen herum, als wollte er allein die sämtlichen Instrumente spielen, den ganzen Chor singen. – Die eigentliche Leitung war in [Umlaufs] Hand, wir Musiker sahen bloß auf dessen Taktstock. – Beethoven war so aufgeregt, daß er nichts sah, was um ihn vorging, daß er auf den Beifallssturm, den er freilich bei seiner Gehörschwäche kaum hören konnte, auch nicht einmal achtete. – Man mußte es ihm immer sagen, wenn es an der Zeit war, dem Publikum für den gespendeten Beifall zu danken, was Beethoven in linkischster Weise that.« .« [Alexander Wheelock Thayer, Ludwig van Beethovens Leben. Bd. V. Leipzig (Breitkopf & Härtel) 1923]

<S 1> Natürlich hätte auch ein allein dirigierender Beethoven im großen und ganzen sehen können, wie das Orchester reagierte, aber er hätte das Spiel der Musiker etwa in puncto Dynamik nicht korrigieren können. Als Pianist hatte er einst einen hochdifferenzierten Anschlag besessen. Doch beim Pianissimospiel zu erfühlen, ob die Saiten überhaupt ansprechen, dürfte für einen hochgradig Schwerhörigen oder gar Ertaubten aufgrund der komplizierten Mechanik des Klaviers fast unmöglich sein. Rührend Beethovens Versuch der Selbsthilfe, die Resonanzen und Vibrationen seines Erard-Flügels durch Verwendung eines langen Holzstabs besser wahrzunehmen: das eine Ende des Stabs ruhte auf dem Resonanzboden auf, das andere hielt Beethoven mit den Zähnen fest, was ihm ein minimales Resthörvermögen für sogenannte »Fühlwerte« von bis zu 500 Hz verschaffte. [Die Frage, inwieweit es in der Vergangenheit zumindest unter Amateuren Musizierpraxis stark Schwerhöriger oder Ertaubter gegeben hat, wäre eine Untersuchung wert. Daß es in der Gegenwart höchst beeindruckende Beispiele für solche Praxis gibt, und zwar sowohl unter Amateuren als auch unter professionellen Musikern, dürfte auf die verbesserten sozialen Verhältnisse in der ersten und zweiten Welt sowie auf die dadurch gewachsene Sensibilität für die Bedürfnisse Behinderter und die Bereitschaft, ihnen so viel Teilhabe am »normalen« Leben wie möglich zu verschaffen, zurückzuführen sein.] Die 1988 in Cincinnati geborene Mandy Harvey hatte seit früher Kindheit Probleme mit dem Gehör, die sie jedoch nicht daran hinderten, im Schulchor zu singen und Gesangsunterricht zu nehmen. Nach dem Besuch der Highschool schrieb sie sich 2006 an der Colorado State University in Fort Collins für den Studiengang Gesangspädagogik ein, mußte jedoch im ersten Semester feststellen, daß sie zunehmend Schwierigkeiten hatte, ihre Lehrer zu verstehen. Ein Hörgerät half nur einen Monat lang, und ein Jahr später hatte Mandy Harvey den Rest ihres Gehörs verloren. Völlig am Boden zerstört verließ sie die Universität und zog wieder bei ihren Eltern ein. Gemeinsames Gitarrespiel mit ihrem Vater ein weiteres Jahr später verhalf ihr zu der Erkenntnis: »Das geht ja, das kann ich!«, worauf sie beschloß, bei ihrer ehemaligen Lehrerin wieder Gesangsunterricht zu nehmen. Deren Befürchtung, sie mache sich falsche Hoffnungen, war nicht ganz unbegründet, denn Mandy Harvey hatte und hat zwar das absolute Gehör, aber das absolute Gehör basiert auf Erinnerung, die bei hörenden Musikern permanent aufgefrischt wird. Und präzise Intonation mit der Stimme oder, für Gehörlose völlig unmöglich, auf einem

Page 11: Swr2-Essay-20150406 Von Tinnitus Bis Taubheit

10

Streichinstrument ist natürlich etwas anderes als etwa das Anschlagen einer Taste auf dem Klavier: ist das Klavier gestimmt, dann stimmt zumindest die Tonhöhe. Da Mandy Harvey auf die Gehörskontrolle verzichten muß, ist sie auf die erinnerte Klangvorstellung und das Muskelgedächtnis angewiesen; beides stärkt sie, indem sie ihre Parts am Klavier einübt – durch die Assoziation von Taste und Ton. Mandy Harvey singt Jazz. 2008 begann sie, gemeinsam mit dem Pianisten Mark Sloniker einmal wöchentlich in Jay's Bistro, einem Restaurant in Fort Collins, aufzutreten. Um nicht vorauszueilen oder hinterherzuhinken, schaut sie ihm auf die Finger. Wirken weitere Musiker mit, so spürt sie den Schlagzeugpart in den Füßen, den Baß in der Brust und ein Saxophon im Arm. »Man ordnet«, erläutert sie, »den Instrumenten einfach verschiedene Teile des Körpers zu und kann sich dann darauf konzentrieren, wer wann was spielt.« 2009 erschien ihre erste CD, eine Anthologie von Klassikern mit dem Titel Smile, 2010 folgte ihre zweite, 2014 ihre dritte. Hören wir Mandy Harvey mit einem Song von Frederick Loewe und Alan Jay Lerner: »Almost Like Being in Love«. Es begleiten Mark Sloniker, Klavier, Erik Applegate, Baß, Mark Raynes, Schlagzeug, und Andrew Vogt, Saxophon. Musik 6: Frederick Loewe / Alan Jay Lerner : »Almost Like Being in Love« Mandy Harvey Mark Sloniker (Klavier) Erik Applegate (Baß) Mark Raynes (Schlagzeug) Andrew Vogt (Saxophon) Twist and Shout Records, o.Nr.

<S 1> Die schottische Perkussionistin Evelyn Glennie, Jahrgang 1965, ist seit ihrem zwölften Lebensjahr fast gehörlos. Bis dahin hatte sie Klavierunterricht gehabt, wobei sich herausgestellt hatte, daß sie das absolute Gehör besaß. Jetzt wollte sie Schlagzeug bzw. Schlagwerk, also Perkussionsinstrumente der verschiedensten Art, spielen lernen, weil die Tonerzeugung bei diesen Instrumenten unmittelbarer erfolgt als beim Klavier und weil das Spektrum der im Körper ausgelösten taktilen Wahrnehmungen breiter ist als bei Blas-, Streich- und Tasteninstrumenten. Da Evelyn Glennie nicht taub geboren wurde, sondern ihr Gehör erst vom achten Lebensjahr an nach und nach verlor, hat sie ganz normal sprechen gelernt. [Heute unterhält sie sich mit anderen, indem sie spricht und die Worte ihrer Gesprächspartner von deren Lippen abliest. Sie führt aber nicht nur Gespräche, sondern sie hält auch Vorträge.] Wir werden sie gleich in einem Vortrag aus dem Jahr 2003 hören, in dem sie über die wahre Kunst des Hörens spricht. Sie werden vermutlich staunen, daß die damals fünfundzwanzig Jahre gehörlosen Sprechens bei dieser Hochbegabten nur zu einigen wenigen, minimalen phonetischen Verschiebungen geführt haben – sofern es sich bei diesen mutmaßlichen Verschiebungen nicht überhaupt um Eigenheiten des schottischen Englisch handelt. Hören wir Evelyn Glennie also über ihre Anfänge am Schlagwerk: Evelyn Glennie: How to truly listen (Exzerpt), 1'24; darüber, nach den ersten Worten, Übersetzung:>

Page 12: Swr2-Essay-20150406 Von Tinnitus Bis Taubheit

11

<S 3> »Ich weiß noch: als ich zwölf Jahre alt war und lernen wollte, Pauke und Schlagwerk zu spielen, fragte mein zukünftiger Lehrer: ›Wie soll das gehen? Musik hat etwas mit Hören zu tun.‹ Ich erwiderte: ›Gewiß. Aber wo liegt das Problem?‹ Darauf er: ›Wie hörst du – dies? Wie hörst du – das?‹ Ich fragte ihn: ›Wie hören Sie das denn?‹ Er antwortete: ›Ich höre es mit den Ohren.‹ Worauf ich sagte: ›Ich auch. Aber ich höre es auch mit den Händen, mit den Armen, mit den Wangenknochen, mit der Kopfhaut, mit dem Bauch, mit der Brust, mit den Beinen und so weiter.‹ Wir begannen die Unterrichtsstunden jedesmal damit, daß wir zwei Pauken auf kleine Intervalle stimmten, zuerst auf eine kleine Terz: <schlägt auf der Marimba zweimal eine kleine Terz an>, dann auf eine große Sekunde <schlägt sie zweimal an>, schließlich auf eine kleine Sekunde <schlägt sie zweimal an>. Es ist unglaublich: wenn man sich öffnet, wenn man den Körper öffnet, die Hand öffnet, damit eine Schwingung fühlbar werden kann, dann ist der kleinste Tonhöhenunterschied im kleinsten Fingerglied zu spüren.« [Evelyn Glennie, How to truly listen. Sonstige Aufnahme]

<S 1> Evelyn Glennie hat dieses Stimmen der Pauken in dem Film Touch the Sound genauer beschrieben: es war ihr Lehrer, der die Instrumente stimmte, während sie die Hände an eine Wand des Übungsraumes legte und ihren Körper auf diese Weise für die Unterschiede zwischen den Schwingungen sensibilisierte, die den verschiedenen Tonhöhen von Pauken entsprechen. Nun spielt Evelyn Glennie natürlich nicht mit den Händen an der Wand, und sie spielt nicht nur Pauken, die ja jeweils nur auf einen Ton, und zwar in einem Bereich von nur zwei Oktaven – vom großen Des bis zum eingestrichenen d – gestimmt werden können. Wenn wir davon ausgehen, daß die Töne, die sie ihren Instrumenten und Klangquellen jeglicher Art in den großenteils modernen, zum Teil avantgardistischen Stücken ihres Repertoires entlockt, mehr oder minder den gesamten Bereich des vom menschlichen Ohr Vernehmbaren abdecken, dann stellt sich die Frage, ob auch höhere Frequenzen überhaupt als Vibration wahrgenommen werden können. Evelyn Glennie ist davon überzeugt: <S 3> »Warum können wir die Vibrationen hoher Frequenzen nicht genauso fühlen wie die Vibrationen niedriger Frequenzen? Ich glaube, daß wir das sehr wohl können. Es ist nur so, daß die Ohren in einem bestimmten Bereich umso effizienter sind, je höher die Frequenzen sind, und daß sie dann das subtilere Vermögen, Vibrationen zu fühlen, statt sie zu hören, überlagern.« [wie oben] <S 1> Bestätigt wird diese These durch eine Untersuchung der Musik- und Bewegungspädagogin Ulrike Stelzhammer-Reichhardt, die gezeigt hat, daß selbst Ultraschall mit Frequenzen deutlich über den etwa 20.000 Hz des dem menschlichen Ohr vernehmbaren Hörschalls vom Gehirn registriert wird. Interessanterweise erwies sich eine Gruppe Gehörloser oder hochgradig Schwerhöriger bei dieser

Untersuchung als sensibler für die Ultraschallsignale als eine Kontrollgruppe normal Hörender . [Ulrike Stelzhammer-Reichhardt, "Schläft ein Lied in allen Dingen..."

Musikwahrnehmung und Spiellieder bei Schwerhörigkeit und Gehörlosigkeit.

Wiesbaden (Reichert) 2008]. Da Detailergebnisse darauf schließen lassen, daß Ul-traschall nicht über den Weg der Hörbahn aufgenommen wird, scheint es so zu sein, daß durch den Ausfall des Hörorgans andere Wahrnehmungskanäle stärker aktiviert werden.

Page 13: Swr2-Essay-20150406 Von Tinnitus Bis Taubheit

12

Kein Wunder nach all dem, daß hochgradig Schwerhörige oder Gehörlose, die Musik machen, akustische Instrumente wie das Klavier elektronischen Instrumenten wie dem Keyboard vorziehen. Der im Alter von acht Jahren ertaubte Organist und Pianist Paul Whittaker sagt dazu: egal, welche Taste man auf einem Keyboard anschlage, das »Gefühl« sei immer das gleiche. Was vermutlich nicht nur an der geringeren Anschlagsvibration bei elektronischen Instrumenten liegt, sondern auch am ärmeren Klangspektrum, am Mangel an Obertönen, auch aus dem Ultraschallbereich. Als besonders reich an Ultraschallfrequenzen gelten zum einen Streichinstrumente, weil bei ihnen die Töne durch Reibung erzeugt werden, zum anderen die Gongs und Trommeln der Gamelanmusik, überhaupt die Instrumente der Schlagwerkgruppe, auf die sich Evelyn Glennie nicht von ungefähr spezialisiert hat. Dennoch, wenn wir bedenken, daß beispielsweise jede Marimba – ihr Lieblingsinstrument – sich im Klang von jeder anderen Marimba unterscheidet, so wie kein Klavier dem anderen gleicht, und daß jeder Konzertsaal und jedes Aufnahmestudio seine eigene Akustik hat: ist es wirklich vorstellbar, daß der Leib zu einem, wie sie es nennt: »Resonanzkörper« ausgebildet werden kann, der all diese Unterschiede bewußt wahrzunehmen in der Lage ist? Aber vermutlich muß er das gar nicht: vergessen wir nicht, daß Evelyn Glennie einst normal gehört hat, ja daß sie das absolute Gehör besitzt. Sie kann sich also vorstellen, wie ein notiertes Stück klingt, und ihre Performance, wenn sie dieses Stück spielt, durch die Schwingungen, die sie im Körper spürt, kontrollieren, ja sie als durch diese Schwingungen bereichert empfinden. Und eine Improvisation oder ein neues eigenes Stück kann sie im inneren Ohr so hören, wie der ertaubte Beethoven eine neue Komposition gehört hat. Wie aber spielt sie mit anderen Musikern zusammen? Die taktilen Schwingungen zu ordnen, die von anderen Instrumenten ausgehen, damit dürfte der »Resonanzkörper« ihres Leibs erst recht überfordert sein. Nun, sie orientiert sich an dem, was sie sieht. Wo ein Dirigent die Aufführung leitet, ist das am einfachsten. Wo kein Dirigent das Zusammenspiel organisiert, geht sie so vor, wie sie es in ihrer Autobiographie Good Vibrations am Beispiel von Bartóks Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug beschrieben hat: sie lernt zunächst, soweit möglich, alle Parts, nicht nur ihren eigenen, und versucht dann ihre Instrumente in den Proben und in der Aufführung so zu placieren, daß sie vom Spiel ihrer Mitspieler so viel wie möglich sehen kann. Im Fall der Bartók-Sonate war es für sie wichtig, vor allem die Klaviatur und das Innere des einen der beiden Flügel sowie den zweiten Perkussionisten im Blick zu haben [Evelyn Glennie, Good Vibrations. London (Arrow Books) 1989]. Offenbar ein erfolgreiches Konzept: die Schallplattenaufnahme, die sie 1988 gemeinsam mit Murray Perahia, Georg Solti und David Corkhill gemacht hat, wurde mit einem »Grammy« ausgezeichnet. Dennoch: Sie werden sich längst gefragt haben, warum Evelyn Glennie nicht seit ihren Anfängen am Schlagwerkinstrumentarium mit Hörgerät spielt. Nun, sie hat das in der Tat versucht, ließ sich dann aber von ihrem Lehrer überreden, das Gerät auszuschalten, weil es ausnahmslos alle Laute verstärkte, so daß ein Hörchaos entstand, und weil es die Klangqualität nicht verbesserte. Sie aber, so Glennie, »brauchte reine Töne, nicht Lautstärke«. Da Evelyn Glennie intakte Hörnerven hatte, wären für sie prinzipiell auch sogenannte Cochlea-Implantate in Frage gekommen. Diese Hörprothesen bestehen aus zwei Teilen: aus dem eigentlichen Implantat, das operativ hinter dem Ohr unter der Haut im Knochenbett eingesetzt wird, und einem Prozessor, der wie ein Hörgerät hinter dem Ohr getragen wird. Cochlea-Implantate wandeln Schall in elektrische Impulse um, durch die der Hörnerv im Innenohr, genauer in der Hörschnecke (griechisch

Page 14: Swr2-Essay-20150406 Von Tinnitus Bis Taubheit

13

kochlea), stimuliert wird. So können Laute wieder wahrgenommen werden. Ein Problem bei diesen Prothesen ist, daß sie für Sprache optimiert sind, das heißt für den relativ kleinen Frequenzbereich, in dem normalerweise gesprochen wird, während Musik von einem wesentlich größeren Frequenzbereich Gebrauch macht. Gravierender ist, daß Trägern von Cochlea-Implantaten die Unterscheidung von Tonhöhen wesentlich schwerer fällt als normal Hörenden. Während die meisten Menschen mit normalem Hörvermögen bei Halbtonintervallen angeben können, welches der höhere Ton ist, können Träger von Cochlea-Implantaten dies im Durchschnitt nur bei Intervallen, die größer sind als sieben Halbtöne, also eine Quinte. Melodien kann man mit einem derart eingeschränkten Hörvermögen kaum erkennen. Das Institut für Schallforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften hat zu simulieren versucht, wie sich Musik für Patienten anhört, die ihr Implantat gerade erst bekommen haben. Würden Sie diese Melodie erkennen?: Musik 7: Felix Mendelssohn Bartholdy: Hochzeitsmarsch aus: „Ein Sommernachtstraum“ op. 21 und op. 61 (Cochlea-Version) Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR Leitung: Marc Albrecht Eigenproduktion des SWR <S 1> Das waren, melodisch bis fast zur Unkenntlichkeit verfremdet, die ersten Takte des »Hochzeitsmarsches« von Felix Mendelssohn-Bartholdy: Musik 8: Mendelssohn, »Hochzeitsmarsch« (Original-Version) (s. Musik 6) <S 1> Hier noch einmal diese Takte, wie sie durch ein frisch eingesetztes Cochlea-Implantat klingen mögen: Musik 9: Mendelssohn, »Hochzeitsmarsch« (Cochlea-Version) (s. Musik 6) <S 1> Die Teilnehmer eines von der University of Iowa und der University of Washington entwickelten ähnlichen Tests hatten es zugleich leichter und schwerer: leichter, weil sie, allesamt Träger eines Cochlea-Implantats, sich an die Prothese schon länger hatten gewöhnen können, schwerer, weil der Test die insgesamt zwölf zu erkennenden einfachen Melodien wie »Frère Jacques«, »Happy Birthday« und »Jingle Bells« auf das melodische Element eliminierte. Die Teilnehmer bekamen also jeweils gleich lange Töne ohne Text zu hören. Der amerikanische Autor Michael Chorost <sprich: Korrest>, Implantatträger seit 2001, unterzog sich diesem Test im Jahr 2008 und erreichte eine Quote von 20 Prozent. In einem Artikel hat er von dem tauben Profimusiker John Redden berichtet, der selbst mit einem veralteten Modell auf 100 Prozent kam. [Michael Chorost, Taube Musikgenies. Technology Review

10.3.2008] Evelyn Glennie würde vermutlich einen ähnlich hohen Wert erreichen. Aber für sie kam diese Erfindung zu spät. Als die ersten Modelle in Europa implantiert wurden,

Page 15: Swr2-Essay-20150406 Von Tinnitus Bis Taubheit

14

Anfang/der achtziger Jahre, hatte sie bereits ihren eigenen Weg gefunden. Inzwischen fokussiert sich die technische Entwicklung auf Implantate, die nicht nur Sprachverstehen, sondern auch besseres Musikhören erlauben sollen. Selbst Patienten mit degeneriertem Hörnerv haben Grund zur Hoffnung: für sie wurden Hirnstammimplantate entwickelt, die das Gehirn direkt stimulieren – der Hörnerv wird nicht gebraucht. Hören wir zum Schluss Evelyn Glennie als Solistin im ersten Satz des Konzerts für Marimba und Streichorchester von Ney Rosauro. Paul Daniel dirigiert das Scottish Chamber Orchestra. Musik 10: Ney Rosauro: 1. Satz aus dem Konzert für Marimba und Streichorchester Evelyn Glennie Scottish Chamber Orchestra Leitung: Paul Daniel RCA Deutschland (30393), 09026 61277 * * *