Takashi Hiraide Der Gast im Garten Roman - … · Fenster aus. Es war das gleiche ... lichen...

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Mit Bildern von Quint Buchholz INSEL Takashi Hiraide Der Gast im Garten Roman

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Mit Bildern von Quint Buchholz

Insel

Takashi Hiraide Der Gast im Garten

Roman

Takashi HiraideDer Gast im Garten

Roman

Aus dem Japanischen von Ursula GräfeMit Bildern von Quint Buchholz

Insel Verlag

Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel Kyaku no nekobei Kawade, Tokio.

Erste Auflage 2015© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2015

© 2001 Takashi HiraideAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das desöffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Illustrationen: © Quint Buchholz, MünchenUmschlaggestaltung: Hißmann, Heilmann, HamburgSatz: Satz-Offizin Hümmer GmbH,Waldbüttelbrunn

Druck: Pustet, RegensburgPrinted in Germany

ISBN 978-3-458-17626-8

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Zuerst sah es aus wie Wolkenfetzen, die auf der Stelleschwebten. Dann schien der Wind sie bald nach rechts,bald nach links zu wehen.Das kleine Küchenfenster lag so dicht an dem hohen Bret-terzaun, dass niemand durch den Zwischenraum passte,und das Milchglas wirkte von innen wie eine von hintenbeleuchtete Kinoleinwand. Der Zaun hatte ein kleinesAstloch, das das Grün der Hecke auf der anderen Seiteder etwa drei Meter breiten Gasse hinter dem Zaun dar-auf projizierte.Ging jemand durch die Gasse, füllte sein Bild das gesamteFenster aus. Es war das gleiche Prinzip wie bei einer Ca-mera obscura – wenn man aus der dunklen Küche aufdas Milchglas schaute, sah man die Menschen draußenvorübergehen, nur verkehrt herum. Und nicht nur das,ihre Schatten bewegten sich auch entgegen ihrer eigent-lichen Laufrichtung. War der Passant direkt vor dem Ast-loch, wurde seine Gestalt plötzlich riesengroß, um sichdann – kaum war er vorbei – zu verflüchtigen wie eineLuftspiegelung.Doch das Wolkenbild an jenem Tag machte keinerlei An-stalten vorbeizuziehen. Und auch als es direkt in derFlucht des Astlochs stand, vergrößerte sich sein Umfangnicht wesentlich. An dem Punkt, an dem es seine größteAusdehnung hätte haben müssen, blieb das Bild im oberen

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Teil des Fensters nur handtellergroß. Das Wolkenknäuelwaberte zögernd auf der Stelle, und ein leises Maunzen er-tönte.Um zu unserem Haus zu gelangen, fuhr man von Shinjukumit einem Vorortzug ungefähr zwanzig Minuten in Rich-tung Südwesten bis zu einem kleinen Bahnhof, an dem kei-ne Expresszüge hielten. Nach etwa zehn Minuten Fußwegerreichte man eine leichte Steigung, die einen Hügel hin-aufführte. Nachdem man die einzige – in westöstlicherRichtung verlaufende – Hauptverkehrsstraße überquerthatte, ging es einen breiten sanften Hang hinunter. Nachetwa siebzig Metern erschien auf der linken Seite ein An-wesen mit einem altmodischen Tor und einer Lehmmau-er, deren unterer Teil mit Bambuslatten verkleidet warund die zur Linken in den einfachen Bretterzaun über-ging, an dem die Gasse verlief.Das Haus, das wir gemietet hatten,war eigentlich der Gar-ten- und Teepavillon des ausgedehnten, von Lehmmauerund Zaun umgebenen Anwesens. Etwa in der Mitte desZauns befand sich eine kleine Holzpforte, die der altenDame, der das Haus gehörte, und uns als Seiteneingangdiente. Gleich neben diesem Törchen spähte das Astlochaus dem Zaun hervor wie ein unbemerktes Auge.Wer, nicht ahnend, wie deutlich er auf unser Fenster hin-ter dem Zaun projiziert wurde, daran vorbeiging, gelang-te an eine von links in die Gasse ragende Backsteinmauer,hinter der sie eine scharfe Biegung nach rechts vollzogund unversehens auf ein vom dichten Blattwerk eines rie-

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sigen Keyakibaums beschirmtes Haus stieß. Hier bog dieGasse wieder scharf nach links ab. Wir nannten diesesgezackte Wegstück Blitzgasse, weil es uns an die gängigebildliche Darstellung von Blitzen erinnerte.Der Keyaki, der seinen Schatten auf die Gasse warf, waruralt, und der Magistrat hatte ihn gewiss längst unterSchutz gestellt. Er musste schon dort gestanden haben,als das Haus der Nachbarn gebaut wurde, denn man hatteseine Einfriedung für ihn miteingeplant.Seine gewaltige Krone spendete ihren segensreichen Schat-ten auch dem östlichen Teil des Gartens unserer Vermie-ter und damit unserem Gartenhaus. Im Herbst lag dortalles voller Blätter, sodass die alte Dame gar nicht ausdem Seufzen herauskam.Ein paar Tage nachdem die streunende Katze sich in dieBlitzgasse verirrt hatte, beschloss der fünfjährige Jungeaus dem Haus mit dem Keyakibaum, sie zu adoptieren.Seine Eltern waren zwar unsere direkten Nachbarn imOsten, aber die Windungen der Blitzgasse verhinderten,dass wir einander begegneten. Zudem hatte ihr Haus, woes an unseren Garten grenzte, nur ein kleines Abzugsfens-ter. Vielleicht betrachteten sie uns nicht einmal als voll-wertige Nachbarn, weil wir nur das Gartenhaus gemietethatten.Die helle Kinderstimme des Jungen tönte häufig zu mirherüber. Aber da ich bis spät in die Nacht am Schreibtischsaß, war unser Tagesablauf sehr verschieden, und ich sahihn fast nie.

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Eines Morgens jedoch – ich nahm gerade ein spätes Früh-stück ein – kam er an den Zaun. »Ich behalte jetzt die Kat-ze«, rief er laut und deutlich zu mir herüber.Ein paar Tage später streifte die Katze durch unseren klei-nen Garten am Pavillon, der gerade groß genug war, umWäsche aufzuhängen, und ich hörte ihn nach ihr rufen.Ich musste lächeln. Im Nachhinein betrachtet, verpassteich wohl damals die Gelegenheit, Freundschaft mit ihmzu schließen.

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Offenbar hatte die alte Dame aus dem Haupthaus dieselbstbewusste Ankündigung des kleinen Jungen auch ver-nommen, denn am selben Abend hörten wir, wie sie mitder Nachbarin sprach.»Sie haben also jetzt eine Katze?«, fragte sie vorwurfsvollmit scharfer, klarer Stimme. »Das ist wirklich zu viel fürmich.« Dann folgte eine eintönige Klage, wie die Katzen,die sich überall auf ihrem Grundstück herumtrieben, denGarten verwüsteten, Getöse auf dem Dach veranstaltetenund mitunter sogar schmutzige Tapser auf den Tatamihinterließen. Die junge Frau von nebenan hörte sich dieVorhaltungen der Achtzigjährigen geduldig an und ant-wortete leise und höflich, ließ sich aber nicht einschüch-tern. Der kleine Junge stand vermutlich aufgeregt hinterihr und hoffte, seine Katze behalten zu dürfen. Am Endemusste sich die alte Dame geschlagen geben.Mir fiel ein, dass der Mietvertrag für das Gartenhaus, denwir zwei Jahre zuvor unterschrieben hatten, eine Klau-sel enthielt, nach der Kinder und Haustiere untersagt wa-ren.Wir hatten zwar schon die Mitte dreißig überschritten,wünschten uns aber kein Kind. Auch an einem Haustierhatten wir kein Interesse. Wir waren beide berufstätigund hatten nie auch nur darüber gesprochen, uns einenHund oder eine Katze anzuschaffen. Nach den Kriterien

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der alten Dame waren wir vermutlich die idealen Mie-ter.Zu unserem engeren Freundeskreis gehörten einige pas-sionierte Katzenliebhaber, die uns mit ihrer zur Schau ge-stellten Zuneigung oft befremdeten. Mitunter überschüt-teten sie die Tiere mit hingebungsvoller Zärtlichkeit, ohnesich der Peinlichkeit ihres Verhaltens bewusst zu sein.Wohlgemerkt, ich hatte keine Abneigung gegen Katzen,nur Vorbehalte gegenüber sogenannten Katzenliebhabern.Allerdings hatte es bisher in meinem Umfeld nie eine Kat-ze gegeben.Als Kind hatte ich einmal einen Hund. Meine Beziehungzu ihm war unkompliziert und natürlich, und ich hattedie Hierarchie, die sich über die Leine zwischen dem,der führte und dem, der gehorchte, übertrug, als befrei-end empfunden.Ich war damals ungefähr im gleichen Alter wie der Nach-barsjunge, und wir wohnten in einem winzigen Holzhausin einer Siedlung für städtische Angestellte. Doch kaumhatte ich den Welpen bekommen,wurde er mir auch schonwieder gestohlen. Ich glaube, es war an einem Samstag-oder Sonntagnachmittag. Als Erster bemerkte mein Vater,dass der im Flur angebundene Spitz verschwunden war.»Hundediebe«, flüsterte er sofort und rannte mit mir ausdem Haus. Wir suchten überall, aber weder von demHund noch von einem Dieb war etwas zu sehen. Ich spür-te damals, dass ich meinen Vater lieber nicht nach demWort »Hundediebe« fragen sollte, das ihm entschlüpft

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war. An dieses Gefühl erinnerte ich mich noch ganz deut-lich. Meiner älteren Schwester zufolge hatte ich die ganzeNacht geweint, aber das wusste ich nicht mehr.Wir hatten zwar keine besondere Vorliebe für Katzen,aber dennoch kannte meine Frau sich erstaunlich gut mitihnen aus, wie überhaupt mit allen Tieren.Schon als Kind hatte sie mit ihrem älteren Bruder Fluss-krebse und Salamander gefangen und in einem Terrariumgehalten. Sie hatten sogar alle möglichen Schmetterlings-arten in ihrem Zimmer schlüpfen und umherflattern las-sen, Prachtfinken und Kanarienvögel gehabt, Küken undaus dem Nest gefallene Spatzenjungen aufgezogen undverletzte Fledermäuse gesund gepflegt.Bei jeder Tiersendung, die wir im Fernsehen sahen, konn-te meine Frau die ausgefallensten Arten in den fernstenLändern beim Namen nennen. Wenn ich also sage, keinervon uns hätte eine besondere Vorliebe für Katzen, so wardas bei mir, ihrem Mann, doch etwas ganz anderes.Als die Nachbarn die kleine Katze zu sich nahmen, bekamsie ein zinnoberrotes Halsband mit einem Glöckchen undtauchte nun des Öfteren auch in unserem Garten auf.Der Garten des Haupthauses und unserer waren ursprüng-lich eins gewesen und jetzt nur durch einen einfachenBretterzaun getrennt. Der große Garten mit seinen Bäu-men, dem künstlichen Hügel, dem Teich und den Blumen-beeten schien der Katze sehr zu gefallen. Und nachdem siezuerst den kleinen Garten um unser Haus erforscht hatte,durchstreifte sie nun die Weiten des großen.

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Stand unsere Tür offen, warf sie auf ihrem Hin- oderRückweg stets einen Blick in unser Haus. Sie war nichtscheu, aber von Natur aus sehr vorsichtig. Sie schautemit aufgestelltem Schwanz ruhig ins Haus, kam aber niehinein. Machte ich Anstalten, sie hochzuheben, ergriffsie sofort die Flucht. Versuchte ich es mit Gewalt, bisssie nach mir. Doch unter den stets wachsamen Augender alten Dame wollten wir uns nicht zu auffällig bemü-hen, das Kätzchen anzulocken.Das Folgende ereignete sich zwischen Herbst und Winter-anfang 1988, als die Showa-Zeit ihrem Ende entgegen-ging.

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Die Katze hieß Chibi, »Kleine«. Wir hörten,wie der Jungemit seiner hohen Stimme nach ihr rief – »Chiiiibiiii!«, undauch das Trappeln seiner Füße und das leise Klingeln vonChibis Glöckchen.Chibi war ein kleines Juwel. Ihr weißes Fell hatte,wie manes häufig bei japanischen Katzen sieht, runde rußschwar-ze und hellbraune Flecken, als hätte man sie mit Tuschebesprenkelt. Sie war schmal und sehr klein.Dieses Zierliche war ihre Besonderheit. Außerdem hattesie sehr hübsche spitze Öhrchen, die ständig in Bewegungwaren. Uns fiel auf, dass sie sich nie an unseren Beinenrieb, wie Katzen es eigentlich gern tun. Anfangs glaubteich, es liege daran, dass ich nicht an den Umgang mit ih-nen gewöhnt war, aber das war es wohl nicht. Ein Mäd-chen, das immer durch die Blitzgasse kam, ging manch-mal vor ihr in die Hocke, um sie anzuschauen. Chibi ließes geschehen, ohne die Flucht zu ergreifen, doch sobalddie Kleine sie berühren wollte, schoss sie davon wie einkalter, fahler Blitz.Chibi miaute so gut wie nie. Bei ihrem ersten Auftauchenin der Gasse hatte sie leise gemaunzt, aber danach niemehr. Wir mussten uns wohl damit abfinden, dass sie unsihre Stimme nicht hören lassen würde.Sie war eigentümlich sprunghaft, und das nicht nur alsganz junge Katze. Vielleicht reagierte sie so lebhaft auf In-

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sekten und Reptilien, weil sie immer allein in dem großenGarten spielte. Ansonsten konnte ich mir nur vorstellen,dass sie auf unsichtbare Veränderungen des Lichts unddes Windes reagierte. Zwar haben die meisten Katzeneine Neigung zum Unsteten, doch Chibis Bewegungen er-schienen besonders abrupt und blitzartig.»Sie macht der Blitzgasse alle Ehre«, sagte meine Fraubewundernd, sooft Chibi vorbeisauste.Der Nachbarsjunge brachte der kleinen Katze bei, miteinem Ball zu spielen, und sie erwies sich bald als wahreMeisterin. Der Gummiball hatte genau die richtige Größefür ihre Pfote. Sein fröhliches Aufprallen schallte so ein-ladend durch die Gasse, dass ich selbst Lust bekam, in un-serem kleinen Garten mit Chibi zu spielen. Nach einigemZögern holte ich eines Tages einen Tischtennisball auseiner Schublade hervor.Ich ließ den Ball auf dem Beton unter der offenen Verandaspringen. Chibi kauerte sich auf den Boden und verfolgteihn mit den Augen. Sie machte sich ganz flach, wich aufallen vieren leicht nach hinten und zog sich zusammen,wie eine gespannte Feder. Dann katapultierte sie sich indie Höhe, um sich kühn auf den kleinen weißen Ball zustürzen. Sie schlug ihn mit den Vorderpfoten durch dieLuft und schoss dann zwischen meinen Beinen hindurchdavon.Bei Manövern wie diesem zeigte sich ihr sprunghafterCharakter. Sie ließ den Tischtennisball liegen und wand-te sich im Nu etwas anderem zu. Im nächsten Moment

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schon hatte sie ihre kleine Pfote auf dem Kopf einer imSchatten eines Felsens verborgenen Kröte, nur um imübernächsten ans andere Ende des Gartens zu huschenund sich im Gras zu wälzen, sodass man ihren weißenBauch sah. Gleich darauf sprang sie, ohne mich, ihren Spiel-gefährten, eines Blickes zu würdigen, nach dem Ärmeleines Unterhemds, das auf der Wäschestange hing, undflitzte anschließend durch das Gatter in den Garten vomHaupthaus.Zwar hatte mir einer der Katzenliebhaber, mit denen ichbefreundet war, erzählt, dass nur ganz junge Katzen gernBall spielten, doch es war eindeutig, dass eine gewisse er-wachsene Katze diesem Spiel auch nicht abgeneigt war.Chibi hatte eine weitere Besonderheit. Sie war, um es mitdem Wort der alten Dame auszudrücken, eine »Schön-heit«. Da es sich immerhin um das Urteil einer Person han-delte, die jahrelange Erfahrung mit dem Verscheuchenvon Katzen besaß, konnte es wohl als objektiv gelten.Nach Meinung einer mir bekannten Fotografin hieltenalle Katzenfreunde ihre eigene Katze für die hübschesteund seien blind für die Vorzüge aller anderen. Sie selbstsei ebenfalls eine Katzennärrin, werde aber wegen ihrerEinstellung von anderen Katzenfreunden gemieden undmache nur noch Aufnahmen von Streunern.Chibi spielte also gern Ball. Und so kam sie mit der Zeitvon sich aus zu uns, um uns dazu zu bewegen. Auf sachtenPfoten betrat sie das Haus und versuchte uns mit sehn-süchtigen Blicken in den Garten zu locken, bis wir reagier-

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ten. Meist war es meine Frau, die hocherfreut alles stehenund liegen ließ und in ihre Sandalen schlüpfte.Wenn Chibi sich müde gespielt hatte, kam sie ins Haus,um sich auszuruhen. Das erste Mal, als sie zusammenge-rollt auf dem Sofa einschlief, hielt eine tiefe Freude Ein-zug, als habe das Haus selbst sich diese Szene erträumt.Wir überließen es Chibi, uns zu besuchen, damit die alteDame nicht aufmerksam wurde. Und mit der Zeit ver-stand ich die Katzenliebhaber immer besser. Ganz offen-sichtlich gab es keine Katze auf der Welt, die hübscherwar als Chibi. Auch nicht im Fernsehen oder auf Kalen-derbildern. Doch auch wenn ich sie nun für die schönstealler Katzen hielt, gehörte sie ja nicht uns.Da sie sich immer durch das Klingeln ihres Glöckchensankündigte, nannten wir sie bald »Glöckchen«. Immeröfter stahl sich dieser Kosename auf unsere Lippen.»Glöckchen, wo bist du?«, rief meine Frau, und sogleichertönte das vertraute Glöckchen. Chibi verließ das Nach-barhaus zwei Ecken weiter an der Blitzgasse, schlüpftedurch ein Loch im Maschendraht zwischen den Grund-stücken, lief an unserem Haus entlang zur Veranda, sprangauf den offenen Teil, stellte ihre Vorderpfoten auf denkniehohen Fensterrahmen und spähte mit gerecktem Halsins Haus.Es wurde Winter. Und durch den Spalt des leicht geöff-neten Fensters zog Chibi fast unmerklich in unser Le-ben ein. Wie eine kleine Strömung wiederkehrt, Einflussnimmt und so den Lauf des Schicksals bestimmt.

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Der Essbereich der Küche lag an der ersten Biegung zurBlitzgasse. Das Fenster zeigte nach Westen zum Küchen-fenster des Haupthauses. Durch ein großes Fenster aufder Ostseite sahen wir jenseits eines auf dem Zaun ge-spannten Drahts die Köpfe der Passanten, die um die Eckebogen.Wandte man sich im Inneren des Haus nach Süden, lagrechts der kleine Eingangsbereich mit einer Milchglastür,während sich links eine verschiebbare Wand – eine Fusu-ma – befand. Weiter geradeaus gelangte man in ein sechsTatami großes japanisches Zimmer. In ihm befanden sichrechts eine Tokonoma-Nische und auf der anderen Seiteein Wandschrank. Im Osten war eine Glastür im Stil einermit Papier bespannten Schiebetür. Durch sie konnte manüber den Zaun die Leute, die um die zweite Ecke der Blitz-gasse bogen, von hinten sehen.Hinter dem Tatami-Zimmer lag ein weiterer, nicht ganzso großer Raum mit einem Dielenboden. Er öffnete sichnach Süden zum Wäschetrockenplatz. Der mit Moos be-wachsene Holzzaun beschrieb hier einen Bogen und schütz-te uns vor Blicken aus dem großen Garten.Unser Haus besaß eine Vielzahl von Fenstern. An derWestseite des Dielenzimmers hatte man eine runde Öff-nung in die Wand eingebracht, deren Gitterwerk von Weinumrankt war. Wahrscheinlich hatte dieser Raum früher

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nicht nur der Teezeremonie, sondern auch der Mondbe-trachtung gedient. Die alte Dame hatte mir erzählt, derBlick auf den künstlichen Hügel im Garten sei von hieraus am schönsten gewesen. Doch nun versperrte das au-ßen angebaute Bad diese Aussicht. Zudem machten unse-re Möbel die elegante Gestaltung des Raumes zunichte.Die zahlreichen Fenster übten eine entspannende Wir-kung auf die erschöpften Bewohner des Hauses aus. Aufder Südseite erstreckte sich in Kniehöhe ein großes Fens-ter von fast vier Metern Breite, das einen weiten Blickauf den Himmel erlaubte. Doch durch den ausgedehn-ten Gartenzaun der Hausbesitzer, die fast fensterlose Ost-seite des Nachbarhauses und die natürliche Barriere desnach Süden abfallenden Hangs, hatte niemand Einsichtin unser Haus. Das Vordach zum Garten bestand zum Teilaus einem schrägen Dachflächenfenster aus schlagfestemGlas, das Sonnenlicht in Hülle und Fülle hineinließ.Als ich ein halbes Jahr nach unserem Einzug eines Tages –es war im Frühjahr 1987 – das aluminiumgerahmte Fens-ter weit öffnete, stürmte von Süden der Wind herein.Als ich nacheinander auch noch die Küchenfenster, dieFenster der Zimmer im Osten, die an der Essecke unddas Toilettenfenster öffnete, verfing sich der Wind wiein einer Höhle und brauste ungestüm durchs Haus. Stau-nend starrte ich auf den Trockenplatz, über dem die Wol-ken rasch dahinzogen. Der Wind riss zwei dünne Mistel-zweige ab und wehte sie zu Boden. Er rüttelte so gewaltigan Stamm und Ästen des großen Keyakibaums im Nach-

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bargarten, dass sie sich bogen. Die Sonne blinzelte kurzdurch das Oberlicht, verschwand und kehrte mit einigenPflaumenknospen zurück, die der Wind herübergetriebenhatte. Er hatte auch meinen kleinen Schreibtisch umge-worfen, und meine Papiere tanzten durch die Luft. Alssie sich nach ihrem jahreszeitlichen Ausflug wieder nie-dergelassen hatten, empfand ich erneut, wie wir gut dar-an getan hatten, in dieses Haus zu ziehen.Der Teeraum hatte eine sogenannte Hängedecke, bei derdie Schräge des Vordachs sich ein Stück im Innenraumfortsetzt. Eine hinter Bambusverstrebungen eingelasseneMilchglasscheibe diente als Oberlicht. Ich streckte michgern auf einer Matte aus Glyzinienbinsen darunter ausund beobachtete, den Kopf auf den Ellbogen gelegt, dieVeränderungen des Lichts.Ein Frühlingsregen setzte ein. Als wären es Präparate aufeinem Deckglas konnte ich an den ersten Tropfen beob-achten, wie ihre Größe wechselte. Jenseits der Scheibezogen schemenhaft die Wolken vorüber, und Blätter tanz-ten. Eine sich träge bewegende bräunliche Silhouette warwohl der Bauch einer der diebischen Katzen, die sich aufdem Grundstück herumtrieben.Ein Vogel landete auf dem Glas des Vordachs und suchtemit seinen rosa Krallen dort Halt, geriet jedoch unverse-hens ins Rutschen und flatterte erschreckt auf einen Bal-ken zurück. Transparentes Milchglas war ein für Vögelunverständliches Phänomen.Ich wollte die Stelle kündigen, die ich seit zwei oder drei

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Jahren bei einem Verlag hatte, aber es fiel mir schwer, undich ließ Tag um Tag verstreichen. Bedrückt über meinUnvermögen, hörte ich bei beruflichen Zusammenkünf-ten gar nicht mehr auf zu trinken oder vergeudete am Wo-chenende die Zeit, die ich eigentlich auf meine eigeneschriftstellerische Arbeit hätte verwenden sollen, mit Base-ball. Die Tage flogen nur so vorbei, und meine Arbeit alsLektor, die beherrscht war von der Beschäftigung mitdem Schreiben anderer, erschien mir zunehmend sinnlosund halbherzig.Irgendwann bekam ich einen Ausschlag am rechten Ober-arm, den ich zunächst auf eine Überanstrengung beimBaseball zurückführte. Doch im Laufe der folgenden Ta-ge breitete er sich über meine rechte Schulter und dannrechts auf meinem Hals aus. Die Nerven an dieser Stellesind mit dem Sprachzentrum in der linken Gehirnhälfteverbunden, sodass eine Zeitlang mein Denken verlang-samt war und das Sprechen mir schwerfiel.Es stellte sich heraus, dass ich mir einen Virus eingefan-gen und eine einseitige Gürtelrose bekommen hatte. Ichwurde einen Monat lang behandelt, aber bei dieser Er-krankung weiß man nie, wann sie wieder ausbricht. Diesbestärkte mich in meinem Entschluss zu kündigen. Den-noch ließ ich die Tage träge verstreichen, ohne die Energiezum Sprung ins kalte Wasser aufbringen zu können, daauch fraglich war, ob ich von dem, was ich bisher an eige-nen Arbeiten hervorgebracht hatte, würde leben können.Doch hätte ich mich erst in unserem neuen Heim einge-

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lebt, würden sich – davon war ich überzeugt – die Auf-gaben des nächsten Jahres deutlicher abzeichnen.Ich ging zu meiner Frau in die Küche. »Komm, lass unsin ein Café gehen«, sagte ich.»Du machst mir Angst«, erwiderte sie.An ihrer erschrockenen Reaktion erkannte ich, dass siebereits ahnte, was ich ihr zu eröffnen hatte.Auf dem Tisch des kleinen Cafés am Bahnhof breitete icheine Liste aus, auf der genau aufgeführt war, was ich mo-natlich an Honoraren und Beteiligungen zu erwarten hat-te. Meine Frau hatte einen festen Vertrag als Korrektorinbei einem Verlag. Ihre Arbeit bestand darin, lektorierteFahnen zunächst gegenzulesen, dann Fakten und Zitateanhand des Originals zu überprüfen, auf Fehler in derÜbersetzung hinzuweisen und orthographische und vonFall zu Fall auch stilistische Korrekturen vorzunehmen.Ich hatte ihr jährliches Einkommen in meine Berechnun-gen einbezogen und erklärte ihr nun die Vorzüge, die eshätte, wenn wir beide zu Hause arbeiten würden.Vorläufig konnten wir wahrscheinlich anderthalb Jahreüber die Runden kommen. Darüber hinaus gab es keineGarantie, das war mir klar. Dennoch durfte ich als derVerführer keinerlei Unsicherheit zeigen. Ich musste zumeiner Idee stehen und ihr unser neues bescheidenes,aber sehr vereinfachtes Leben in den schönsten Farbenausmalen. Meine Frau konnte sich gewisser Zweifel nichterwehren, aber nachdem sie mitangesehen hatte, wie lan-ge und qualvoll ich um eine Entscheidung gerungen hatte,

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konnte sie sich nicht dazu überwinden, meinen Vorschlagzu torpedieren.Wir gingen nach Hause, aßen und setzten uns an unsereSchreibtische, die nebeneinander vor dem Fenster nachSüden standen, um uns wieder unseren wenig einträg-lichen Tätigkeiten zuzuwenden. Ehe wir uns versahen,war es Nacht. Als meine Frau spontan von ihrem Schreib-tisch nach oben blickte, stieß sie einen leisen Schrei aus.Das Licht des fast vollen Mondes strömte wie ein brei-ter weißer Fluss durch das etwa dreieinhalb Meter breiteFenster.

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Wir schufen einen Zugang zum Haus für Chibi, den nursie benutzen konnte, nicht jedoch andere Katzen. Unterdem großen Südfenster zog sich entlang der ganzen Breiteein vierzig Zentimeter hohes Milchglasfenster, durch dasman Staub hinausfegen konnte. Ließen wir es nur siebenZentimeter weit offen, konnte Chibi – und nur Chibi –sich durch den Spalt zwängen. Damit keine Zugluft undkeine Insekten eindringen konnten, hängten wir ihn miteinem dicken, dunkelblau geblümten Baumwollstoff zu.Ein ehemaliger Mandarinenkarton, den wir in eine Eckedes Zimmers mit dem Dielenboden stellten, diente Chibials Kistchen. Wir legten ihn mit Handtüchern aus undstellten einen Teller für Futter hinein. Neben den Kartonplatzierten wir eine Schale für Milch.Hatten wir den Karton,weil wir saubermachten, in ein an-deres Zimmer verfrachtet, starrte Chibi fassungslos aufdie Stelle, an der er sich hätte befinden müssen, und kauer-te sich dort auf den Boden.Die Nachbarn tauschten ihr rotes Halsband hin und wie-der gegen ein lilafarbenes aus, sodass wir nie wussten,welches sie tragen würde. Dennoch schien Chibi zu wis-sen, dass sie auch im Haus von Menschen, die nicht be-rechtigt waren, ihr Halsband zu wechseln, in Sicherheitwar.Einmal hatten wir zwei Lektoren zu Gast. Als Chibi die

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Fremden bemerkte, umkreiste sie meine Frau vier oderfünf Mal, wie um sie zu beschützen und ihren Anspruchauf sie geltend zu machen.An einem Nachmittag nach Frühlingsanfang hatte Chibigejagt. Sie hielt einen Spatz im Maul und tappte knurrendund mit gesträubtem Fell absichtlich laut durchs Haus, alssollten wir ihre Schritte hören. Jemand hatte mir gesagt,dass Katzen ihre Beute ihrem Halter bringen, aber Chibizog so viele Male maunzend und brummend im Kreis her-um, als wollte sie ihre Beute vor allem dem Haus zeigen.Anschließend lief sie zu den Gemüsebeeten an der Ostsei-te des großen Gartens und spielte mit dem bedauernswer-ten Spatz, bis er sich nicht mehr rührte.»Ich werde Chibi jedenfalls nicht hochnehmen«, wie-derholte meine Frau, nachdem sie den Spatz begrabenhatte. »Es ist schöner, wenn Tiere tun können, was siewollen.«Der April kam, und so viele graublaue Bläulinge tanztendicht über dem Boden des Gartens, dass man bei jedemSchritt fürchtete, sie zu zertreten.Meine Frau sagte, sie finde es so interessant, dass jede Kat-ze eine andere Persönlichkeit habe, auch wenn sie alle Kat-zen seien.»Für mich ist Chibi eine Freundin, mit der ich mich gutverstehe, nur dass sie eben eine Katze ist.«Und sie erzählte mir vom Aphorismus eines Denkers, dem-zufolge die Beobachtung der Kern einer Liebe sei, die nichtin Gefühlsduselei verfalle. Außerdem schien sie Chibis

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tägliche Aktivitäten manchmal in einem großen Notiz-heft festzuhalten.Anfang Juni reiste ich zu Recherchen nach Kanada und indie USA Meine Frau blieb zu Hause. In dieser Zeit änderteChibi ihr Verhalten. Bisher hatte sie – ganz wohlerzogeneKatze – nie eine Pfote auf unsere Betten gesetzt oder wargar darauf herumgelaufen. Doch nun war Chibi einesNachts, als meine Frau schlief, lautlos auf ihren Futon ge-sprungen und hatte sich neben ihr zusammengerollt. Seit-her schlief sie bei meiner Frau.Anscheinend hatte ich mir in Amerika eine Erkältung ge-holt. Also legte ich mich an dem Abend, an dem ich nachHause kam, sofort zu Bett. Chibi kam wie gewohnt aufden Futon und merkte erst jetzt, dass ein anderer Menschdarin lag.Sie zögerte, sprang dann auf den Toilettentisch und flüch-tete nach einem Blick in den Spiegel durch den Vorhangins Dunkel des Wandschranks, der ihr eigentlicher Schlaf-platz war. Damit sie jederzeit dort schlafen konnte, hat-ten wir uns angewöhnt, die Futons schon früh am Abendherauszunehmen.

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