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Theoretische Physik I: Mechanik Matthias Bartelmann Institut für Theoretische Astrophysik Universität Heidelberg

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Theoretische Physik I: Mechanik

Matthias BartelmannInstitut für Theoretische Astrophysik

Universität Heidelberg

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Inhaltsverzeichnis

1 Newtonsche Axiome 1

1.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

1.2 Vektoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2

1.3 Bahnkurven, Geschwindigkeit und Beschleunigung . . 4

1.4 Newtonsche Axiome . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

1.5 Eindimensionale Bewegung . . . . . . . . . . . . . . 7

1.5.1 Freier Fall aus geringer Höhe . . . . . . . . . 7

1.5.2 Fall aus geringer Höhe mit Stokes’scher Reibung 8

1.5.3 Fall aus geringer Höhe mit Luftwiderstand . . 9

1.5.4 Freier Fall aus großer Höhe . . . . . . . . . . 11

2 Schwingungen 15

2.1 Freie Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

2.2 Gedämpfte Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . 17

2.2.1 Schwache Dämpfung . . . . . . . . . . . . . . 18

2.2.2 Starke Dämpfung . . . . . . . . . . . . . . . . 19

2.2.3 Kritische Dämpfung . . . . . . . . . . . . . . 19

2.3 Erzwungene Schwingungen, Resonanz . . . . . . . . . 20

2.3.1 Allgemeine Lösung . . . . . . . . . . . . . . . 20

2.3.2 Resonanz und Halbwertsbreite . . . . . . . . . 22

2.3.3 Grenzfall schwacher Dämpfung . . . . . . . . 23

2.3.4 Beispiel: Die natürliche Breite von Spektrallinien 24

3 Drehimpuls und Energie 27

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iv INHALTSVERZEICHNIS

3.1 Kinematik in drei Dimensionen . . . . . . . . . . . . . 27

3.1.1 Bahnkurve, Tangential- und Normalvektoren . 27

3.1.2 Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

3.1.3 Tangential- und Normalkomponenten . . . . . 29

3.2 Drehimpuls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

3.2.1 Drehmoment und Drehimpuls . . . . . . . . . 29

3.2.2 Wechsel des Bezugssystems . . . . . . . . . . 30

3.3 Energiesatz für einen Massenpunkt . . . . . . . . . . . 31

3.3.1 Energiesatz in einer Dimension . . . . . . . . 31

3.3.2 Energiesatz in drei Dimensionen . . . . . . . . 33

3.3.3 Wann sind Kräfte Potentialkräfte? . . . . . . . 35

3.4 Beispiel: Bewegung in konstantem Schwerefeld . . . . 37

4 Bewegung unter dem Einfluss einer Zentralkraft 39

4.1 Allgemeine Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

4.2 Das Keplerproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

4.2.1 Arten der Bewegung . . . . . . . . . . . . . . 41

4.2.2 Form der Bahnen . . . . . . . . . . . . . . . . 42

4.2.3 Kreisbahnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

4.2.4 Ellipsenbahnen . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

4.2.5 Parabel- und Hyperbelbahnen . . . . . . . . . 45

4.2.6 Der Laplace-Lenz-Runge-Vektor . . . . . . . . 45

4.3 Mechanische Ähnlichkeit und der Virialsatz . . . . . . 46

4.3.1 Mechanische Ähnlichkeit . . . . . . . . . . . . 46

4.3.2 Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

4.3.3 Der Virialsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

5 Mechanik eines Systems von Massenpunkten 49

5.1 Bewegung des Schwerpunkts . . . . . . . . . . . . . . 49

5.2 Drehimpuls und Energie . . . . . . . . . . . . . . . . 50

5.2.1 Beipiel: Das Zweikörperproblem . . . . . . . . 53

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INHALTSVERZEICHNIS v

5.3 Elastischer Stoß zwischen zwei Teilchen . . . . . . . . 54

5.3.1 Erhaltungssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

5.3.2 Transformation der Streuwinkel . . . . . . . . 55

5.3.3 Beispiel: Energieübertrag bei elastischer Streuung 56

5.4 Streuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

5.4.1 Streuwinkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

5.4.2 Streuquerschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . 57

5.4.3 Streuung unter kleinen Winkeln . . . . . . . . 58

6 Systeme mit Nebenbedingungen 61

6.1 Das d’Alembertsche Prinzip . . . . . . . . . . . . . . 61

6.1.1 Nebenbedingungen und verallgemeinerte Koor-dinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

6.1.2 Zwangskräfte und Prinzip der virtuellen Arbeit 63

6.1.3 Allgemeine Formulierung des d’AlembertschenPrinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

6.1.4 d’Alemberts Prinzip im dynamischen Fall . . . 65

6.2 Lagrange-Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

6.2.1 Lagrange-Gleichungen erster Art . . . . . . . 66

6.2.2 Lagrange-Gleichungen zweiter Art . . . . . . . 68

6.2.3 Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

7 Extremalprinzipien 71

7.1 Hamiltons Prinzip der stationären Wirkung . . . . . . 71

7.1.1 Beispiel: Das Fermatsche Prinzip . . . . . . . 71

7.1.2 Hamiltons Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . 72

7.2 Hamilton-Funktion und kanonische Gleichungen . . . 74

7.2.1 Die kanonischen Gleichungen . . . . . . . . . 74

7.2.2 Hamilton-Funktion und Energie . . . . . . . . 76

7.2.3 Kanonische Gleichungen aus dem Wirkungs-prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

7.2.4 Die Routhsche Funktion . . . . . . . . . . . . 78

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vi INHALTSVERZEICHNIS

8 Kräfte in bewegten Bezugssystemen 81

8.1 Koordinatentransformationen . . . . . . . . . . . . . . 81

8.1.1 Zusammenhang zwischen kartesischen Koordi-natensystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

8.1.2 Eigenschaften orthogonaler Matrizen . . . . . 82

8.1.3 Transformation des Ortsvektors . . . . . . . . 82

8.2 Zeitabhängige Transformationen . . . . . . . . . . . . 83

8.2.1 Winkelgeschwindigkeit . . . . . . . . . . . . . 83

8.2.2 Bedeutung von ~ω . . . . . . . . . . . . . . . . 85

8.2.3 Infinitesimale Transformationen . . . . . . . . 85

8.3 Bewegung auf der rotierenden Erde . . . . . . . . . . 86

8.3.1 Scheinkräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

8.3.2 Zur Corioliskraft . . . . . . . . . . . . . . . . 87

8.4 Das reduzierte Dreikörperproblem . . . . . . . . . . . 88

9 Bewegung starrer Körper 91

9.1 Die Euler-Winkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

9.2 Trägheitstensor und Drehimpuls . . . . . . . . . . . . 93

9.2.1 Der Trägheitstensor . . . . . . . . . . . . . . . 93

9.2.2 Drehimpuls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

9.3 Eulersche Gleichungen und der kräftefreie Kreisel . . . 98

9.3.1 Eulersche Gleichungen . . . . . . . . . . . . . 98

9.3.2 Der kräftefreie Kreisel . . . . . . . . . . . . . 98

9.3.3 Kreisel im Schwerefeld . . . . . . . . . . . . . 101

10 Kleine Schwingungen um eine Ruhelage 103

10.1 Lagrange-Funktion und Bewegungsgleichungen . . . . 103

10.1.1 Kinetische und potentielle Energie . . . . . . . 103

10.1.2 Bewegungsgleichungen . . . . . . . . . . . . 105

10.2 Normalkoordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

10.2.1 Transformation auf Normalkoordinaten . . . . 105

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INHALTSVERZEICHNIS vii

10.2.2 Bestimmung der Normalkoordinaten . . . . . . 107

10.2.3 Stabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

10.2.4 Beispiel: Gekoppelte Pendel . . . . . . . . . . 109

10.3 Schwingungen eines linearen, dreiatomigen Moleküls . 110

10.3.1 Lagrange-Funktion . . . . . . . . . . . . . . . 110

10.3.2 Normalkoordinaten . . . . . . . . . . . . . . . 111

11 Mechanik kontinuierlicher Medien 113

11.1 Lineare Kette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

11.1.1 Grenzübergang zum Kontinuierlichen . . . . . 113

11.1.2 Ableitung der Bewegungsgleichungen aus demLagrange-Funktional . . . . . . . . . . . . . . 115

11.1.3 Die d’Alembertsche Gleichung . . . . . . . . . 116

11.2 Schwingende Saite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

11.3 Schwingende Membran . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

12 Symmetrien und Erhaltungssätze 123

12.1 Galilei-Invarianz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

12.2 Noether-Theoreme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

12.3 Elemente relativistischer Mechanik . . . . . . . . . . . 128

12.3.1 Die spezielle Lorentztransformation . . . . . . 128

12.3.2 Eigenschaften des Minkowski-Raums . . . . . 130

12.3.3 Vierergeschwindigkeit und Viererimpuls . . . . 132

12.3.4 Zur Äquivalenz von Masse und Energie . . . . 134

13 Analytische Mechanik 135

13.1 Kanonische Transformationen . . . . . . . . . . . . . 135

13.1.1 Bahnen im erweiterten Phasenraum . . . . . . 135

13.1.2 Transformationen der Koordinaten . . . . . . . 137

13.1.3 Kanonische Transformationen . . . . . . . . . 138

13.2 Hamilton-Jacobi-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . 139

13.2.1 Die Hamilton-Jacobi-Gleichung . . . . . . . . 139

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viii INHALTSVERZEICHNIS

13.2.2 Harmonischer Oszillator . . . . . . . . . . . . 140

13.2.3 Bewegung des freien Massenpunkts . . . . . . 141

13.2.4 Lösung der Hamilton-Jacobi-Gleichung . . . . 143

13.3 Liouvillescher Satz, Poisson-Klammern . . . . . . . . 144

13.3.1 Der Liouvillesche Satz . . . . . . . . . . . . . 144

13.3.2 Poisson-Klammern . . . . . . . . . . . . . . . 144

14 Stabilität und Chaos 147

14.1 Stabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

14.1.1 Bewegung in der Nähe des Gleichgewichts . . 147

14.1.2 Definitionen und Sätze zur Stabilität . . . . . . 150

14.1.3 Hamiltonsche Systeme . . . . . . . . . . . . . 151

14.1.4 Attraktoren; die van-der-Polsche Gleichung . . 153

14.2 Chaos in der Himmelsmechanik . . . . . . . . . . . . 154

14.2.1 Beispiel: Saturnmond Hyperion . . . . . . . . 154

14.2.2 Chaotisches Taumeln auf der Ellipsenbahn . . 156

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Kapitel 1

Newtonsche Axiome

1.1 Einführung

Galileo Galilei

Isaac Newton

• Physik ist eine Erfahrungswissenschaft; theoretische Physik suchtdie Einheit hinter der Vielfalt, die möglichst fundamentalen Geset-ze, die der Vielfalt der Erfahrungstatsachen zugrunde liegen; dieseGesetze müssen prüfbare Vorhersagen erlauben

• physikalischen Gesetzen liegen notwendiger Weise Idealisierun-gen zugrunde, weil wesentliche von unwesentlichen Eigenschaftenphysikalischer Systeme unterschieden werden müssen

• theoretische Mechanik beschreibt die Gesetze, nach denen sichKörper im Raum unter dem Einfluss von Kräften mit der Zeitbewegen; sie führt zu Begriffen und Methoden, die sich durch diegesamte theoretische Physik ziehen und vor allem für die Quan-tenmechanik und Quantenfeldtheorie außerordentlich fruchtbarwaren

• geschichtliche Entwicklung: Galileo Galileis Fallversuche, TychoBrahes Messungen der Marsbahn und deren gesetzmäßiger Zu-sammenfassung durch Johannes Kepler, Isaac Newtons Axiomenund seiner Erklärung der Keplerschen Gesetze durch das Gravita-tionsgesetz; weitere für die Entwicklung wichtige Personen sindJoseph Lagrange, Leonhard Euler, d’Alembert, Hamilton, EmmyNoether

• „Vierheit“ der Objekte in der Mechanik: Körper, Kräfte, Raum,Zeit; moderne Vereinheitlichung setzt fundamental an dieser Stelleein

• Körper: idealisiert als Massenpunkte bestimmter Masse; Ausdeh-nung sehr klein gegenüber den Dimensionen des gesamten betrach-teten Systems; „klein“ oder „groß“ sind höchst relative Begriffe;

1

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2 KAPITEL 1. NEWTONSCHE AXIOME

System aus vielen Massenpunkten bewegt sich im Ganzen so,als würden die äußeren Kräfte am Schwerpunkt angreifen; festerKörper wird als System von Massenpunkten aufgefasst, derenAbstände untereinander konstant sind

• Kräfte: Ursachen der Bewegung, mathematisch genauer zu definie-ren; in der klassischen Mechanik wird angenommen, dass Kräfteinstantan wirken, d.h. mit unendlicher Ausbreitungsgeschwindig-keit

• Raum: die Lage von Körpern im dreidimensionalen Raum hatkeinen absoluten Sinn, sondern muss relativ zu anderen Körpern,den Bezugssystemen, angegeben werden; der physikalische Raumist ein reeller, dreidimensionaler Vektorraum; die momentane Lageeines Massenpunkts wird durch einen Ortsvektor ~x angegeben;seine Bahnkurve ~x(t) beschreibt, wie sich sein Ort zeitlich ändert

Bahnkurve in einem kartesischenKoordinatensystem • im Allgemeinen kann der Ursprung des Bezugssystems beliebig

gewählt werden (Homogenität), seine Achsen können beliebigorientiert werden (Isotropie); als Bezugssysteme werden üblicherWeise kartesische Koordinatensysteme gewählt

• Zeit: spielt in der klassischen Mechanik die Rolle eines unabhän-gigen Ordnungsparameters; der Nullpunkt der Zeit ist im Allge-meinen frei wählbar (Homogenität der Zeit)

• in der klassischen Mechanik sind Raum und Zeit unabhängig vonder Existenz von Körpern und ihrer Bewegung relativ zueinander,sie sind in diesem Sinne absolut

1.2 Vektoren

• um die Lage eines Körpers im dreidimensionalen Raum anzuge-ben, sind drei reelle Parameter nötig, diese bilden reelle Zahlentri-pel; diese Zahlentripel können addiert und mit reellen Zahlen mul-tipliziert werden, damit hat der physikalische Raum die Struktureines dreidimensionalen euklidischen Vektorraums; dieser euklidi-sche Vektorraum ist affin (d.h. man kommt auf eindeutige Weisevon einem Punkt zu einem anderen)

• durch Angabe eines Koordinatenursprungs und eines Bezugssy-stems werden die Zahlentripel eindeutig; in der Regel werdenkartesische Bezugssysteme gewählt, die aus drei orthogonalenAchsen bestehen; diese Achsen werden „rechtsdrehend“ orientiert

• Addition und Subtraktion: Vektoren werden komponentenweiseaddiert und subtrahiert:

~a+~b = (ai)+(bi) = (ai +bi) , ~a−~b = (ai)−(bi) = (ai−bi) (1.1)

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1.2. VEKTOREN 3

• Inneres Produkt zweier Vektoren: Das innere Produkt (Skalarpro-dukt) zweier Vektoren wird definiert als

~a · ~b =

3∑i=1

aibi (1.2)

Das innere Produkt eines Vektors mit sich selbst ist offenbar positivsemidefinit,

~a · ~a = ~a2 =

3∑i=1

a2i ≥ 0 (1.3)

der Betrag eines Vektors ist

|~a| =√~a2 (1.4)

das innere Produkt zweier Vektoren ist proportional zum Cosinusdes Winkels φ zwischen den beiden Vektoren,

~a · ~b = |~a||~b| cos φ (1.5)

es verschwindet also, wenn die Vektoren senkrecht aufeinanderstehen,

~a ⊥ ~b⇒ ~a · ~b = 0 (1.6)

• Äußeres Produkt zweier Vektoren: Das äußere Produkt (Kreuz-produkt, Vektorprodukt) zweier Vektoren wird definiert als derVektor

~a × ~b = (a2b3 − a3b2, a3b1 − a1b3, a1b2 − a2b1) (1.7)

das äußere Produkt zweier Vektoren steht senkrecht auf beidenVektoren,

~a · (~a × ~b) = 0 = ~b · (~a × ~b) (1.8)

sein Betrag ist proportional zum Sinus des Zwischenwinkels φ,

|~a × ~b| = |~a||~b| sin φ (1.9)

es verschwindet also, wenn die Vektoren parallel oder antiparallelzueinander sind,

~a ‖ ±~b⇒ ~a × ~b = 0 (1.10)

das äußere Produkt zweier Vektoren ~a und ~b ist gleich dem Flä-cheninhalt des Parallelogramms, das durch ~a und ~b aufgespanntwird

Kreuzprodukt zweier Vektoren undFlächeninhalt des aufgespanntenParallelogramms

• Einsteinsche Summenkonvention: Zur Vereinfachung der Schreib-weise wird verabredet, dass über doppelt auftretende Indices sum-miert wird,

aibi :=3∑

i=1

aibi (1.11)

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4 KAPITEL 1. NEWTONSCHE AXIOME

• Kronecker-Symbol: es erweist sich als sehr nützlich, folgendesSymbol einzuführen:

δi j =

1 i = j0 i , j (1.12)

wegen der Summenkonvention gilt dann z.B.

ai = δi jb j (1.13)

• Levi-Civita-Symbol: viele Rechnungen werden erheblich verein-facht durch das vollkommen antisymmetrische Levi-Civita-Sym-bol εi jk, das definiert wird durch

ε123 = ε231 = ε312 = 1ε132 = ε213 = ε321 = −1εi jk = 0 sonst (1.14)

d.h. εi jk = 1 für alle geraden Permutationen von 1, 2, 3, εi jk = −1für alle ungeraden Permutationen von 1, 2, 3, und εi jk = 0 wennmindestens zwei der Indices gleich sind

• damit lässt sich das äußere Produkt zweier Vektoren schreiben als

~a × ~b = (εi jka jbk) (1.15)

folgende Identität erweist sich als sehr nützlich:

εi jkεklm = δilδ jm − δimδ jl (1.16)

die Determinante einer 3 × 3-Matrix mit den Zeilenvektoren ~a, ~bund ~c lässt sich schreiben als∣∣∣∣∣∣∣∣

a1 a2 a3

b1 b2 b3

c1 c2 c3

∣∣∣∣∣∣∣∣ = ~a · (~b × ~c) = εi jkaib jck (1.17)

• vektorwertige Funktionen ~f (~x) werden komponentenweise diffe-renziert,

∂ ~f (~x)∂xi

=

(∂ f1(~x)∂xi

,∂ f2(~x)∂xi

,∂ f3(~x)∂xi

)(1.18)

1.3 Bahnkurven, Geschwindigkeit und Beschleu-nigung

• Der Ortsvektor ~x eines Massenpunkts ändert sich im Allgemei-nen mit der Zeit t, ~x = ~x(t). Die zwischen zwei Zeiten t1 undt2 > t1 durchlaufenen Punkte ~x(t) bilden die Bahnkurve des Mas-senpunkts.Beispiele:

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1.4. NEWTONSCHE AXIOME 5

– Kreisbahn in der x1-x2-Ebene, Radius r:

~x(t) = [r cos φ(t), r sin φ(t), 0] (1.19)

Bewegung auf einer Kreisbahn

– Spiralbahn längs der x3-Achse, Radius r:

~x(t) = [r cos φ(t), r sin φ(t), x3(t)] (1.20)

• Die Geschwindigkeit ist die Ableitung des Ortes nach der Zeit,

~v(t) = ~x(t) =d~x(t)

dt(1.21)

Beispiele:

– Kreisbahn wie oben: ~v(t) = [−rφ sin φ(t), rφ cos φ(t), 0]

– Spiralbahn wie oben: ~v(t) = [−rφ sin φ(t), rφ cos φ(t), x3(t)]

• Die Beschleunigung ist die Ableitung der Geschwindigkeit nachder Zeit,

~a(t) = ~v(t) =d~v(t)

dt= ~x(t) =

d2~x(t)dt2 (1.22)

Beispiele:

– Kreisbahn wie oben:~a(t) = [−rφ sin φ(t)−rφ2 cos φ(t), rφ cos φ(t)−rφ2 sin φ(t), 0]

– Spiralbahn wie oben:~a(t) = [−rφ sin φ(t)−rφ2 cos φ(t), rφ cos φ(t)−rφ2 sin φ(t), x3(t)]

1.4 Newtonsche Axiome

1. Trägheitsgesetz, Lex Prima: Jeder Körper beharrt in seinem Zu-stand der Ruhe oder gleichförmigen geradlinigen Bewegung, wenner nicht durch einwirkende Kräfte gezwungen wird, seinen Zu-stand zu ändern.

„Corpus omne perseverare in statu suo quiescendi vel movendiuniformiter in directum nisi quatenus a viribus cogiter statum illummutare.“

Postuliert wird die Trägheit eines Körpers, sein Beharrungsvermö-gen. Als „Bewegungsgröße“ wird das Produkt aus Masse m undGeschwindigkeit ~v definiert, d.h. der Impuls ~p = m~v. Die Begriffe„Masse“ und „Kraft“ bleiben zu definieren.

Damit besagt das Trägheitsgesetz:

~p = konst. (1.23)

in Abwesenheit von Kräften, d.h. in diesem Fall ist der Impulserhalten.

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6 KAPITEL 1. NEWTONSCHE AXIOME

2. Bewegungsgesetz, Lex Secunda: Die Änderung der Bewegung istder Einwirkung der bewegenden Kraft proportional und geschiehtnach der Richtung derjenigen geraden Linie, nach welcher jeneKraft wirkt.

„Mutationem motus proportionalem esse vi motrici impressae etfieri secundum lineam rectam, qua vis illa imprimitur.“

Die Änderung der Bewegungsgröße ist die Zeitableitung des Im-pulses. Sei ~F die Kraft, besagt das Bewegungsgesetz

~p = ~F bzw. m~x = ~F (1.24)

bei konstanter Masse m.

Die Masse m ist hier die träge Masse, im Gegensatz zur schwerenMasse, zu der die Gravitationskraft proportional ist. Experimentezeigen, dass beide unabhängig von der Zusammensetzung derbetrachteten Körper gleich groß sind.

Kräfte werden definiert, indem man Messvorschriften angibt, diez.B. eine unbekannte Kraft mit der Gravitationskraft vergleichen.Kräfte addieren sich wie Vektoren.

3. Reaktionsgesetz, Lex Tertia: Die Wirkung ist stets der Gegenwir-kung gleich, oder die Wirkungen zweier Körper aufeinander sindstets gleich und von entgegengesetzter Richtung.

„Actio = reactio.“

• die träge Masse erweist sich aufgrund der Relativitätstheorie alsgeschwindigkeitsabhängig

• Kräfte hängen im Allgemeinen vom Ort und von der Zeit ab,können aber auch von der Geschwindigkeit abhängen wie etwadie Lorentzkraft auf ein geladenes Teilchen im Magnetfeld

• Beispiele für Kräfte sind etwa die Gravitations- und die Coulomb-kraft, die beide indirekt proportional zum Abstandsquadrat sind(das ist eine notwendige Folge der Masselosigkeit der Austausch-teilchen).

• Offenbar setzt die Gültigkeit der Newtonschen Axiome eine geeig-nete Wahl der Einheiten voraus. Die Proportionalität von Impuls-änderung und Kraft wird erst durch die geeignete Wahl der Einheitder Masse zu einer Gleichheit. Die Proportionalität von schwererund träger Masse wird zu einer Gleichheit durch die Definition derGravitationskonstante G.

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1.5. EINDIMENSIONALE BEWEGUNG 7

1.5 Eindimensionale Bewegung

1.5.1 Freier Fall aus geringer Höhe

freier Fall aus geringer Höhe

• r RErde; Schwerkraft FG = −mg ist dann gegeben durch kon-stante Erdbeschleunigung g = 9.81 m s−2; Bewegungsgleichung:

mr = −mg (1.25)

• da r konstant ist, muss v = r linear mit der Zeit t anwachsen:

v = r = −gt + C1 (1.26)

Integrationskonstante C1 ist offenbar die Geschwindigkeit zur Zeitt = 0, C1 = v(t0) = v0

• eine weitere Integration nach der Zeit liefert

r = −g

2t2 + C1t + C2 (1.27)

die weitere Integrationskonstante C2 ist offenbar die Anfangshöhe,C2 = r(t = 0) = r0

• wenn der Massenpunkt bei t = 0 in der Höhe h losgelassen wird,sind C1 = 0 und C2 = h, und die Lösung lautet

r = h −g

2t2 (1.28)

• die Fallzeit bis r = 0 beträgt

t =

√2hg, (1.29)

die Endgeschwindigkeit ist

v = −gt = −g

√2hg

= −√

2gh (1.30)

Beispiel: ein Sprung vom Zehnmeterturm dauert t = 1.4 s und en-det mit einer Geschwindigkeit von v = −14 m s−1 (etwa−50 km h−1)

• Da die Bewegungsgleichung 2. Ordnung in der Zeit ist, werdenzu ihrer vollständigen Lösung zwei Integrationskonstanten benö-tigt; diese müssen als „Anfangsbedingungen“ gewählt werden, indiesem Fall in der Form von Anfangshöhe und Anfangsgeschwin-digkeit.

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8 KAPITEL 1. NEWTONSCHE AXIOME

• In der Theorie der gewöhnlichen Differentialgleichungen wirdgezeigt, dass eine Differentialgleichung n-ter Ordnung,

y(n)(x) = f [x, y(x), y′(x), y′′(x), . . . , y(n−1)(x)] , (1.31)

genau dann eine eindeutige Lösung in einer genügend kleinenUmgebung eines Punktes x0 hat, wenn n Anfangsbedingungen füry(x0) und die n − 1 Ableitungen von y(x) an der Stelle x0 gegebensind, die Funktion f stetig ist, f und y(i) für i = 0, 1, . . . , n − 1 be-schränkt sind und der so genannten Lipschitz-Bedingung genügen,die die Abweichung der Funktion f (x) von f (x0) innerhalb derUmgebung von x0 kontrolliert.

Für physikalische Vorgänge bedeutet das praktisch, dass eine ein-deutige Lösung der Bewegungsgleichung in der Nähe einer Zeit t0

immer angegeben werden kann, wenn die Bewegung im Endlichenund mit endlicher Geschwindigkeit erfolgt und die auftretendenKräfte stetig sind und sich nicht beliebig schnell ändern. Die Lö-sung wird durch zwei Anfangsbedingungen an den Ort und dieGeschwindigkeit eindeutig bestimmt.

1.5.2 Fall aus geringer Höhe mit Stokes’scher Reibung

gebremster Fall aus geringer Höhe• Stokes’sche Reibung: Reibungskraft proportional zur Geschwin-

digkeit, FR = −Kv (wirkt der Geschwindigkeit entgegen)

• Bewegungsgleichung:

mr = mv = −mg − Kv (1.32)

Lösung durch „Separation der Variablen“:

v

1 + Kvmg

= −g ⇒

∫dv

1 + Kvmg

= −g

∫dt (1.33)

beide unbestimmte Integrale lassen sich elementar integrieren:

mgK

ln(1 +

Kvmg

)= −gt + C1 , (1.34)

wobei die beiden Integrationskonstanten in eine zusammengefasstwurden; damit lautet die Geschwindigkeit

v =mgK

[exp

(K(C1 − gt)

mg

)− 1

](1.35)

• für t → ∞ nähert sich v der Endgeschwindigkeit

− vE = −mgK

, (1.36)

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1.5. EINDIMENSIONALE BEWEGUNG 9

sodass die Lösung in der Form

v = vE

[exp

(C1 − gtvE

)− 1

](1.37)

geschrieben werden kann

• setzt man zunächst v(t = 0) = v0 ein, folgt

eC1/vE = 1 +v0

vE(1.38)

und damitv = (v0 + vE)e−gt/vE − vE (1.39)

• eine weitere Integration von

r = (v0 + vE)e−gt/vE − vE (1.40)

führt aufr = C2 − vEt − (v0 + vE)

vE

ge−gt/vE (1.41)

• setzt man hier r(t = 0) = r0 ein, ergibt sich die Integrationskon-stante C2 zu

C2 = r0 + (v0 + vE)vE

g(1.42)

und damit erhält man die Lösung

r = r0 − vEt + (v0 + vE)vE

g

[1 − e−gt/vE

](1.43)

• für t → ∞ verschwindet der Exponentialterm, und r nimmt linearmit der Zeit ab:

r → r0 − vEt + (v0 + vE)vE

g(1.44)

1.5.3 Fall aus geringer Höhe mit Luftwiderstand

• Luftwiderstand: Reibungskraft, deren Betrag dem Quadrat derGeschwindigkeit proportional ist

• Bewegungsgleichung:

mr = −mg − Kv|v| (1.45)

Kraft muss der Bewegung entgegen gerichtet sein

• Annahme hier: v < 0, damit:

r = v = −g +Kmv2 (1.46)

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10 KAPITEL 1. NEWTONSCHE AXIOME

-0.6

-0.4

-0.2

0

0.2

0.4

0.6

0.8

1

1.2

1.4

0 0.5 1 1.5 2

Hoe

he r(

t)

Zeit t

gebremster Fall, Reibung proportional zu v

v0=0v0=vE/2

v0=vEv0=-vE/2

Abbildung 1.1: Gebremster Fall mit Stokes’scher Reibung aus jeweilsderselben Höhe, aber mit vier verschiedenen Anfangsgeschwindigkeiten.

• mit der Definition v2E = mg/K folgt:

v

1 −(vvE

)2 = −g (1.47)

• mit der Partialbruchzerlegung

11 − x2 =

12

(1

1 − x+

11 + x

)(1.48)

können wir nach Trennung der Variablen schreiben∫dv2

11 − v

vE

+1

1 + vvE

= −g

∫dt (1.49)

alsovE

2lnvE + v

vE − v= −gt + C1 (1.50)

• die Integrationskonstante C1 wird so bestimmt, dass v = v0 beit = t0 ist:

C1 =vE

2lnvE + v0

vE − v0(1.51)

• damit lässt sich die Gleichung für die Geschwindigkeit umformenzu

v = −vE

[vE − v0 − (vE + v0)e−2gt/vE

vE − v0 + (vE + v0)e−2gt/vE

](1.52)

für t → ∞ fallen die Exponentialterme weg, und v→ −vE, d.h. eswird die asymptotische Endgeschwindigkeit erreicht, wenn t vE/g ist

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1.5. EINDIMENSIONALE BEWEGUNG 11

• eine weitere Integration führt auf die durchfallene Höhe r:

r − r0 =

∫ t

t0v(t′)dt′ (1.53)

zur Vereinfachung definieren wir

a :=vE + v0

vE − v0; x :=

2gtvE

(1.54)

und erhalten

r − r0 = −v2

E

2g

∫1 − ae−x

1 + ae−x dx (1.55)

• Integration führt auf

r − r0 = −v2

E

2g[x + 2 ln

(1 + ae−x)] (1.56)

setzt man hier die Definitionen von a und x wieder ein, erhält man

r = r0 − vEt −v2

E

gln

12

[1 −

v0

vE+

(1 +

v0

vE

)e−2gt/vE

](1.57)

• bei v0 = 0 erhält man nach genügend langer Zeit, t vE/g, denasymptotischen Verlauf

r → r0 − vEt +v2

E

gln 2 , (1.58)

während im selben Fall für Stokes’sche Reibung gilt:

r → r0 − vEt +v2

E

g(1.59)

wegen ln 2 < 1 ist die mit Luftwiderstand durchfallene Höhekleiner als die mit Stokes’scher Reibung, d.h. Stokes’sche Reibungist effektiver (bremst stärker ab)

1.5.4 Freier Fall aus großer Höhe

• für freien Fall aus großer Höhe, h & RErde, muss berücksichtigtwerden, dass sich die Erdbeschleunigung mit der Höhe ändert; dieGravitationskraft im Abstand r vom Erdmittelpunkt ist

FG = −GMm

r2 =: −α

r2 (1.60)

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12 KAPITEL 1. NEWTONSCHE AXIOME

-0.4

-0.2

0

0.2

0.4

0.6

0.8

1

0 0.5 1 1.5 2

Hoe

he r(

t)

Zeit t

gebremster Fall, Reibung proportional zu v bzw. v2

prop. zu v, v0=0prop. zu v2, v0=0

Abbildung 1.2: Vergleich der durchfallenen Höhen für gebremsten Fallmit Stokes’scher Reibung (rot) und Luftwiderstand (grün).

• Bewegungsgleichung:mr = −

α

r2 (1.61)

nach Multiplikation mit r

mrr = −αrr2 (1.62)

folgt12

d(r2)dt

= αddt

(1r

)(1.63)

• offenbar gilt also:

m(12

r2 −α

r

)= konst. =: E (1.64)

d.h. die „Energie“ E bleibt zeitlich konstant; der erste Ausdruckin Klammern heißt „kinetische“, der zweite „potentielle“ Energie

• erste Verwendung des Energiesatzes zur Lösung des Problems:E = E0 = konst., wobei E0 durch die Anfangsbedingungen gege-ben ist:

E0 =12

mv20 −

α

r0(1.65)

• wenn der Massenpunkt im Unendlichen ruht, r0 = ∞ und v0 = 0,ist E0 = 0 und

12

mv2 =α

r=

GMmr

=gR2

Erdemr

(1.66)

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1.5. EINDIMENSIONALE BEWEGUNG 13

die Endgeschwindigkeit des freien Falls auf die Erdoberfläche ist

v∞ =√

2gRErde = 11.2 m s−1 (1.67)

das ist auch die Fluchtgeschwindigkeit von der Erde

• setzt man v∞ = c (Lichtgeschwindigkeit), erhält man den Schwarz-schildradius

r =: RS =2GM

c2 (1.68)

einer Masse M; er spielt in der relativistischen Astrophysik als„Radius eines schwarzen Lochs“ eine große Rolle

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14 KAPITEL 1. NEWTONSCHE AXIOME

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Kapitel 2

Schwingungen

2.1 Freie Schwingungen

• auf einen Körper im Gleichgewicht wirkt insgesamt keine Kraft,F = 0, er wird also nicht beschleunigt, x = 0

Entwicklung der Kraft um dieGleichgewichtslage• bei kleiner Auslenkung aus der Gleichgewichtslage x0 kann die

Kraft in eine Taylorreihe entwickelt werden:

F = F(x0) +dF(x)

dx

∣∣∣∣∣x0

(x− x0) +12

d2F(x)dx2

∣∣∣∣∣∣x0

(x− x0)2 + . . . (2.1)

nach Voraussetzung verschwindet F(x0), weil x0 die Gleichge-wichtslage ist

• Verschiebung des Koordinatensystems so, dass x0 = 0 wird; wirnehmen an, dass

dF(x)dx

∣∣∣∣∣x0

, 0 (2.2)

und vernachlässigen Terme höherer Ordnung

• wenndF(x)

dx

∣∣∣∣∣x0

> 0 (2.3)

ist, entfernt sich das System aus der Gleichgewichtsage (labilesGleichgewicht); das Gleichgewicht ist stabil (das System kehrt indie Ausgangslage zurück), wenn

dF(x)dx

∣∣∣∣∣x0

< 0 (2.4)

ist

• entsprechend schreiben wir

dF(x)dx

∣∣∣∣∣x0

:= −k , k > 0 , (2.5)

15

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16 KAPITEL 2. SCHWINGUNGEN

und damit lautet die Kraft

F(x) = −kx (2.6)

Federpendel als Beispiel für harmo-nischen Oszillator

• die Bewegungsgleichung ist

mx = −kx (2.7)

oderx + ω2

0x = 0 , (2.8)

wobei wir die Abkürzung

ω0 =

√km

(2.9)

eingeführt haben

• Diese Bewegungsgleichung ist eine gewöhnliche, lineare Differen-tialgleichung 2. Ordnung mit konstanten Koeffizienten. Zu ihrerLösung werden zwei linear unabhängige Lösungen x1(t), x2(t)benötigt, d.h. die Gleichung

λ1x1(t) + λ2x2(t) = 0 (2.10)

kann nur erfüllt werden, wenn λ1 = 0 = λ2 ist. Die allgemeineLösung der Gleichung ist dann eine Linearkombination beiderLösungen,

x(t) = C1x1(t) + C2x2(t) . (2.11)

• unsere Bewegungsgleichung hat die zwei linear unabhängigenLösungen

x1(t) = sinω0t , x2(t) = cosω0t (2.12)

sodass die allgemeine Lösung lautet

x(t) = C1 sinω0t + C2 cosω0t (2.13)

• die Konstanten C1, C2 müssen durch die beiden Anfangsbedingun-gen bestimmt werden:

x(t = 0) = x0 ⇒ C2 = x0

x(t = 0) = v0 ⇒ C1 =v0

ω0

alsox(t) =

v0

ω0sinω0t + x0 cosω0t (2.14)

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2.2. GEDÄMPFTE SCHWINGUNGEN 17

• wegen cos(x−y) = cos x cos y+sin x sin y lässt sich die allgemeineLösung in die Form

x(t) = A0 cos(ω0t − δ0) (2.15)

bringen; das erfordert

A0 =

√x2

0 +v2

0

ω20

(2.16)

undtan δ0 =

v0

x0ω0(2.17)

A0 ≥ 0 heißt Amplitude, ω0t− δ0 Phase der Schwingung; 0 ≤ δ0 <2π

• die beschriebene Bewegung heißt harmonische Schwingung; siehat die Kreisfrequenz ω0, die Frequenz

ν0 =ω0

2π(2.18)

und die Schwingungsperiode

T =1ν

=2πω0

(2.19)

2.2 Gedämpfte Schwingungen

Beispiel für eine gedämpfte Schwin-gung

• Einführung einer zur Geschwindigkeit proportionalen Reibungs-kraft FR = −bx (b > 0) in die Bewegungsgleichung des harmoni-schen Oszillators:

mx + bx + kx = 0 (2.20)

• das ist wieder eine gewöhnliche, lineare Differentialgleichung mitkonstanten Koeffizienten, d.h. wir brauchen wieder zwei linearunabhängige Lösungen

• die Lösung vereinfacht sich im Komplexen, d.h. wir suchen Lö-sungen z(t) ∈ C der Gleichung

mz + bz + kz = 0 , (2.21)

sodass x(t) = <[z(t)] und y(t) = =[z(t)] Lösungen der Ausgangs-gleichung sind

• für z(t) versuchen wir den Ansatz

z(t) = eiωt , (2.22)

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18 KAPITEL 2. SCHWINGUNGEN

alsoz(t) = iωz(t) , z(t) = −ω2z(t) ; (2.23)

damit lautet die komplexe Bewegungsgleichung

(−mω2 + iωb + k)eiωt = 0 (2.24)

diese Gleichung muss für beliebige Zeiten t erfüllt sein, d.h. derAusdruck in Klammern muss separat verschwinden:

− mω2 + iωb + mω20 = 0 , (2.25)

wobei wir wieder k = mω20 gesetzt haben

• offenbar ist unser Ansatz erfolgreich, wenn ω die Bedingung

ω1,2 = iλ ± ω (2.26)

erfüllt, mit

λ :=b

2m, ω :=

√ω2

0 − λ2 (2.27)

damit wird eine Fallunterscheidung in λ nötig

2.2.1 Schwache Dämpfung

• λ < ω0: in diesem Fall ist ω ∈ R, und wir können ohne Beschrän-kung der Allgemeinheit ω > 0 annehmen

• die zwei linear unabhängigen speziellen Lösungen der Bewegungs-gleichung lauten dann

z1,2(t) = e−λte±iωt (2.28)

• aus Real- und Imaginärteil ergeben sich zwei linear unabhängige,reelle Lösungen der Ausgangsgleichung,

x1,2(t) = e−λt ·

cos ωtsin ωt (2.29)

• die allgemeine Lösung lautet

x(t) = e−λt (C1 sin ωt + C2 cos ωt) (2.30)

oder, wie im ungedämpften Fall,

x(t) = Ae−λt cos(ωt − δ0) (2.31)

mit exponentiell abklingender Amplitude, veränderter Frequenzω ≤ ω0 und veränderter Phase δ0

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2.2. GEDÄMPFTE SCHWINGUNGEN 19

-1

-0.8

-0.6

-0.4

-0.2

0

0.2

0.4

0.6

0.8

1

0 1 2 3 4 5

x(t)

Zeit t

freie und gedaempfte Schwingungen

λ=0λ=ω0/20λ=ω0/10

λ=ω0/5

Abbildung 2.1: Freie Schwingung und schwach gedämpfte Schwingun-gen mit verschieden starker Dämpfung

2.2.2 Starke Dämpfung

• λ > ω0: in diesem Fall ist ω = i√λ2 − ω2

0 imaginär; die allgemeineLösung lautet

x(t) = C1e−(λ+√λ2−ω2

0)t + C2e−(λ−√λ2−ω2

0)t (2.32)

sie hat den Schwingungscharakter verloren

2.2.3 Kritische Dämpfung

• λ = ω0: ω = 0, daher liefert x1(t) = e−λt nur noch eine Lösung;eine zweite notwendige, davon linear unabhängige Lösung erhältman durch folgende Konstruktion: im Fall schwacher Dämpfunglautet die allgemeine Lösung für x(t = 0) = 0

x(t) = e−λt v0

ωsin ωt (2.33)

der Grenzübergang für ω→ 0 liefert

limω→0

x(t) = e−λtv0t limω→0

sin ωtωt

= e−λtv0t (2.34)

damit erhalten wir als zweite, von x1(t) linear unabhängige Lösung

x2(t) = te−λt (2.35)

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20 KAPITEL 2. SCHWINGUNGEN

• die allgemeine Lösung lautet damit

x(t) = (C1 + C2t)e−λt (2.36)

dies ist der so genannte aperiodische Grenzfall

0

0.1

0.2

0.3

0.4

0.5

0.6

0.7

0.8

0.9

1

0 1 2 3 4 5

x(t)

Zeit t

stark gedaempfte Schwingungen

aperiodischer Grenzfallλ=1.5ω0

λ=2ω0

Abbildung 2.2: Stark gedämpfte Schwingungen und aperiodischer Grenz-fall

2.3 Erzwungene Schwingungen, Resonanz

erzwungene Schwingung: Federpen-del mit periodischem Antrieb

2.3.1 Allgemeine Lösung

• auf den Massenpunkt wirke von außen eine periodische Kraft

Fe = c cosωt (2.37)

die Bewegungsgleichung lautet dann

mx + bx + kx = c cosωt (2.38)

• wir beschreiten wieder den Lösungsweg in der komplexen Ebene,d.h. wir suchen die Lösung der Gleichung

mz + bz + kz = c eiωt (2.39)

mit z(t) ∈ C, aus der wir später die reelle Lösung x(t) = <[z(t)]erhalten

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2.3. ERZWUNGENE SCHWINGUNGEN, RESONANZ 21

• zur allgemeinen Lösung dieser inhomogenen, gewöhnlichen, li-nearen Differentialgleichung 2. Ordnung benötigen wir eine parti-kuläre Lösung der inhomogenen Gleichung plus die allgemeineLösung der homogenen Gleichung; letztere ist uns schon bekannt:

zh(t) = e−λte±iωt (2.40)

mitλ =

b2m

, ω =

√ω2

0 − λ2 (2.41)

falls λ < ω0

• die partikuläre Lösung gewinnen wir über den Ansatz

zp(t) = z0eiωt (2.42)

er führt auf(−mω2 + ibω + k)z0 = c , (2.43)

also

z0 =c/m

(ω20 − ω

2) + 2iωλ=

c/m[(ω2

0 − ω2) − 2iωλ

](ω2

0 − ω2)2 + 4ω2λ2

(2.44)

• die Zerlegungz0 = Ae−iδ (2.45)

unter der Annahme c ∈ R, c ≥ 0 führt auf die Amplitude

A =c/m√

(ω20 − ω

2)2 + 4ω2λ2(2.46)

und die Phase δ durch

tan δ =2ωλ

ω20 − ω

2(2.47)

A ≥ 0 und 0 ≤ δ < π wegen λ ≥ 0

• eine partikuläre Lösung ist also

xp(t) = A cos(ωt − δ) ; (2.48)

damit erhält man die allgemeine Lösung

x(t) = A cos(ωt − δ) + Ae−λt cos(ωt − δ) (2.49)

A und δ sind bereits festgelegt; A und δ stehen noch zur Erfüllungder Anfangsbedingungen zur Verfügung

• Einschwingung: für t 1/λ entfällt der zweite Term; der Oszil-lator schwingt dann wie die äußere Kraft, aber um die Phase δverschoben; für ω = ω0 ist δ = π/2

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22 KAPITEL 2. SCHWINGUNGEN

-1

-0.8

-0.6

-0.4

-0.2

0

0.2

0.4

0.6

0.8

1

0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50

x(t)

Zeit t

erzwungene Schwingungen

ω=1.1ω0, λ=0.1ω=1.2ω0, λ=0.1

Abbildung 2.3: Erzwungene Schwingungen mit schwacher Dämpfung;deutlich sichtbar sind der Einschwingvorgang und Schwebungen

2.3.2 Resonanz und Halbwertsbreite

• Amplitude A zeigt Resonanzverhalten; Maximum wird erreichtbei der Frequenz

ωmax =

√ω2

0 − 2λ2 (2.50)

und beträgt

Amax =c/m

2λ√ω2

0 − λ2

(2.51)

• die Halbwertsbreite der Resonanz ist bestimmt durch die Bedin-gung

A2(ω) !=

12

A2max (2.52)

sie ist erfüllt für

ω1,2 = ω2max ± 2λ

√ω2

0 − λ2 (2.53)

für schwache Dämpfung, λ ω0, ist

ωmax ≈ ω0

(1 −

λ2

ω20

)≈ ω0 (2.54)

undω1,2 ≈ ω0 ± λ , (2.55)

d.h. die Halbwertsbreite ist

Γ = 2λ (2.56)

im Grenzfall schwacher Dämpfung

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2.3. ERZWUNGENE SCHWINGUNGEN, RESONANZ 23

0

0.5

1

1.5

2

2.5

3

3.5

0.2 0.4 0.6 0.8 1 1.2 1.4 1.6 1.8 2

Pha

se δ

Frequenz ω/ω0

erzwungene Schwingungen

λ=ω0/20λ=ω0/10

λ=ω0/5

Abbildung 2.4: Phase δ der erzwungenen Schwingung nach dem Ein-schwingen für verschiedene Werte der Dämpfung λ

2.3.3 Grenzfall schwacher Dämpfung

• allgemeine Lösung kann in der Form

x(t) = A cos(ωt − δ) + eλt(C1 cos ωt + C2 sin ωt) (2.57)

geschrieben werden

• Anfangsbedingungen:

x(t = 0) = A cos δ + C1 = x0

⇒ C1 = x0 − A cos δx(t = 0) = Aω sin δ − λC1 + C2ω = v0

⇒ C2 =1ω

(v0 + λx0 − Aλ cos δ − Aω sin δ)

• im Grenzfall λ→ 0 gilt δ→ 0, und

C1 → x0 − A , C2 →v0

ω0, A→

c/mω2

0 − ω2

(2.58)

die allgemeine Lösung nimmt dann die Gestalt

x(t) =c/m

ω20 − ω

2(cosωt− cosω0t) + x0 cos ωt +

v0

ω0sinω0t (2.59)

an

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24 KAPITEL 2. SCHWINGUNGEN

0

0.05

0.1

0.15

0.2

0.25

0.3

0.35

0.4

0.45

0.6 0.7 0.8 0.9 1 1.1 1.2 1.3 1.4

Am

plitu

de A

Frequenz ω/ω0

erzwungene Schwingungen

λ=ω0/20λ=ω0/10

λ=ω0/5

Abbildung 2.5: Resonanzverhalten der Amplitude erzwungener Schwin-gungen

• für ω→ ω0 geht der erste Term gegen den Grenzwert

limω→ω0

cosωt − cosω0tω2

0 − ω2

= limω→ω0

t sinωt2ω

=t2

sinω0tω0

(2.60)

(Regel von l’Hospital)

• im Beispiel x0 = 0 erhält man dann die Lösung

x(t) =

(v0

ω0+

ct2mω0

)sinω0t (2.61)

der zweite Term in Klammern wächst linear mit der Zeit; mannennt dies „säkulares Anwachsen“ der Amplitude

2.3.4 Beispiel: Die natürliche Breite von Spektrallinien

• ein Beispiel für eine erzwungene Schwingung ist ein Elektron ineiner Atomhülle, das durch einfallende elektromagnetische Strah-lung angeregt wird

• näherungsweise beschreiben wir das Atom als Dipol, d.h. dasElektron bewegt sich längs der x-Achse um den Atomkern; daselektrische Feld der einfallenden Strahlung kann dann in der Form

E(t) = E0 cosωt (2.62)

geschrieben werden

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2.3. ERZWUNGENE SCHWINGUNGEN, RESONANZ 25

• der Atomkern übt eine Rückstellkraft auf das Elektron aus, dienäherungsweise linear ist; das Elektron schwingt also harmonischum den Atomkern; die Kreisfrequenz der Schwingung sei ω0

• das elektrische Feld übt eine Kraft auf das Elektron aus, die Lor-entzkraft

Fe(t) = qE(t) = qE0 cosωt (2.63)

wobei die Elementarladung q in den so genannten cgs-Einheitenangegeben wird,

q = 4.8 × 10−10 g1/2cm3/2s−1 (2.64)

• die Lorentzkraft beschleunigt das Elektron; da beschleunigte La-dungen strahlen, verliert das bestrahlte Atom Energie; dies führtzu einer Dämpfung der Schwingung, die sich in der klassischenElektrodynamik zu

b =2q2

3c3ω20 (2.65)

ergibt (Einheiten beachten!), wobei c = 3.0 × 1010 cm s−1 dieLichtgeschwindigkeit im Vakuum ist; die Dämpfungskonstante istalso

λ =b

2me=

q2

3mec3ω20 (2.66)

mit der Elektronenmasse me = 9.11 × 10−28 g

• wenn das Atom durch ein kontinuierliches Spektrum elektroma-gnetischer Strahlung beleuchtet wird, erzeugt es eine Absorptions-linie, deren Profil durch das Quadrat der Resonanzkurve (2.46)gegeben ist,

A2 =q2E2

0/m2

(ω20 − ω

2)2 + 4ω2λ2(2.67)

dies wird auch als Lorentzprofil bezeichnet

• die Breite dieser Linie ist also Γ = 2λ, oder

Γ =2q2

3mec3ω20 (2.68)

sie heißt natürliche Linienbreite

• der Kreisfrequenz ω entspricht eine Lichtwellenlänge von ` =

2πc/ω, d.h. die natürlich Linienbreite ist

Γ =8π2q2

3mec`−2

0 = 0.22 s−1(cm`0

)2

(2.69)

für Wellenlängen im Bereich des sichtbaren Lichts ist `0 ≈ 5 ×10−5 cm, also Γ ≈ 108 s−1

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26 KAPITEL 2. SCHWINGUNGEN

• umgerechnet in Wellenlängen entspricht dem eine Breite von

δ` =

∣∣∣∣∣ d`dω

∣∣∣∣∣`0

Γ =2πcω2

0

= `0Γ

ω0(2.70)

mit ω0 = 2πc/`0 ≈ 3.8 × 1015 s−1 für `0 ≈ 5 × 10−5 cm folgtδ` ≈ 1.3 × 10−12 cm ≈ 1.3 × 10−4 Å

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Kapitel 3

Drehimpuls und Energie

3.1 Kinematik in drei Dimensionen

3.1.1 Bahnkurve, Tangential- und Normalvektoren

• der Ort ~x eines Massenpunkts ändert sich in der Regel mit derZeit; die durchlaufenen Punkte ~x(t) bilden seine Bahnkurve; indrei Dimensionen wird sie dargestellt durch die drei Komponenten

~x(t) =

x1(t)x2(t)x3(t)

(3.1)

• das infinitesimale Element der Bogenlänge längs der Bahnkurveist gegeben durch

ds =∣∣∣d~x(t)

∣∣∣ =

∣∣∣∣∣∣d~xdt

∣∣∣∣∣∣ dt =∣∣∣~v(t)∣∣∣ dt , (3.2)

die Bogenlänge also durch

s =

∫ t

0

∣∣∣~v(t′)∣∣∣ dt′ ; (3.3)

das ist die zwischen den Zeiten 0 und t zurückgelegte Strecke

• für viele Zwecke ist eine Umparametrisierung günstig, die stattder Zeit t die Bogenlänge s verwendet; das ist möglich, weil s mitder Zeit monoton wächst; ~x(t)→ ~x(s)

• der Tangentialvektor an die Bahnkurve ist

~τ =d~xds

(3.4)

er ist per Definition der Bogenlänge s ein Einheitsvektor,∣∣∣~τ∣∣∣ = 1

27

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28 KAPITEL 3. DREHIMPULS UND ENERGIE

• der Vektor

~nH =d~τds

∣∣∣∣∣∣d~τds

∣∣∣∣∣∣−1

(3.5)

heißt Hauptnormalenvektor; er steht senkrecht auf ~τ:

~τ2 = 1 ⇒d(~τ2)

ds= 2~τ ·

d~τds

= 0 , (3.6)

also ist ~nH ⊥ ~τ

• es gibt einen weiteren, von ~nH linear unabhängigen Normalenvek-tor zu ~τ, den Binormalenvektor

~nB = ~τ × ~nH (3.7)

3.1.2 Beispiel

Tangential- und Hauptnormalenvek-tor bei der Kreisbewegung

• Kreisbewegung,

~x(t) = R

cosωtsinωt

0

, ~v(t) = Rω

− sinωtcosωt

0

, |~v(t)| = Rω

(3.8)Bogenlänge

s =

∫ t

0Rωdt′ = Rωt (3.9)

Umparametrisierung der Bahnkurve:

~x(s) = R

cos s/Rsin s/R

0

(3.10)

• Tangentialvektor

~τ =d~x(s)

ds=

− sin s/Rcos s/R

0

=

− sinωtcosωt

0

(3.11)

mitd~τds

= −1R

− sin s/Rcos s/R

0

,∣∣∣∣∣∣d~τds

∣∣∣∣∣∣ =1R

(3.12)

ergibt sich der Hauptnormalenvektor zu

~nH = −

cos s/Rsin s/R

0

, (3.13)

und der Binormalenvektor zu

~nB =

− sin s/Rcos s/R

0

× − cos s/R− sin s/R

0

=

001

, (3.14)

er steht also senkrecht zur Kreisebene

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3.2. DREHIMPULS 29

3.1.3 Tangential- und Normalkomponenten

• allgemein definiert man den lokalen Krümmungsradius in Analo-gie zum Kreis als

ρ :=

∣∣∣∣∣∣d~τds

∣∣∣∣∣∣−1

(3.15)

• Zerlegung der Geschwindigkeit und der Beschleunigung in tan-gentiale und normale Komponenten:

~v(t) =d~x(t)

dt=

d~xds

dsdt

= |~v(t)| · ~τ (3.16)

die Geschwindigkeit ist also tangential zur Bahnkurve; für dieBeschleunigung ergibt sich

~a(t) =d~v(t)

dt=

d(v~τ)dt

= v~τ+vd~τdt

= v~τ+vd~τds

dsdt

= v~τ+v2

ρ~nH (3.17)

die Beschleunigung hat also eine tangentiale Komponente undeine Komponente in Richtung der Hauptnormalen, die mit zuneh-mendem Krümmungsradius abnimmt

3.2 Drehimpuls

3.2.1 Drehmoment und Drehimpuls

• das Moment einer Kraft ~F bezüglich des Koordinatenursprungswird definiert als

~M := ~r × ~F , | ~M| = rF sin θ , (3.18)

wenn θ der Winkel zwischen ~r und ~F ist; | ~M| ist also der Flächen-inhalt des durch ~r und ~F aufgespannten Parallelogramms

• das Moment um eine Achse, die durch den Einheitsvektor ~e gege-ben ist, wird definiert als

Me = ~e · ~M = ~e · (~r × ~F) (3.19)

• der Drehimpuls um den Koordinatenursprung ist definiert als~L = ~r × ~p = ~r × m~v (3.20)

seine Zeitableitung ist offenbar gegeben durch

d~L(t)dt

= ~r × ~p + ~r × ~p = ~r × ~F = ~M , (3.21)

da ~r = ~v ‖ ~p ist; es gilt demnach der Drehimpulssatz

~L = ~M (3.22)

in Abwesenheit von Drehmomenten, ~M = 0, bleibt der Drehimpulserhalten, ~L = 0

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30 KAPITEL 3. DREHIMPULS UND ENERGIE

3.2.2 Wechsel des Bezugssystems

• Wie ändern sich die Bewegungsgleichungen beim Übergang zuneuen Koordinaten? Ausgangssystem K am Ursprung O mit Ach-sen ~ei, neues System K′ am Ursprung O′ mit Achsen ~e′i

• Verschiebung des Ursprungs um konstanten Vektor ~a; sei ~x derOrtsvektor im alten System, dann gilt offenbar

~x′ = ~x − ~a , ~′x = ~x , ~

′x = ~x (3.23)

damit ändert sich die Bewegungsgleichung zu

m~x = ~F(~x, ~x, t) → m~ ′x = ~F′(~x′, ~ ′x, t) ;~F′(~x′, ~ ′x, t) = ~F(~x′ + ~a, ~ ′x, t) (3.24)

Übergang zu neuem Bezugssystem• wenn K und K′ denselben Ursprung haben (~a = 0), aber beliebig

gegeneinander verdreht sind, gilt:

x′i = Ri j x j (3.25)

mit der orthogonalen Drehmatrix R,

Ri jRk j = δi j bzw. RRT = 1 ⇒ | det R| = 1 (3.26)

die Drehung heißt eigentlich, wenn det R = 1 ist, anderenfallsuneigentlich

• da R zeitlich konstant ist, folgt

x′i =ddt

(Ri jx j) = Ri j x j , x′i = Ri j x j (3.27)

und die Bewegungsgleichung lautet

mx′i = Ri jF j(R−1~x′,R−1~′x, t) = F′i (~x

′, ~′x, t) (3.28)

• auf diese Weise ist der Übergang zu neuem kartesischen Koordina-tensystem möglich; die allgemeine Form der Bewegungsgleichun-gen bleibt erhalten

• die Komponenten des Drehimpulses ~L sind Li = εi jkx j pk, im neuenKoordinatensystem also

L′i = εi jkx′j p′k = εi jk(R jlxl)(Rkm pm) = εi jkR jlRkm xk pm (3.29)

• da R orthogonal ist,RpqRiq = δpi , (3.30)

lässt sich der Ausdruck εi jkR jlRkm zu folgender Form umschreiben

εi jkR jlRkm = εp jkδpiR jlRkm = εp jkRiqRpqR jlRkm (3.31)

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3.3. ENERGIESATZ FÜR EINEN MASSENPUNKT 31

nun ist außerdem

εp jkRpqR jlRkm = (det R)εqlm (3.32)

und damit folgt

εp jkRiqRpqR jlRkm = (εp jkRpqR jlRkm)Riq = (det R)εqlmRiq (3.33)

• damit ergibt sich für den transformierten Drehimpuls

L′i = (det R)Riq(εqlmxl pm) = (det R)RiqLq (3.34)

• eine physikalische Größe hat Vektorcharakter, wenn sie sich beiKoordinatentransformationen wie eine Geschwindigkeit transfor-miert, also nach

v′i = Ri jv j für det R = 1 (3.35)

man unterscheidet

– polare Vektoren:

v′i = Ri jv j für det R = ±1 (3.36)

– axiale Vektoren:a′i = (det R)Ri ja j (3.37)

der Drehimpuls ist also ein axialer Vektor

• passiv heißt die Drehung, wenn das physikalische System unverän-dert bleibt, aber das Koordinatensystem gedreht wird; aktiv heißtsie, wenn das Koordinatensystem bleibt, aber das physikalischeSystem gedreht wird; mathematisch sind beide äquivalent, physi-kalisch aber streng verschieden

3.3 Energiesatz für einen Massenpunkt

3.3.1 Energiesatz in einer Dimension

• wie vorher beim freien Fall aus großer Höhe:

mx = F(x) ⇒ mxx = xF(x) ⇒m2

d(x2)dt

= −ddt

V(x) (3.38)

mit

V(x) := −∫ x

x0

F(x′)dx′ , (3.39)

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32 KAPITEL 3. DREHIMPULS UND ENERGIE

wobei x0 frei gewählt werden kann; damit ist

F(x) = −dV(x)

dx; −

ddt

V(x) = −dVdx

x = −F(x)x (3.40)

und es giltddt

[m2

x2 + V(x)]

= 0 (3.41)

• die Energie

E :=m2

x2 + V(x) (3.42)

ist also konstant; V(x) ist die potentielle Energie (das Potential)

• in einer Dimension kann zu einer Kraft F(x), die nicht von xabhängt, immer ein Potential angegeben werden; wegen der freienWahl von x0 ist V(x) nur bis auf eine Konstante bestimmt

• die Potentialänderung hängt mit der verrichteten („geleisteten“)Arbeit zusammen; Arbeit = Kraft ·Weg, also

dA = Fdx ⇒ A =

∫ x

x0

F(x′)dx′ = −V(x) (3.43)

Einschränkung der Bewegung undUmkehrpunkte

• aus dem Energiesatz in einer Dimension folgt

m2

+ V(x) = E ⇒ x = ±

√2m

(E − V) (3.44)

damit lässt sich x(t) implizit angeben:

±

∫ x

x0

dx′√2m (E − V)

= t − t0 (3.45)

• offenbar ist Bewegung nur dort möglich, wo E − V ≥ 0 ist, denndie kinetische Energie T = (m/2)x2 ist positiv-semidefinit, T ≥ 0

• dadurch werden Umkehrpunkte x1,2 definiert, die die Bewegungbegrenzen; bei x = x1 und x = x2 ist V = E und T = 0; das ist dieBedeutung des ±-Zeichens oben: zwischen den Umkehrpunktenist Bewegung in beiden Richtungen möglich; es tritt dann eine(möglicher Weise nicht harmonische) Schwingung zwischen x1

und x2 auf; sie hat die Schwingungsperiode

∆t = 2(t1 − t0) = 2∫ x2

x1

dx√2m (E − V)

=√

2m∫ x2

x1

dx√

E − V

(3.46)

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3.3. ENERGIESATZ FÜR EINEN MASSENPUNKT 33

• Beispiel: harmonischer Oszillator,

F = −kx ⇒ V(x) =k2

x2 , (3.47)

wenn man x0 so wählt, dass bei x = 0 auch V = 0 gilt

• also ist

E =m2

x2 +k2

x2 =m2

(x2 + ω2

0x2), (3.48)

denn ω0 =√

k/m; Umkehrpunkte werden erreicht, wenn

E =m2ω2

0x2 (3.49)

ist, also bei

x1,2 = ±

√2E

mω20

(3.50)

• aus der allgemeinen Lösung des harmonischen Oszillators folgt,dass die Energie

E =m2

A20ω

20 = konst. (3.51)

ist; die Umkehrpunkte sind (natürlich) bei x1,2 = ±A0

• damit und aus der allgemeinen Formel ergibt sich die Schwin-gungsperiode zu

∆t =2πω0

(3.52)

• aus der Bewegungsgleichung für den gedämpften harmonischenOszillator folgt

ddt

[m2

x2 + V(x)]

= −bx2 (3.53)

mit V(x) = (k/2)x2; die Energie nimmt also ab, denn −bx2 ≤ 0; eshandelt sich um ein dissipatives System

3.3.2 Energiesatz in drei Dimensionen

• aus der Bewegungsgleichung folgt nach Multiplikation mit ~x

m~x = ~F ⇒ddt

(m2~x2

)= ~F ·

d~xdt

(3.54)

• analog zum eindimensionalen Fall ist

T =m2~x2 =

~p2

2m(3.55)

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34 KAPITEL 3. DREHIMPULS UND ENERGIE

die kinetische Energie; die infinitesimale Änderung der kineti-schen Energie ist die von der Kraft ~F längs des Wegelements d~xverrichtete Arbeit δA,

d(m

2~x2

)= ~F · d~x = δA (3.56)

die Leistung ist die pro Zeiteinheit verrichtete Arbeit,

Leistung =Arbeit

Zeiteinheit= ~F ·

d~xdt

(3.57)

• um aus der Bewegungsgleichung auf eine Erhaltungsgröße zuschließen, müsste

~F ·d~xdt

(3.58)

sich als Zeitableitung einer anderen Funktion schreiben lassen, esmüsste also gelten

~F ·d~xdt

=dAdt

(3.59)

d.h. ~F · d~x = δA müsste ein vollständiges Differential sein; das istim Allgemeinen nicht der Fall, gilt aber für die wichtige Klasseder Potentialkräfte, die gegeben sind durch

~F = −grad V(~x) = −~∇V(~x) (3.60)

• ~∇ ist der Nabla-Operator,

~∇ =

(∂

∂x1~e1 +

∂x2~e2 +

∂x3~e3

)(3.61)

d.h. die Kraftkomponenten sind

Fi = −∂V∂xi

, 1 ≤ i ≤ 3 (3.62)

• für solche Kräfte gilt offenbar

~F ·d~xdt

= −~∇V ·d~xdt

= −ddt

V(~x) (3.63)

bzw. in Differentialform

~F · d~x = −

(∂V∂x1

dx1 +∂V∂x2

dx2 +∂V∂x3

dx3

)= −dV(~x) (3.64)

damit ist dann wiederm2~v2 + V(~x) = T + V = E = konst. (3.65)

• Potentialkräfte ~F = −~∇V heißen konservativ, anderenfalls dissipa-tiv

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3.3. ENERGIESATZ FÜR EINEN MASSENPUNKT 35

Beispiele für Potentialkräfte

• harmonischer Oszillator in drei Dimensionen:

V =k2~x2 , ~F = −~∇V = −k~x (3.66)

• Zentralkräfte zeigen zu einem festen Zentrum hin oder davon weg;der Betrag der Kraft hängt nur vom Abstand von diesem Zentrumab; wenn das Zentrum im Ursprung liegt, gilt:

~F = F(r)~er = F(r)~xr

(3.67)

solche Kräfte haben immer ein Potential, nämlich

V(r) = −

∫ r

r0

F(r′)dr′ , (3.68)

denn dann ist für 1 ≤ i ≤ 3

Fi =∂

∂xi

∫ r

r0

F(r′)dr′ =ddr

∫ r

r0

F(r′)dr′ ·∂r∂xi

= F(r)xi

r(3.69)

3.3.3 Wann sind Kräfte Potentialkräfte?

• wenn eine Kraft eine Potentialkraft ist, dann ist die zwischen zweiPunkten verrichtete Arbeit vom Weg unabhängig,∫ ~x1

~x0

~F(~x)·d~x = −

∫ ~x1

~x0

~∇V(~x)·d~x = −

∫ ~x1

~x0

dV = −[V(~x1) − V(~x0)

],

(3.70)sie hängt nur von den Endpunkten ab

• offenbar muss dann auch gelten∮~F(~x) · d~x = 0 , (3.71)

d.h. das Integral über die Kraft längs eines geschlossenen Wegesmuss verschwinden

• wenn ~F eine Potentialkraft ist, gilt wegen

∂2V∂xi∂x j

=∂2V∂x j∂xi

(3.72)

offenbar auch∂Fi

∂x j−∂F j

∂xi= 0 (3.73)

dies gilt für alle 1 ≤ i ≤ 3 und j , i, also

∂F1

∂x2−∂F2

∂x1(3.74)

und alle zyklischen Vertauschungen davon

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36 KAPITEL 3. DREHIMPULS UND ENERGIE

• die Rotation eines Vektorfeldes ~F ist definiert durch

rot ~F =

(∂F3

∂x2−∂F2

∂x3,∂F1

∂x3−∂F3

∂x1,∂F2

∂x1−∂F1

∂x2

)(3.75)

bzw.(rot ~F)i = εi jk

∂Fk

∂x j(3.76)

oderrot ~F = ~∇ × ~F (3.77)

• damit folgt die hinreichende Bedingung

~F = −~∇V ⇒ ~∇ × ~F = 0 (3.78)

d.h. die Rotation einer Potentialkraft verschwindet

• die Notwendigkeit dieser Bedingung zeigt der Satz von Stokes:Sei G ein einfach zusammenhängendes Gebiet mit Randkurve ∂G,dann ist ∮

∂G

~F · d~x =

∫ ∫G

(~∇ × ~F) · d~A , (3.79)

wobei d~A das gerichtete Flächenelement auf G ist

• also folgt aus ~∇ × ~F = 0, dass∮∂G

~F · d~x = 0 (3.80)

ist, und damit muss ~F eine konservative Kraft sein

• eine Kraft ~F ist also dann und nur dann eine Potentialkraft, wenn~∇ × ~F = 0 ist

Beispiele

• Zentralkraft, ~F = F(r)~x/r

(~∇ × ~F)1 =∂

∂x2

[F(r)

x3

r

]−

∂x3

[F(r)

x2

r

]=

dF(r)dr

x3x2

r−

dF(r)dr

x2x3

r= 0 (3.81)

analog für die anderen Komponenten, also ist ~∇ × ~F(~x) = 0 und~F(~x) ist eine Potentialkraft

• gegeben sei die Kraft

~F(~x) =

−x2/r2

x1/r2

0

(3.82)

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3.4. BEISPIEL: BEWEGUNG IN KONSTANTEM SCHWEREFELD37

offenbar ist auch hier ~∇ × ~F(~x) = 0, aber das Integral über ~F längsder geschlossenen Kurve

~x(φ) = R

cos φsin φ

0

, 0 ≤ φ < 2π (3.83)

beträgt∮~F · d~x =

∫ 2π

0

~F ·d~xdφ

dφ =

∫ 2π

0(sin2 φ + cos2 φ)dφ = 2π , 0

(3.84)die Kraft ist also nicht konservativ! Grund: wegen der Singularitätbei x1 = 0 = x2 ist das von der Kurve eingeschlossene Gebiet nichteinfach zusammenhängend!

3.4 Beispiel: Bewegung in konstantem Schwe-refeld

• Bewegungsgleichung in drei Dimensionen

m~x = −mg~e3 ⇒ ~x(t) = ~x0 +~v0t −g

2t2~e3 (3.85)

• mit den Anfangsbedingungen

~x0 = 0 , ~v0 =

v1,0

0v3,0

(3.86)

(Bewegung in der x1-x3-Ebene) folgt

~x(t) =

v1,0t0

v3,0t − (g/2)t2

(3.87)

wir können die Zeit t durch t = x1/v1,0 eliminieren und erhalten

x3(x1) =v3,0

v1,0x1 −

g

2

(x1

v1,0

)2

(3.88)

das ist die Wurfparabel

• der Scheitel wird erreicht, wenn x3 = 0 ist, also v3,0 − gt = 0 odert = v3,0/g, dann ist

x3 =: h =v2

3,0

g−

12

v23,0

g=

12

v23,0

g, x1 = v1,0

v3,0

g(3.89)

und die Wurfweite ist genau doppelt so groß,

l = 2v1,0v3,0

g(3.90)

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38 KAPITEL 3. DREHIMPULS UND ENERGIE

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Kapitel 4

Bewegung unter dem Einflusseiner Zentralkraft

4.1 Allgemeine Lösung

• das Kraftzentrum sei im Koordinatenursprung; wir haben in Ka-pitel 3 gesehen, dass Zentralkräfte immer ein Potential haben,das wir explizit konstruieren konnten (3.68); wir bezeichnen imFolgenden |~x| = r und ~er = ~x/r

• unter dem Einfluss einer Zentralkraft bleibt der Drehimpuls erhal-ten, denn

d~Ldt

= ~M = ~x × ~F = 0 (4.1)

wegen ~F ‖ ~x; außerdem ist

~x · ~L = ~x · (~x × ~p) = ~p · (~x × ~x) = 0 (4.2)

d.h. die Bewegung verläuft vollständig in einer Ebene senkrechtzu ~L, der Bahnebene; wir wählen als Bahnebene die x1-x2-Ebene,dann sind L3 = |~L| und ~L = L3~e3

zum Flächensatz• im infinitesimalen Zeitintervall dt überstreicht der Ortsvektor ~x

das Flächenelement

d~A =12

[~x × (~xdt)

](4.3)

also istd~Adt

=~L

2m= konst. (4.4)

im Zentralfeld besagt der Drehimpulssatz also, dass die Flächen-geschwindigkeit konstant ist, d.h. dass der Fahrstrahl in gleichenZeiten gleiche Flächen überstreicht; das ist bereits das 2. Kepler-sche Gesetz

39

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40KAPITEL 4. BEWEGUNG UNTER DEM EINFLUSS EINER ZENTRALKRAFT

• wir führen nun Polarkoordinaten in der Bahnebene ein:

~x(t) = r(t)

cosϕ(t)sinϕ(t)

0

, ~x(t) = r(t)

cosϕsinϕ

0

+ rϕ

− sinϕcosϕ

0

(4.5)

Polarkoordinaten in der Bahnebene

• der Betrag des Drehimpulses ist dann gegeben durch

L3

m= r cosϕ(r sinϕ + rϕ cosϕ) − r sinϕ(r cosϕ − rϕ sinϕ) = r2ϕ

(4.6)also

~L =

00

mr2ϕ

(4.7)

• wegen~x2 = r2 + r2ϕ2 (4.8)

lautet der Energiesatz

E =m2

(r2 + r2ϕ2

)+ V(r) = konst. (4.9)

mithilfe des Drehimpulssatzes können wir ϕ eliminieren,

ϕ =L3

mr2 (4.10)

mit L3 = konst., und damit

E =m2

r2 +

[L2

3

2mr2 + V(r)]

(4.11)

• der Ausdruck in eckigen Klammern hängt nur von r ab; er heißteffektives Potential

UL(r) = V(r) +L2

3

2mr2 (4.12)

der Beitrag des Drehimpulses heißt Zentrifugalpotential; es istoffenbar abstoßend, denn

ddr

L23

2mr2 = −L2

3

mr3 ≤ 0 (4.13) 0

5

10

15

20

0.2 0.4 0.6 0.8 1 1.2 1.4 1.6 1.8 2Radius r

Zentrifugalpotential

Zentrifugalpotential • die Bewegung im effektiven Potential sieht aus wie eine eindimen-sionale Bewegung; sie hat also die implizite Lösung (3.45)

t − t0 =

∫ r

r0

dr′√2m [E − UL(r′)]

(4.14)

daraus erhält man r(t), und schließlich ϕ(t) aus dem Drehimpuls-satz, ϕ = L3/(2mr2):

ϕ − ϕ0 =

∫ t

t0

L3dt′

mr2(t′)(4.15)

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4.2. DAS KEPLERPROBLEM 41

• die Bahnkurve, also r(ϕ), folgt leicht aus

drdϕ

=drdt

dtdϕ

=rϕ

(4.16)

alsodrdϕ

=

√2/m[E − UL(r)]

L3/(mr2)(4.17)

woraus folgt

ϕ − ϕ0 = L3

∫ r

r0

dr′

r′2√

2m[E − UL(r′)](4.18)

• wir brauchen zur Lösung sechs Integrationskonstanten (je dreiAnfangsbedingungen für Ort und Geschwindigkeit): ~L, E, ϕ0 undr0

• finite Bahnen sind geschlossen, wenn sich ϕ−ϕ0 bei jedem Umlaufum einen rationalen Bruchteil von 2π ändert, denn dann kehrt derMassenpunkt nach einer ganzen Zahl von Umläufen wieder in denAusgangspunkt zurück; im Allgemeinen sind finite Bahnen nichtgeschlossen, außer in Potentialen V(r) ∝ r−1 oder V(r) ∝ r2

• die Bahnen sind symmetrisch zwischen den Umkehrpunkten rmin

und rmax, an denen r = 0 wird

4.2 Das Keplerproblem

4.2.1 Arten der Bewegung

Tycho Brahe

Johannes Kepler

• Annahme: die Sonne sei ortsfest, d.h. die Planeten laufen umeine unbewegte Zentralmasse (Bemerkungen dazu; geschichtlicheAnmerkungen zu Brahe, Kepler, Newton, Leverrier, Adams)

• wir schreiben die Gravitationskraft als

~FG = −α

r2

~xr, α = GMm (4.19)

wobei M die Masse der Sonne und m die Masse eines umlaufendenKörpers sei; m M

• das Gravitationspotential ist

V(r) =

∫α

r2 dr = −α

r+ konst. (4.20)

die Konstante wird so gewählt, dass V(r) → 0 für r → ∞; daseffektive Potential (mit Zentrifugalpotential) ist also

UL(r) =L2

3

2mr2 −α

r(4.21)

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42KAPITEL 4. BEWEGUNG UNTER DEM EINFLUSS EINER ZENTRALKRAFT

• Bemerkungen über finite und infinite Bewegungen, siehe Abbil-dung

• die Umkehrpunkte rmin und rmax einer finiten Bewegung sind durchden Energiesatz bestimmt:

m2

r2 = 0 ⇒ UL(rmin,max) = E (4.22)

daraus erhält man

rmin,max =1

2E

−α ±√α2 + 4E

L23

2m

(4.23)

(E < 0 für gebundene Bahnen!)

• das Minimum der potentiellen Energie wird erreicht bei der Peri-helentfernung (d.h. im sonnennächsten Punkt)

rmin =1

2E

−α +

√α2 + 4E

L23

2m

(4.24)

dort muss der umlaufende Körper sich am schnellsten bewegen-10

-5

0

5

10

0 0.5 1 1.5 2

Pot

entia

le

Radius r

PotentialZentrifugalpotentialeffektives Potential

E>0, infinite BewegungE<0, finite Bewegung

Potentiale im Gravitationsfeld; finiteund infinite Bewegungen

4.2.2 Form der Bahnen

• aus der allgemeinen Formel (4.18) folgt

ϕ − ϕ0 = L3

∫ r

r0

dr′

r′2√

2m(E + α

r′ −L2

32mr′2

) (4.25)

• die Variablentransformation u = 1/r, du = −dr/r2 = −u2dr führtauf

ϕ − ϕ0 = −

∫ u

u0

du′√(2mEL2

3+ 2mα

L23

u′ − u′2) (4.26)

der Ausdruck unter der Wurzel lässt sich umformen in einen kon-stanten und einen u-abhängigen Term2mE

L23

+

(αmL2

3

)2 − (u′ − αmL2

3

)2 (4.27)

und damit kann das Integral ausgeführt werden,

ϕ − ϕ′0 = − arcsinu − αm

L23√(

αmL2

3

)2+ 2mE

L23

(4.28)

ϕ′0 enthält ϕ0 und die Konstante der letzten Integration

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4.2. DAS KEPLERPROBLEM 43

• mit den Definitionen der Konstanten Exzentrizität ε und Bahnpa-rameter p

ε :=[1 +

2L23E

α2m

]1/2

, p :=L2

3

αm(4.29)

ergibt sich

ϕ − ϕ′0 = − arcsin(

pu − 1ε

)(4.30)

und, aufgelöst nach r, die Bahnkurve

r(ϕ) =p

1 − ε sin(ϕ − ϕ0)(4.31)

wegen sin(ϕ − ϕ′0) = sinϕ cosϕ′0 − cosϕ sinϕ′0 ist sin(ϕ − ϕ′0) =

− cosϕ für ϕ′0 = π/2, und dann ist

r(ϕ) =p

1 + ε cosϕ(4.32)

das ist die allgemeine Form der Bahnkurve im Keplerproblem; dasPerihel liegt bei ϕ = 0, denn dann ist r(ϕ) minimal

4.2.3 Kreisbahnen

• für ε = 0 ist

E = −α2m2L2

3

= −α

2p(4.33)

• da p per Definition konstant ist, ist nach (4.32) r = p = konst.,d.h. der Körper bewegt sich auf einer Kreisbahn

4.2.4 Ellipsenbahnen

zur Definition der Ellipse: eine El-lipse ist die Menge aller Punkte ei-ner Ebene, deren Abstandssummezu zwei vorgegebenen Punkten, denBrennpunkten, konstant = 2a ist.

• für ε < 1 muss E < 0 sein; damit verläuft die Bahn vollständig imEndlichen (1 + ε cosϕ > 0 für alle ϕ)

• die Bahn ist dann eine Ellipse: nach Definition der Ellipse giltr + r′ = 2a, wobei a die große Halbachse ist; die kleine Halbachseist b =

√a2 − f 2, wenn f der Abstand zwischen Brenn- und

Mittelpunkt der Ellipse ist; die numerische Exzentrizität der Ellipseist definiert als

ε :=fa

=

√a2 − b2

a(4.34)

• für den Vektor ~r′ gilt

~r′ = −~r − 2 f~e1 (4.35)

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44KAPITEL 4. BEWEGUNG UNTER DEM EINFLUSS EINER ZENTRALKRAFT

sein Betragsquadrat ist also

r′2 = r2 + 4 f 2 + 4 f r cosϕ (4.36)

nach Definition der Ellipse ist außerdem

r′2 = (2a − r)2 = 4a2 + r2 − 4ar⇒ 4r( f cosϕ + a) = 4(a2 − f 2)

⇒ r =a(1 − ε2)

1 + ε cosϕ

mit f = εa; das ist identisch mit der Gleichung für die Bahnkurve,falls p = a(1 − ε2) gesetzt wird; damit folgt das 1. KeplerscheGesetz: Die Planeten bewegen sich auf Ellipsen, in deren einemBrennpunkt die Sonne steht.

• die Energie ist

E = −α2m2L2

3

(1 − ε2) (4.37)

wegen der Definition von p folgt

(1 − ε2) =pa

=L2

3

αma⇒ E = −

α

2a(4.38)

die Energie hängt offenbar nur von der großen Bahnhalbachse aab, während ε durch den Drehimpuls bestimmt wird

• aus dem Flächensatz

dAdt

=L3

2m= konst. (4.39)

folgt

A = Fläche der Ellipse =L3

2mτ (4.40)

wobei τ die Umlaufzeit ist

• andererseits ist die Fläche einer Ellipse A = πab; wegen

b = a√

1 − ε2 =√

ap =

√L2

3aαm

(4.41)

folgt insgesamt

A = πL3

√a3

αm=

L3

2mτ ⇒ τ2 =

4π2ma3

α(4.42)

das ist das 3. Keplersche Gesetz: die Quadrate der Umlaufzeitender Planeten verhalten sich wie die Kuben ihrer großen Bahnhalb-achsen

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4.2. DAS KEPLERPROBLEM 45

4.2.5 Parabel- und Hyperbelbahnen

• für ε = 1 ist E = 0, d.h.

r =p

1 + cosϕ→ ∞ für ϕ→ ±π (4.43)

die Bahn ist eine Parabel, denn nach Definition der Parabel ist

r = 2 f − r cosϕ , also r =2 f

1 + cosϕ(4.44)

der umlaufende Körper entweicht damit ins Unendliche

• für ε > 1 ist E > 0, d.h. r → ∞ für 1 + ε cosϕ → 0; das ist derFall für

ϕ = arccos(−

)>π

2(4.45)

wegen r ≥ 0 muss 1 + ε cosϕ ≥ 0 sein, wodurch |ϕ| ≤ ϕ einge-schränkt wird; die Bahnkurve ist ein Hyperbelast

zur Definition der Parabel: Eine Pa-rabel ist die Menge aller Punkte ei-ner Ebene, deren Abstand von ei-ner Linie (der Leitlinie) und einemPunkt (dem Brennpunkt) gleich ist.

4.2.6 Der Laplace-Lenz-Runge-Vektor

• folgender Vektor heißt Laplace-Lenz-Runge-Vektor:

~Q =1α

(~x × ~L) −~xr

(4.46)

seine Zeitableitung verschwindet,

d ~Qdt

=1α

(~x × ~L + ~x × ~L) −~xr

+~xr2 r

= −1m

(1r3 ~x ×

~L)−~xr

+~x

2r3

dr2

dt

=1

mr3

[(~x × ~p) × ~x

]−~xr

+~x

2r3

d(~x)2

dt

=[~x · ~x2 − ~x(~x · ~x)

]−~xr

+~x(~x · ~x)

r3 = 0

wobei im ersten Schritt ~L = 0 und ~x = −α~x/r2 (Gravitationsgesetz)verwendet wurden

• also ist auch ~Q eine Invariante der Bewegung; außerdem ist offen-bar ~L · ~Q = 0, d.h. ~Q liegt in der Bahnebene; nun ist

~x · ~Q =1α

[~x · (~x × ~L)

]− r =

L2

αm− r = rQ cosϕ (4.47)

und daraus ergibt sich

r =L2

3/(αm)1 + Q cosϕ

=p

1 + Q cosϕ(4.48)

d.h. der Betrag von ~Q ist die numerische Exzentrizität, und ~Q zeigtin Richtung zum Perihel

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46KAPITEL 4. BEWEGUNG UNTER DEM EINFLUSS EINER ZENTRALKRAFT

4.3 Mechanische Ähnlichkeit und der Virial-satz

4.3.1 Mechanische Ähnlichkeit

• sei das Potential V(~x) homogen vom Grad k in ~x, d.h.

V(a~x) = akV(~x) (4.49)

• transformieren wir ~x und t durch ~x→ a~x und t → bt, dann gilt

~x→ab~x , ~x→

ab2 ~x (4.50)

• die Bewegungsgleichungen transformieren sich dann nach

m~x = −~∇V(~x)→ mab2 ~x = −

1a

ak~∇V(~x) (4.51)

sie bleiben offenbar unverändert, wenn

a2

b2 = ak , also b = a1−k/2 (4.52)

gewählt wird

• das bedeutet: wenn V(~x) homogen vom Grad k in ~x ist, dannlassen die Bewegungsgleichungen Ähnlichkeitstransformationenzu, wobei sich die Zeitdifferenzen (z.B. zwischen entsprechendenBahnpunkten) verhalten wie

t′

t=

(l′

l

)1−k/2

(4.53)

wenn l′/l das Verhältnis der Bahnabmessungen ist

4.3.2 Beispiele

• harmonischer Oszillator: V ∝ x2, k = 2; Schwingungsdauer istunabhängig von der Amplitude!

• freier Fall im konstanten Schwerefeld: V ∝ x, k = 1:

t′

t=

(l′

l

)1/2

(4.54)

die Quadrate der Fallzeiten verhalten sich wie die Anfangshöhen

• Bewegung im Gravitationsfeld: V ∝ r−1, k = −1:

t′

t=

(l′

l

)3/2

(4.55)

3. Keplersches Gesetz

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4.3. MECHANISCHE ÄHNLICHKEIT UND DER VIRIALSATZ 47

4.3.3 Der Virialsatz

• sei f (~x) homogen vom Grad k in ~x, f (a~x) = ak f (~x), dann ist

∂a[f (a~x)

]=

d f (a~x)d(a~x)

· ~x = k ak−1 f (~x) (4.56)

insbesondere muss dies auch für a = 1 gelten, woraus das Euler-Theorem über homogene Funktionen folgt,

~x · ~∇ f (~x) = k f (~x) (4.57)

• die kinetische Energie T ist homogen vom Grad 2 in ~v, also gilt

~v ·∂T∂~v

= 2T (4.58)

und weiter

∂T∂~v

= ~p , ⇒ 2T = ~v · ~p =ddt

(~p · ~x) − ~p · ~x (4.59)

• Mittelung über die Zeit

〈. . .〉t =1∆t

∫ ∆t

0(. . .)dt (4.60)

für ∆t → ∞ führt auf

〈T 〉t = lim∆t→∞

1∆t

∫ ∆t

0

ddt

(~p · ~x)dt = lim∆t→∞

(~p · ~x)(∆t) − (~p · ~x)(0)∆t

= 0

(4.61)falls die Bewegung vollständig im Endlichen verläuft (z.B. aufeiner gebundenen Bahn)

• wegen ~p = −~∇V(~x) folgt daraus der Virialsatz:

2〈T 〉t = −〈~p · ~x〉t = 〈~x · ~∇V(~x)〉t = k 〈V(~x)〉t (4.62)

die mittlere kinetische Energie ist gleich dem k/2-fachen der mitt-leren potentiellen Energie

• für das Newtonsche Gravitationsgesetz, V ∝ r−1, ist k = −1 und

〈T 〉t = −〈V〉t (4.63)

• der Virialsatz hat in der Astronomie sehr große Bedeutung, z.B. fürdie Thermodynamik selbstgravitierender Systeme (negative Wär-mekapazität)

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48KAPITEL 4. BEWEGUNG UNTER DEM EINFLUSS EINER ZENTRALKRAFT

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Kapitel 5

Mechanik eines Systems vonMassenpunkten

5.1 Bewegung des Schwerpunkts

• gegeben seien N Massenpunkte mit den Massen mi an den Orts-vektoren ~xi, 1 ≤ i ≤ N; die Kraft des i-ten Massenpunkts aufden j-ten sei ~Fi j; zusätzlich wirke auf den i-ten Massenpunkt dieäußere Kraft ~F(e)

iKräfte zwischen zwei Teilchen he-ben sich paarweise auf.• das 3. Newtonsche Axiom verlangt

~F ji = − ~Fi j , ~Fi j + ~F ji = 0 (5.1)

d.h. die inneren Kräfte müssen sich paarweise aufheben

• die Bewegungsgleichungen lauten

mi~xi =∑j,i

~F ji + ~F(e)i (5.2)

• als Schwerpunkt definieren wir

~X :=1M

N∑i=1

mi~xi , wobei M :=N∑

i=1

mi (5.3)

die Gesamtmasse ist

• summiert man die Bewegungsgleichungen, erhält man

N∑i=1

mi~xi =∑i, j,i

~Fi j+

N∑i=1

~F(e)i =

12

∑i, j,i

(~Fi j + ~F ji

)+

N∑i=1

~F(e)i =

N∑i=1

~F(e)i

(5.4)

49

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50KAPITEL 5. MECHANIK EINES SYSTEMS VON MASSENPUNKTEN

die inneren Kräfte können zur Dynamik des gesamten Systemsnichts beitragen, da sie sich paarweise aufheben; das Gesamtsy-stem bewegt sich also so, als wäre seine gesamte Masse in seinemSchwerpunkt vereinigt und bewege sich aufgrund der Resultieren-den aller äußeren Kräfte,

M ~X =

N∑i=1

~F(e)i (5.5)

Beispiel für ein System von Massen-punkten: der Kugelsternhaufen M15 • wenn keine äußeren Kräfte wirken, ist offenbar

M ~X = 0 ⇒ M ~X = konst. =

N∑i=1

mi~xi =

N∑i=1

~pi =: ~P (5.6)

d.h. der Gesamtimpuls bleibt erhalten; der Schwerpunkt bewegtsich dann nach

~X(t) = ~X0 +~PM

(t − t0) (5.7)

5.2 Drehimpuls und Energie

• wir nehmen nun an, dass die inneren Kräfte zwischen zwei Mas-senpunkten längs der Verbindungslinie zwischen diesen Punktenwirken,

~Fi j ‖ (~xi − ~x j) , ~Fi j × (~xi − ~x j) = 0 (5.8)

Beispiel: Gravitationskräfte zwischen den Sternen eines Kugel-sternhaufens

• der Drehimpuls des i-ten Massenpunkts bezüglich des Koordina-tenursprungs ist

~Li = ~xi × ~pi = mi(~xi × ~ ix) (5.9)

der Gesamtdrehimpuls des Systems von Massenpunkten ist

~L =

N∑i=1

~Li =

N∑i=1

mi(~xi × ~xi) (5.10)

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5.2. DREHIMPULS UND ENERGIE 51

• seine Zeitableitung ist

d~Ldt

=

N∑i=1

mi(~xi × ~xi) =

N∑i=1

~xi ×∑j,i

~F ji

+

N∑i=1

~xi × ~F(e)i

=12

∑i, j,i

(~xi × ~F ji + ~x j × ~Fi j

)+

N∑i=1

~xi × ~F(e)i

=12

∑i, j,i

[(~xi − ~x j) × ~F ji

]+

N∑i=1

~xi × ~F(e)i

=

N∑i=1

~xi × ~F(e)i (5.11)

da die inneren Kräfte sich paarweise aufheben müssen; innereKräfte tragen zum Gesamtdrehimpuls eines Systems von Massen-punkten nicht bei

• das Gesamtmoment der äußeren Kräfte bezüglich des Koordina-tenursprungs ist definiert als

~M :=N∑

i=1

~xi × ~F(e)j (5.12)

der Drehimpulssatz für ein System von Massenpunkten lautetdemnach

d~Ldt

= ~M (5.13)

• durch Transformation ins Schwerpunktsystem lässt sich der Ge-samtdrehimpuls aufteilen; sei

~xi = ~x∗i + ~X (5.14)

dann ist aufgrund der Definition des Schwerpunkts

N∑i=1

mi~x∗i =

N∑i=1

mi~xi − M~X = 0 (5.15)

also ist auch

~xi = ~X + ~∗

ix , undN∑

i=1

mi~∗

ix = 0 (5.16)

d.h. der Gesamtimpuls im Schwerpunktsystem verschwindet

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52KAPITEL 5. MECHANIK EINES SYSTEMS VON MASSENPUNKTEN

• der Gesamtdrehimpuls lässt sich schreiben als

~L =

N∑i=1

(~xi × mi~xi

)=

N∑i=1

mi

(~X + ~x∗i

(~X + ~

ix)

= ~X × M ~X +

~X × N∑i=1

mi~∗

ix

+

N∑i=1

mi~x∗i × ~X

+

N∑i=1

(~x∗i × mi~

ix)

(5.17)

der zweite und dritte Term verschwindet; der erste ist der Drehim-puls der Bewegung des Schwerpunkts um den Ursprung, der letzteist der gesamte innere Drehimpuls,

~L = ~X × M ~X +

N∑i=1

(~x∗i × mi~

ix)

(5.18)

• wir nehmen nun zusätzlich an, dass die Kräfte zwischen den Mas-senpunkten Potentialkräfte seien, d.h. es sollen Potentiale V ji zwi-schen den Massenpunkten i und j existieren, so dass

~F ji = −~∇iV ji(|~xi − ~x j|) (5.19)

offenbar erfüllen die Potentiale Vi j = V ji und Vii = 0; dabei ist

~∇i :=∂

∂~xi(5.20)

• ebenso sollen die äußeren Kräfte Potentialkräfte sein,

~F(e)i = −~∇iV

(e)i (~xi) (5.21)

• solche Kräfte erfüllen das 3. Newtonsche Axiom, und sie wirkenlängs der Verbindungslinie der Massenpunkte

• die Bewegungsgleichungen lauten

mi~xi = −∑j,i

~∇iV ji(|~xi − ~x j|) − ~∇iV(e)i (~xi) (5.22)

nach Multiplikation mit ~xi ergibt eine Summation über alle iN∑

i=1

mi~xi~xi +∑i, j,i

~xi~∇iV ji(|~xi − ~x j|) +

N∑i=1

~xi~∇iV(e)i (~xi) = 0 (5.23)

dies kann als Zeitableitung geschrieben werden,

ddt

N∑i=1

(mi

2~x2

i

)+

12

∑i, j,i

V ji(|~xi − ~x j|) +

N∑i=1

V (e)i (~xi)

= 0 (5.24)

wobei der Faktor 1/2 vor dem zweiten Term in eckigen Klammerndaher kommt, dass Vi j = V ji ist; das ist der Energiesatz einesSystems von N Massenpunkten

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5.2. DREHIMPULS UND ENERGIE 53

• die gesamte kinetische Energie ist

T =

N∑i=1

(mi

2~x2

i

)(5.25)

die gesamte potentielle Energie ist

V =12

∑i, j

Vi j(|~xi − ~x j|) +

N∑i=1

V (e)i (~xi) (5.26)

und die gesamte Energie bleibt erhalten,

E = T + V = konst. (5.27)

5.2.1 Beipiel: Das Zweikörperproblem

• N = 2 Massenpunkte mit den Massen m1 und m2; die Potentialelauten

V12(|~x1 − ~x2|) = V21(|~x1 − ~x2|) =: V(|~x1 − ~x2|) (5.28)

und damit die Bewegungsgleichungen

m1~x1 = −~∇1V(|~x1 − ~x2|) , m2~x2 = −~∇2V(|~x1 − ~x2|) (5.29)

der Ortsvektor des Schwerpunkts ist

~X =m1~x1 + m2~x2

m1 + m2(5.30)

wegen der Abwesenheit äußerer Kräfte bewegt sich der Schwer-punkt geradlinig-gleichförmig, M ~X = 0

Schwerpunkt zweier Massenpunktegleicher Masse• zur Abkürzung führen wir den Verbindungsvektor ~z = ~x1 − ~x2 ein;

für ihn lautet die Bewegungsgleichung

m1m2~z = −m2~∇1V(|~z|) + m1~∇2V(|~z|) = −(m1 + m2)~∇V(|~z|) (5.31)

denn, mit r := |~z|,

~∇1V =dVdr

∂r∂~x1

=dVdr~zr, ~∇2V =

dVdr

∂r∂~x2

= −dVdr~zr

= −∇V(|~z|)

(5.32)

• das ist die Bewegungsgleichung eines Massenpunkts mit der redu-zierten Masse µ in einem äußeren Potential V

µ =m1m2

m1 + m2, µ~z = −~∇V(|~z|) (5.33)

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54KAPITEL 5. MECHANIK EINES SYSTEMS VON MASSENPUNKTEN

• bei m1 = m2 =: m ist die reduzierte Masse µ = m/2, der Schwer-punkt liegt in der Mitte zwischen den beiden Massen;

bei m1 m2 ist die reduzierte Masse µ ≈ m2; das entsprichtder Bewegung von m2 um den „festen“ Massenpunkt m1; derSchwerpunkt liegt annähernd am Ort von m1, ~X ≈ ~x1; das ist dienachträgliche Rechtfertigung dafür, die Bewegung eines Planetenum die Sonne durch die Bewegung eines Massenpunktes um dieortsfeste Sonne anzunähern

5.3 Elastischer Stoß zwischen zwei Teilchen

5.3.1 Erhaltungssätze

• gegeben seien zwei Teilchen mit den Massen m1 und m2; ihreGeschwindigkeiten vor dem Stoß seien ~v1,2, nach dem Stoß ~v′1,2

• Impulserhaltung fordert

m1~v1 + m2~v2 = m1~v′1 + m2~v

′2 (5.34)

Energieerhaltung verlangtm1

2~v2

1 +m2

2~v2

2 =m1

2~v′21 +

m2

2~v′22 (5.35)

Welche Aussagen sind allein aufgrund der Erhaltungssätze mög-lich?

Transformation auf Schwerpunktko-ordinaten • nach Transformation ins Schwerpunktsystem werden die Massen-

punkte durch die Schwerpunktkoordinaten beschrieben,

~x∗i = ~xi − ~X , ~X =1M

(m1~x1 + m2~x2) (5.36)

der Abstand der Teilchen bleibt natürlich erhalten; Geschwindig-keiten und Beschleunigungen transformieren sich wie

~xi = ~x∗i + ~X , ~xi = ~∗

ix = −~∇∗i V(|~x∗1 − ~x∗2|) (5.37)

Streuung im Schwerpunktsystem• im Schwerpunktsystem lauten die Erhaltungssätze

m1

2~v∗21 +

m2

2~v∗22 =

m1

2~v′∗21 +

m2

2~v′∗22

m1~v∗1 + m2~v

∗2 = m1~v

′∗1 + m2~v

′∗2 = 0 (5.38)

(der Gesamtimpuls im Schwerpunktsystem verschwindet nachDefinition, vgl. 5.16); damit ist offenbar

m1~v∗1 = −m2~v

∗2 , m1~v

′∗1 = −m2~v

′∗2 (5.39)

der Winkel zwischen der Einfalls- und der Ausfallsrichtung heißtStreuwinkel ϑ∗; er ist (im Schwerpunktsystem!) für beide Teilchengleich

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5.3. ELASTISCHER STOSS ZWISCHEN ZWEI TEILCHEN 55

• setzt man (5.39) in den Energiesatz (5.35) ein, um ~v∗2 bzw. ~v′∗2 zueliminieren, folgt

m1~v∗21 + m2

(m1

m2~v∗1

)2

= m1~v′∗21 + m2

(m1

m2~v′∗1

)2

⇒ |~v∗1| = |~v′∗1 | , |~v∗2| = |~v

′∗2 | (5.40)

die Beträge der Geschwindigkeiten vor und nach dem Stoß sindalso für beide Massenpunkte gleich!

• damit sind die Erhaltungssätze erschöpft, sie machen also über denStreuwinkel keine Aussage; 0 ≤ ϑ∗ ≤ π, er hängt vom wirksamenKraftgesetz ab (z.B. bei der Coulombstreuung)

5.3.2 Transformation der Streuwinkel

• wenn der Massenpunkt 2 im Laborsystem ruht, ~v2 = 0, dann ist

~X =m1

M~v1 (5.41)

also ist

~x1 = ~v1 = ~v∗1 + ~X = ~v∗1 +m1

M~v1 ⇒ ~v∗1 =

m2

M~v1 (5.42)

entsprechend gilt für die Rücktransformation nach dem Stoß

~v′1 = ~v′∗1 +m2

M~v1 (5.43)

zur Transformation des Streuwin-kels

• nun ist offenbar

v′∗1 sinϑ∗ = v′1 sinϑ1 , v′1 cosϑ1 = v′∗1 cosϑ∗ +m1

Mv1 (5.44)

und daraus folgt für den Tangens des Streuwinkels ϑ1 im Laborsy-stem

tanϑ1 =v∗1 sinϑ∗

v∗1 cosϑ∗ + (m1/M)v1=

sinϑ∗

cosϑ∗ + (m1/m2)=

m2

Mtanϑ∗

(5.45)

• wegen ~v2 = 0 ist~v∗2 = −

m1

M(5.46)

deswegen ist das Dreieck, das aus ~X, ~v′∗2 und ~v′2 gebildet wird(Dreieck ABC in nebenstehender Skizze), gleichschenklig; dieWinkel BAC und ACB sind daher gleich ϑ2, und weil der WinkelABC gleich ϑ∗ ist, folgt

ϑ2 =π − ϑ∗

2(5.47)

0

0.5

1

1.5

2

2.5

3

3.5

0 0.5 1 1.5 2 2.5 3

θ 1

θ*

m1/m2=0.01m1/m2=0.5m1/m2=0.9

m1/m2=1m1/m2=1.1

m1/m2=2m1/m2=10

Streuwinkel ϑ1 im Laborsystem alsFunktion des Streuwinkels ϑ∗ imSchwerpunktsystem für verschiede-ne Massenverhältnisse

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56KAPITEL 5. MECHANIK EINES SYSTEMS VON MASSENPUNKTEN

• für m1 m2 ist ϑ1 ≈ ϑ∗

• für m1 < m2 sind alle Streuwinkel 0 ≤ ϑ1 ≤ π

• für m1 ≥ m2 gibt es einen maximalen Streuwinkel mit

sinϑmax1 =

m2

m1(5.48)

für m1 = m2 ist ϑ1 = ϑ∗/2 und ϑ2 = π/2 − ϑ1

5.3.3 Beispiel: Energieübertrag bei elastischer Streu-ung

• Beispiel: Neutron der Masse m streut an einem Kern der MasseAm, der im Laborsystem im Ursprung ruhend angenommen wird(~v2 = 0); seine kinetische Energie vor und nach dem Stoß sindT = m~v2

1/2 bzw. T ′ = m~v′21 /2

• nach (5.37) und (5.41) ist

~v′21 =

(~v′∗1 + ~X

)2=

(~v′∗1 +

~v1

1 + A

)2

= ~v′∗21 +2

1 + A|~v′∗1 ||~v1| cosϑ∗ +

~v21

(1 + A)2 (5.49)

wegen der Energieerhaltung (5.40) und (5.41) gilt ferner

~v′∗21 = ~v∗21 =

(~v1 −

~v1

1 + A

)2

= ~v21

( A1 + A

)2

(5.50)

eingesetzt in (5.49) bedeutet dies

~v′21 = ~v21

[1 +

2A(1 + A)2 (cosϑ∗ − 1)

](5.51)

• für die relative Änderung der kinetischen Energie ergibt sich damit

T − T ′

T= 1 −

~v′21~v2

1

=2A

(1 + A)2 (1 − cosϑ∗) (5.52)

• Mittelung über ϑ∗ ergibt unter der Annahme, dass die Streuwinkelim Schwerpunktsystem gleichverteilt sind⟨

T − T ′

T

⟩=

14π

∫ 2π

0dϕ

∫ π

0

2A(1 + A)2 (1 − cosϑ∗) sinϑ∗dϑ∗

=A

(1 + A)2

∫ 1

−1(1 − µ)dµ =

2A(1 + A)2 (5.53)

das ist der mittlere, relative Energieverlust des Neutrons

• er wird maximal, wenn A = 1 gilt, d.h. die Streuung von Neutronenan Atomkernen bremst die Neutronen dann am effektivsten ab,wenn die Atomkerne möglichst leicht sind; Neutronenmoderationz.B. mit Wasser

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5.4. STREUUNG 57

5.4 Streuung

5.4.1 Streuwinkel

• ein Teilchenstrahl falle auf ein Target, die Teilchen (der Massem) werden abgelenkt (gestreut); wie sind die gestreuten Teilchenverteilt, wenn die Wechselwirkung durch die Kraft ~F = −α/r2

beschrieben werden kann?

• Energie und Drehimpuls sind beide konstant,

E =m2v2∞ , L3 = bmv∞ (5.54)

die Energie ist positiv, die Bahn also eine Hyperbel; wir nehmenan, dass das Target in Ruhe bleibt

• aus der Behandlung des Keplerproblems (4.45) wissen wir, dassdie Asymptote an einen Hyperbelast mit der Symmetrieachse denWinkel

ϕ = arccos(−

). (5.55)

einschließt; damit ist der Streuwinkel ϑ = 2ϕ − π, also

sinϑ

2= sin

(ϕ −

π

2

)= − cos ϕ =

(5.56)

• die numerische Exzentrizität war (4.29, Seite 43)

ε =

[1 +

2L23E

α2m

]1/2

(5.57)

für eine Zentralkraft der Form F(r) = −α/r2; mit (5.54) folgtdaraus

ε =

[1 +

(bmv2∞)2

α2

]1/2

(5.58)

und mit (5.56) ergibt sich der Zusammenhang zwischen dem Stoß-parameter und dem Streuwinkel

b2 =

(1

sin2 ϑ/2− 1

)α2

m2v4∞

(5.59)

5.4.2 Streuquerschnitt

• der differentielle Wirkungsquerschnitt für die Streuung ist definiertals(

dσdΩ

)dΩ =

Anzahl der pro Sek. nach [ϑ + dϑ] ausfallenden TeilchenAnzahl der pro Sek. einfallenden Teilchen

(5.60)

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58KAPITEL 5. MECHANIK EINES SYSTEMS VON MASSENPUNKTEN

• Anzahl der pro Sekunde gestreuten Teilchen, die innerhalb von[b, b + db] einfallen:

nvdt bdb dψ = nvdt b(ϑ, v∞)∣∣∣∣∣∂b∂ϑ

(ϑ, v∞)∣∣∣∣∣ dϑdψ (5.61)

die Anzahl der pro Sekunde einfallenden Teilchen ist nvdt; darausergibt sich der differentielle Streuquerschnitt als

dσdΩ

= b(ϑ, v∞)∣∣∣∣∣∂b∂ϑ

(ϑ, v∞)∣∣∣∣∣ 1sinϑ

(5.62)

(das Raumwinkelelement ist dΩ = sinϑdϑdψ); mit (5.59) erhältman

dσdΩ

=α2

2m2v4∞

cosϑ/2sin3 ϑ/2 sinϑ

=α2

4(2E)2

1sin4 ϑ/2

, (5.63)

wobei sinϑ = 2 cosϑ/2 sinϑ/2 und 2E = mv2∞ verwendet wurden

• für Streuung von Elektronen an Kernen der Ladungszahl Z istα = Ze2, woraus man die Rutherfordsche Streuformel erhält,

dσdΩ

=(Ze2)2

4(2E)2 sin−4 ϑ

2(5.64)

5.4.3 Streuung unter kleinen Winkeln

• wenn die Ablenkung durch die Streuung klein ist (etwa weil derStoßparameter groß ist), vereinfacht sich die Berechnung des Streu-querschnitts wesentlich; man kann dann direkt im Laborsystemrechnen, weil die Rückwirkung von m1 auf m2 vernachlässigt unddaher m2 → ∞ angenommen werden kann

• demnach liege m2 fest im Ursprung und m1 falle längs der x-Achseein; für die y-Komponente seiner Geschwindigkeit nach dem Stoßgilt

v′y = v2 sinϑ1 = v∞ sinϑ1 ≈ v∞ϑ1 (5.65)

• außerdem ist die y-Komponente der Geschwindigkeit

m1v′y =

∫ ∞

−∞

Fydt (5.66)

wobeiFy = −

∂V∂y

= −dVdr

∂r∂y

= −dVdr

y

r(5.67)

die y-Komponente der Kraft ist; das Integral über die Kraft kannnun längs der ungestörten Bahn ausgeführt werden, weil Fy bereitseine kleine Größe ist, also

m1v′y = −

2bv∞

∫ ∞

0

dVdr

dxr

(5.68)

denn dt = dx/v∞

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5.4. STREUUNG 59

• die Integration über dx kann durch eine Integration über dr ersetztwerden; aus r2 = b2 + x2 folgt rdr = xdx und

dx =rdr

√r2 − b2

(5.69)

daraus ergibt sich mit (5.65)

ϑ1 = −2b

m1v2∞

∫ ∞

b

dVdr

dr√

r2 − b2(5.70)

• auch in der Gleichung (5.62) kann statt sinϑ ≈ ϑ eingesetzt wer-den,

dσdΩ

=

∣∣∣∣∣dbdϑ

∣∣∣∣∣ bϑ

(5.71)

Beispiel: Ablenkung von Licht im Gravitationsfeld

• wenn man Licht als einen Strom von Teilchen auffasst, auf diedie Gravitationskraft wirkt, folgt, dass Lichtstrahlen von Massenabgelenkt werden, an denen sie vorübergehen

• mit V = (Gm1m2)/r ergibt (5.70)

ϑ1 =2Gm2b

c2

∫ ∞

b

dr

r2√

r2 − b2=

2Gm2bc2

√r2 − b2

b2r

∣∣∣∣∣∣∣∞

b

=2Gm2

c2b(5.72)

• mit dem in (1.68) eingeführten Schwarzschild-Radius

RS =2Gm2

c2 (5.73)

folgt

ϑ1 =RS

b(5.74)

• das ist eine heuristische Betrachtung, die erst in der AllgemeinenRelativitätstheorie korrekt durchgeführt werden kann; dort ergibtsich als Ablenkwinkel das Doppelte des aufgrund der Newton-schen Gravitation erwarteten Winkels,

ϑ =2RS

b(5.75)

• die Masse der Sonne ist M = 2 · 1033 g, ihr Schwarzschild-Radiusder Sonne ist also RS, = 3 km; ein Lichtstrahl, der genau denSonnenrand bei b = 696000 km passiert, wird demnach um denWinkel ϑ = 1.7′′ abgelenkt; dieser Wert wurde 1919 während einerSonnenfinsternis nachgewiesen

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60KAPITEL 5. MECHANIK EINES SYSTEMS VON MASSENPUNKTEN

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Kapitel 6

Systeme mit Nebenbedingungen

6.1 Das d’Alembertsche Prinzip

6.1.1 Nebenbedingungen und verallgemeinerte Koordi-naten

• Beispiele für Nebenbedingungen: Kinder auf einer Rutschbahn,zwei Massenpunkte an einer Stange, Kugelbahnen usw.

• Freiheitsgrade: unabhängige Parameter, die zur vollständigen Cha-rakterisierung der Lage des Systems notwendig sind; Beispiele:ein System von N Massenpunkten ohne Nebenbedingungen hatf = 3N Freiheitsgrade (N Ortsvektoren ~xi mit je drei Komponen-ten); zwei Massenpunkte an einer Stange haben f = 3 · 2 − 1 = 5Freiheitsgrade, weil die Stange eine Nebenbedingung stellt; einstarrer Körper hat f = 6 Freiheitsgrade, nämlich die Lage seinesSchwerpunkts und drei Winkel, die seine Orientierung im Raumangeben

• Arten von Zwangsbedingungen: oft können Zwangsbedingungendurch Gleichungen der Art

fi(~x1, . . . , ~xN , t) = 0 , 1 ≤ i ≤ r (6.1)

ausgedrückt werden, die r Bedingungen an die N Ortsvektoren derMassenpunkte stellen; wir nehmen an, dass die fi genügend oftdifferenzierbar sind und die Matrix

∂ f1∂x11

∂ f1∂x12

. . . ∂ f1∂x3N

......

...∂ fr∂x11

∂ fr∂x12

. . . ∂ fr∂x3N

(6.2)

vom Rang r ist, wo fi(~x j, t) = 0 erfüllt ist; Beispiele:

61

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62 KAPITEL 6. SYSTEME MIT NEBENBEDINGUNGEN

1. Bewegung auf einer Ebene erfüllt die Bedingung ~x · ~n = 0,wenn ~n der Normalenvektor der Ebene ist

2. Bewegung auf einer Kugel entspricht der Bedingung |~x| =R = konst., also |~x| − R = 0

Zwangsbedingungen dieses Typs heißen holonom, anderen Typsnichtholonom; ein Beispiel für eine nichtholonome Zwangsbedin-gung ist die für die Bewegung innerhalb einer Kugel, |~x| ≤ R

• Bedingungen, die die Zeit explizit enthalten, heißen rheonom,anderenfalls skleronom (rheos, fließend; skleros, starr)

• bei r Zwangsbedingungen ist die Anzahl der Freiheitsgrade f =

3N − r

• der Konfigurationsraum eines Systems ist der Teil des 3N-dimensionalenRaums, der von den Koordinaten der N Massenpunkte erreichtwerden kann; die r Bedingungsgleichungen fi definieren einen(3N − r)-dimensionale Untermannigfaltigkeit im Konfigurations-raum

• Beispiel: der Konfigurationsraum eines freien Massenpunkts ist derdreidimensionale reelle Raum R3; die Zwangsbedingung |~x| = Rdefiniert eine zweidimensionale Untermannigfaltigkeit, nämlicheine Kugelschale

• auf dieser (3N − r)-dimensionalen Untermannigfaltigkeit kann dieLage des Systems durch f = 3N − r unabhängige Parameter qi

angegeben werden, die als neue Koordinaten verwendet werdenkönnen; damit erscheinen die r Zwangsbedingungen als Bedingun-gen an die Koordinatendarstellung

~xi = ~xi(q1, . . . , q f ; t) , 1 ≤ i ≤ f (6.3)

• Beispiel: die Zwangsbedingung für die Bewegung auf der Kugel-schale ist |~x| −R = 0; ein Punkt auf einer Kugel mit Radius R kanndurch

~x = R ·

sinϑ cosϕsinϑ sinϕ

cosϑ

(6.4)

mit 0 ≤ ϑ ≤ π, 0 ≤ ϕ ≤ 2π angegeben werden, d.h. (q1, q2) können(ϑ, ϕ) repräsentieren

• allgemein heißen die qi verallgemeinerte Koordinaten; sie müssennicht die Dimension einer Länge haben (wie das Beispiel derWinkel auf der Kugel zeigt)

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6.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP 63

6.1.2 Zwangskräfte und Prinzip der virtuellen Arbeit

• diejenigen Kräfte, die die Zwangsbedingungen erzwingen, heißenZwangskräfte; Beispiel: eine Kugel gleite unter dem Einfluss derSchwerkraft ~F reibungsfrei in einer Röhre in der y-z-Ebene, diedurch z = z(y) bzw. f (y, z) = 0 beschrieben wird; nur die Tan-gentialkomponente von ~F relativ zur Röhre kann eine Bewegungverursachen, die Normalkomponente muss durch eine Zwangskraft~Z kompensiert werden,

~Z = − ~Fn = −( ~F · ~n)~n (6.5)

• die Gleichgewichtslage zeichnet sich dadurch aus, dass die Summeaus äußeren und Zwangskräften verschwinden muss,

~F + ~Z = 0 ; (6.6)

da ~Z normal zur Röhre wirkt, ist dies nur möglich, wenn auch ~Fin der Gleichgewichtslage normal zur Röhre gerichtet ist; das istim Minimum der Röhre der Fall

• wie kann die Gleichgewichtsbedingung in allgemeinen Fällengefunden werden? wir denken uns eine virtuelle (nicht wirkliche,nur gedachte) Verrückung δ~x des Massenpunkts längs der Röhre,

δ~x =

(δyδz

),

∂ f (x, y)∂y

δy +∂ f (x, y)∂z

δz = 0 (6.7)

denn der Massenpunkt muss in der Röhre bleiben; vektoriellschreibt sich letztere Bedingung

~∇ f · δ~x = 0 (6.8)

• die virtuelle Verrückung erfordert die virtuelle Arbeit

δA = ( ~F + ~Z) · δ~x (6.9)

da in der Gleichgewichtslage ~F + ~Z = 0 gilt, ist dort auch δA = 0;die Gleichgewichtslage ist also dadurch charakterisiert, dass virtu-elle Verrückungen aus ihr heraus keine virtuelle Arbeit verrichten

• da δ~x tangential, ~Z normal zur Röhre ist, gilt ~Z · δ~x = 0, d.h. dieZwangskraft leistet in keiner Lage eine virtuelle Arbeit; in derGleichgewichtslage leisten also auch die äußeren Kräfte für sichgenommen keine virtuelle Arbeit; im Gleichgewicht gilt also

~F · δ~x = 0 , ~∇ f · δ~x = 0 (6.10)

das ist das Prinzip der virtuellen Arbeit; umgekehrt legen dieZwangsbedingungen das Gleichgewicht fest

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64 KAPITEL 6. SYSTEME MIT NEBENBEDINGUNGEN

• mithilfe eines Lagrange-Multiplikators λ lassen sich beide Bedin-gungen aus (6.10) erfüllen,

( ~F+λ~∇ f )·δ~x = 0 ⇒(Fy + λ

∂ f∂y

)δy+

(Fz + λ

∂ f∂z

)δz = 0 (6.11)

• die Bedingung ~∇ f · δ~x = 0 stellt einen Zusammenhang zwischenδy und δz her, wenn ~∇ f , 0 ist (sollte ~∇ f = 0 sein, ist dieZwangsbedingung uninteressant, weil jedes δ~x sie erfüllt); seietwa ∂ f /∂z , 0, dann lässt sich δz als Funktion von δy angeben,

δz = −∂ f /∂y∂ f /∂z

δy (6.12)

λ muss dann so gewählt werden, dass die Bedingungsgleichung(6.10) erfüllt ist

• wären die Komponenten δy und δz der virtuellen Verrückung un-abhängig, müssten ihre Beiträge zu (6.11) separat verschwinden,(

Fy + λ∂ f∂y

)δy = 0 ,

(Fz + λ

∂ f∂z

)δz = 0 (6.13)

zusätzlich gilt aber die Zwangsbedingung f (y, z) = 0, die δy undδz miteinander verknüpft; wir haben also drei Gleichungen für diedrei Unbekannten λ, y und z

• im Gleichgewicht muss ~F normal zur Kurve sein wie ~∇ f , also

~F = −λ~∇ f , ~Z = λ~∇ f (6.14)

wobei letztere Gleichung aus der Gleichgewichtsbedingung (6.6)folgt

• Beispiel: für einen Massenpunkt, der längs einer Parabel gleitet,ist f (y, z) = z− y2; die Schwerkraft ist ~F = −mg~ez; das Prinzip dervirtuellen Arbeit liefert zunächst für die Gleichgewichtslage

~F · δ~x = −mgδz = 0 (6.15)

aus der Zwangsbedingung folgt

~∇ f · δ~x = −2yδy + δz = 0 (6.16)

mit (6.11) ergeben sich damit die drei Gleichungen

− 2λy = 0 , −mg + λ = 0 , z − y2 = 0 (6.17)

deren Lösung offensichtlich λ = mg und y = 0 = z ist; dieZwangskraft ergibt sich daraus zu ~Z = λ~∇ f = mg~ez

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6.1. DAS D’ALEMBERTSCHE PRINZIP 65

6.1.3 Allgemeine Formulierung des d’AlembertschenPrinzips

• gegeben seien N Massenpunkte mit den Ortsvektoren ~xi, 1 ≤ i ≤N, die sich unter dem Einfluss der äußeren Kräfte ~Fi bewegen; wei-terhin sollen Zwangsbedingungen gelten, die durch Zwangskräfte~Z dargestellt werden

• virtuell heißt eine Verrückung δxi , die unendlich klein, mit denZwangsbedingungen verträglich und sonst willkürlich ist; wenndie Zwangskräfte keine virtuelle Arbeit verrichten, d.h.

N∑i=1

~Zi · δ~xi = 0 (6.18)

erfüllen, dann folgt im Gleichgewicht sofort

N∑i=1

~Fi · δ~xi = 0 (6.19)

im Gleichgewicht verschwindet die virtuelle Arbeit der äußerenKräfte

• Beispiel: ein Hebel hat einen Freiheitsgrad, der durch den Dreh-winkel ϕ ausgedrückt werden kann; die virtuelle Arbeit bei einervirtuellen Verrückung δϕ ist

δA = Fa(aδϕ) − Fb(bδϕ) = 0 (6.20)

woraus unmittelbar das Hebelgesetz aFa = bFb folgt

6.1.4 d’Alemberts Prinzip im dynamischen Fall

• die Bewegungsgleichung im dynamischen Fall (d.h. abseits vomGleichgewicht) ist

~Fi + ~Zi = ~pi (6.21)

seien die Zwangskräfte wieder von der Art, dass (6.18) erfüllt ist,dann gilt offenbar

N∑i=1

( ~Fi − ~pi) · δ~xi = 0 (6.22)

d.h. man betrachtet −~pi als Kräfte, die so genannten Trägheitskräf-te; die Bewegung verläuft also so, dass die virtuelle Arbeit derSumme von äußeren und Trägheitskräften verschwindet

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66 KAPITEL 6. SYSTEME MIT NEBENBEDINGUNGEN

• Beispiel: ein Massenpunkt der Masse m bewege sich an einemEnde einer masselosen Stange der Länge l, die in ihrem anderenEnde drehbar aufgehängt ist; für den Massenpunkt gilt

~x =

(yz

)= l

(sinϕ− cosϕ

), ~x = lϕ

(cosϕsinϕ

),

~x = lϕ(

cosϕsinϕ

)+ lϕ2

(− sinϕcosϕ

)(6.23)

Drehung mit konstanter Winkelgeschwindigkeit ϕ erzeugt dieTrägheitskraft

~p = −m~x = mlϕ2(

sinϕ− cosϕ

)(6.24)

wegen v = |~x| = lϕ ist∣∣∣−~p∣∣∣ =mv2

l, −~p =

mv2

l~xl

(6.25)

das ist die Zentrifugalkraft in diesem speziellen Fall

• Anwendung des d’Alembertschen Prinzips auf das mathematischePendel: die Zwangskraft ~Z muss senkrecht zur Bewegung von msein; die äußere Kraft ist die Schwerkraft ~F = −mg~ez, die virtuelleVerrückung, die mit der Zwangsbedingung (Bewegung auf einemKreisbogen) verträglich ist, lautet

δ~x = lδϕ(

cosϕsinϕ

)(6.26)

aus dem d’Alembertschen Prinzip mit der Trägheitskraft (6.23)folgt dann

( ~F − m~x) · δ~x = 0 ⇒ (−mgl sinϕ − ml2ϕ)δϕ = 0 (6.27)

da δϕ beliebig war, folgt daraus

ϕ = −g

lsinϕ = −

g

lϕ[1 + O(ϕ2)] (6.28)

für kleine Auslenkungen ϕ 1 ist dies die Gleichung einesharmonischen Oszillators mit der Kreisfrequenz ω =

√g/l

6.2 Lagrange-Gleichungen

6.2.1 Lagrange-Gleichungen erster Art

• gegeben sei wieder ein mechanisches System aus N Massenpunk-ten; zur Vereinfachung der Notation betrachten wir die 3N Koordi-naten xi, 1 ≤ i ≤ 3N, der Massenpunkte statt ihrer N Ortsvektoren;

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6.2. LAGRANGE-GLEICHUNGEN 67

das System erfahre die äußeren Kräfte Fi, 1 ≤ i ≤ 3N und un-terliege r holonomen Zwangsbedingungen f j(x1, . . . , x3N) = 0,1 ≤ j ≤ r

• das d’Alembertsche Prinzip besagt

3N∑i=1

(Fi − mi xi)δxi = 0 (6.29)

wobei die δxi wegen der Zwangsbedingungen die Gleichungen

3N∑i=1

∂ f j

∂xiδxi = 0 (6.30)

für 1 ≤ j ≤ r erfüllen müssen

• durch die r Lagrange-Multiplikatoren λ j lassen sich (6.29) und(6.30) kombinieren:

3N∑i=1

Fi − mi xi +

r∑j=1

λ j∂ f j

∂xi

δxi = 0 (6.31)

wegen der r Zwangsbedingungen sind nur 3N−r der Verrückungenδxi beliebig

• die λ j können nun so gewählt werden, dass die Koeffizienten der rabhängigen Verrückungen verschwinden; nehmen wir o.B.d.A. an,das seien die ersten r Verrückungen, dann folgt

Fi − mi xi +

r∑j=1

λ j∂ f j

∂xi= 0 , 1 ≤ i ≤ r (6.32)

dies ist ein lineares Gleichungssystem für die r Multiplikatoren λ j,das eindeutig lösbar ist, wenn

det(∂ f j

∂xi

), 0 , 1 ≤ i, j ≤ r (6.33)

gilt

• die derart bestimmten λ j, 1 ≤ j ≤ r, werden dann in die verblei-benden 3N − r Gleichungen eingesetzt,

3N∑i=r+1

Fi − mi xi +

r∑j=1

λ j∂ f j

∂xi

δxi = 0 (6.34)

die δxi, r + 1 ≤ i ≤ 3N, sind nun aber beliebig, also muss gelten

Fi − mi xi +

r∑j=1

λ j∂ f j

∂xi= 0 , r + 1 ≤ i ≤ 3N (6.35)

dies sind die Lagrange-Gleichungen erster Art

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68 KAPITEL 6. SYSTEME MIT NEBENBEDINGUNGEN

• daraus ergeben sich die Komponenten der Zwangskräfte

Zi =

r∑j=1

λ j∂ f j

∂xi(6.36)

• Beispiel: eine Perle gleite reibungslos auf einem masselosen Draht,der sich um eines seiner Enden dreht; die eine Zwangsbedingungist, dass die Perle den Draht nicht verlassen kann, also gilt

y

x= tanϕ ⇒ y cosϕ + x sinϕ = 0 (6.37)

da keine äußeren Kräfte wirken, folgt aus dem d’Alembert-Prinzipmit dem einen Lagrange-Multiplikator λ

−mx − λ sinϕ = 0−my + λ cosϕ = 0

−x sinϕ + y cosϕ = 0 (6.38)

der (wegen der Rotation nahe liegende) Ansatz x = r cosϕ, y =

r sinϕ führt auf(xy

)= r

(cosϕsinϕ

)+ rϕ

(− sinϕcosϕ

)(

xy

)= (r − rϕ2)

(cosϕsinϕ

)+ (2rϕ + rϕ)

(− sinϕcosϕ

)(6.39)

woraus wegen der linearen Unabhängigkeit von sinϕ und cosϕfolgt

m(r − rϕ2) = 0 , m(2rϕ + rϕ2) = λ (6.40)

aus der ersten Gleichung sieht man, dass die Zentrifugalkraft mrϕ2

als Trägheitskraft auftritt, die die Perle radial nach außen treibt

6.2.2 Lagrange-Gleichungen zweiter Art

• wir führen nun die f = 3N − r verallgemeinerten Koordinatenqi, 1 ≤ i ≤ f , ein; die kartesischen Koordinaten lassen sich dannschreiben als

xi = xi(q1, . . . , q f ; t) (6.41)

• ausgedrückt durch die qi kann d’Alemberts Prinzip umformuliertwerden; zunächst ist die virtuelle Arbeit der äußeren Kräfte

δAe =

3N∑i=1

Fiδxi =

f∑j=1

3N∑i=1

Fi∂xi

∂q j

δq j =:f∑

j=1

Q jδq j , (6.42)

dabei wurden die verallgemeinerten Kraftkomponenten

Q j :=3N∑i=1

Fi∂xi

∂q j(6.43)

eingeführt

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6.2. LAGRANGE-GLEICHUNGEN 69

• die virtuelle Arbeit der Trägheitskräfte ist

δAt = −

3N∑i=1

mi xiδxi (6.44)

weiter benötigen wir

xi =

f∑j=1

∂xi

∂q jq j +

∂xi

∂t⇒

∂xi

∂q j=∂xi

∂q j(6.45)

• damit können wir die virtuelle Arbeit der Trägheitskräfte wie folgtumformen:

δAt = −

f∑j=1

3N∑i=1

mi xi∂xi

∂q jδq j

= −

f∑j=1

ddt

3N∑i=1

mi xi∂xi

∂q j

− 3N∑i=1

mi xiddt∂xi

∂q j

δq j(6.46)

die Zeitableitung im zweiten Term können wir vereinfachen:

ddt∂xi

∂q j=

f∑j=1

∂2xi

∂q j∂qkqk +

∂2xi

∂t∂q j

=∂

∂q j

f∑j=1

∂xi

∂qkqk +

∂xi

∂t

=∂xi

∂q j(6.47)

• setzen wir dies in (6.46) ein, folgt

δAt = −

f∑j=1

ddt

3N∑i=1

mi xi∂xi

∂q j

− 3N∑i=1

mi xi∂xi

∂q j

δq j

= −

f∑j=1

(ddt∂T∂q j−∂T∂q j

)δq j (6.48)

mit der kinetischen Energie

T =12

3N∑i=1

mi x2i (6.49)

• nun muss die gesamte virtuelle Arbeit der äußeren und der Träg-heitskräfte verschwinden, also

δAe + δAt = 0 =

f∑j=1

(Q j −

ddt∂T∂q j

+∂T∂q j

)δq j (6.50)

da die q j alle beliebig waren, folgt

ddt∂T∂q j−∂T∂q j

= Q j , 1 ≤ j ≤ f (6.51)

das sind die Lagrange-Gleichungen zweiter Art

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70 KAPITEL 6. SYSTEME MIT NEBENBEDINGUNGEN

• für Potentialkräfte gilt

Fi = −∂V(xk, t)∂xi

(6.52)

sodass die verallgemeinerten Kräfte in der Form

Q j = −

3N∑i=1

∂xi

∂q j

∂V(xk, t)∂xi

= −∂V(xk(ql, t), t)

∂q j(6.53)

geschrieben werden können

• mit der Lagrange-Funktion

L = T − V = T (q, q, t) − V(q, t) (6.54)

lauten die Lagrange-Gleichungen zweiter Art dann einfach

ddt∂L∂qi−∂L∂qi

= 0 ; (6.55)

in dieser Form werden sie gewöhnlich kurz als Lagrange-Glei-chungen bezeichnet

6.2.3 Beispiele

• Massenpunkt der Masse m im Feld einer vorgegebenen Potential-kraft:

T =m2~x2 , L = T − V =

m2

3∑i=1

x2i − V(xi) ; (6.56)

aus den Lagrange-Gleichungen folgen die Bewegungsgleichungen

ddt

mxi +∂V∂xi

= 0 (6.57)

wie erwartet

• Massenpunkt der Masse m im Feld einer vorgegebenen Zentral-kraft; Wahl ebener Polarkoordinaten (r, ϕ) als verallgemeinerteKoordinaten; das Potential ist V = V(r), und wegen ~x2 = r2+r2+ϕ2

ist die kinetische Energie T = m/2(r2 + r2ϕ2); damit lautet dieLagrange-Funktion

L =m2

(r2 + r2ϕ2) − V(r) (6.58)

für die beiden verallgemeinerten Koordinaten r und ϕ erhalten wirdie Lagrange-Gleichungen

d(mr2ϕ)dt

= 0 , mr − mrϕ2 +∂V∂r

= 0 (6.59)

die erste Gleichung formuliert die Drehimpuls-Erhaltung, die zwei-te die Bewegungsgleichung

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Kapitel 7

Extremalprinzipien

7.1 Hamiltons Prinzip der stationären Wirkung

7.1.1 Beispiel: Das Fermatsche Prinzip

• bisher: differentielle Beschreibung, d.h. aus dem Zustand einesSystems zur Zeit t wird seine Änderung innerhalb der Zeit dt vor-hergesagt; jetzt: Übergang zu einer Beschreibung, die die gesamteBahn eines Systems zur Grundlage nimmt

• zum Begriff der Bahn: gegeben sei ein System mit f Freiheitsgra-den und verallgemeinerten Koordinaten (q1, . . . , q f ); diese mögenvariieren in einem Bereich B ∈ R f , dem so genannten Konfi-gurationsraum; durch die Bewegung des Systems zwischen denZeitpunkten t0 und t1 > t0 wird eine Kurve im Konfigurationsraumdurchlaufen, die Bahn des Systems

• wir nehmen an, dass die Bewegungsgleichungen des Systemsaus einer Lagrange-Funktion L(q, q, t) ableitbar seien; wodurchunterscheidet sich dann die wirkliche Bahn q(t), t0 ≤ t ≤ t1,zwischen den Punkten P0 und P1 von allen denkbaren anderenBahnen q′(t) mit q′(t0) = q(t0) und q′(t1) = q(t1)?

• ein Beispiel für diese Vorgehensweise liefert das Fermatsche Prin-zip der geometrischen Optik, das besagt, dass längs eines tatsäch-lich realisierten Lichtstrahls die Lichtlaufzeit extremal wird

• betrachten wir als Beispiel den Übergang eines Lichtstrahls ausdem linken Halbraum mit dem Brechungsindex n1 in den rech-ten Halbraum mit dem Brechungsindex n2; der Lichtstrahl sollzwischen zwei festen Punkten ~x1 und ~x2 verlaufen

• die Bahnebene des Lichtstrahls sei die x-y-Ebene; die Lichtstrah-len sind in beiden Halbräumen Geraden; der Übergang vom linken

71

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72 KAPITEL 7. EXTREMALPRINZIPIEN

in den rechten Halbraum finde im Punkt (0, y) statt; die gesamteLichtlaufzeit ist

τ =n1

c

√x2

1 + (y − y1)2 +n2

c

√x2

2 + (y2 − y)2 (7.1)

weil die Lichtgeschwindigkeit durch die Brechungsindices aufc/n1,2 reduziert ist; Fermats Prinzip besagt

δτ = 0 (7.2)

• eine kleine Störung δτ bedeutet, dass y leicht verschoben wird

δτ =dτdyδy (7.3)

denn die Endpunkte des Lichtstrahls bleiben unverändert; dasergibt

n1

cy − y1√

x2 + (y − y1)2=

n2

cy2 − y√

x2 + (y2 − y)2(7.4)

oder, mit den Winkeln α1,2 der Lichtstrahlen bezüglich der Norma-len zur Trennfläche zwischen den beiden Halbräumen

n1 sinα1 = n2 sinα2 (7.5)

das ist das Brechungsgesetz

7.1.2 Hamiltons Prinzip

• diese Vorgehensweise wird nun auf die Mechanik übertragen durchdas Postulat: entlang der wirklichen Bahn wird die Wirkung

S [q(t)] :=∫ t1

t0L(q, q, t)dt (7.6)

extremal

• die Wirkung hat die Dimension Energie × Zeit, sie ist ein Funktio-nal der Kurve q(t), d.h. eine Funktion einer Funktion

• das Hamiltonsche Prinzip der stationären Wirkung lautet demnach

δS [q(t)] = δ

[∫ t1

t0L(q, q, t)dt

]= 0 (7.7)

wie man das Extremum eines Funktionals findet, ist Gegenstandder Variationsrechnung (entwickelt von Leonhard Euler)

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7.1. HAMILTONS PRINZIP DER STATIONÄREN WIRKUNG 73

• sei q(t) die wahre Bahn, q′(t) = q(t) + δq(t) eine leicht gestörteBahn, dann muss δS in erster Ordnung in der Störung δq ver-schwinden, also

δS =

∫ t1

t0L(q + δq, q + δq, t)dt −

∫ t1

t0L(q, q, t)dt = 0 (7.8)

wir entwickeln bis zur ersten Ordnung in δq:

L(q + δq, q + δq, t) = L(q, q, t) +

f∑i=1

(∂L∂qi

δqi +∂L∂qi

δqi

)(7.9)

woraus folgt

δS =

∫ t1

t0

f∑i=1

(∂L∂qi

δqi +∂L∂qi

δqi

)dt = 0 (7.10)

• partielle Integration des zweiten Terms nach der Zeit ergibt∫ t1

t0

(∂L∂qi

δqi

)dt =

∂L∂qi

∣∣∣∣∣t1t0

∫ t1

t0

(ddt∂L∂qi

)δqi (7.11)

der erste Term auf der rechten Seite verschwindet, denn die End-punkte der Bahn werden festgehalten; damit folgt

δS =

∫ t1

t0dt

f∑i=1

(ddt∂L∂qi−∂L∂qi

)δqi = 0 (7.12)

da die δqi beliebig sind, folgen daraus die (bereits bekannten)Lagrange-Gleichungen (zweiter Art),

ddt∂L∂qi−∂L∂qi

= 0 (7.13)

• jeder der vorangegangenen Rechenschritte war reversibel, alsoist das Hamiltonsche Prinzip der stationären Wirkung äquivalentzu den Lagrange-Gleichungen; Analogie: Fermats Prinzip; Extre-malprinzipien waren und sind außerordentlich fruchtbar für diemoderne Physik

• das Wirkungsprinzip zeigt, dass die Lagrange-Funktion nicht ein-deutig ist: wenn man L durch einen Term ergänzt, der die totaleZeitableitung einer beliebigen Funktion f (q, t) der Koordinatenund der Zeit ist,

L→ L +d f (q, t)

dt(7.14)

dann ändert sich dadurch die Wirkung um eine Konstante,

S → S + f (q1, t1) − f (q0, t0) (7.15)

die bei der Variation verschwindet; die Bewegungsgleichungenbleiben dadurch unverändert

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74 KAPITEL 7. EXTREMALPRINZIPIEN

7.2 Hamilton-Funktion und kanonische Glei-chungen

7.2.1 Die kanonischen Gleichungen

• die Lagrange-Gleichungen sind f Differentialgleichungen zweiterOrdnung, ihre Lösungen sind charakterisiert durch die 2 f Anfangs-bedingungen (qi, qi) = (q(0)

i , q(0)i ); die folgende Transformation auf

kanonische Form liefert nichts physikalisch Neues, ist aber sehrnützlich in der statistischen Physik und der Quantenmechanik

• die Lagrange-Funktion des freien Teilchens ist Lfrei = m/2(x21 +

x22 + x2

3), also ist∂Lfrei

∂xi= mxi = pi (7.16)

der zu xi gehörige Impuls

• analog wird anhand der verallgemeinerten Koordinaten ein verall-gemeinerter Impuls definiert,

pi :=∂L∂qi

(7.17)

er heißt der zu qi kanonisch konjugierte Impuls; er hat im Allge-meinen nicht die Dimension eines Impulses, aber qi pi behält dieDimension einer Wirkung, also Energie × Zeit

• wenn die Transformation von qi auf pi umkehrbar ist, können dieqi durch pi ersetzt werden,

qi = qi(qi, pi, t) (7.18)

dann können die 2 f Werte (q1, . . . , q f , p1, . . . , p f ) als Zustandspa-rameter verwendet werden

• indem sich das gesamte System zeitlich verändert, werden diese2 f Werte einen Bereich P ∈ R2 f durchlaufen, den so genanntenPhasenraum; einer Kurve im Phasenraum entspricht eine Bahn imKonfigurationsraum B ∈ R f

• Beispiel: die Lagrange-Funktion des harmonischen Oszillators ineiner Dimension lautet

L(x, x, t) =m2

x2 −k2

x2 =m2

(x2 − ω2

0x2)

(7.19)

der kanonisch zu x konjugierte Impuls ist

p =∂L∂x

= mx (7.20)

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7.2. HAMILTON-FUNKTION UND KANONISCHE GLEICHUNGEN75

der Oszillator beschreibt die Kurve(xp

)= A0

(cos(ω0t − δ0)

−mω0 sin(ω0t − δ0)

)(7.21)

also eine Ellipse im Phasenraum

• wie lauten die Bewegungsgleichungen in (q, p) statt in (q, q)?Definition der Hamilton-Funktion

H(q, p, t) :=f∑

i=1

qi pi − L(q, q, t) , q = q(q, p, t) (7.22)

ihr vollständiges Differential lautet

dH =

f∑i=1

∂H∂qi

dqi +

f∑i=1

∂H∂pi

dpi +∂H∂t

=

f∑i=1

(pidqi + qidpi −

∂L∂qi

dqi −∂L∂qi

dqi

)−∂L∂t

(7.23)

wegen (7.17) heben sich die ersten und letzten Terme in Klammernin der zweiten Zeile heraus, also

dH =

f∑i=1

(qidpi −

∂L∂qi

dqi

)−∂L∂t

dt (7.24)

• damit folgt

∂H∂pi

= qi ,∂H∂qi

= −∂L∂qi

,∂H∂t

= −∂L∂t

(7.25)

aus (7.13) und (7.17) entnehmen wir

pi =ddt∂L∂qi

=∂L∂qi

(7.26)

und damit ergeben sich aus (7.25) die hochsymmetrischen Hamil-tonschen kanonischen Gleichungen

∂H∂pi

= qi ,∂H∂qi

= −pi (7.27)

• damit folgt auch: wenn L nicht explizit von qi abhängt, ist der dazukonjugierte Impuls pi erhalten,

∂L∂qi

= 0 ⇒dpi

dt= 0 (7.28)

solche Koordinaten heißen zyklisch: wenn qi nicht explizit inL vorkommt, kann ihr Nullpunkt beliebig verschoben werden,qi → qi + c, ohne dass sich die Bewegungsgleichungen ändern:Invarianzeigenschaft!

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76 KAPITEL 7. EXTREMALPRINZIPIEN

• Beispiel: für den harmonischen Oszillator ergibt sich die Hamilton-Funktion

H(x, p) = xp − L(x, x) =p2

2m+

m2ω2

0x2 (7.29)

und die Hamiltonschen Gleichungen lauten

x =pm, p = −mω2

0x (7.30)

die erste Gleichung ist identisch mit der Definition des Impulses,die zweite ist die Bewegungsgleichung

7.2.2 Hamilton-Funktion und Energie

• die totale zeitliche Änderung der Hamiltonfunktion ist

dHdt

=

f∑i=1

(∂H∂qi

qi +∂H∂pi

pi

)+∂H∂t

=∂H∂t

(7.31)

denn der Ausdruck in Klammern verschwindet wegen der Hamil-tonschen Gleichungen; wenn also H nicht explizit von der Zeitabhängt, ist H eine Erhaltungsgröße

• Beispiel: Massenpunkt der Masse m im Feld einer Potentialkraft,potentielle Energie V(x1, x2, x3); die Lagrange-Funktion lautet

L =m2

(x21 + x2

2 + x23) − V(x1, x2, x3) , pi =

∂L∂xi

= mxi (7.32)

daraus ergibt sich die Hamiltonfunktion

H =

3∑i=1

pi xi − L =

3∑i=1

p2i

2m+ V = E (7.33)

d.h. die Hamiltonfunktion ist gleich der Gesamtenergie

• gegeben sei ein konservatives System von N Massenpunkten,d.h. die Kräfte sind Gradienten einer Potentialfunktion V(~x1, . . . , ~xN);es unterliege r holonom-skleronomen Zwangsbedingungen f j(~xi) =

0, 1 ≤ i ≤ r; diese werden durch Einführung von f = 3N − rverallgemeinerten Koordinaten qi, 1 ≤ i ≤ f erfüllt, d.h. ~xi =

~xi(q1, . . . , q f ) (wegen der skleronomen Zwangsbedingungen kommtdie Zeit nicht explizit vor); für die Geschwindigkeiten gilt

~xi =

f∑j=1

∂~xi

∂q jq j , 1 ≤ i ≤ N (7.34)

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7.2. HAMILTON-FUNKTION UND KANONISCHE GLEICHUNGEN77

• die kinetische Energie

T =

N∑i=1

mi

2~x2

i =

f∑j,k=1

3N∑i=1

mi

2∂xi

∂q j

∂xi

∂qk

q jqk (7.35)

ist eine homogene Funktion zweiten Grades in qi; V hängt nichtexplizit von qi ab

• aus der Lagrange-Funktion L = T − V = T (q, q) − V(q) ergebensich die kanonischen Impulse

pi =∂L∂qi

=∂T∂qi

(7.36)

damit lautet die Hamiltonfunktion

H =

f∑i=1

piqi − L =

f∑i=1

qi∂T∂qi− T + V (7.37)

da T homogen vom Grad k = 2 in q ist, folgt (vgl. 4.58)f∑

i=1

qi∂T∂qi

= 2T , (7.38)

also H = T +V = E, d.h. die Hamiltonfunktion ist die Gesamtener-gie; da H nicht explizit von der Zeit abhängt, folgt die Erhaltungder Gesamtenergie,

dHdt

=∂H∂t

= 0 (7.39)

• es gibt zahlreiche weitere Extremalprinzipien; als Beispiel verall-gemeinern wir das Hamiltonsche Prinzip auf nichtkonservativeSysteme

• seien N Massenpunkte gegeben, die r < 3N holonomen Zwangs-bedingungen unterliegen; für solche Systeme verschwindet dieVariation

δ

∫ t1

t0T (q, q, t)dt +

∫ t1

t0δAedt = 0 (7.40)

wobei wie vorher angenommen wird, dass die Bahnen im Konfi-gurationsraum dieselben Anfangs- und Endpunkte durchlaufen,

δq(t0) = 0 = δq(t1) (7.41)

• unter Verwendung von (6.42) lautet die Variation (7.40)∫ t1

t0dt

f∑j=1

[∂T∂q j

δq j +∂T∂q j

δq j + Q jδq j

]= 0 (7.42)

woraus nach partieller Integration folgt∫ t1

t0dt

f∑j=1

[∂T∂q j

+ Q j −ddt∂T∂q j

]δq j +

∂T∂q j

δq j

∣∣∣∣∣∣t1t0

(7.43)

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78 KAPITEL 7. EXTREMALPRINZIPIEN

• die Randterme in (7.43) verschwinden wegen (7.41), und da dieδq j beliebig sind, folgt

ddt∂T∂q j−∂T∂q j− Q j = 0 (7.44)

das sind die Lagrange-Gleichungen 2. Art für den Fall nichtkon-servativer Kräfte; die Umkehrung erfolgt analog

7.2.3 Kanonische Gleichungen aus dem Wirkungsprin-zip

• entsprechend der Definitiond der Hamiltonfunktion lässt sich dieWirkung auch in der Form

S =

∫ t1

t0L(qi, qi, t)dt =

∫ t1

t0

f∑i=1

qi pi − H(qi, pi, t)

dt (7.45)

schreiben

• die Variation der Wirkung führt dann auf

δS =

f∑i=1

∫ t1

t0

[piδqi + qiδpi −

∂H∂qi

δqi −∂H∂pi

δpi

]dt (7.46)

• der erste Term in eckigen Klammern kann partiell integriert wer-den,

f∑i=1

∫ t1

t0piδqidt =

f∑i=1

piδqi

∣∣∣∣∣∣∣t1

t0

f∑i=1

∫ t1

t0piδqi (7.47)

wobei die Randterme verschwinden; damit erhält man

δS =

f∑i=1

∫ t1

t0

[(qi −

∂H∂pi

)δpi −

(pi +

∂H∂qi

)δqi

]dt (7.48)

aus δS = 0 folgen die Hamiltonschen Gleichungen, weil die δqi

und δpi beliebig waren

7.2.4 Die Routhsche Funktion

• es ist manchmal zweckmäßig, die Lagrange-Funktion nicht bezüg-lich aller verallgemeinerter Geschwindigkeiten qi auf die Hamil-ton-Funktion zu transformieren, sondern nur bezüglich einiger

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7.2. HAMILTON-FUNKTION UND KANONISCHE GLEICHUNGEN79

• sei L(q1, q2, q1, q2) die Lagrange-Funktion eines Systems mit zweiFreiheitsgraden, von denen nur q1 nach p1 transformiert werdensoll; wir führen entsprechend die Routhsche Funktion

R(q1, p1, q2, q2) := q1 p1 − L(q1, q2, q1, q2) (7.49)

ein, deren vollständiges Differential lautet

dR = −∂L∂q1

dq1 +

(p1 −

∂L∂q1

)dq1 + q1dp1 −

∂L∂q2

dq2 −∂L∂q2

dq2

(7.50)

• der zweite Term verschwindet aufgrund der Definition des kano-nisch konjugierten Impulses p1; im ersten Term kann aufgrund derLagrange-Gleichungen

∂L∂q1

=ddt∂L∂q1

= p1 (7.51)

ersetzt werden; damit folgt

dR = −p1dq1 + q1dp1 −∂L∂q2

dq2 −∂L∂q2

dq2 (7.52)

• daraus folgt für die Routhsche Funktion

∂R∂p1

= q1 ,∂R∂q1

= −p1

∂R∂q2

= −∂L∂q2

,∂R∂q2

= −∂L∂q2

(7.53)

bezüglich (q1, p1) verhält sich die Routhsche Funktion also wieeine Hamilton-Funktion, und die Lagrange-Gleichungen zeigen,dass R sich bezüglich (q2, q2) wie eine Lagrange-Funktion verhält,denn

ddt∂R∂q2

=∂R∂q2

(7.54)

• sei q1 eine zyklische Koordinate, dann hängt L nicht explizit vonihr ab und damit auch R nicht; der zugehörige kanonisch konjugier-te Impuls p1 ist also erhalten und kann konstant gesetzt werden; dieRouthsche Funktion hängt dann nur noch von (p1, q2, q2) ab, wo-bei p1 konstant ist; damit ergeben sich die Bewegungsgleichungenfür q2 aus

ddt∂R(p1, q2, q2)

∂q2−∂R(p1, q2, q2)

∂q2= 0 (7.55)

• Beispiel: die Lagrange-Funktion eines Massenpunktes im Zentral-feld V(r) ist

L(ϕ, r, ϕ, r) =m2

(r2 + r2ϕ2

)− V(r) (7.56)

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80 KAPITEL 7. EXTREMALPRINZIPIEN

wobei ϕ zyklisch und deshalb

pϕ =∂L∂ϕ

= mr2ϕ (7.57)

erhalten ist; wir setzen pϕ := L3 konstant und transformieren aufdie Routhsche Funktion

R = ϕpϕ−L =m2

r2ϕ2−m2

r2+V(r) = −m2

r2+L2

3

2mr2 +V(r) (7.58)

• die Bewegungsgleichung für r folgt nun, indem man R als Lagran-ge-Funktion auffasst,

mr +ddr

[L2

3

2mr2 + V(r)]

= 0 (7.59)

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Kapitel 8

Kräfte in bewegtenBezugssystemen

8.1 Koordinatentransformationen

8.1.1 Zusammenhang zwischen kartesischen Koordina-tensystemen

• Zusammenhang zwischen zwei relativ zueinander bewegten karte-sischen Bezugssystemen; gegeben seien ein gestrichenes Systemmit den Einheitsvektoren ~e′i ,

~e′1 =

100

, ~e′2 =

010

, ~e′3 =

001

, (8.1)

und ein ungestrichenes System, dessen Einheitsvektoren im gestri-chenen System lauten

~e j =

R1 j

R2 j

R3 j

, ~e j = Ri j~e′i (8.2)

• damit ergeben sich die Richtungscosinus

~e′i · ~e j = cos(~e′i , ~e j) = Ri j(~e′i

)2= Ri j (8.3)

• nach Voraussetzung bilden die ~e′i und die ~e j orthonormale Dreibei-ne,

~e′i · ~e′j = δi j , ~ei · ~e j = δi j (8.4)

• daraus folgt

δ jk = ~e j · ~ek =(~e′iRi j

) (~e′lRlk

)= (~e′i · ~e

′l)Ri jRlk = Ri jRik (8.5)

81

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82 KAPITEL 8. KRÄFTE IN BEWEGTEN BEZUGSSYSTEMEN

also ist Ri jRik die Einheitsmatrix, d.h. in Matrixschreibweise

RT R = I (8.6)

die Matrix R ist also orthogonal; ebenso folgt

RRT = I (8.7)

• aus Ri jRik = δ jk folgen sechs unabhängige Bedingungen an dieneun Matrixelemente Ri j, d.h. drei der Matrixelemente sind unab-hängig

8.1.2 Eigenschaften orthogonaler Matrizen

• eine Matrix R ist orthogonal, wenn RT R = I ist; dann folgt auch

RRT = I , (det R)2 = 1 (8.8)

R heißt

eigentlichuneigentlich

, wenn gilt det R =

+1−1 (8.9)

R mit det R = −1 transformiert ein Rechts- in ein Linkssystem; einBeispiel ist die Inversion am Ursprung, R = diag(−1,−1,−1)

• orthogonale Matrizen bilden eine Gruppe, d.h. es existiert eineassoziative Verknüpfung zwischen ihnen, die wieder eine ortho-gonale Matrix ist und bezüglich derer es ein Einheitselement Iund ein inverses Element R−1 zu R gibt, so dass RR−1 = I ist:die Verknüpfung ist die Multiplikation, das Einheitselement istdie Einheitsmatrix und das inverse Element ist die transponierteMatrix RT

• eigentliche orthogonale Matrizen bilden eine Untergruppe; Dre-hungen sind i.A. nicht kommutativ!

8.1.3 Transformation des Ortsvektors

• sei ~a′ der Ursprung des ungestrichenen Systems im gestrichenen,dann hängt der Ortsvektor im gestrichenen System mit dem imungestrichenen zusammen nach

~x′ = ~a′ + x j~e j , x′i = a′i + x jRi j (8.10)

für einen weiteren Punkt mit Ortsvektor ~y ist y′i = a′i + y jRi j,d.h. der Verbindungsvektor der beiden Punkte transformiert sichwie

x′i − y′i = Ri j(xi − yi) (8.11)

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8.2. ZEITABHÄNGIGE TRANSFORMATIONEN 83

als Vektoren werden in der Physik allgemein solche Größen de-finiert, die sich wie Koordinatendifferenzen transformieren (derOrtsvektor ist demnach streng genommen kein Vektor und wirdals gebundener Vektor bezeichnet)

8.2 Zeitabhängige Transformationen

8.2.1 Winkelgeschwindigkeit

• bewegen sich die beiden Koordinatensysteme beliebig relativ zu-einander,

~x′ = ~a′(t) + R(t) · ~x(t) (8.12)

wobei ~a′(t) und R(t) vorgegebene Funktionen der Zeit sind, danngilt

~′x = ~

′a + R · ~x + R · ~x = ~′a + R

[~x + RT R · ~x

](8.13)

• wegen RT R = I folgt

RT R + RT R = 0 ⇒ RT R + (RT R)T = 0 (8.14)

d.h. die Matrix RT R muss schiefsymmetrisch sein, also muss mansie in der Form

RT R =

0 −ω3 +ω2

ω3 0 −ω1

−ω2 +ω1 0

(8.15)

schreiben können, wobei die ωi zunächst beliebig numeriert sind

• mithilfe des Levi-Civita-Symbols kann (8.15) in der Form

(RT R)i j = −εi jkωk (8.16)

geschrieben werden

• die ωi bilden einen axialen Vektor, den Vektor der momentanenWinkelgeschwindigkeit; zum Beweis betrachten wir das ungestri-chene System ~ei von einem System ~e∗i aus, das durch

~x = ~c + S ~x∗ (8.17)

mit ~ei verknüpft ist; dabei seien ~c und S konstant; für gestricheneVektoren ~x′ gilt

~x′ = ~a′ + R(~c + S ~x∗) = (~a′ + R~c) + (RS )~x∗ = ~a′∗ + R∗~x∗ (8.18)

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84 KAPITEL 8. KRÄFTE IN BEWEGTEN BEZUGSSYSTEMEN

also ist R∗ = RS , und damit

(R∗T R∗)i j = (S T RT RS )i j = −εi jkω∗k (8.19)

außerdem gilt

(S T RT RS )i j = S aiRbaRbcS c j = −S aiεaclωlS c j (8.20)

also muss gelten

S aiεaclωlS c j = εi jkω∗k (8.21)

wegen S S T = I folgt S lkS nkωn = ωl, also

εaclS aiS c jS lkS nkωn = det S εi jkS nkωn = εi jkω∗k (8.22)

und damit

~ω = (det S )S ~ω∗ (8.23)

d.h. ~ω ist in der Tat ein axialer Vektor, wie behauptet

• setzt man (8.16) in (8.13) ein, folgt

~′x = ~

′a + R(~x + ~ω × ~x) (8.24)

analog gilt für einen beliebigen Vektor ~a mit ~a′ = R~a:

~′a = R(~a + ~ω × ~a) (8.25)

• Beispiel: Drehung um die z-Achse:

~e1 =

cosωtsinωt

0

, ~e2 =

− sinωtcosωt

0

, ~e3 =

001

(8.26)

die Drehmatrix R ergibt sich aus (8.3),

R =

cosωt − sinωt 0sinωt cosωt 0

0 0 1

(8.27)

damit ist

RT R =

0 −ω 0ω 0 00 0 0

⇒ ~ω =

00ω

(8.28)

wie zu erwarten war

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8.2. ZEITABHÄNGIGE TRANSFORMATIONEN 85

8.2.2 Bedeutung von ~ω

• betrachten wir eine Drehung zwischen einem Zeitpunkt t undeinem infinitesimal späteren Zeitpunkt t + dt,

R(t + dt) = R(t) + R(t)dt = R(t)[1 + RT (t)R(t)dt

](8.29)

alsoR(t + dt) = R(t)

[1 − εi jkωk(t)

](8.30)

• seien die Koordinatenachsen so orientiert, dass ~ω zur Zeit t in~e3-Richtung zeigt; weiterhin sollen die gestrichenen Achsen bei tmit den ungestrichenen übereinstimmen, dann gilt

R(t) = 1 , (RT R)(t) =

0 −|ω| 0|ω| 0 00 0 0

(8.31)

und

R(t + dt) =

1 −|ω|dt 0|ω|dt 1 0

0 0 1

(8.32)

dies entspricht einer Drehung um die ~e3-Achse um den Winkeldϕ = |ω|dt

• ~ω gibt also die Lage der momentanen Drehachse an; im Zeitinter-vall dt findet eine Drehung um den Winkel dϕ = |ω|dt im positivenDrehsinn um ~ω statt

8.2.3 Infinitesimale Transformationen

• der Begriff der infinitesimalen Transformationen ist z.B. in derQuantenmechanik sehr wichtig; seien bei der Transformation

~x′ = ~a′ + R~x (8.33)

~a′ und R beide infinitesimal, d.h. ~a′ = δ~a′ und R = I + δR

• wegen der Orthogonalität ist RT R = I, also

(I + δR)T (I + δR) = I ⇒ δRT + δR = 0 (8.34)

d.h. δR ist schiefsymmetrisch und kann analog zu (8.16) in derForm

δRi j = −εi jkδϕk (8.35)

dargestellt werden, wobei die δϕk infinitesimale Drehwinkel sind

• für infinitesimale Koordinatentransformationen gilt allgemein

~x′ = ~x + δ~a′ + δ~ϕ × ~x (8.36)

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86 KAPITEL 8. KRÄFTE IN BEWEGTEN BEZUGSSYSTEMEN

• aktiv heißt eine Transformation, bei der das physikalische Systemsich in einem festen Koordinatensystem bewegt; passiv heißt sie,wenn das physikalische System fest bleibt, das Koordinatensystemaber bewegt wird; mathematisch sind diese Arten der Transforma-tion äquivalent, aber sie müssen physikalisch streng unterschiedenwerden

8.3 Bewegung auf der rotierenden Erde

8.3.1 Scheinkräfte

• gegeben sei ein (gestrichenes) Inertialsystem mit dem Ursprungim Erdmittelpunkt und ein (ungestrichenes) System, das mit derErdoberfläche verbunden ist und seinen Ursprung in ~a′ auf derErdoberfläche hat; die ~e3-Achse zeige in ~a′ senkrecht von derErdoberfläche weg

• zwischen dem ungestrichenen und dem gestrichenen System ver-mittelt die Transformation

~x′ = ~a′ + R~x = R(~a + ~x) (8.37)

wobei ~a der (zeitlich konstante) Ortsvektor des Ursprungs desgestrichenen im ungestrichenen System ist (Erdmittelpunkt imungestrichenen System)

• im gestrichenen System (Inertialsystem) erhalten wir die Bewe-gungsgleichungen aus der Lagrange-Funktion L = T − V mit

T =m2

(~′x)T·(~′x)

=m2

[~x + ~ω × (~a + ~x)

]T·[~x + ~ω × (~a + ~x)

](8.38)

wobei (8.37) und (8.25) verwendet wurden; ~ω ist der Vektor dermomentanen Winkelgeschwindigkeit der Erdrotation im erdfesten(ungestrichenen) System

• die Lagrange-Funktion lautet also

L =m2

~x2 + 2~x ·

[~ω × (~a + ~x)

]+

[~ω × (~a + ~x)

]2− V(~x) (8.39)

daraus folgen die Bewegungsgleichungen

ddt

m~x + m

[~ω × (~a + ~x)

]−

m(~x × ~ω) + m

[ω × (~a + ~x)

]× ~ω − ~∇V(~x)

= 0 (8.40)

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8.3. BEWEGUNG AUF DER ROTIERENDEN ERDE 87

bzw.

m~x + m[~ω × (~a + ~x)

]+ 2m~ω × ~x

+ m[~ω × (~ω × ~x)

]+ m

[~ω × (~ω × ~a)

]+

+ ~∇V(~x) = 0 (8.41)

statt der Kraft −~∇V(~x) tritt also eine effektive Kraft ~Feff(~x, ~x) auf,die vier zusätzliche Terme enthält, die als Scheinkräfte bezeichnetwerden

• im einzelnen haben die Scheinkräfte folgende Bedeutung:

1. −m[~ω × (~a + ~x)

]: tritt nur auf, wenn die Drehachse sich än-

dert; für die Erde ist ~ω ≈ konst., ~ω ≈ 0 (abgesehen vonPräzession und Polschwankungen)

2. −2m(~ω× ~x) = 2m(~x×~ω) =: ~FC: Ablenkung von Massenpunk-ten, die sich im erdfesten System bewegen (Corioliskraft);sie ist senkrecht zu ~ω und zu ~x und verschwindet für Bewe-gungen längs ~ω

3. m[(~ω × ~x) × ~ω

]=: ~FZ: Zentrifugalkraft; sie kann umgeformt

werden zu:

~FZ = m[~ω2~x − ~ω(~ω · ~x)

]= mω2

[~x −

~ω(~x · ~ω)ω2

]= mω2~y

(8.42)wobei ~y der senkrechte Abstand des Massenpunkts von derDrehachse ist

4. m[(~ω × ~a) × ~ω

]: unabhängig von ~x, proportional zu m; Zen-

trifugalkraft des Ursprungs, Beitrag zur Erdbeschleunigung~g→ ~g + (~ω × ~a) × ~ω

• Scheinkräfte sind proportional zu m und haben ihren Ursprung inder Trägheitskraft −m~x; sie haben die Proportionalität zu m mitder Schwerkraft gemein, was die Allgemeine Relativitätstheorieausnutzt; Scheinkräfte zeigen an, dass das Bezugssystem keinInertialsystem ist

8.3.2 Zur Corioliskraft

• seien ~e1 und ~e2 nun nach Süden bzw. nach Osten orientiert; ~e3

zeige weiterhin senkrecht nach oben; der Ursprung des erdfestenSystems befinde sich bei der geografischen Breite ϑ

• der Vektor der Winkelgeschwindigkeit ist dann

~ω = ω

− cosϑ0

sinϑ

(8.43)

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88 KAPITEL 8. KRÄFTE IN BEWEGTEN BEZUGSSYSTEMEN

die Drehung findet „in östlicher Richtung“ statt

• ~ω kann in Komponenten senkrecht bzw. tangential zur Erdoberflä-che zerlegt werden,

~ω‖ =

−ω cosϑ00

, ~ω⊥ =

00

ω sinϑ

(8.44)

entsprechend hat die Corioliskraft zwei Komponenten

~FC = 2m(~x × ~ω⊥) + 2m(~x × ~ω‖) (8.45)

• Bewegung tangential zur Erdoberfläche hat ~x ⊥ ~e3, dann ist derzweite Term normal zur Erdoberfläche; ~x × ~ω⊥ zeigt auf der Nord-halbkugel nach rechts, auf der Südhalbkugel nach links relativzur Rchtung von ~x; Bedeutung für Stürme, Meeresströmungen,Flussläufe, Ballistik

8.4 Das reduzierte Dreikörperproblem

• wir betrachten eine Testmasse m3, die sich in der Nähe von zweiMassen m1,m2 m3 bewegt; m1 und m2 mögen sich auf Kreisbah-nen um ihren Schwerpunkt bewegen; m3 laufe in der Bahnebenevon m1 und m2 um; dieses Problem ist in der Astrophysik sehrwichtig und beschreibt z.B. die Bewegung eines Asteroiden unterdem Einfluss von Sonne und Jupiter

• wir führen ein Koordinatensystem ~e ein, dessen Ursprung derSchwerpunkt von m1 und m2 ist und das mit dem Umlauf derbeiden Massen corotiert; die x-Achse zeige entlang der Verbin-dungslinie der beiden Massen; weiterhin definieren wir

m1

m1 + m2=: µ ,

m2

m1 + m2=: 1 − µ (8.46)

damit sind die Koordinaten der beiden Massen m1 und m2

~x1 =

(µ − 1)d00

, ~x2 =

µd00

(8.47)

• die Umlaufzeit von m1 und m2 um einander ist gegeben durch(4.42),

τ2 =4π2d3

G(m1 + m2)(8.48)

der Betrag der Winkelgeschwindigkeit ist also

ω =2πτ

=

√G(m1 + m2)

d3 (8.49)

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8.4. DAS REDUZIERTE DREIKÖRPERPROBLEM 89

und ω zeigt senkrecht zur Bahnebene; wir wählen den Umlaufsinnso, dass ~ω in ~ez-Richtung zeigt,

~ω =

00ω

(8.50)

• die Koordinaten von m3 seien (x, y, 0); da ~ω konstant ist, fallen dieTerme in (8.41) weg, die ~ω enthalten; da auch ~a = 0 ist, lautet dieBewegungsgleichung für m3

m3~ 3x + 2m3~ω × ~ 3x + m3[~ω × (~ω × ~x3)

]+ m3~∇V(~x3) = 0 (8.51)

mit dem Potential

V(~x3) = −Gm1

r1−

Gm2

r2(8.52)

und den Abständen

r1 =[(x − (µ − 1)d)2 + y2

]1/2, r2 =

[(x − µd)2 + y2

]1/2

(8.53)

• die Kreuzprodukte sind

~ω × ~ 3x =

−ωyωx0

, ~ω × (~ω × ~x3) =

−ω2x

−ω2y0

(8.54)

sodass die Bewegungsgleichungen lauten

x − 2ωy − ω2x +∂V∂x

= 0 , y + 2ωx − ω2y +∂V∂y

= 0 (8.55)

• mit dem effektiven Potential

U := V −ω2

2(x2 + y2) (8.56)

lassen sich die Bewegungsgleichungen in der Form

x − 2ωy = −∂U∂x

, y + 2ωx = −∂U∂y

(8.57)

schreiben

• Multiplikation der ersten Gleichung mit x, der zweiten Gleichungmit y und Addition der beiden führt auf

ddt

[12

(x2 + y2

)+ U

]= 0 (8.58)

d.h.

C := −2U −(x2 + y2

)= ω2

(x2 + y2

)− 2V +

(x2 + y2

)= konst.

(8.59)dies ist die Jacobi-Konstante, das einzige bekannte Integral desreduzierten Dreikörperproblems

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90 KAPITEL 8. KRÄFTE IN BEWEGTEN BEZUGSSYSTEMEN

• wegen x2 + y2 > 0 muss die Bewegung auf solche Bereiche ein-geschränkt sein, in denen C + 2U < 0 ist, die also durch die Hill-Kurve

U = −C2

(8.60)

begrenzt werden

• wenn m3 ruht, bleibt er in Ruhe, wenn ~∇U = 0 gilt; um solchePunkte zu suchen, nehmen wir zunächst r1 = r2 =: r an, dann ist

x =2µ − 1

2d , r =

√d2

4+ y2 (8.61)

und

∂U∂x

=GMr3

[µ (x − (µ − 1)d) + (1 − µ)(x − µd)

]− ω2x

=

(GMr3 − ω

2)

x =

(GMr3 −

GMd3

)x (8.62)

wegen (8.49); dies verschwindet dann und nur dann, wenn

r = d ⇒ y = ±

√3d2

(8.63)

• an diesen Orten ist auch

∂U∂y

=

(GMr3 − ω

2)y = 0 (8.64)

daher ist m3 kräftefrei an den beiden Punkten

~4,5 =d2

2µ − 1±√

30

(8.65)

die mit m1 und m2 gleichseitige Dreiecke bilden; weitere dreiLösungen liegen auf der x-Achse; diese insgesamt fünf Punkteheißen Lagrange-Punkte

• diejenige Hill-Kurve, die die x-Achse zwischen m1 und m2 berührt,heißt Roche-Grenze; sie definiert die Grenze der beiden Einzel-sterne in einem Doppelsternsystem und ist für die Entwicklungvon Doppelsternsystemen sehr wichtig

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Kapitel 9

Bewegung starrer Körper

9.1 Die Euler-Winkel

• gegeben sei ein Intertialsystem ~e′i und ein körperfestes System ~ei,deren Ursprünge zusammen fallen; ein starrer Körper hat sechsFreiheitsgrade; davon bleiben drei, wenn der Ursprung festgehal-ten wird

• zwischen Koordinaten ~x′ im Inertialsystem und Koordinaten ~x imkörperfesten System besteht die Verbindung

~x′ = R · ~x (9.1)

die sechs unabhängigen Matrixelemente von R werden durch diedrei Euler-Winkel (ϑ, ϕ, ψ) parametrisiert, wobei

0 ≤ ϑ ≤ π , 0 ≤ ϕ ≤ 2π , 0 ≤ ψ ≤ 2π (9.2)

• nach der Drehung schneidet die ~e1-~e2-Ebene die ~e′1-~e′2-Ebene inder Knotenlinie, deren Richtung durch ~e′3 × ~e3 gegeben ist

• die Drehmatrix R, ausgedrückt durch die Eulerwinkel, wird wiefolgt konstruiert:

1. Drehung um ~e′3 um den Winkel ϕ; dadurch entsteht ein Koor-dinatensystem ~e∗i , und

~x′ = D3(φ) · ~x∗ , D3(φ) =

cosϕ − sinϕ 0sinϕ cosϕ 0

0 0 1

(9.3)

2. Drehung um ~e∗1 um den Winkel ϑ; dadurch entsteht ein Koor-dinatensystem ~e∗∗i , und

~x∗ = D1(ϑ) · ~x∗∗ , D1(ϑ) =

1 0 00 cosϑ − sinϑ0 sinϑ cosϑ

(9.4)

91

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92 KAPITEL 9. BEWEGUNG STARRER KÖRPER

3. Drehung um ~e∗∗3 um den Winkel ψ; dadurch gelangt man indas körperfeste Koordinatensystem ~ei, und

~x∗∗ = D3(ψ) · ~x , D3(ψ) =

cosψ − sinψ 0sinψ cosψ 0

0 0 1

(9.5)

insgesamt ergibt sich

~x′ = D3(ϕ)D1(ϑ)

[D3(ψ) · ~x

]=: R(ϕ, ϑ, ψ) · ~x (9.6)

mit der gesamten Drehmatrix

R(ϕ, ϑ, ψ) = D3(ϕ)D1(ϑ)D3(ψ) (9.7)

• die Drehmatrix D1(ϑ)D3(ψ) lautet

D1(ϑ)D3(ψ) =

cosψ − sinψ 0cosϑ sinψ cosϑ cosψ − sinϑsinϑ sinψ sinϑ cosψ cosϑ

(9.8)

und die volle Drehmatrix R(ϕ, ϑ, ψ) ist

R(ϕ, ϑ, ψ) =

cosϕ cosψ − sinϕ cosϑ sinψsinϕ cosψ + cosϕ cosϑ sinψ

sinϑ sinψ

− cosϕ sinψ − sinϕ cosϑ cosψ sinϕ sinϑ− sinϕ sinψ + cosϕ cosϑ cosψ − cosϕ sinϑ

sinϑ cosψ cosϑ

(9.9)

manchmal werden andere Konventionen für die Eulerwinkel be-nutzt, etwa indem man im zweiten Schritt nicht um die ~e∗1-, sondernum die ~e∗2-Achse dreht; die Drehmatrix R(ϕ, ϑ, ψ) lautet dann na-türlich anders

• der Konstruktion der Drehmatrix entsprechend kann der Vektorder momentanen Winkelgeschwindigkeit wie folgt durch die dreiEulerwinkel ausgedrückt werden:

~ω = ϕ~e∗3 + ϑ~e∗∗1 + ψ~e3 (9.10)

dabei sind die Einheitsvektoren längs der Koordinatenachsen be-stimmt durch ~e′i · ~e j = Ri j, also

~e∗∗1 · ~e j =[D3(ψ)

]1 j =

cosψ− sinψ

0

(9.11)

und

~e∗3 · ~e j =[D1(ϑ)D3(ψ)

]3 j =

sinϑ sinψsinϑ cosψ

cosϑ

(9.12)

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9.2. TRÄGHEITSTENSOR UND DREHIMPULS 93

• damit lautet die vektorielle Winkelgeschwindigkeit im körperfe-sten System

~ω = ϑ

cosψ− sinψ

0

+ ϕ

sinϑ sinψsinϑ cosψ

cosϑ

+ ψ

001

(9.13)

• damit sind die verallgemeinerten Koordinaten gefunden, in denensich die Bewegung eines starren Körpers ausdrücken lässt

• ~ω ist nicht eine zeitliche Ableitung eines Vektors ~c,

~ω ,d~cdt

(9.14)

denn wenn das so wäre, folgte aus

~c =∂~c∂ϕϕ +

∂~c∂ϑϑ +

∂~c∂ψψ (9.15)

und (9.10)

∂c1

∂ϑ= cosψ ,

∂c1

∂ψ= 0 ⇒

∂2c1

∂ψ∂ϑ,

∂2c1

∂ϑ∂ψ(9.16)

was auf einen Widerspruch führt; damit ist ~ω ein nichtholonomerGeschwindigkeitsvektor

9.2 Trägheitstensor und Drehimpuls

9.2.1 Der Trägheitstensor

• die kinetische Energie des starren Körpers ist

T =12

N∑i=1

mi

(~′

ix)T (

~′

ix)

(9.17)

denn der starre Körper wird zerlegt in Massenpunkte der Massenmi an den körperfesten Orten ~xi gedacht, die im Inertialsystem anden Orten ~x′i liegen

• mit ~ ′ix = R(t)(~ω × ~xi) folgt daraus

T =12

N∑i=1

mi(~ω × ~xi

)2=

12

N∑i=1

mi

[~ω2~x2

i −(~ω · ~xi

)2]

=12ω j

N∑i=1

mi

[~x2

i δ jk − xi, jxi,k

]ωk

=:12ω jΘ jkωk (9.18)

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94 KAPITEL 9. BEWEGUNG STARRER KÖRPER

• um festzustellen, welche Art mathematischen Objekts Θ ist, un-tersuchen wir sein Transformationsverhalten; ausgedrückt durchein neues Koordinatensystem ~e∗i mit gleichem Ursprung lauten diex j = S jkx∗k; wegen der Orthogonalität von S ist

S jlS kmδlm = δ jk (9.19)

das Skalarprodukt ist natürlich invariant,

~x2 = S jlx∗l S jmx∗m = δlmx∗l x∗m = ~x∗2 (9.20)

sodass

Θ jk =

N∑i=1

mi

[~x∗2i S jlS kmδlm − S jlS kmx∗i,l~x

∗i,m

]= S jlS kmΘ∗lm (9.21)

damit erweist sich Θ als ein Tensor zweiter Stufe:

• eine Größe Ti1...in , 1 ≤ ik ≤ d, heißt d-dimensionaler Tensor n-terStufe, wenn sie sich bei einem Wechsel des Koordinatensystemsnach xi = S i jx∗j mit zeitlich konstantem, eigentlich-orthogonalemS transformiert wie

Ti1...in = S i1 j1 · . . . · S in jnT∗j1... jn (9.22)

d.h. sie transformiert sich bezüglich jedes ihrer Indizes wie einVektor; demnach ist ein Skalar ein Tensor nullter Stufe und einVektor ein Tensor erster Stufe

• Θ ist offenbar symmetrisch, Θ jk = Θk j, und lässt sich in Formeiner reellen, symmetrischen Matrix Θ = (Θ jk) schreiben; dieseMatrix transformiert sich bei Koordinatenwechseln wie

Θ = S Θ∗S T (9.23)

• aufgrund seiner Eigenschaften kann Θ durch eine orthogonaleTransformation diagonalisiert werden, d.h. es gibt eine orthogonaleKoordinatentransformation so, dass

Θ∗ = S T ΘS =

Θ1 0 00 Θ2 00 0 Θ3

= diag(Θ1,Θ2,Θ3) (9.24)

ist

• zur Erinnerung: sei A = AT eine reelle, symmetrische Matrix; danngilt allgemein:

1. λ heißt Eigenwert dieser Matrix, wenn es einen Vektor ~y , 0gibt, für den A~y = λ~y gilt; ~y heißt Eigenvektor

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9.2. TRÄGHEITSTENSOR UND DREHIMPULS 95

2. die Eigenwerte λ sind reell und bestimmt durch das charak-teristische Polynom det(A − λI) = 0

3. Eigenvektoren zu verschiedenen Eigenwerten sind orthogo-nal

4. die Eigenvektoren können so gewählt werden, dass sie einvollständiges Orthonormalsystem bilden

• der Trägheitstensor für einen aus N Massenpunkten zusammenge-setzten starren Körper,

Θ jk =

N∑i=1

mi

[~x2

i δ jk − xi, jxi,k

](9.25)

kann für kontinuierliche Körper mit der Dichte ρ(~x) durch

Θ jk =

∫ρ(~x)

(x2δ jk − x jxk

)(9.26)

verallgemeinert werden

• sei ~n ein beliebiger Einheitsvektor, ~nT~n = 1, dann ist das Trägheits-moment um die Achse ~n definiert als

~nT Θ~n = n jnkΘ jk =

N∑i=1

mi

[~x2

i − (~xi · ~n)2]

=

N∑i=1

mil2i (9.27)

wobei li der senkrechte Abstand des Massenpunktes i von derDrehachse ist

• demnach sind die Diagonalelemente Θii von Θ die Trägheitsmo-mente um die Koordinatenachsen; die Θ jk mit j , k heißen Devia-tionsmomente; die Eigenwerte von Θ heißen Hauptträgheitsmo-mente, ihre Eigenvektoren sind die Hauptträgheitsachsen

• durch ~yT Θ~y = y jykΘ jk = 1 wird das Trägheitsellipsoid definiert;im System der Hauptträgheitsachsen ist offensichtlich, dass es sichum ein Ellipsoid handelt:

Θ1y21 + Θ2y

22 + Θ3y

23 = 1 (9.28)

Beispiele für den Trägheitstensor

• zwei Massenpunkte m1 und m2 seien durch eine masselose Stangemiteinander verbunden; m2 befindet sich im Ursprung, m1 läuft inder x1-x2-Ebene um; dann ist

Θ = m1

l2 0 0

0 l2 00 0 l2

− l2 cos2 ϕ l2 cosϕ sinϕ 0

l2 cosϕ sinϕ l2 sin2 ϕ 00 0 0

= m1l2

sin2 ϕ − cosϕ sinϕ 0− cosϕ sinϕ cos2 ϕ 0

0 0 1

(9.29)

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96 KAPITEL 9. BEWEGUNG STARRER KÖRPER

seine Eigenwerte sind bestimmt durch das charakteristische Poly-nom

det(Θ − λ) = (m1l2 − λ) (9.30)×

[(m2l2 cos2 ϕ − λ)(m2l2 sin2 ϕ − λ) − m2

2l4 sin2 ϕ cos2 ϕ]

= (m1l2 − λ) [λ2 − λm1l2] (9.31)

die erste Lösung λ1 = m1l2 ist offensichtlich, die anderen beidenergeben sich, wenn man den Ausdruck in eckigen Klammerngleich Null setzt,

λ2 − λm1l2 = 0 (9.32)

also λ2 = m1l2 = λ1, λ3 = 0; die Eigenvektoren zu diesen Eigen-werten sind

~y1 =

001

, ~y2 =

− sinϕcosϕ

0

, ~y3 =

cosϕsinϕ

0

(9.33)

• für eine homogene Kugel mit Dichte ρ und Radius R verschwindendie Deviationsmomente des Trägheitstensors, z.B.

Θ12 = ρ

∫ R

0r2dr

∫ π

0sinϑdϑ

∫ 2π

0dϕ(r2 sin2 ϑ cosϕ sinϕ) = 0

(9.34)die Hauptträgheitsmomente müssen alle gleich sein (Symmetrie!),und ihre Summe ist

3Θ11 = Θ11 + Θ22 + Θ33

= ρ

∫ R

0r2dr

∫ π

0sinϑdϑ

∫ 2π

0dϕ(3r2 − x2

1 − x22 − x2

3)

= 8πρ∫ R

0r4 =

8πρ5

R5 (9.35)

mit ρ = 3M/4πR3 folgt daraus

Θ11 = Θ22 = Θ33 =25

MR2 (9.36)

9.2.2 Drehimpuls

• im körperfesten System ist die Geschwindigkeit der Massenpunkte~ ix = ~ω×~xi; deshalb gilt für den Drehimpuls im raumfesten System

~L′ =

N∑i=1

mi

(~x′i × ~

ix)

= R(t)N∑

i=1

mi[~xi ×

(~ω × ~xi

)](9.37)

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9.2. TRÄGHEITSTENSOR UND DREHIMPULS 97

sodass der Drehimpuls im körperfesten System

~L = RT (t)~L′ =

N∑i=1

mi[~xi ×

(~ω × ~xi

)]=

N∑i=1

mi

[~x2

i ~ω − ~xi(~xi · ~ω)]

= Θ~ω (9.38)

beträgt

• wegen 2T = ~ωT Θ~ω ist ~ω/√

2T ein Punkt auf dem Trägheitsel-lipsoid; die Tangentialebene an das Trägheitsellipsoid in diesemPunkt ist

~y∣∣∣~yT Θ

~ω√

2T= 1

(9.39)

(d.h. die Menge aller Vektoren ~y, deren Projektion auf ~ω/√

2Tkonstant ist); der Drehimpuls ~L = Θ~ω steht also senkrecht auf derTangentialebene an das Trägheitsellipsoid im Punkt ~ω/

√2T

Der Satz von Steiner

• das Trägheitsmoment eines starren Körpers der Masse M um eineAchse durch einen beliebigen Punkt im Abstand l von seinemSchwerpunkt ist gleich seinem Trägheitsmoment im Schwerpunkt-system, vermehrt um Ml2 (Satz von Steiner); das sieht man wiefolgt:

Θ jk =

N∑i=1

mi

(~x2

i δ jk − xi, jxi,k

)=

N∑i=1

mi

[(~x∗i + ~X)2δ jk − (x∗i, j + X j)(x∗i,k + Xk)

](9.40)

wobei ~x∗i die Schwerpunktkoordinaten und ~X der Ortsvektor desSchwerpunkts sind; daraus folgt

Θ jk =

N∑i=1

mi

[(~x∗i

)2δ jk − x∗i, jxi,k

]+ M

(~X2δ jk − X jXk

)+ 2δ jk ~X ·

N∑i=1

mi~x∗i − X j

N∑i=1

mix∗i,k − Xk

N∑i=1

mix∗i, j

(9.41)

wobei die Gesamtmasse M =∑

mi verwendet wurde; die dreiTerme in der zweiten Zeile verschwinden aufgrund der Definitiondes Schwerpunkts; sei nun ~n die Drechachse im Abstand l vomSchwerpunkt, dann gilt

l2 = ~X2 − (~X · ~n)2 (9.42)

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98 KAPITEL 9. BEWEGUNG STARRER KÖRPER

und damit folgt~nT Θ~n = ~nT Θ∗~n + Ml2 (9.43)

wie behauptet

9.3 Eulersche Gleichungen und der kräftefreieKreisel

9.3.1 Eulersche Gleichungen

• auf den i-ten Massenpunkt wirke im raumfesten Koordinatensy-stem die äußere Kraft ~F′i , dann ist das Drehmoment

~M′ =

N∑i=1

(~x′i × ~F

′i

),

d~L′

dt= ~M′ (9.44)

• mit den Größen ~L und ~M im körperfesten System bestehen dieZusammenhänge

~L′ = R~L , ~M′ = R ~M , ~L = Θ~ω (9.45)

und daher

ddt

(R~L

)= R ~M ⇒ R

(~L + ~ω × ~L

)= R ~M (9.46)

wobei (8.25) verwendet wurde; nach Multiplikation mit RT vonlinks folgen die Eulerschen Gleichungen

~L + ~ω × ~L = Θ~ω + ~ω × Θ~ω = ~M (9.47)

die im Hauptachsensystem die Form

M1 = Θ1ω1 + ω2ω3(Θ3 − Θ2)M2 = Θ2ω2 + ω1ω3(Θ1 − Θ3)M3 = Θ3ω3 + ω1ω2(Θ2 − Θ1) (9.48)

annehmen

9.3.2 Der kräftefreie Kreisel

Die Poinsot-Konstruktion

• kräftefrei bedeutet ~M′ = 0, also ~′

L = 0, also sind T und ~L′

konstant; wir betrachten den Kreisel im Schwerpunktsystem; dieEbene

E :=~y′

∣∣∣ (~y′)T· ~L′ =

√2T

(9.49)

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9.3. EULERSCHE GLEICHUNGEN UND DER KRÄFTEFREIE KREISEL99

ist also invariabel; sie ist eine Tangentialebene an das Trägheitsel-lipsoid, denn bezogen auf das körperfeste System gilt

E =~y∣∣∣~yT · ~L = ~yT Θ~ω =

√2T

=

~y∣∣∣~yT Θ

~ω√

2T= 1

(9.50)

E ist also identisch mit der Ebene, die in (9.39) definiert wurde

• für den Vektor der Winkelgeschwindigkeit gilt

~′ω = R(~ω + ~ω × ~ω) = R~ω (9.51)

also

d~ω′ = Rd~ω ,d~ω′√

2T= R

d~ω√

2T(9.52)

d.h. der Berührungspunkt zwischen invariabler Ebene und Träg-heitsellipsoid bewegt sich im raum- und im körperfesten Systemum denselben infinitesimalen Vektor weiter; das Trägheitsellipsoid„rollt“ auf der invariablen Ebene ab, ohne zu gleiten

• die Bahnkurve des Berührungspunktes auf der Ebene E heißt Her-polhodie, seine Bahn auf dem Trägheitsellipsoid heißt Polhodie;die Polhodie ist stets geschlossen, die Herpolhodie im Allgemei-nen nicht

• bei einer Drehung um eine der Hauptträgheitsachsen ist ~ω einEigenvektor von Θ und daher ~L ‖ ~ω; dann ist ~ω = 0 und der Be-rührungspunkt zwischen invariabler Ebene und Trägheitsellipsoidliegt fest

• sei nun das Trägheitsellipsoid ein Rotationsellipsoid, dann stim-men zwei der Hauptträgheitsmomente überein; sei o.B.d.A. Θ1 =

Θ2 , Θ3; die Symmetrieachse heißt Figurenachse

• im raumfesten System beschreibt ~ω′ offenbar einen Kegel (denraumfesten Rastpolkegel) um den (festen) Drehimpuls ~L′, wobeider Winkel zwischen ~ω′ und ~L′ konstant bleibt

• infolge der Drehung um ~ω′ beschreibt auch die Figurenachse einenKegel um ~L′, den Präzessionskegel

• im körperfesten System beschreibt ~ω einen Kegel um die Figuren-achse, den Gangpolkegel

Verwendung der Euler-Gleichungen

• für die quantitative Betrachtung setzen wir Θ1 = Θ2 =: Θ undΘ3 − Θ =: ∆Θ; wieder sei der Kreisel kräfte frei und damit das

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100 KAPITEL 9. BEWEGUNG STARRER KÖRPER

äußere Drehmoment ~M′ = 0; die Eulerschen Gleichungen lautenin diesem Fall

Θω1 + ω2ω3∆Θ = 0Θω2 − ω1ω3∆Θ = 0

Θω3 = 0 (9.53)

ω3 ist also konstant, und

ω1 + ω2ω3∆Θ

Θ= 0

ω2 − ω1ω3∆Θ

Θ= 0 (9.54)

• die beiden Gleichungen (9.54) können komplex zusammen gefasstwerden,

ddt

(ω1 + iω2) − i(ω1 + iω2)ω3∆Θ

Θ= 0 (9.55)

Trennung der Variablen ergibt

ω1 + iω2 = A exp[iω3∆Θ

Θt]

(9.56)

d.h. im körperfesten System läuft ~ω mit der Frequenz ω3∆Θ/Θum die Figurenachse

• wegen ~L = Θ~ω folgt für den Drehimpuls

L1 + iL2 = AΘ exp[iω3∆Θ

Θt]

L3 = Θ3ω3 = konst. (9.57)

• wählen wir das raumfeste System so, dass ~e′3 ‖ ~L ist, dann ist derWinkel zwischen der Figurenachse und ~e′3 konstant, ϑ = konst.,ϑ = 0, und

tanϑ =|A|ΘΘ3ω3

(9.58)

• aus (9.10), (9.11) und (9.12) folgt mit ϑ = 0

~ω = ϕ

sinϑ sinψsinϑ cosψ

cosϑ

+ ψ

001

(9.59)

also

ω1 + iω2 = ϕ sinϑ(sinψ + i cosψ) = iϕ sinϑe−iψ

ω3 = ϕ cosϑ + ψ = konst. (9.60)

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9.3. EULERSCHE GLEICHUNGEN UND DER KRÄFTEFREIE KREISEL101

• vergleichen wir (9.56) und (9.60) und setzen

A = |A|eiδ (9.61)

erhalten wir

ϕ sinϑ = −i|A| exp[i(ω3∆Θ

Θt + δ + ψ

)]= |A| exp

[i(ω3∆Θ

Θt + δ + ψ −

π

2

)](9.62)

das ist nur möglich, wenn das Argument der Exponentialfunktionverschwindet, also

ψ =π

2−ω3∆Θ

Θt − δ (9.63)

und damit ist dann auch ϕ sinϑ = |A|, also

ϕ =|A|

sinϑt + ϕ0 =

Θ3ω3

Θt + ϕ0 (9.64)

d.h. die Figurenachse läuft mit der Kreisfrequenz Θ3ω3/Θ um denDrehimpulsvektor

9.3.3 Kreisel im Schwerefeld

• ein Kreisel der Masse m mit Θ1 = Θ2 , Θ3 im Schwerefeld derErde werde außerhalb seines Schwerpunkts, aber auf der Figu-renachse unterstützt, der Vektor vom Unterstützungspunkt zumSchwerpunkt sei ~s; die Schwerkraft übt dann das Drehmoment

~M = m~s × ~g (9.65)

auf den Kreisel aus

• die Bewegungsgleichungen leiten wir aus dem Lagrange-Formalis-mus her, wobei die Euler-Winkel als verallgemeinerte Koordinatenverwendet werden; die Lagrange-Funktion lautet

L = T − V =12~ωT Θ~ω + m~g · ~s (9.66)

• mit (9.13) folgt daraus

L =12

[Θ1

(ϑ2 + ϕ2 sin2 ϑ

)+ Θ3

(ϕ cosϑ + ψ

)2]− Mg|~s| cosϑ

(9.67)die Integration der Bewegungsgleichung führt auf elliptische Inte-grale

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102 KAPITEL 9. BEWEGUNG STARRER KÖRPER

• wenn der Körper schnell um eine Drehachse nahe der Figurenachserotiert, ist auch der Drehimpulsvektor nahe der Figurenachse;wegen des Drehimpulssatzes

d~L′

dt= ~M′ = m(~s′ × ~g′) (9.68)

weicht der Drehimpulsvektor senkrecht zur Schwerkraft aus

• die Figurenachse folgt im wesentlichen dem Drehimpulsvektor;die Zeitskala, auf der sich der Drehimpuls ändert, ist

τ1 ∼L′

L′∼

L′

V(9.69)

während die typische Zeitskala für die Rotation durch

τ2 ∼1ω∼

L′

T(9.70)

gegeben ist; unter der Annahme schneller Rotation ist T V unddaher τ2 τ1, d.h. die Figurenachse präzediert im Vergleich zurRotation langsam um die Vertikale

• unter unseren Annahmen ist ~s′ etwa parallel zu ~L′, also

~s′ =s′

L′~L′ (9.71)

damit folgt aus dem Drehimpulssatz

d~L′

dt= −m

s′

L′(~g′ × ~L′) (9.72)

also~L′(t + dt) = ~L′(t) +

(−

ms′

L′~g′ × ~L′

)dt (9.73)

das hat die Gestalt einer infinitesimalen Drehung (8.36) mit demVektor der Winkelgeschwindigkeit

~Ω′ = −ms′

L′~g′ (9.74)

je rascher der Kreisel rotiert, desto langsamer präzediert er

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Kapitel 10

Kleine Schwingungen um eineRuhelage

10.1 Lagrange-Funktion und Bewegungsglei-chungen

10.1.1 Kinetische und potentielle Energie

• gegeben sei ein System aus N Massenpunkten mit f Freiheitsgra-den, das durch die verallgemeinerten Koordinaten qi, 1 ≤ i ≤ f ,beschrieben wird

• seine potentielle Energie sei V(q), seine kinetische Energie lautet,ausdgedrückt durch die qi

T =

f∑j=1

f∑k=1

N∑i=1

mi

2∂~xi

∂q j

∂~xi

∂qk

q jqk (10.1)

• seine Lagrange-Funktion ist L = T (q, q) − V(q), die Bewegungs-gleichungen folgen aus den Lagrange-Gleichungen

ddt∂L∂q j−∂L∂q j

= 0 , 1 ≤ j ≤ f (10.2)

• in der Gleichgewichtslage des Systems müssen die verallgemei-nerten Geschwindigkeiten verschwinden, qi = 0 (1 ≤ i ≤ f ); da Teine quadratische Form in den qi ist, ist dort auch ∂T/∂qi = 0, unddamit ist auch ∂L/∂qi = 0; ferner verschwindet wegen qi = 0 auch∂T/∂qi, und damit gilt

−∂V∂qi

=∂L∂qi

= 0 (10.3)

103

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104KAPITEL 10. KLEINE SCHWINGUNGEN UM EINE RUHELAGE

d.h. die verallgemeinerten Kraftkomponenten

Qi = −∂V∂qi

(10.4)

verschwinden im Gleichgewicht

• ohne Beschränkung der Allgemeinheit setzen wir qi = 0 in derGleichgewichtslage und entwickeln die Lagrange-Funktion bis zur2. Ordnung in den kleinen Auslenkungen qi:

V(qi) = V |q=0 +

f∑i=1

∂V∂qi

∣∣∣∣∣q=0

qi +12

f∑i, j=1

∂2V∂qi∂q j

∣∣∣∣∣∣q=0

qiq j (10.5)

wegen (10.3) verschwindet der zweite Term, und der konstanteerste Term kann o.B.d.A. gleich Null gesetzt werden, damit istdann

V(qi) =12

f∑i, j=1

∂2V∂qi∂q j

∣∣∣∣∣∣q=0

qiq j =:12

f∑i, j=1

Vi jqiq j (10.6)

• analog kann die kinetische Energie in der Form

T =12

f∑i, j=1

Ti jqiq j , Ti j :=N∑

i=1

mi

(∂~xi

∂qi

∂~xi

∂q j

)∣∣∣∣∣∣q=0

(10.7)

geschrieben werden

• die quadratischen Formen T und V können nun durch Matrizenausgedrückt werden; seien

~q :=

q1...

q f

, T :=

T11 · · · T1 f...

...T f 1 · · · T f f

V :=

V11 · · · V1 f...

...V f 1 · · · V f f

(10.8)

T und V sind offenbar aufgrund ihrer Definition symmetrisch,T = T T ,V = VT

• für beliebige ~q ist ~TqT ~q ≥ 0, denn

~TqT ~q =

N∑i=1

mi

f∑j=1

∂~xi

∂q jq j

2

≥ 0 (10.9)

(natürlich kann die kinetische Energie nicht negativ werden!); alsoist T eine positiv-semidefinite Matrix; wir nehmen im folgendenan, dass T positiv definit ist

Page 113: Theoretische Physik I:  · PDF file10.1 Lagrange-Funktion und Bewegungsgleichungen . . . .103 10.1.1 Kinetische und potentielle Energie . . . . . . .103

10.2. NORMALKOORDINATEN 105

10.1.2 Bewegungsgleichungen

• die Lagrange-Funktion lautet dann unter Vernachlässigung vonTermen höherer als zweiter Ordnung in den qi und der unwesentli-chen Konstante V(~q = 0)

L =12

(~

TqT ~q − ~qTV~q)

(10.10)

wäre T positiv semi-definit, müssten hier Terme höherer Ordnungberücksichtigt werden

• aus den Euler-Lagrange-Gleichungen folgt

ddtT ~q +V~q = 0 ⇒ T ~q +V~q = 0 (10.11)

das ist offensichtlich eine Verallgemeinerung der Schwingungs-gleichung aus dem zweiten Kapitel,

x + ω20x = 0 (10.12)

10.2 Normalkoordinaten

10.2.1 Transformation auf Normalkoordinaten

• da T positiv definit ist, gibt es eine Matrix B so, dass

T = BTB (10.13)

gilt

• zum Beweis benutzen wir, dass sich T diagonalisieren lässt; seient1, . . . , t f die Diagonalelemente nach der Diagonalisierung, danngibt es eine orthogonale Koordinatentransformation R so, dass

T = RT diag(t1, . . . , t f )R (10.14)

gilt; da T positiv definit ist, sind die ti ≥ 0 (1 ≤ i ≤ f )

• sei nun B′ = diag(√

t1, . . . ,√

t f )R, dann gilt offenbar

T =(B′

)TB′ (10.15)

und

detB′ =

f∏i=1

√ti (10.16)

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106KAPITEL 10. KLEINE SCHWINGUNGEN UM EINE RUHELAGE

• die Matrix B′ ist nur bis auf eine orthogonale Transformation Sfestgelegt, denn

B′ → SB′ =: B (10.17)

liefert ebenso

BTB =(B′

)T(STS

)B′ =

(B′

)TB′ = T (10.18)

• wir transformieren jetzt die Koordinaten qi → ξi mit

~ξ = B~q , ~ξ :=

ξ1...ξ f

(10.19)

da detB > 0 ist, lässt B sich invertieren und

~q = B−1~ξ =: A~ξ (10.20)

• damit nimmt die Lagrange-Funktion die folgende Form an:

L =12

(~

TqT ~q − ~qTV~q)

=12

(~

TqBTB~q − ~qTV~q)

=12

(~

Tξ~ξ − ~ξTATVA~ξ

)(10.21)

• wir können nun noch von der Freiheit Gebrauch machen, B vonlinks mit einer orthogonalen Matrix S zu multiplizieren,

B = SB′ ; A = B−1 =(B′

)−1S−1 =: A′ST (10.22)

damit wirdATVA = S

[(A′

)TVA′

]ST (10.23)

• die Transformation S kann nun so gewählt werden, dass der Aus-druck in eckigen Klammern in (10.23) diagonalisiert wird, dannist

ATVA = S[(A′

)TVA′

]ST = diag(λ1, . . . , λ f ) (10.24)

• in den Koordinaten ξi lässt sich also die Lagrange-Funktion in dereinfachen Form

L =

f∑i=1

12

(ξi

2− λiξ

2i

)(10.25)

schreiben, und die Bewegungsgleichungen lauten dann

ddt∂L∂ξi−∂L∂ξi

=ddtξi + λiξi = ξi + λiξi = 0 (10.26)

für alle 1 ≤ i ≤ f

• durch die Einführung der Koordinaten ξi entkoppeln die Bewe-gungsgleichungen und beschreiben f unabhängige harmonischeOszillatoren; ξi heißen Normalkoordinaten

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10.2. NORMALKOORDINATEN 107

10.2.2 Bestimmung der Normalkoordinaten

• zunächst lassen sich die Eigenwerte der Matrix A wie folgt be-stimmen: die charakteristische Gleichung lautet

det(ATVA− λ

)= 0 ⇔

det[BT

(ATVA− λ

)B]

= 0 ⇔det (V − λT ) = 0 (10.27)

d.h. die λi sind auch die Eigenwerte vonV bezüglich T

• außerdem gilt

ATVA = diag(λ1, · · · , λ f ) ⇒VA = BT diag(λ1, · · · , λ f )

= TAdiag(λ1, · · · , λ f ) (10.28)

wegen BT = BTBB−1 = TA

• wir zerlegenA in Spaltenvektoren ~a j,

A =(~a1, . . . , ~a f

), ~a j =

A1 j...

A f j

(10.29)

damit erhalten wir aus (10.28) die Eigenwertgleichung

V~a j = T~a jλ j (10.30)

mit T anstelle der Einheitsmatrix

• die ~a j sind orthonormal bezüglich T , denn

ATTA = ATBTBA = 1 ⇒ ~aTj T~ak = δ jk (10.31)

• daraus ergibt sich folgende Vorschrift für die Konstruktion derMatrixA und für die Transformation auf Normalkoordinaten ξi:

1. Eigenwertproblem (V − λT )~a = 0 lösen; vollständiges, be-züglich T orthonormales System von Eigenvektoren ~ai be-stimmen

2. mittels

~q =

f∑j=1

~a jξ j = A~ξ (10.32)

auf Normalkoordinaten transformieren

• die Sätze über das gewöhnliche Eigenwertproblem sind vollstän-dig auf das Eigenwertproblem übertragbar, in dem T die Rolleder Einheitsmatrix übernimmt (T ist der metrische Tensor desEigenwertproblems)

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108KAPITEL 10. KLEINE SCHWINGUNGEN UM EINE RUHELAGE

10.2.3 Stabilität

• die Lösungen der Bewegungsgleichungen nehmen folgende Forman:

ξ j ∝ e±i√λ jt (λ j , 0)

ξ j ∝ t (λ j = 0) (10.33)

• zwei wesentliche Fälle können für das Verhalten der Lösungenunterschieden werden:

1. mindestens ein λ j ≤ 0, dann kann ξ j unbegrenzt wachsen (imRahmen der betrachteten Näherung!)

2. alle λ j > 0, λ j =: ω2j ; dann sind die Lösungen harmonische

Schwingungen,

ξ j(t) = C j cos(ω jt − δ j) (10.34)

mit konstanten C j und δ j

• Stabilität ist sicher, wenn alle λ j > 0 sind; das ist genau dann derFall, wennV strikt positiv ist, d.h. wenn die Potentialfunktion inder Ruhelage ein striktes Minimum hat

• das System ist instabil, wenn mindestens ein λ j < 0 ist

• wenn mindestens ein Eigenwert λ j = 0 und die anderen λk ≥ 0sind, müssen für die Stabilitätsanalyse Terme höherer Ordnungherangezogen werden

• wenn alle λ j > 0 sind, liegt ein stabiles Gleichgewicht vor, unddie allgemeine Lösung der Bewegungsgleichung für das Gesamt-system lautet

~q(t) =

f∑j=1

~a jξ j(t) =

f∑j=1

~a jC j cos(ω jt − δ j) (10.35)

die ω j sind die Eigenfrequenzen, auch Normalfrequenzen genannt

• bei Normalschwingungen ist nur eine Normalkoordinate angeregt,z.B. ξ j, die anderen sind in Ruhe; dann ist

~q(t) = ~a jC j cos(ω jt − δ j) (10.36)

(ohne Summation über j!)

• die Konstanten C j und δ j werden durch die Anfangsbedingungenbestimmt, ~q(t = 0) = ~q0, ~q(t = 0) = ~0q; damit folgt

~q0 =

f∑j=1

~a jC j cos δ j , ~0q =

f∑j=1

~a jC jω j sin δ j (10.37)

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10.2. NORMALKOORDINATEN 109

wegen der Orthonormalität der ~a j bezüglich T ist

~aTj T~q0 = C j cos δ j , ~aT

j T ~0q = C jω j sin δ j (10.38)

woraus C j und δ j bestimmt werden können

• Bemerkung: das System kehrt nie in seine Anfangslage zurück,wenn die ω j nicht in rationalen Verhältnissen zueinander stehen

10.2.4 Beispiel: Gekoppelte Pendel

• gegeben seien zwei gleiche ebene Pendel der Länge l, an denenMassenpunkte der Masse m hängen; der Abstand der Aufhän-gungspunkte sei x0; die Pendel seien durch eine Feder mit derFederkonstanten k und der Ruhelänge x0 aneinander gekoppelt

• geeignete verallgemeinerte Koordinaten für das System sind diebeiden Auslenkwinkel ϕ1 und ϕ2; damit lautet die kinetische Ener-gie

T =m2

(l2ϕ2

1 + l2ϕ22

)(10.39)

• die potentielle Energie setzt sich aus der Beiträgen des Schwere-felds und der Feder zusammen

V = −mgl(cosϕ1 + cosϕ2) +k2

[ √(x1 − x2)2 + (y1 − y2)2 − x0

]2

(10.40)für kleine Auslenkungen können die y1,2 gegenüber den x1,2 ver-nachlässigt werden; außerdem können x1 = l sinϕi ≈ lϕi, x2 =

x0 + lϕ2 und cosϕ ≈ 1 − ϕ2/2 genähert werden; damit lautet diepotentielle Energie

V = mgl(ϕ2

1

2+ϕ2

2

2

)+

k2

l2(ϕ1 − ϕ2)2 (10.41)

wobei die Konstante −2mgl weggelassen wurde

• die Matrizen T undV lauten demnach

T =m2

l2(

1 00 1

), V =

mgl2

(1 00 1

)+

k2

l2(

1 −1−1 1

)(10.42)

• aus der Gleichung det(V − λT ) = 0 erhält man das charakteristi-sche Polynom

l2

4

[(mg + kl − mlλ)2 − k2l2

]= 0 (10.43)

woraus man die Lösungen

λ1 =g

l, λ2 =

g

l+ 2

km

(10.44)

erhält

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110KAPITEL 10. KLEINE SCHWINGUNGEN UM EINE RUHELAGE

• die beiden Eigenvektoren sind

~a1 =

(11

), ~a2 =

(1−1

)(10.45)

d.h. die Normalschwingungen entsprechen solchen Schwingungen,bei denen die beiden Pendel entweder gleichphasig oder gegen-phasig schwingen

10.3 Schwingungen eines linearen, dreiatomi-gen Moleküls

10.3.1 Lagrange-Funktion

• wir betrachten ein lineares, dreiatomiges, symmetrisches Molekülmit Atomen der Masse m rechts und links im Abstand l von einemzentralen Atom der Masse M; die Wechselwirkung zwischen denAtomen werde beschrieben durch „Federn“ mit der Federkonstantek > 0 (Beispiel: CO2); wir beschränken uns auf Bewegungen längsder Molekülachse

• die kinetische Energie ist

T =m2

(x2

1 + x23

)+

M2

x22 (10.46)

und die potentielle Energie ist

V =k2

[(x2 − x1 − l)2 + (x3 − x2 − l)2

](10.47)

die Ruhelage stellt sich im Minimum von V ein, also bei

x2 − x1 = l = x3 − x2 (10.48)

• diese Beschreibung ist eindeutig bis auf eine Verschiebung längsder x-Achse (Translation des Moleküls ohne innere Bewegung);wir wählen den Ursprung so, dass in der Ruhelage x2 = 0 istund bezeichnen mit qi die Auslenkungen der Atome aus ihrenRuhelagen:

q1 := x1 + l , q3 = x3 − l , x2 = q2 (10.49)

• damit lautet die Lagrange-Funktion des Moleküls

L =m2

(q2

1 +Mm

q22 + q2

3

)−

k2

[(q2 − q1)2 + (q3 − q2)2

](10.50)

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10.3. SCHWINGUNGEN EINES LINEAREN, DREIATOMIGEN MOLEKÜLS111

10.3.2 Normalkoordinaten

• aus (10.50) lassen sich die Matrizen T undV ablesen:

T =

m 0 00 M 00 0 m

, V =

k −k 0−k 2k −k0 −k k

(10.51)

• das charakteristische Polynom lautet

det (V − λT ) = 0 ⇒

det

k − λm −k 0−k 2k − λM −k0 −k k − λm

= 0 ⇒

(k − λm)[(2k − λM)(k − λm) − k2

]− k2(k − λm) = 0(10.52)

eine Lösung ist offenbar λ1 = k/m; die anderen beiden ergebensich aus

Mmλ2 − k(M + 2m)λ = 0 (10.53)

zu λ2 = 0 und λ3 = k(M + 2m)/(Mm)

• die Eigenfrequenzen sind ωi =√λi, also

ω1 =

√km, ω2 = 0 , ω3 =

√k

M + 2mMm

(10.54)

• das orthonormale Eigensystem ~ai muss nun aus (10.30) bestimmtwerden

1. für i = 1:0 −k 0−k k

(2 − M

m

)−k

0 −k 0

a11

a21

a31

= 0 (10.55)

woraus unmittelbar a21 = 0 und a11 + a31 = 0 folgen; dieOrthonormalitätsbedingung ~aT

1T~a1 = 1 verlangt

(a11, a21, a31)

m 0 00 M 00 0 m

a11

a21

a31

= 1 (10.56)

woraus insgesamt a11 = 1/√

2m folgt, also

~a1 =1√

2m

10−1

(10.57)

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112KAPITEL 10. KLEINE SCHWINGUNGEN UM EINE RUHELAGE

2. für i = 2: k −k 0−k 2k −k0 −k k

a12

a22

a32

= 0 (10.58)

also a12 = a22 = a32; und die Orthonormalitätsbedingungfordert (2m + M)a2

12 = 1, also folgt

~a2 =1

√2m + M

111

(10.59)

3. für i = 3: −k 2mM −k 0−k −k M

m −k0 −k −k 2m

M

a13

a23

a33

= 0 (10.60)

woraus man a13 = a33 und a13 = −a23M/(2m) erhält; dieOrthonormalitätsbedingung ergibt dann

a12 =1√

2m(1 + 2m

M

) (10.61)

sodass der dritte Eigenvektor lautet

~a3 =

√M

2m(M + 2m)

1−2m/M

1

(10.62)

die allgemeine Lösung bekommt man dann aus (10.35)

• den drei Eigenschwingungen entsprechen folgende Bewegungen:

1. i = 1: M ruht, die beiden äußeren Atome schwingen gegen-einander

2. i = 2: entspricht einer Translation des gesamten Molekülslängs der x-Achse

3. i = 3: M schwingt gegenphasig gegen die beiden gleichpha-sig schwingenden äußeren Atome

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Kapitel 11

Mechanik kontinuierlicherMedien

11.1 Lineare Kette

11.1.1 Grenzübergang zum Kontinuierlichen

• Approximation kontinuierlicher Medien durch N Teilchen mitN → ∞ und Beschreibung der Kräfte zwischen ihnen stößt anGrenzen wegen der Unschärferelation der Quantenmechanik

• als Beispiel für den Übergang zu unendlich vielen Freiheitsgradenbehandeln wir eine lineare Kette aus N Massenpunkten der Massem in den Ruhelagen xi,0 = ia, wobei a der Abstand zweier benach-barter Massenpunkte ist; die Auslenkungen aus der Ruhelage seienqi; auf den N-ten Massenpunkt wirke die Kraft F; die Bewegungder Massenpunkte soll auf die x-Achse beschränkt sein

• kinetische und potentielle Energie sind

T =12

N∑i=1

mq2i , V =

12

N∑i=1

k(qi − qi−1)2 − FqN ; (11.1)

der Anfangspunkt bleibe fest, x0 = 0 = q0

• damit lautet die Lagrange-Funktion

L =12

N∑i=1

[mq2

i − k(qi − qi−1)2]

+ FqN (11.2)

und die Bewegungsgleichungen sind

ddt∂L∂qi−∂L∂qi

= mqi + k(qi − qi−1) − k(qi+1 − qi) = 0 (11.3)

113

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114 KAPITEL 11. MECHANIK KONTINUIERLICHER MEDIEN

für 1 ≤ i ≤ N − 1 und

mqN + k(qN − qN−1) − F = 0 (11.4)

für i = N

• im Gleichgewicht muss mqi = 0 sein, woraus folgt

k(qi − qi−1) = k(qi+1 − qi) , k(qN − qN−1) = F

⇒ qi − qi−1 =Fk

(1 ≤ i ≤ N) (11.5)

d.h. alle Federn werden um denselben Betrag verlängert oderverkürzt; sei l := Na die Gesamtlänge in Ruhe, dann ist ihrerelative Änderung

∆ll

=NFkNa

=Fka

=:FY

(11.6)

• wir müssen nun den Übergang a→ 0 durchführen, dabei aber l =

Na und M = Nm konstant lassen; sei µ := M/l = m/a die lineareMassendichte und Y := ka der Youngsche Elastizitätsmodul; dieAuslenkungen werden zu einer kontinuierlichen Feldfunktion desOrtes und der Zeit, qi → q(x, t), die benachbarten Auslenkungenwerden

qi±1(t)→ q(x±a, t) = q(x, t)±a∂q∂x

∣∣∣∣∣(x,t)

+a2

2∂2q∂x2

∣∣∣∣∣∣(x,t)

+ . . . (11.7)

• die Lagrange-Funktion geht über in

L =12

N∑i=1

mq2i −

12

N∑i=1

k(qi − qi−1)2 + F(t)qN

=a2

N∑i=1

[µq2

i − Y(qi − qi−1

a

)2]

+ F(t)qN

→12

∫ l

0dx

µ (∂q∂t

)2

− Y(∂q∂x

)2 + q(l, t)F(t)

=: L(q, q, t) (11.8)

sie ist nun ein Funktional der Feldfunktion q und ihrer Zeitablei-tung q; F ist vorgegeben

• ebenso können wir den Grenzübergang für die Bewegungsglei-chungen (11.3) durchführen:

µq − Yqi+1 + qi−1 − 2qi

a2 = 0

µ∂2q∂t2 − Y

∂2q∂x2 = 0 (11.9)

das ist eine partielle Differentialgleichung zweiter Ordnung fürq(x, t), definiert auf 0 ≤ x ≤ l

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11.1. LINEARE KETTE 115

• die Randbedingungen ergeben sich wie folgt: das Ende bei x = 0bleibt fest, q(x = 0, t) = 0 für alle t; bei x = l folgt aus (11.4)

µ∂2q∂t2 +

Ya2

[a∂q∂x

(l, t)]

=Fa

µ∂2q∂t2 +

Ya

(∂q∂x

∣∣∣∣∣(l,t)− F

)= 0 (11.10)

• für a → 0 würde der zweite Term in (11.10) divergieren, wennnicht

F =∂q∂x

∣∣∣∣∣(l,t)

(11.11)

wäre, d.h. die Randbedingung bei x = l muss sein

∂q∂x

∣∣∣∣∣(l,t)

=FY

(11.12)

für alle t

11.1.2 Ableitung der Bewegungsgleichungen aus demLagrange-Funktional

• mit dem Lagrange-Funktional (11.8) lautet die Wirkung

W =12

∫ t1

t0dt

∫ l

0dx

µ (∂q∂t

)2

− Y(∂q∂x

)2 +

∫ t1

t0dtF(t)q(l, t)

(11.13)gemäß dem Hamiltonschen Prinzip muss die Wirkung für die tat-sächlich realisierte Auslenkung q(x, t) ein Extremum einnehmen;sei q′(x, t) = q(x, t) + δq(x, t) eine leicht gestörte Bahn, wobeiδq(x, t0) = 0 = δq(x, t1) für alle 0 ≤ x ≤ l sei; außerdem istδq(x = 0, t) = 0 für alle t, denn das lineare Band bleibt bei x = 0festgehalten

• die Variation der Wirkung lautet dann:

δW = W[q′, t] −W[q, t]

=

∫ t1

t0dt

∫ l

0dx

(µ∂q∂t∂δq∂t− Y

∂q∂x∂δq∂x

)+

∫ t1

t0dtδqF(t)

=

∫ l

0dx

∫ t1

t0dt

(−µ

∂2q∂t2 + Y

∂2q∂x2

)δq +

∫ l

0dxµ

∂q∂tδq

∣∣∣∣∣t1t0

∫ t1

t0dtY

∂q∂xδq

∣∣∣∣∣l0

+

∫ t1

t0dtF(t)δq(l, t)

=

∫ t1

t0dt

∫ l

0dx

(−µ

∂2q∂t2 + Y

∂2q∂x2

)δq(x, t)

∫ t1

t0dt

(Y∂q∂x

∣∣∣∣∣l0− F

)δq(l, t) (11.14)

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116 KAPITEL 11. MECHANIK KONTINUIERLICHER MEDIEN

• die δq sind beliebig, δW = 0 nach dem Hamiltonschen Prinzip,also folgt

µ∂2q∂t2 − Y

∂2q∂x2 = 0 , Y

∂q∂x

∣∣∣∣∣l0− F = 0 (11.15)

entsprechend (11.9) und (11.12)

• Beispiel: sei F konstant, dann ist die Lösung q(x, t) = q(x) statischund die Bewegungsgleichungen reduzieren sich auf

Yd2qdx2 = 0 ,

dqdx

∣∣∣∣∣x=l

=FY

(11.16)

die erste Gleichung bedeutet, dass q linear in x sein muss,

q(x) = C1x + C2 (11.17)

wegen q(x = 0) = 0 folgt C2 = 0, und aus der zweiten Gleichungfolgt C1 = F/Y , also

q(x) =FY

x ,δll

=q(x = l)

l=

FY

(11.18)

das ist das Hookesche Gesetz für das lineare Band

11.1.3 Die d’Alembertsche Gleichung

• die Gleichung∂2q∂t2 − v

2∂2q∂x2 = 0 (11.19)

mit v :=√

Y/µ ist in der Physik sehr weit verbreitet

• seien

ξ := x + vt , η := x − vt ; x =12

(ξ + η) , t =12v

(ξ − η)(11.20)

dann ist∂ f∂x

=

(∂ξ

∂x∂

∂ξ+∂η

∂x∂

∂η

)f (11.21)

und analog für ∂ f /∂t; in unserem Fall folgt

∂x=

∂ξ+∂

∂η,

∂t= v

(∂

∂ξ−∂

∂η

)(11.22)

• in diesen neuen Koordinaten lautet der Differentialoperator in(11.19)

∂2

∂t2 − v2 ∂

2

∂x2 = −4v2 ∂2

∂ξ∂η(11.23)

also wird (11.19) transformiert auf die d’Alembert-Gleichung

− 4v2 ∂2q

∂ξ∂η= 0 (11.24)

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11.1. LINEARE KETTE 117

• seien g(ξ) und h(η) beliebige Funktionen von ξ und η, dann ist of-fenbar q(ξ, η) = g(ξ)+h(η) eine Lösung der d’Alembert-Gleichung;es ist zugleich die allgemeinste Form der Lösung; ausgedrücktdurch x und t lautet sie

q(x, t) = g(x + vt) + h(x − vt) (11.25)

d.h. es handelt sich um eine Superposition zweier Wellen, vondenen g rück- und h vorläufig ist

• als Beispiel betrachten wir ein unendlich ausgedehntes Band, dasfür x→ ±∞ zu allen Zeiten in Ruhe ist,

q(x, t)→ 0∂q∂t

(x, t)→ 0

für x→ ±∞ (11.26)

die Anfangsbedingungen sind

q(x, 0) = q0(x) ,∂q∂t

(x, 0) = q0(x) (11.27)

für die Funktionen g und h folgt daraus

g(x) + h(x) = q0(x) , v[g′(x) − h′(x)

]= q0(x) (11.28)

wobei die Striche Ableitungen der Funktionen nach ihren Argu-menten bedeuten

• aus der zweiten Gleichung erhält man

(g − h)(x) =1v

[∫ x

x0

q0(x′)dx′ + C]

(11.29)

und damit, zusammen mit der ersten Gleichung

(g, h)(x) =12

q0(x) ±12v

[∫ x

x0

q0(x′)dx′ + C]

(11.30)

die Lösung q(x, t) ist die Summe aus g und h,

q(x, t) = g(x + vt) + h(x − vt) (11.31)

=12

[q0(x + vt) + q0(x − vt)

]+

12v

[∫ x+vt

x0

q0(x′)dx′ + C]−

[∫ x−vt

x0

q0(x′)dx′ + C]

=12

[q0(x + vt) + q0(x − vt)

]+

12v

∫ x+vt

x−vtq0(x′)dx′

eine Störung des Bandes breitet sich also mit der Geschwindigkeitv nach beiden Seiten aus

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118 KAPITEL 11. MECHANIK KONTINUIERLICHER MEDIEN

11.2 Schwingende Saite

• seien wieder N Massenpunkte der Masse m gegeben, die sich nunaber in drei Dimensionen bewegen können; ihre Ruhelagen seien

~xi =

ai00

= ai~ex (11.32)

die Auslenkungen aus den Ruhelagen seien ~qi(t), die Enden werdenfestgehalten, ~q0(t) = 0 = ~qN(t) für alle t

• die potentielle Energie setzen wir in der Form

V =k2

N∑i=1

[(~xi + ~qi) − (~xi−1 + ~qi−1) − a0

]2 (11.33)

an, wobei die Konstante a0 < a eine Vorspannung der Saite be-schreibt (das Minimum von V wird erreicht, wenn die Abständezwischen den Massenpunkten kleiner als a sind)

• sei nun |~qi−~qi−1| a−a0 a, d.h. die Vorspannung sei schwach,dann ist

|~xi − ~xi−1 + ~qi − ~qi−1| = |a~ex + ~qi − ~qi−1| (11.34)

=[a2 + 2a(~qi − ~qi−1)~ex + (~qi − ~qi−1)2

]1/2

≈ a + (qx,i − qx,i−1) +1

2a(~q⊥,i − ~q⊥,i−1)2

mit der senkrechten Auslenkung

~q⊥ =

0qyqz

(11.35)

• wir können also nähern(|~xi − ~xi−1 + ~qi − ~qi−1| − a0

)2≈ (a − a0)2 + 2(a − a0)(qx,i − qx,i−1)

+ (qx,i − qx,i−1)2 +a − a0

a(~q⊥,i − ~q⊥,i−1)2 (11.36)

und die potentielle Energie lässt sich in der Form

V =k2

N∑i=1

[(a − a0)2 + 2(a − a0)(qx,i − qx,i−1)

+ (qx,i − qx,i−1)2 +a − a0

a(~q⊥,i − ~q⊥,i−1)2

](11.37)

wobei Terme höherer als zweiter Ordnung in den Differenzen derqi vernachlässigt wurden

Page 127: Theoretische Physik I:  · PDF file10.1 Lagrange-Funktion und Bewegungsgleichungen . . . .103 10.1.1 Kinetische und potentielle Energie . . . . . . .103

11.2. SCHWINGENDE SAITE 119

• in der potentiellen Energie ist (a − a0) ist eine unerhebliche Kon-stante; außerdem ist

N∑i=1

(qx,i − qx,i−1) = 0 (11.38)

ferner setzen wir wieder

k =Ya≈

Ya0

,∆ll

=a − a0

a0=

Fka0≈

Fka

(11.39)

wobei F die vorspannende Kraft ist

• die Lagrange-Funktion lautet also

L =12

N−1∑i=1

m(q2

x,i + ~q2⊥,i

)−

a2

N∑i=1

[Y

(qx,i − qx,i−1)2

a2 + F(~q⊥,i − ~q⊥,i−1)2

a2

](11.40)

offenbar wird der Potentialterm in L für qx,i = qx,i−1 und ~q⊥,i =

~q⊥,i−1 minimiert, d.h. aus den Randbedingungen ~q0 = 0 = ~qN folgt,dass in der Ruhelage ~qi = 0 (1 ≤ i ≤ N) gilt

• beim Übergang zum Kontinuum halten wir wieder l = Na, µ =

m/a und Y = ka fest, während a gegen Null geht; analog zurBehandlung des elastischen Bandes ergibt sich

L =

∫ l

0dx

µ (∂qx

∂t

)2

+ µ

(∂q⊥∂x

)2

− Y(∂qx

∂t

)2

− F(∂q⊥∂x

)2(11.41)

• wie vorhin erhalten wir aus dem Hamiltonschen Prinzip die Bewe-gungsgleichungen

∂2

∂t2 qx(x, t) − v2l∂2

∂x2 qx(x, t) = 0

∂2

∂t2~q⊥(x, t) − v2t∂2

∂x2~q⊥(x, t) = 0 (11.42)

wobei

vl :=

√Yµ, vt :=

√Fµ

(11.43)

die longitudinale und transversale Ausbreitungsgeschwindigkeitder Wellen sind

• die Enden der Saite werden festgehalten, d.h. die Randbedingun-gen sind

qx(0, t) = qx(l, t) = 0 , ~q⊥(0, t) = ~q⊥(l, t) = 0 (11.44)

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120 KAPITEL 11. MECHANIK KONTINUIERLICHER MEDIEN

• zur Lösung greifen wir willkürlich die Auslenkung in y-Richtungheraus, die die Gleichung

∂2qy∂t2 − v

2t∂2qy∂x2 = 0 (11.45)

mit den Randbedingungen qy(0, t) = 0 = qy(l, t) erfüllen muss

• der Separationsansatz qy(x, t) = f (x)g(t) führt zu

fd2g

dt2 − v2t g

d2 fdx2 = 0 ⇒

1g

d2g

dt2 =v2

t

fd2 fdx2 (11.46)

da die rechte Seite nur von t, die linke nur von x abhängt, müssenbeide konstant sein,

1g

d2g

dt2 = konst. =v2

t

fd2 fdx2 =: −c (11.47)

d.h. f und g müssen die beiden harmonischen Oszillatorgleichun-gen

d2g

dt2 + cg = 0 ,d2 fdx2 +

cv2

tf = 0 (11.48)

erfüllen

• für c < 0 ergeben sich unphysikalische, exponentiell anwachsendeLösungen, also müssen wir c ≥ 0 annehmen; sei ω :=

√c, dann

lauten die Lösungen der Gleichungen (11.48)

g(t) = C1 cos(ωt − δ) , f (x) = C2 sin(ω

vtx − η

)(11.49)

mit konstanten Amplituden C1,2 und Phasen δ, η

• wegen der Randbedingungen qy(0, t) = 0 = qy(l, t) ist entwederC2 = 0 oder η = 0 und ωl = nπvt mit n ∈ N; C2 = 0 ergibteine (langweilige) ruhende Saite; Lösungen für f haben also diediskreten Kreisfrequenzen ωn und Wellenlängen λn,

ωn = nπvt

l, λn =

2πωnvt =

2ln

(11.50)

die Lösungsfunktionen f können also in der Form

fn(x) = Nn sin(nπ

xl

)(11.51)

mit Nn , 0 geschrieben werden; die Eigenfrequenzen der schwin-genden Saite sind

νn =ωn

2π=

n2vt

l(11.52)

n = 1 ergibt den Grundton, n ≥ 2 die Obertöne

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11.3. SCHWINGENDE MEMBRAN 121

• die Saite trägt stehende Wellen der Länge λn; wegen der Rand-bedingungen müssen x = 0 und x = l Knoten dieser stehendenWellen sein; die gesamte Lösung für die Auslenkung der schwin-genden Saite in y-Richtung ist

qy,n(x, t) = Nn cos(ωnt − δn) sin(nπ

xl

)(11.53)

• die fn(x) heißen Eigenfunktionen der Differentialgleichung (11.45)zu vorgegebenen Randbedingungen; es ist nützlich, die Amplitu-den Nn so zu wählen, dass∫ l

0f ∗n (x) fn(x)dx = 1 (11.54)

wird, was für Nn =√

2/l der Fall ist; wegen der Orthonormalitätdes Sinus folgt bei dieser Normierung∫ l

0f ∗n (x) fm(x)dx = δnm (11.55)

• wegen der Linearität der Differentialgleichung (11.45) ist jedelineare Superposition von Lösungen (11.53) wieder eine Lösung,

qy(x, t) =

∞∑n=1

cn

√2l

cos(ωnt − δn) sin(nπ

xl

)(11.56)

das ist offensichtlich eine Fourier-Reihe bezüglich x

• die Existenz von Eigenfunktionen einer Differentialgleichung zudiskreten Eigenwerten legt einen Zusammenhang zwischen Diffe-rentialgleichungen und unendlich-dimensionalen Matrizen nahe

11.3 Schwingende Membran

• sei µ2 die als konstant angenommene zwei-dimensionale Massen-dichte und T0 := Kraft/Länge die Spannung auf dem Rand C derMembran

• mit analogen Methoden wie für die Saite leitet man die Bewe-gungsgleichung[

∂2

∂t2 − v2(∂2

∂x2 +∂2

∂y2

)]q(x, y, t) = 0 (11.57)

her, worin

v :=

√T0

µ2(11.58)

ist; das ist die d’Alembert-Gleichung in 1 + 2 Dimensionen

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122 KAPITEL 11. MECHANIK KONTINUIERLICHER MEDIEN

• die Membran sei am Rand eingespannt, d.h. die Randbedingungist q(x, y, t) = 0 für (x, y) ∈ C und für alle Zeiten t; der Separati-onsansatz q(x, y, t) = f (x, y)g(t) führt auf

g(t) = C1 cos(ωt − δ) (11.59)

und auf die Helmholtzsche Differentialgleichung für f (x, y)[∂2

∂x2 +∂2

∂y2 +

v

)2]

f (x, y) = 0 (11.60)

mit der Dirichlet-Randbedingung f (x, y)|C = 0

• Lösungen existieren nur für diskrete Eigenwerte ω2/v2, aus denensich die Eigenfrequenzen ergeben; für eine rechteckige Membranlösen die Eigenfunktionen

fmn(x, y) = NnNm sin(mπ

xlx

)sin

(nπy

ly

)(11.61)

(m, n ∈ N) die Helmholtzsche Differentialgleichung mit Dirichlet-Randbedingung für die Eigenfrequenzen(

ωmn

v

)2= m2π

2

l2x

+ n2π2

l2y

(11.62)

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Kapitel 12

Symmetrien undErhaltungssätze

12.1 Galilei-Invarianz

• Inertialsysteme waren im ersten Abschnitt als Idealisierungeneingeführt worden, die in der Realität in mehr oder weniger guterNäherung identifiziert werden können; ein System, das anhand derPositionen der Fixsterne definiert wird, kann als Inertialsystembetrachtet werden

• gegeben sei nun ein Beobachter in einem abgeschlossenen Kasten,der sich im Fixsternsystem kräftefrei bewegt; wie kann der Beob-achter feststellen, ob der Kasten ein Inertialsystem ist? offenbarwird er überprüfen, welche Form die Bewegungsgleichungen inseinem Kasten annehmen

• er führe also ein Experiment durch, in dem N Massenpunkte derMassen mi an den Orten ~xi auftreten, zwischen denen Potential-kräfte wirken, d.h. die potentielle Energie des Massenpunkts irelativ zum Massenpunkt j sei V ji(|~xi − ~x j|), die Kraft des j-ten aufden i-ten Massenpunkt sei ~F ji(~xi) = −~∇iV ji(|~xi − ~x j|)

• das System der N Massenpunkte lässt sich also durch die Lagran-gefunktion L = T − V beschreiben, aus der die Bewegungsglei-chungen nach

ddt∂L(~x, ~x, t)

∂~xi

−∂L(~x, ~x, t)

∂~xi= 0 (1 ≤ i ≤ N) (12.1)

folgen

• die Lagrangefunktion ist nicht eindeutig, denn man kann zu ihr dietotale zeitliche Ableitung einer Funktion Q(x, t) addieren, ohne

123

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124 KAPITEL 12. SYMMETRIEN UND ERHALTUNGSSÄTZE

die Bewegungsgleichungen zu ändern:

L→ L′ = L +dQ(~x, t)

dt(12.2)

ändert die Variation der Wirkung nicht, denn

δ

∫ t1

t0dtL′(~x, ~x, t) = δ

∫ t1

t0dtL(~x, ~x, t) + δ

[Q(~x, t)

∣∣∣t1t0

]= 0 ; (12.3)

da die Endpunkte der Bahn festgehalten werden, verschwindetdie Variation von Q(~x, t) an den Endpunkten der Bahn; aus derVariation von L′ folgen also dieselben Bewegungsgleichungenwie aus der Variation von L; dies ist die einzige Willkür in derLagrangefunktion

• das System im Kasten sei ungestrichen, (t, ~x); das Fixsternsystemsei gestrichen, (t′, ~x′); allgemein gilt dann

t′ = t + τ , ~x′ = ~a(t) + R(t) · ~x(t) (12.4)

die erste Gleichung beschreibt eine Nullpunktsverschiebung derZeit, der zweite eine Translation und Rotation des Koordinatensy-stems

• Wie kann sich der Kasten bewegen, ohne dass es der Beobachterfeststellen kann? zunächst muss R(t) konstant sein, denn sonstträten Scheinkräfte auf, die er (z.B. mit einem Pendelversuch)nachweisen könnte; damit lautet die Lagrangefunktion im Fix-sternsystem

L(~x′, ~ ′x, t′) =12

N∑i=1

mi~x2i −

∑j,i

V ji(|~xi − ~x j|)

+ ~a(t)

N∑i=1

miR~xi +~a2

2

N∑i=1

mi (12.5)

• die Bewegungsgleichungen im Kasten sind mit denen im Fixstern-system identisch, falls (12.2) gilt, d.h. falls es eine Funktion Q(x, t)gibt, deren totale zeitliche Ableitung

dQ(~x, t)dt

=∂Q(~x, t)∂t

+

N∑i=1

~xi∂Q(~x, t)∂~xi

=

N∑i=1

(~xT

i RT ~a)

mi +~a2

2

N∑i=1

mi (12.6)

ist; dies ist offenbar dann der Fall, wenn

∂Q(~x, t)∂t

=~a2

2

N∑i=1

mi ,∂Q(~x, t)∂~xi

= miRT ~a (12.7)

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12.2. NOETHER-THEOREME 125

gelten; offenbar ist dann auch

∂t∂Q(~x, t)∂~xi

=∂

∂~xi

∂Q(~x, t)∂t

= 0 (12.8)

und aus der zweiten Gleichung (12.7) folgt

~a = 0 ⇒ ~a = ~a0 +~vt , ~a0,~v = konst. (12.9)

• zu solchen Translationen gehört die Funktion

Q(~x, t) = ~vTN∑

i=1

miR~xi +~v2t2

N∑i=1

mi , (12.10)

deren totale Zeitableitung ist

dQdt

= ~vTN∑

i=1

miR~xi +~v2

2

N∑i=1

mi (12.11)

• damit haben wir die allgemeine Gestalt derjenigen Transformatio-nen bestimmt, die im Kasten nicht nachweisbar sind, die also dieBewegungsgleichungen invariant lassen:

t′ = t + τ , ~x′ = ~a0 +~vt + R · ~x , ~a0 = ~v = R = konst. (12.12)

solche Transformationen gehören zur zehnparametrigen Galilei-Gruppe; ein Parameter ist τ, je drei gehören zu ~a0, ~v und R

• physikalischer Gehalt der Galilei-Invarianz:

1. sei t′ = t + τ, ~x′ = ~x: willkürliche Nullpunktsverschiebungder Zeit, Homogenität der Zeit

2. sei t′ = t, ~x′ = ~a0 + ~x: willkürliche Wahl des Koordinatenur-sprungs, Homogenität des Raums

3. sei t′ = t, ~x′ = ~x +~vt: Bewegungsgleichungen sind gegenübergeradlinig-gleichförmiger Bewegung invariant; beschleunig-te Bewegung wäre feststellbar

4. sei t′ = t, ~x′ = R · ~x: willkürliche Drehung der Koordinaten-achsen, Isotropie des Raums; keine Richtung ist ausgezeich-net, Paritäts-Invarianz

12.2 Noether-Theoreme

• wir betrachten nun infinitesimale Koordinaten-Transformationen,die die Lagrangefunktion nur um eine totale zeitliche Ableitungändern:

t → t′ = t + δt , ~xi(t)→ ~x′i = ~xi(t) + δ~xi(t) (12.13)

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126 KAPITEL 12. SYMMETRIEN UND ERHALTUNGSSÄTZE

so, dass

L(x′, x′, t′) = L(x, x, t) +dQ(x, t)

dt(12.14)

geschrieben werden kann; δt = konst.

• die Änderung des Wirkungsintegrals ist∫ t′1

t′0

dt′L(~x′, ~ ′x, t′) =

∫ t1

t0dt

[L(~x, ~x, t) +

dQ(~x, t)dt

](12.15)

die linke Seite ist∫ t′1

t′0

dt′L(~x′, ~ ′x, t′) =

∫ t1

t0dt

[L(~x, ~x, t) (12.16)

+

N∑i=1

∂L∂~xi

(~x′i − ~xi) +

N∑i=1

∂L

∂~ ix(~ ′ix − ~ ix)

]+ δt

L[~x(t1), ~x(t1), t1] − L[~x(t0), ~x(t0), t0]

partielle Integration und Verwendung der Euler-Lagrange-Gleichungenführen auf ∫ t1

t0dt

[∂L

∂~ ix(~ ′ix − ~ ix)

]=

N∑i=1

∂L

∂~ ix(~x′i − ~xi)

∣∣∣∣∣∣t1t0

∫ t1

t0

ddt∂L

∂~ ix(~x′i − ~xi)dt

=

N∑i=1

∂L

∂~ ix(~x′i − ~xi)

∣∣∣∣∣∣t1t0

∫ t1

t0

∂L∂~xi

(~x′i − ~xi)dt

(12.17)

• mit (12.17) folgt aus (12.16):∫ t′1

t′0

dt′L(~x′, ~ ′x, t′) =

∫ t1

t0dtL(~x, ~x, t) (12.18)

+

N∑i=1

∂L

∂~ ix(~x′i − ~xi) + δtL(~x, ~x, t)

∣∣∣∣∣∣∣t1

t0

• wegen~x′i(t + δt) = ~xi(t) + δ~xi (12.19)

folgt

~x′i(t) = ~xi(t − δt) + δ~xi = ~xi(t) − ~ ix(t)δt + δ~xi (12.20)

damit lässt sich der Ausdruck in eckigen Klammern in (12.18)schreiben als

N∑i=1

∂L

∂~ ix(~x′i − ~xi) + δtL(~x, ~x, t) =

N∑i=1

∂L

∂~ ixδ~xi −

N∑i=1

∂L

∂~ ix~ ix − L

δt(12.21)

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12.2. NOETHER-THEOREME 127

mit∂L

∂~ ix= pi ,

N∑i=1

pi~ ix − L = H (12.22)

folgt schließlich aus (12.18) und der Bedingung, dass die Ände-rung der Lagrangefunktion die totale Zeitableitung einer beliebi-gen Funktion Q(x, t) sein muss: N∑

i=1

piδ~xi − Hδt − δQ

∣∣∣∣∣∣∣t1

t0

= 0 (12.23)

das bedeutet, dassN∑

i=1

piδ~xi − Hδt − δQ (12.24)

eine Erhaltungsgröße sein muss, denn t0 und t1 waren beliebig;dabei ist wegen (12.10)

δQ = ~vTN∑

i=1

miRδ~xi +~v2

2δt

N∑i=1

mi (12.25)

Emmy Noether (1882-1935)• Zu welchen Erhaltungsgrößen führt die Symmetrie unter Transfor-mationen der Galilei-Gruppe?

1. sei t′ = t + δt, ~x′ = ~x: dann folgt wegen δ~xi = 0 und ~v = 0aus (12.24) Hδt = konst.; Homogenität der Zeit führt zurEnergieerhaltung

2. sei t′ = t, ~x′ = ~x + δ~a: aus (12.24) folgt dann wegen δt = 0und ~v = 0

N∑i=1

~piδ~a = konst. ⇒N∑

i=1

~pi = konst. (12.26)

weil δ~a beliebig ist; Homogenität des Raums führt zur Impul-serhaltung

3. sei t = t′, ~x′ = δ~vt + ~x: dann ist wegen (12.10)

δQ = δ~vTN∑

i=1

mi~xi + O(δ~v2) (12.27)

und daher

δ~vT

t N∑i=1

~pi −

N∑i=1

mi~xi

= konst. (12.28)

da δ~v beliebig war, folgt daraus die geradlinig-gleichförmigeBewegung des Schwerpunkts,

~X =1M

N∑i=1

mi~xi = ~X0 +t

M

N∑i=1

~pi (12.29)

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128 KAPITEL 12. SYMMETRIEN UND ERHALTUNGSSÄTZE

4. sei t′ = t, ~x′ = δ~ϕ× ~x, vgl. die Darstellung infinitesimaler Ro-tationen durch Drehwinkel δ~ϕ (8.36): dann folgt aus (12.24)wegen δt = 0 und ~v = 0

N∑i=1

~pi · (δ~ϕ × ~xi) = δ~ϕ ·

N∑i=1

(~xi × ~pi) = konst. (12.30)

und da δ~ϕ beliebig war, folgt daraus ~L = konst.; Isotropiedes Raums führt zur Drehimpulserhaltung

• die zehn Parameter der Galilei-Gruppe führen also zu zehn Er-haltungsgrößen: Energie, und jeweils drei für die Bewegung desSchwerpunkts, den Impuls und den Drehimpuls

12.3 Elemente relativistischer Mechanik

12.3.1 Die spezielle Lorentztransformation

• die Galilei-Invarianz führt zu Widersprüchen mit der Erfahrung;Beispiele dafür liefert etwa der Zerfall von Myonen; Myonen sindLeptonen wie etwa das Elektron; sie zerfallen in Elektronen und(Anti-)Neutrinos nach

µ→ e− + νe + νµ (12.31)

mit einer Lebensdauer von τµ = 2×10−6 s; experimentell zeigt sichaber, dass die Lebensdauer zunimmt, wenn das Myon sich im La-borsystem mit Geschwindigkeiten nahe der Lichtgeschwindigkeitbewegt

• das beim Zerfall emittierte Elektron hat beinahe Lichtgeschwin-digkeit, aber selbst dann nie eine höhere Geschwindigkeit, wennbereits das Myon sich fast mit Lichtgeschwindigkeit bewegte

• die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum beträgt c = 2.99792458 ×1010 cm s−1; dass sie endlich ist, wurde bereits von dem dänischenAstronomen Ole Rømer (1644-1710) vermutet, der sie mithilfeder Jupitermonde zu c = 2.14 × 1010 cm s−1 bestimmte

• seien zwei Bezugssysteme gegeben, gestrichen und ungestrichen(K und K′ abgekürzt), die zum Zeitpunkt t = 0 = t′ zusam-menfallen und sich mit der Geschwindigkeit v . c längs ihrergemeinsamen ~e3-Achse bewegen

• die Transformation zwischen den beiden Systemen folgt aus derBedingung, dass sich Lichtsignale mit Lichtgeschwindigkeit aus-breiten, unabhängig von der Geschwindigkeit des Bezugssystems,von dem aus die Ausbreitung beobachtet wird

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12.3. ELEMENTE RELATIVISTISCHER MECHANIK 129

• zur Zeit t = 0 werde ein Lichtsignal ausgesandt, das sich längs derx3-Achse ausbreite; in beiden Systemen muss gelten

x3 − ct = 0 , x′3 − ct′ = 0 (12.32)

wenn diese Bedingung in K erfüllt ist, muss sie auch in K′ erfülltsein; das bedeutet

x′3 − ct′ = λ(x3 − ct) (12.33)

mit λ ∈ R

• dasselbe muss gelten, wenn das Lichtsignal in die (−x3)-Richtungläuft, also

x′3 + ct′ = µ(x3 + ct) (12.34)

aus Summe und Differenz der Gleichungen (12.33) und (12.34)folgt

x′3 = ax3 − bct , ct′ = act − bx3 (12.35)

mit a := (λ + µ)/2 und b := (λ − µ)/2

• der Ursprung von K′ bewegt sich von K aus betrachtet wie

x′3 = 0 ⇒ x3 =ba

ct (12.36)

d.h. die Geschwindigkeit von K′ relativ zu K ist

x3

t=

ba

c = v ⇒ba

=v

c(12.37)

• betrachten wir zum Zeitpunkt t = 0 einen Einheitsmaßstab in K′

von K aus, dann gilt

x′3 = ax3 ⇒ x3 =x′3a

=1a

(12.38)

• dasselbe muss sich ergeben, wenn wir zum Zeitpunkt t′ = 0 einenEinheitsmaßstab in K von K′ aus betrachten,

t′ = 0 ⇒ ct =v

cx3 (12.39)

woraus mit x3 = 1 folgt

x′3 = ax3 −b2

ax3 = a

(1 −

v2

c2

)(12.40)

• x3 aus (12.38) muss gleich x′3 aus (12.40) sein, woraus folgt

a2 =

(1 −

v2

c2

)−1

(12.41)

damit lautet die Transformation (12.35)

x′3 =x3 − (v/c)ct√

1 − v2

c2

, ct′ =ct − (v/c)x3√

1 − v2

c2

(12.42)

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130 KAPITEL 12. SYMMETRIEN UND ERHALTUNGSSÄTZE

• diese spezielle Lorentz-Transformation lässt sich in der Form

t′

x′1x′2x′3

=

γ 0 0 β/c√

1−β2

0 1 0 00 0 1 0βc√1−β2

0 0 γ

·

tx1

x2

x3

(12.43)

darstellen, wobei β := v/c ist; für β 1 ist (1 − β2)−1/2 →

1 + β2/2 ≈ 1; der häufig vorkommende Ausdruck (1− β2)−1/2 wirdals Lorentzfaktor γ abgekürzt, γ := (1 − β2)−1/2

• sei x0 := ct, dann istx′0x′1x′2x′3

=

γ 0 0 γβ0 1 0 00 0 1 0γβ 0 0 γ

·

x0

x1

x2

x3

(12.44)

12.3.2 Eigenschaften des Minkowski-Raums

Lage der Achsen x0 und x3 in der x′0-x′3-Ebene des gestrichenen Systems,wenn sich das ungestrichene Systemmit β = 0.25 (oben), β = 0.5 (Mitte)und β = 0.75 (unten) relativ zumgestrichenen bewegt

• Minkowski-Welt (x0, x1, x2, x3); Lage der ungestrichenen Achsenim gestrichenen System: x0- und x3-Achsen werden abgebildet auf

x0

000

→ γ

x0

00βx0

,

000x3

→ γ

βx3

00x3

(12.45)

Einheitsstrecke auf der x3-Achse, x0 = x1 = x2 = 0, x3 = 1 wirdabgebildet auf

x′0 = βγ , x′3 = γ (12.46)

• zwei Punktereignisse (0, 0, 0, 0) und (0, 0, 0, 1), die sich zur selbenZeit x0 = 0 im ungestrichenen System ereignen, ereignen sich zuverschiedenen Zeiten x′0 im gestrichenen System:

0000

0000

,

0001

→ γ

β001

(12.47)

d.h. im gestrichenen System sind x′0 = 0 und x′0 = βγ für diebeiden Ereignisse; die Gleichzeitigkeit von Ereignissen hängt alsovom Bewegungszustand ab!

• betrachten wir einen Einheitsmaßstab im ungestrichenen System,dessen Endpunkte durch (0, 0, 0, 0) und (0, 0, 0, 1) beschrieben

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12.3. ELEMENTE RELATIVISTISCHER MECHANIK 131

werden; das nicht im Ursprung liegende Ende des Maßstabs hatim gestrichenen System zur Zeit x′0 = 0 die Koordinaten:

x′0 = γ(βx3 + x0) = 0 ⇒ x0 = −βx3 ;

x′3 = γ(βx0 + x3) =√

1 − β2 < 1 (12.48)

d.h. der bewegte Maßstab erscheint verkürzt; Lorentz-Kontraktion

• für den Achsenabschnitt auf der x0-Achse gilt im gestrichenenSystem:

1000

→ γ

100β

(12.49)

d.h. wenn die Uhr des ungestrichenen Beobachters x0 = 1 anzeigt,zeigt die des gestrichenen Beobachters x′0 = γ > 1 an, d.h. diebewegte Uhr geht langsamer; Zeitdilatation

• für verschiedene Geschwindigkeiten β laufen die Einheitspunkteder ungestrichenen Achsen auf Hyperbelästen im gestrichenenSystem; aus (12.49) folgt z.B. für den Einheitspunkt auf der x0-Achse

x′0 = γ =1√

1 − β2, x′3 = βγ (12.50)

also ist

β =

√1 −

1x′20

⇒ x′3 = x′0

√1 −

1x′20

=

√x′20 − 1 (12.51)

Lage der Einheitspunkte x0 =

1, 2, 3, 4 und x3 = 1, 2, 3, 4 in der x′0-x′3-Ebene des gestrichenen Systems,wenn es sich relativ zum ungestriche-nen System mit Geschwindigkeiten0 ≤ β ≤ 0.9 bewegt

• aus der speziellen Lorentztransformation folgt:

x′20 − x′21 − x′22 − x′23 = x20 − x2

1 − x22 − x2

3 (12.52)

d.h. x20 − x2

1 − x22 − x2

3 ist Lorentz-invariant; wir benutzen dies, umdie Metrik zu definieren,

x2 := x20 − x2

1 − x22 − x2

3 = gµνxµxν (12.53)

mit gµν = diag(1,−1,−1,−1) und 0 ≤ µ, ν ≤ 3; diese Metrik istindefinit, denn x2 kann positiv, negativ und Null sein; der konstantemetrische Tensor gµν ersetzt die Metrik δi j im Euklidischen Raum;man spricht von einem pseudo-euklidischen Raum

• wir fassen die Koordinatenquadrupel zu Vierervektoren zusammen,x = (xµ) = (x0, x1, x2, x3); damit lässt sich die spezielle Lorentz-Transformation schreiben als

(xµ)′ = Λµν xν (12.54)

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132 KAPITEL 12. SYMMETRIEN UND ERHALTUNGSSÄTZE

mit

Λµν =

γ 0 0 γβ0 1 0 00 0 1 0γβ 0 0 γ

(12.55)

offenbar giltΛµνΛ

µ′

ν′gµµ′ = gνν′ (12.56)

dies entspricht der Orthogonalitätsrelation für Koordinatentrans-formationen im Euklidischen Raum

• allgemein ist das Quadrat eines Vierervektors invariant unter Trans-formationen der Lorentzgruppe, die sich aus speziellen Lorentz-transformationen, orthogonalen dreidimensionalen Transformatio-nen und Zeitumkehrtransformationen zusammen setzen

• ein Lichtblitz werde im ungestrichenen System in x3-Richtungausgesandt, (xµ) = (ct, 0, 0, ct); im gestrichenen System wird erbeschrieben durch

(xµ)′ = γ

(1 + β)ct

00

(1 + β)ct

=

x′000x′0

(12.57)

d.h. der Lichtblitz hat in beiden Systemen die Geschwindigkeit c;die Lichtgeschwindigkeit ist eine universelle Konstante

• sei w < c die Geschwindigkeit eines Teilchens im ungestrichenenSystem in x3-Richtung, (xµ) = (ct, 0, 0, wt), dann ist

(xµ)′ = γ

ct + βwt

00

βct + wt

(12.58)

mit x′3 = w′t′ folgt für die Geschwindigkeit im gestrichenen Sy-stem

w′ =βct + wtct + βwt

c =w + v

1 + vwc2

(12.59)

dies ist das Geschwindkeits-Additionstheorem

12.3.3 Vierergeschwindigkeit und Viererimpuls

• Bahnen ~x(t) gehen über in Weltlinien x(t) = [x0, ~x(t)]; da dieZeitmessung vom Bewegungszustand abhängt, muss die Bahnumparametrisiert werden; sie wird durch die Eigenzeit τ ersetzt,die definiert ist als Zeit im Ruhesystem des Massenpunkts: dx =

(cdτ, 0, 0, 0),(dx)2 = gµνdxµdxν = c2dτ2 (12.60)

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12.3. ELEMENTE RELATIVISTISCHER MECHANIK 133

da dx ein Vierervektor ist, ist (dx)2 eine Lorentz-Invariante, d.h. esgilt für das Differential der Eigenzeit

c2dτ2 = dx2 = c2dt2 − (d~x)2 = c2dt2

1 − 1c2

(d~xdt

)2⇒ dτ = dt

1 − ~x2

c2

1/2

=dtγ

(12.61)

dies ist die invariante Bogenlänge im Minkowski-Sinn

• wir ersetzen also t durch

τ =

∫ t

dt′√

1 − β2 (12.62)

und parametrisieren xµ(τ) statt xµ(t)

• die Vierergeschwindigkeit ist definiert als dxµ/dτ mit Komponen-ten

dx0

dτ=

cdtdτ

= γc ,d~xdτ

= γd~xdt

(12.63)

und dem Quadrat

gµνdxµ

dτdxν

dτ=

(1 −

v2

c2

)−1

(c2 − v2) = c2 (12.64)

wegen der Invarianz von dτ transformiert sich dxµ/dτ wie einVierervektor, ist also selbst einer

• analog ist der Viererimpuls pµ = m(dxµ/dτ) mit den Komponenten

p0 = γmc , pi = γmd~xdt

(12.65)

entwickelt bis zu zweiter Ordnung in β ist

p0 =1c

[mc2 +

m2~x2

], pi = ~p

[1 +

12β2

](12.66)

d.h. p0 ergibt die relativistische Verallgemeinerung der Energie,

p0c = mc2 +m2~x2 (12.67)

im Ruhesystem also p0c = mc2

• die Noethertheoreme gelten entsprechend, d.h. aus der Invarianzunter Transformationen der Lorentzgruppe folgen die Erhaltungder Energie, des Vierer-Impulses usw.

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134 KAPITEL 12. SYMMETRIEN UND ERHALTUNGSSÄTZE

12.3.4 Zur Äquivalenz von Masse und Energie

• die Äquivalenz von Masse und Energie, ausgedrückt durch (12.67)folgt auf einfache Weise direkt aus dem Relativitätsprinzip; gege-ben sei ein Körper der Masse m, auf den zur selben Zeit von rechtsund links zwei Lichtblitze mit den gleichen Energien E/2 treffenund absorbiert werden; im Ruhesystem von m bleibt m auch nachder Absorption in Ruhe

• von einem System aus betrachtet, das sich mit der Geschwindigkeitv relativ zu m senkrecht zur Bewegungsrichtung der Lichtblitze be-wegt, ist der Impuls von m vor der Absorption gleich mv; auch nachder Absorption muss sich m mit der Geschwindigkeit v bewegen,weil sich seine Geschwindigkeit im Ruhesystem nicht ändert

• vom bewegten Bezugssystem aus betrachtet treffen die beidenLichtblitze schräg auf m und teilen m daher einen Impuls in seinerBewegungsrichtung mit; dieser Impuls beträgt

∆p = 2 ×E2cv

c=

Evc2 (12.68)

da die Lichtblitze den Impuls E/(2c) haben und in Bewegungs-richtung von m um v/c reduzierte Impulskomponenten haben

• da die Geschwindigkeit von m vor wie nach dem Stoß gleich v ist,kann die Impulserhaltung nur gelten, wenn die Masse m nach demStoß auf

m′ = m +Ec2 (12.69)

angewachsen ist; der absorbierten Energie entspricht also ein Mas-senzuwachs um E/c2

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Kapitel 13

Analytische Mechanik

13.1 Kanonische Transformationen

13.1.1 Bahnen im erweiterten Phasenraum

• gegeben sei ein mechanisches System mit f Freiheitsgraden undden verallgemeinerten Koordinaten qi, 1 ≤ i ≤ f ; die Lagrange-funktion sei L(q, q, t), die Bewegungsgleichungen entsprechend

ddt∂L∂q−∂L∂q

= 0 , 1 ≤ i ≤ f (13.1)

• die zu den qi kanonisch konjugierten Impulse sind

pi =∂L∂qi

(q, q, t) , 1 ≤ i ≤ f (13.2)

wenn sich diese Gleichungen nach qi auflösen lassen, können dieqi durch die pi dargestellt werden

• die verallgemeinerten Koordinaten allein spannen den Konfigurati-onsraum (q) auf, der Phasenraum wird durch die verallgemeinertenKoordinaten und Impulse (q, p) aufgespannt, der erweiterte Pha-senraum (q, p, t) schließt die Zeit mit ein

• die Hamiltonfunktion ist

H(q, p, t) =

f∑i=1

piqi − L(q, q, t) (13.3)

mit qi = qi(q, p, t); die Bewegungsgleichungen sind die Hamilton-schen kanonischen Gleichungen

qi =∂H∂pi

, pi = −∂H∂qi

(13.4)

135

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136 KAPITEL 13. ANALYTISCHE MECHANIK

• wir betrachten nun das Differential

dS :=f∑

i=1

pidqi − Hdt (13.5)

auf dem erweiterten Phasenraum; das System werde zu zwei Zei-ten t1, t2 > t1 bei den Lagekoordinaten q1,2 mit den Impulsenp1,2 untersucht, d.h. an zwei Punkten P1,2 im erweiterten Phasen-raum; wir behaupten, dass die wirkliche Bewegung des Systemsso verläuft, dass

δ

∫ P2

P1

dS = 0 (13.6)

ist

• die wirkliche Bahn des Systems im erweiterten Phasenraum seigegeben durch qi = qi(t), pi = pi(t), 1 ≤ i ≤ f , mit Anfangs- undEndpunkten q(t j) = q( j), p(t j) = p( j), j = 1, 2

• Vergleichsbahnen seien relativ dazu leicht gestört, qi = qi(t)+δqi(t),pi = pi(t) + δpi(t), 1 ≤ i ≤ f , mit δqi(t1) = 0 = δqi(t2) undδpi(t1) = 0 = δpi(t2)

• die Variation (13.6) des Differentials (13.5) ist damit

δ

∫ t2

t1

f∑i=1

p′i q′i − H(q′, p′, t)

dt = 0 (13.7)

durch Einsetzen der wahren Bahn und der leicht gestörten Ver-gleichsbahnen folgt daraus∫ t2

t1

f∑i=1

(pi + δpi)(qi + δqi) − H(q + δq, p + δp, t)

∫ t2

t1

N∑i=1

piqi − H(q, p, t)

= 0 (13.8)

und daraus ergibt sich∫ t2

t1

f∑i=1

(pi

dδqi

dt+ qiδpi

)−

f∑i=1

(∂H∂qi

δqi +∂H∂pi

δpi

) dt = 0

(13.9)nach partieller Integration im ersten Term folgt schließlich∫ t2

t1

f∑i=1

[(−pi −

∂H∂qi

)δqi +

(qi −

∂H∂pi

)δpi

]dt = 0 (13.10)

• da die Störungen δqi und δpi beliebig waren, folgen aus der Varia-tion (13.6) also die Hamiltonschen kanonischen Gleichungen; dieUmkehrung ist in jedem Schritt möglich, also ist die Behauptungbewiesen, dass (13.6) die wahre Bahn des Systems im erweitertenPhasenraum beschreibt

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13.1. KANONISCHE TRANSFORMATIONEN 137

13.1.2 Transformationen der Koordinaten

• welche Transformationen lassen die Hamiltonschen Gleichungeninvariant? führen wir neue verallgemeinerte Koordinaten q′i =

q′i(q1, . . . , q f , t) ein und verlangen, dass die Funktionaldeterminan-te nicht verschwinde, ∣∣∣∣∣∣∂(q′1, . . . , q

′f )

∂(q1, . . . , q f )

∣∣∣∣∣∣ , 0 (13.11)

sodass wir nach q j = q j(q′1, . . . , q′f , t) auflösen können

• die Lagrange-Gleichungen bleiben unverändert,

ddt∂L∂q′i−∂L∂q′i

= 0 (13.12)

denn der Lagrange-Formalismus ist von der Wahl der verallgemei-nerten Koordinaten völlig unabhängig

• die Zeitableitung der alten Koordinaten, ausgedrückt durch dieneuen, lautet

q j =

f∑k=1

∂q j

∂q′kq′k +

∂q j

∂t(13.13)

da die qi und die qi unabhängige Koordinaten sind, ist

∂qi

∂q j= 0 (13.14)

• aus (13.13) folgt

∂q j

∂q′k=∂q j

∂q′k=: a jk(q, t) (13.15)

und für die verallgemeinerten Impulse ergibt sich

p′j =∂L∂q′j

=

f∑k=1

∂L∂qk

∂qk

∂q′j=

f∑k=1

a jk pk (13.16)

d.h. der Übergang zu neuen verallgemeinerten Koordinaten q′iinduziert eine Transformation auf dem Phasenraum

q′i = q′i(q, t) , p′i =

f∑j=1

ai j p j (13.17)

die linear in den verallgemeinerten Impulsen p j ist

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138 KAPITEL 13. ANALYTISCHE MECHANIK

• (q′, p′) genügen den Hamiltonschen Gleichungen

q′i =∂H′

∂p′i, p′i = −

∂H′

∂q′i(13.18)

mit

H′ :=f∑

i=1

p′i q′i − L =

f∑i, j=1

q′iai j p j − L (13.19)

wegen (13.13) gilt außerdem

f∑j=1

ai jq′j = qi −∂qi

∂t(13.20)

sodass H′ sich als

H′ =

f∑j=1

p jq j − L −f∑

j=1

p j∂q j

∂t= H −

f∑j=1

p j∂q j

∂t(13.21)

schreiben lässt

13.1.3 Kanonische Transformationen

• seien jetzt Transformationen der verallgemeinerten Koordinatenund Impulse gegeben, q′i = q′i(q, p, t), p′i = p′i(p, q, t); wir verlan-gen, dass es auf dem erweiterten Phasenraum eine Funktion Φ

geben möge so, dass sich die Differentiale dS aus (13.5) vor undnach der Transformation nur um das vollständige Differential vonΦ unterscheiden,

dS =

f∑i=1

pidqi−Hdt =

f∑i=1

p′idq′i−H′dt+dΦ = dS ′+dΦ (13.22)

• wenn das so ist, bleiben die Hamiltonschen Gleichungen erhalten,d.h. es gilt

q′i =∂H′

∂p′i, p′i = −

∂H′

∂q′i(13.23)

dies ist leicht einzusehen, denn∫dS =

∫dS ′ +

∫dΦ =

∫dS ′ + (Φ2 − Φ1) (13.24)

da die Endpunkte der Bahn im erweiterten Phasenraum nicht vari-iert werden, folgt

δ

∫dS = δ

∫dS ′ (13.25)

d.h. die Variationen der beiden Wirkungen sind äquivalent; solcheTransformationen des erweiterten Phasenraums heißen kanonisch

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13.2. HAMILTON-JACOBI-THEORIE 139

• Beispiel: q′i = −pi, p′i = qi ist eine kanonische Transformation,denn

dS =

f∑i=1

pidqi − Hdt = −

f∑i=1

q′idp′i − Hdt

=

f∑i=1

p′idq′i − Hdt − d

f∑i=1

p′iq′i

(13.26)

d.h. die Differentiale dS und dS ′ unterscheiden sich tatsächlichnur durch das vollständige Differential von

Φ =

f∑i=1

p′iq′i (13.27)

das verdeutlicht, dass q und p nach kanonischen Transformationenkeineswegs die physikalische Bedeutung von Orten und Impulsenhaben müssen!

13.2 Hamilton-Jacobi-Theorie

13.2.1 Die Hamilton-Jacobi-Gleichung

• kanonische Transformationen können verwendet werden, um Be-wegungsgleichungen möglichst einfach zu machen, z.B. H′ ≡ 0,sodass q′i = 0 = p′i werden; man nennt dies eine „Transformationauf Ruhe“

• wir nehmen eine zunächst beliebige Funktion Φ, die neben den fverallgemeinerten Koordinaten qi auch von weiteren f Parameternq′i und von der Zeit t abhängen soll; wir verlangen nur, dass

det ∂2Φ

∂qi∂q′j

, 0 (13.28)

sei, d.h. die Determinante der Krümmungsmatrix von Φ mögenicht verschwinden

• mittels Φ definieren wir die Transformation

p j =∂Φ

∂q j, p′j = −

∂Φ

∂q′j(13.29)

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140 KAPITEL 13. ANALYTISCHE MECHANIK

und behaupten, dass sie kanonisch sei:

dΦ =∂Φ

∂tdt +

f∑i=1

∂Φ

∂qidqi +

f∑i=1

∂Φ

∂q′idq′i

=∂Φ

∂tdt +

f∑i=1

pidqi −

f∑i=1

p′idq′i

=∂Φ

∂tdt + dS + Hdt −

f∑i=1

p′idq′i

⇒ dS =

f∑i=1

p′idq′i −(H +

∂Φ

∂t

)dt + dΦ (13.30)

• die Transformation (13.29) ist also in der Tat kanonisch, die Funk-tion Φ heißt Erzeugende Funktion der Transformation; nach derTransformation lautet die Hamiltonfunktion

H′ = H +∂Φ

∂t(13.31)

• sie verschwindet, wenn Φ die Hamilton-Jacobi-Gleichung

H(q, p, t) = H(q,∂Φ

∂q, t)

+∂Φ

∂t= 0 (13.32)

erfüllt; eine kanonische Transformation, deren Erzeugende dieseGleichung erfüllt, transformiert also das System tatsächlich „aufRuhe“

13.2.2 Harmonischer Oszillator

• als ein erstes Beispiel für eine kanonische Transformation betrach-ten wir den harmonischen Oszillator; seine Lagrange-Funktionlautet

L =m2

q2 +k2

q2 (13.33)

wenn k die Konstante der Rückstellkraft ist

• der kanonisch konjugierte Impuls ist p = mq, und damit lautet dieHamilton-Funktion

H(q, p) =p2

2m+

k2

q2 (13.34)

• wir betrachten nun die kanonische Transformation, die durch dieFunktion

Φ(q, q′) =m2ω2q2 cot q′ (13.35)

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13.2. HAMILTON-JACOBI-THEORIE 141

erzeugt wird; die Impulse ergeben sich aus (13.29) zu

p =∂Φ

∂q= mωq cot q′ , p′ = −

∂Φ

∂q′=

m2ωq2 1

sin2 q′(13.36)

wobei (cot x)′ = − sin−2 x verwendet wurde

• daraus erhält man, indem man nach q und p auflöst

q =

√2p′

mωsin q′ , p =

√2mωp′ cos q′ (13.37)

• da Φ nicht explizit von der Zeit abhängt, ist H′ = H; wenn man qund p durch (13.38) ersetzt, folgt außerdem H′ = ωp′; da H′ nichtvon q′ abhängt, ist q′ offenbar zyklisch, und es gilt

p′ = −∂H′

∂q′= 0 ⇒ p′ = konst. =: p′0 (13.38)

außerdem folgt für q′

q′ =∂H′

∂p′= ω ⇒ q′ = ωt + q′0 (13.39)

• setzt man dies wieder in q aus (13.37) ein, folgt

q =

√2p′

mωsin(ωt + q′0) (13.40)

mit den beiden Integrationskonstanten q′0 und p′0, die Amplitudeund Phase der Schwingung festlegen

13.2.3 Bewegung des freien Massenpunkts

• als Beispiel betrachten wir die kräftefreie Bewegung eines Mas-senpunkts m mit kartesischen Koordinaten qi → xi; Lagrange- undHamilton-Funktion lauten

L =m2~x2 , H =

12m

~p2 (13.41)

• in diesem Fall lautet die Hamilton-Jacobi-Gleichung

12m

( ∂Φ

∂x1

)2

+

(∂Φ

∂x2

)2

+

(∂Φ

∂x3

)2 +∂Φ

∂t= 0 (13.42)

• zu ihrer Lösung verwenden wir den Ansatz

Φ = q′1x1 + q′2x2 + q′3x3 − Et (13.43)

mit Konstanten q′i und E; offenbar ist damit die Voraussetzung(13.28) erfüllt, denn die Krümmungsmatrix von Φ ist die Einheits-matrix,

∂2Φ

∂qi∂q′j=∂q′i∂q′j

= δi j (13.44)

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142 KAPITEL 13. ANALYTISCHE MECHANIK

• die Hamilton-Jacobi-Gleichung verlangt dann

12m

[(q′1)2 + (q′2)2 + (q′3)2

]− E = 0 ⇒ E =

12m

(~q′)2 (13.45)

also

Φ = ~q′ · ~x −1

2m(~q′)2t (13.46)

• für die kanonisch-konjugierten Impulse erhalten wir aus (13.29)

pi =∂Φ

∂qi= q′i , p′i = −

∂Φ

∂q′i= −xi +

pi

mt (13.47)

aus den Bedingungen (q′i , p′i) = konst. folgen damit pi = konst.und xi = pit/m + konst.; E ist offenbar die Energie

• zu gegebener, fester Zeit t beschreibt

Φ = ~q′ · ~x − Et = ~q′ · ~x −(~q′)2

2mt = konst. (13.48)

eine Ebenenschar mit dem Normalenvektor ~q′; wegen ~p = ~∇qΦ

stehen die Impulse senkrecht auf dieser Ebenenschar

• Ebenen mit festem Φ wandern mit der Geschwindigkeit v = E/|~q′|in Richtung ~q′ weiter, also nicht mit der Geschwindigkeit einesTeilchens mit dem Impuls ~q′!

• diese Wanderung der Ebenen stellt eine Wellenbewegung dar, dieeine Analogie zwischen geometrischer Optik und theoretischerMechanik herstellt; in der geometrischen Optik heißt Φ Eikonal-funktion und stellt die Phase der Lichtwelle dar

• angeregt durch de Broglie und Einstein fasste Schrödinger diePunktmechanik als Grenzfall der Wellenmechanik auf und setztefür die Wellenfunktion eines freien Teilchens

ψ(~x, t) = exp[

i~

Φ(~x, t, ~q′)]

(13.49)

an; Φ/~ ist die dimensionslose Phase, ~ := h/(2π); für dieseWellenfunktion verlangt die Hamilton-Jacobi-Gleichung

−~2

2m

(∂2

∂x21

+∂2

∂x22

+∂2

∂x23

)ψ = i~

∂tψ (13.50)

das ist bereits die Schrödinger-Gleichung für ein freies Teilchen

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13.2. HAMILTON-JACOBI-THEORIE 143

13.2.4 Lösung der Hamilton-Jacobi-Gleichung

• im Raum (q, t) seien q0 die Koordinaten des Systems zu einemfesten Zeitpunkt t0; weiterhin sei Φ0 eine beliebige Funktion der fKoordinaten qi0, die noch von f weiteren Parametern q′i abhängeund für die die Unabhängigkeitsrelation

det ∂2Φ

∂qi0∂q′j

, 0 (13.51)

gelte; Orte und Impulse zur Zeit t0 sind

qi(t0) = qi0 , pi(t0) =∂Φ

∂qi

∣∣∣∣∣qi=qi0

(13.52)

• wir suchen diejenige Bewegung des mechanischen Systems, diezur Zeit t0 an den Orten q0 mit den Impulsen p0 beginnt; sie ist ge-geben durch Integration der Hamiltonschen kanonischen Gleichun-gen (13.4); eine Lösung existiert nach dem Cauchyschen Existenz-und Eindeutigkeitssatz für gewöhnliche Differentialgleichungen;damit wird jedem Punkt q0 eine Bahn des Systems zugeordnet

• zu einem anderen Zeitpunkt t wird durch jeden Punkt q genau eineder so konstruierten Bahnen gehen, wenn t nahe bei t0 liegt und Hsich genügend gut verhält

• wir setzen nun

Φ(q, q′, t) = Φ0(q0, q′) +

∫ t1

t0L(q(t′), q(t′), t′

)dt′ (13.53)

d.h. Φ sei gleich einer beliebigen Funktion Φ0 am Ort q0 plus dasWirkungsintegral längs der Bahn von q0 nach q

• diese Funktion löst die Hamilton-Jacobi-Gleichung; zum Beweisvariieren wir Φ:

δΦ =

f∑i=1

∂Φ0

∂qi0δqi0 +

f∑i=1

piδqi − H(q, p, t)δt −f∑

i=1

pi0δqi0

=

f∑i=1

piδqi − Hδt =

f∑i=1

∂Φ

∂qiδqi +

∂Φ

∂tδt (13.54)

wobei im zweiten Schritt ∂Φ/∂qi0 = pi0 verwendet wurde; darausfolgt

pi =∂Φ

∂qi,

∂Φ

∂t+ H = 0 (13.55)

d.h. Φ genügt tatsächlich der Hamilton-Jacobi-Gleichung

• damit haben wir eine allgemeine Lösung für die Hamilton-Jacobi-Gleichung konstruiert und gezeigt, dass sich jedes mechanischeSystem „auf Ruhe“ transformieren lässt; dieses Verfahren hat sichals grundlegend für die Pfadintegral-Methode in der Quantenme-chanik erwiesen

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144 KAPITEL 13. ANALYTISCHE MECHANIK

13.3 Liouvillescher Satz, Poisson-Klammern

13.3.1 Der Liouvillesche Satz

• gegeben sei ein Ensemble von Systemen, deren Bahnen bei t =

t0 einen Bereich σ0 des Phasenraums überdecken; der Satz vonLiouville besagt, dass das Volumen des überdeckten Phasenraumskonstant bleibt,

Volumen[σ(t)] = Volumen[σ0] (13.56)

oder ∫σ0

f∏i=1

dqidpi =

∫σ(t)

f∏i=1

dqidpi (13.57)

• der Beweis erfolgt in zwei Schritten; zunächst ist bei kanonischenTransformationen (q, p, t)→ (q′, p′, t) die Funktionaldeterminante∣∣∣∣∣∣∣∂(q1, . . . , q f , p1, . . . , p f )

∂(q′1, . . . , q′f , p′1, . . . , p′f )

∣∣∣∣∣∣∣ = 1 (13.58)

was hier nicht gezeigt wird; das bedeutet, dass kanonische Trans-formationen das Volumenelement im Phasenraum konstant lassen;es lässt sich aber eine kanonische Transformation finden, die dasEnsemble von Systemen auf Ruhe transformiert, und dann isttrivialer Weise σ(t) = σ0

13.3.2 Poisson-Klammern

• sei ρ(q, p, t) die Dichteverteilung des Ensembles im Phasenraum,d.h. ρ(q, p, t)dqdp ist die Anzahl der Ensemblemitglieder zur Zeitt im Phasenraumelement zwischen [q, q + dq] und [p, p + dp]

• die Systeme können im erweiterten Phasenraum nicht verlorengehen,

ρ(q, p, t)dqdp = ρ(q0, p0, t0)dq0dp0 (13.59)

woraus mithilfe des Liouvilleschen Satzes folgt

ρ(q, p, t) = ρ(q0, p0, t0) (13.60)

also

∂ρ

∂t+

f∑i=1

(qi∂ρ

∂qi+ pi

∂ρ

∂pi

)=∂ρ

∂t+

f∑i=1

(∂H∂pi

∂ρ

∂qi−∂H∂qi

∂ρ

∂pi

)(13.61)

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13.3. LIOUVILLESCHER SATZ, POISSON-KLAMMERN 145

• der Ausdruck in Klammern heißt Poisson-Klammer, allgemeindefiniert als

f , g :=f∑

i=1

(∂ f∂pi

∂g

∂qi−∂ f∂qi

∂g

∂pi

)(13.62)

sie erfüllt folgende Eigenschaften:

f , g = −g, f (13.63) f , g1 + g2 = f , g1 + f , g2

f , g1g2 = g1 f , g2 + g2 f , g1

0 = f , g1, g2 + g1, g2, f + g2, f , g1

die letzte Gleichung ist Jacobis Identität

• mithilfe der Poisson-Klammern lautet (13.61)

∂ρ

∂t+ H, ρ = 0 (13.64)

die Hamiltonschen kanonischen Gleichungen lauten

qi = H, qi , pi = H, pi (13.65)

in dieser Form wurden sie grundlegend für die HeisenbergscheFormulierung der Quantenmechanik

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146 KAPITEL 13. ANALYTISCHE MECHANIK

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Kapitel 14

Stabilität und Chaos

14.1 Stabilität

14.1.1 Bewegung in der Nähe des Gleichgewichts

• nicht-konservative Systeme heißen dissipativ; sie verlieren Energieund können daher als Systeme betrachtet werden, die auf irgendeine Weise an ihre Umgebung oder an andere Systeme ankoppeln

• wichtig für das Verhalten dissipativer Systeme ist die Stärke dieserKopplung an andere Systeme; diese Kopplungsstärke wird durchParameter bestimmt, etwa durch die Reibungskonstante λ beimgedämpften harmonischen Oszillator

• für die Kenntnis eines dissipativen Systems ist es wichtig zu wis-sen, bei welchen kritischen Werten dieser Kopplungsparameterwesentliche Änderungen im Verhalten des Systems auftreten

• die Gesamtheit des Systems wird durch den Phasenfluss darge-stellt, d.h. durch die Gesamtheit der Trajektorien des Systems,die durch alle möglichen Anfangsbedingungen und die Wahl derKopplungsparameter erlaubt werden

• damit tritt die Frage auf, ob es kritische Werte der Kopplungspa-rameter gibt, bei denen sich die Eigenschaften des Phasenflusseswesentlich ändern; statt einzelner Trajektorien wird dann die ge-samte Lösungsmannigfaltigkeit des Systems betrachtet

• studiert wird dann das Langzeitverhalten des Systems unter al-len möglichen Anfangsbedingungen; damit wird die qualitativeDynamik vorgegebener Bewegungsgleichungen zum Gegenstandder Untersuchung; ein Beispiel wäre die Untersuchung der Fra-ge, wie sich der Phasenfluss für periodische, schwach gestörteBewegungen langfristig entwickelt

147

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148 KAPITEL 14. STABILITÄT UND CHAOS

• bei dieser Vorgehensweise gehen wir von Bewegungsgleichungender Form

~x = ~F(~x, t) (14.1)

aus; auf eine solche Form lassen sich die dynamischen Gleichun-gen immer bringen, indem man etwa (~x1, . . . , ~xN; ~ 1x, . . . , ~ Nx) zueinem Vektor ~x zusammen fasst

• Beispiel: für den gedämpften harmonischen Oszillator ist x+2λx+

ω2x = 0; wir führen ~z := (x, x) ein, erhalten z2 = −2λz2 − ω2z1

und z1 = z2, womit folgt(z1

z2

)=

(z2

−2λz2 − ω2z1

)(14.2)

• die „Kraft“ ~F kann Störterme oder nicht genau bekannte Anteileenthalten; in beiden Fällen würde die Größe der Störungen oderder zusätzlichen Anteile durch Parameter angegeben

• die Gleichgewichtslage ~x0 ist dadurch bestimmt, dass ~F(~x0) = 0ist; autonom ist das System, wenn ~F nicht explizit von der Zeitabhängt, ~F(~x, t) = ~F(~x(t)); Punkte ~x0, für die ~F(~x0) = 0 gilt, heißensinguläre oder kritische Punkte von ~F

• wir versetzen das System in einen solchen kritischen Punkt undlinearisieren in dessen Umgebung; sei ~y := ~x − ~x0, dann ist

~y(t) =

f∑i=1

∂~F∂xi

∣∣∣∣∣∣~x0

· yi(t) (14.3)

• im allgemeineren, dynamischen Fall seien ~ξ(t) eine Lösungskurvevon ~x = ~F(~x, t) und ~y(t) := ~x(t) − ~ξ(t), dann ist offenbar

~y = ~F(~y + ~ξ, t) − ~ξ = ~F(~y + ~ξ, t) − ~F(~ξ, t) (14.4)

und daher

~y =

f∑i=1

∂~F∂xi

∣∣∣∣∣∣~x=~ξ

· yi (14.5)

• in der Umgebung einer Lösungskurve ~ξ lassen sich die dynami-schen Gleichungen also in die Form

~y = A · ~y , Ai j =∂Fi

∂x j

∣∣∣∣∣∣~x=~ξ

(14.6)

bringen; die Lösung dieser Gleichung ist

~y(t) = exp [A(t − t0)] · ~y0 (14.7)

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14.1. STABILITÄT 149

• die Exponentialfunktion der Matrix A(t − t0) hat die nahe liegendeBedeutung

exp[A(t − t0)] :=∞∑

i=0

(t − t0)i

i!Ai (14.8)

wenn A in Diagonalform gebracht wurde mit den Eigenwerten αi,1 ≤ i ≤ f , dann ist auch exp[A(t − t0)] in Diagonalform und hatdie Eigenwerte exp[αi(t − t0)]

• die Eigenwerte αi heißen kritische Exponenten des Vektorfeldes ~Fin ~x0 bzw. entlang der Lösungskurve ~ξ

Beispiele

• gegeben sei ein ebenes Pendel der Länge l und der Masse m; seineLagrange-Funktion ist

L =m2

l2ϕ2 + mgl cosϕ (14.9)

woraus die Bewegungsgleichung

ϕ + ω2ϕ = 0 , ω :=√g

l(14.10)

folgt

• wir nennen y1 := ϕ und y2 = ϕ; damit ist y1 = y2 und y2 = −ω2y1,und

~y =

(0 1−ω2 0

)(14.11)

aus dem charakteristischen Polynom α2 + ω2 = 0 erhalten wirdie Eigenwerte α1,2 = ±iω, und damit lautet die Matrix A inDiagonalform

A =

(iω 00 −iω

)(14.12)

beide kritischen Exponenten sind imaginär und beschreiben daherSchwingungen des Pendels

• betrachten wir statt dessen ein ebenes Pendel mit Reibung, dannlautet die Bewegungsgleichung

ϕ + 2λϕ + ωϕ = 0 (14.13)

mit derselben Definition von y1,2 wie oben folgt(y1

y2

)=

(0 1

−ω2 −2λ

)(14.14)

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150 KAPITEL 14. STABILITÄT UND CHAOS

• das charakteristische Polynom α(α + 2λ) + ω2 = 0 ergibt dieEigenwerte

α1,2 = −λ ± i√ω2 − λ2 (14.15)

die Gleichgewichtslage y = 0 wird für λ = 0 nur im zeitlichenMittel erreicht; für λ < 0 läuft das System exponentiell vomGleichgewicht weg, während die Bewegung für λ > 0 und t → ∞nach y = 0 läuft

14.1.2 Definitionen und Sätze zur Stabilität

• diese Überlegung motiviert die folgenden Definitionen:

1. ein Punkt ~x0 auf der Lösungskurve eines Systems heißt Lia-punov-stabil, wenn zu jeder Umgebung U von ~x0 eine Um-gebung V von ~x0 existiert so, dass die Lösungskurve, diezur Zeit t = 0 durch ~x ∈ V geht, für alle t ≥ 0 in U liegt;mathematisch: ~x ∈ V : ξ~x(t) ∈ U (t ≥ 0)

2. der Punkt ~x0 heißt asymptotisch stabil, wenn es zu ~x0 ei-ne Umgebung U gibt so, dass die Lösungskurve durch einbeliebiges ~x ∈ U für t → ∞ definiert ist und im Limest → ∞ nach ~x0 läuft; ein asymptotisch stabiler Punkt ist auchLiapunov-stabil

• folgende Sätze beschreiben die Stabilität:

1. Sei ~x0 ein Gleichgewichtspunkt von ~F, ferner sei <(αi) <−c < 0 für alle αi, dann existieren eine Umgebung U von~x0 so, dass der Fluss von ~F auf U für alle positiven Zeitendefiniert ist, und ein d ∈ R so, dass für alle ~x ∈ U und allet ≥ 0 gilt ∣∣∣∣~ξ~x∣∣∣∣ ≤ de−ct

∣∣∣~x − ~x0

∣∣∣ (14.16)

(exponentielle, gleichmäßige Konvergenz nach ~x0)

2. Wenn ~x0 stabil ist, hat keiner der Eigenwerte von A einenpositiven Realteil

Beispiel für einen Freiheitsgrad

• für ein System mit einem Freiheitsgrad gilt in der Nähe des Gleich-gewichts ~y = 0 (

y1

y2

)= A

(y1

y2

)(14.17)

die Eigenwerte erfüllen die Gleichung

α2 − trAα + det A = 0 (14.18)

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14.1. STABILITÄT 151

mit trA = α1 + α2 und det A = α1α2; der Ausdruck

D := (trA)2 − 4 det A (14.19)

ist die Diskriminante

• wenn D ≥ 0 ist, sind α1,2 ∈ R; dann werden drei Fälle unterschie-den:

1. α1 < α2 < 0: (det A > 0); dann gilt

y1 = eα1ty1,0 , y2 = eα2ty2,0 (14.20)

die y(t) bilden dann einen Knoten

2. α1 = α2 < 0: der Knoten ist axialsymmetrisch

3. α2 < 0 < α1: (det A < 0); der Nullpunkt ist instabil, die y(t)bilden einen Sattelpunkt

• wenn D < 0 ist, sind α1,2 konjugiert-komplexe Zahlen; die dynami-sche Gleichung beschreibt dann einen (gedämpften, angefachten)harmonischen Oszillator, der anhand des Vorzeichens von<(α)unterschieden wird

14.1.3 Hamiltonsche Systeme

• mit der Matrix

J :=(

0 1−1 0

)(14.21)

und der Identifikation q = x1, p = x2 lauten die HamiltonschenGleichungen

~x = J · ~∇H (14.22)

• offenbar ist det J = 1 und JT = J−1 = −J, außerdem ist J2 = −I(d.h. die negative Einheitsmatrix); J induziert eine symplektischeStruktur auf dem Phasenraum

• wenn ~x0 ein Gleichgewichtspunkt ist, gilt dort J · ~∇H = 0, alsoauch ~∇H

∣∣∣∣~x0

= 0; die Linearisierung um ~x0 mit ~y := ~x − ~x0 ergibt

~y = J ·(∂2H∂xi∂x j

)∣∣∣∣∣∣~x0

· ~y (14.23)

• die Matrix

B :=(∂2H∂xi∂x j

)∣∣∣∣∣∣~x0

(14.24)

ist offenbar symmetrisch; per Definition ist JB = A

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152 KAPITEL 14. STABILITÄT UND CHAOS

• die Matrix A ist infinitesimal symplektisch; für sie gilt

AT J + JA = (JB)T J + JA = BT (JT J) + JA = B + JA= B + J2B = B − B = 0 (14.25)

• wenn α Eigenwert von A ist, dann ist auch −α Eigenwert von A;Beweis: die Eigenwerte von A sind durch das charakteristischePolynom det(A − αI) = 0 bestimmt; wir müssen also zeigen, dassdet(A − αI) = det(A + αI) ist:

det(A − αI) = det(JB + αJ2) = det J det(B + αJ)= det

[(B + αJ)T

]= det(BT + αJT )

= det(B − αJ) = det [J(B − αJ)]= det(JB − αJ2) = det(A + αI) (14.26)

das bedeutet, dass für Hamiltonsche Systeme die Voraussetzungendes Satzes 1 nicht erfüllbar sind, denn zu jedem Eigenwert αi vonA = JB mit negativem Realteil muss es einen Eigenwert α j mit<(α j) = −<(αi) > 0 geben! ~x0 kann höchstens dann stabil sein,wenn alle Eigenwerte rein imaginär sind

Stabilität des asymmetrischen Kreisels

• als Beispiel betrachten wir einen kräftefreien, asymmetrischenKreisel mit den Hauptträgheitsmomenten 0 < Θ1 < Θ2 < Θ3; mitder Definition xi := ωi können die Eulerschen Gleichungen (9.48)in die Form

x1 = −Θ3 − Θ2

Θ1x2x3

x2 = +Θ3 − Θ1

Θ2x1x3

x3 = −Θ2 − Θ1

Θ3x1x2 (14.27)

gebracht werden

• offensichtlich sind die drei Gleichgewichtslagen des Systems ge-geben durch

~x0,1 =

ω00 , ~x0,2 =

0ω0

, ~x0,3 =

00ω

, (14.28)

mit einer beliebigen Konstante ω, denn damit verschwinden je-weils x1, x2 und x3

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14.1. STABILITÄT 153

• zur Untersuchung der Stabilität dieser Gleichgewichtslagen setzenwir ~yi := ~xi − ~x0,i und linearisieren in ~y; so ergibt sich in derUmgebung von ~x0,1 das lineare Gleichungssystem

~y =

y1

y2

y3

=

0 0 00 0 ωΘ3−Θ1

Θ2

0 −ωΘ2−Θ1Θ3

0

y1

y2

y3

=: A~y (14.29)

• die charakteristischen Exponenten zur Gleichgewichtslage ~x0,1

ergeben sich aus det(A − α1,iI) = 0, also

α1,1

(α1,2α1,3 + ω2 Θ3 − Θ1

Θ2

Θ2 − Θ1

Θ3

)= 0 (14.30)

zu

α1,1 = 0 , α1,2 = −α1,3 = iω[(Θ2 − Θ1)(Θ3 − Θ1)

Θ2Θ3

]1/2

(14.31)

• auf völlig analoge Weise findet man

α2,1 = 0 , α2,2 = −α2,3 = ω

[(Θ3 − Θ2)(Θ2 − Θ1)

Θ1Θ3

]1/2

α3,1 = 0 , α3,2 = −α3,3 = iω[(Θ3 − Θ2)(Θ3 − Θ1)

Θ1Θ2

]1/2

(14.32)

für die Eigenwerte der Entwicklung um die anderen beiden Gleich-gewichtslagen

• der Eigenwert α2,2 hat also einen positiven Realteil, d.h. die Gleich-gewichtslage ~x0,2 erfüllt nicht die Voraussetzung für Stabilität;tatsächlich sind Drehungen des kräftefreien, asymmetrischen Krei-sels um die Achse mit dem mittleren Hauptträgheitsmoment insta-bil

14.1.4 Attraktoren; die van-der-Polsche Gleichung

• Attraktoren sind Bereiche des Phasenraums, zu denen die Lö-sungskurven laufen; als Beispiel dafür besprechen wir die van-der-Polsche Gleichung

• der harmonische Oszillator mit geschwindigkeitsabhängiger Dämp-fung wird dadurch verändert, dass die Dämpfungskonstante vonder Amplitude abhängig gemacht wird,

x(t) + 2γ(x)x(t) + ω2x(t) = 0 (14.33)

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154 KAPITEL 14. STABILITÄT UND CHAOS

• die van-der-Polsche Gleichung erhält man für

γ(x) = −γ0

(1 −

x2

x20

), γ0 > 0 (14.34)

für x x0 wird der Oszillator angefacht, Energie wird in das Sy-stem gepumpt; für x x0 dagegen wird der Oszillator gedämpft;dies kann als Korrektur des Modells des harmonischen Oszillatorsmit Reibung aufgefasst werden, indem das System abhängig vomAusschlag an äußere Systeme angekoppelt wird

Auslenkung und Geschwindigkeit ei-nes Oszillators, der durch die van-der-Polsche Gleichung beschriebenwird

• als dimensionslose Variable führen wir τ := ωt und

q(τ) :=

√2γ0

ω

xx0

=:√ε

xx0

(14.35)

ein; damit kann die van-der-Polsche Gleichung in die Form

p + q − (ε − q2)p = 0 (14.36)

gebracht werden, wobei

p := q(τ) =dqdτ

(14.37)

definiert wurde

Bewegung des van-der-Polschen Os-zillators im Phasenraum aus ver-schiedenen Anfangszuständen hinzum Attraktor

• das Phasenportrait der van-der-Polschen Gleichung zeigt ihr At-traktorverhalten: abhängig von den Anfangsbedingungen (p, q)entwickeln sich die Lösungskurven zum Attraktor hin

14.2 Chaos in der Himmelsmechanik

14.2.1 Beispiel: Saturnmond Hyperion

• wir betrachten die Bewegung des asymmetrischen Mondes Hype-rion um den Planeten Saturn auf einer Ellipse mit der Exzentrizitätε; die Asymmetrie des Mondes werde dadurch modelliert, dass eraus zwei verschieden langen Hanteln zusammen gesetzt gedachtwird, an deren Enden jeweils Massenpunkte m sitzen

• die Längen der Hanteln seien d und e < d; die Hauptträgheitsmo-mente ergeben sich zu

Θ1 =m2

e2 , Θ2 =m2

d2 , Θ3 =m2

(d2 + e2) (14.38)

die 1-Achse ist entlang der kürzeren, die 2-Achse entlang derlängeren Hantel gerichtet, die 3-Achse steht auf beiden senkrecht

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14.2. CHAOS IN DER HIMMELSMECHANIK 155

• aufgrund der Asymmetrie Hyperions übt der Saturn auf die 2-Achse das Drehmoment

~M12 =~d2× ( ~F1 − ~F2) (14.39)

aus; dabei sind die ~Fi gegeben durch

~Fi = −GMm~ri

r3i

, ~r1,2 = ~r ±~d2

(14.40)

• offenbar gilt dann wegen d |~r|

r31,2 =

~r ± ~d

2

23/2

≈ r3[1 ±

3d2r

cosα]

(14.41)

wobei α der Winkel zwischen ~r und ~d ist

• die Kräfte ~F1,2 lauten also

~F1,2 = −GMm

r3

(1 ∓

3d2r

cosα) ~r +

~d2

(14.42)

und die Beträge der Kreuzprodukte sind∣∣∣∣∣∣∣ ~d2 × ~F1,2

∣∣∣∣∣∣∣ = −GMm

2r3

(1 ∓

3d2r

cosα)

dr sinα (14.43)

• daraus ergibt sich das Drehmoment

~M12 =3GM2r3 Θ2 sin 2α~e3 (14.44)

entsprechend erhält man für die darauf senkrecht stehende Hantel

~M34 = −3GM2r3 Θ1 sin 2α~e3 (14.45)

• die Drehimpulsänderung ist gleich dem gesamten Drehmoment,also folgt

Θ3φ =32

(2πτ

)2

(Θ2 − Θ1)(a

r

)3sin

[2(ϕ − φ)

](14.46)

wobei das 3. Keplersche Gesetz (4.42) benutzt wurde; φ ist derDrehwinkel der längeren Hantel bezüglich der Polarachse, sodassα = ϕ − φ gilt; sowohl r, φ und ϕ sind Funktionen der Zeit t

• wir kürzen noch ab, indem wir den relevanten Parameter

β :=

√3(Θ2 − Θ1)

Θ3(14.47)

einführen; damit lautet (14.46)

φ =β2

2

(2πτ

)2 (ar

)3sin

[2(ϕ − φ)

](14.48)

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156 KAPITEL 14. STABILITÄT UND CHAOS

Kreisbahn als Spezialfall

• für den Spezialfall der Kreisbahn ist r = konst. und außerdem

2πτ

= ω , ϕ = ωt (14.49)

damit vereinfacht sich (14.48) zu

φ = −β2

2ω2 sin

[2(φ − ωt)

](14.50)

woraus mit der Definition φ′ := φ − ωt folgt

φ′ = −β2

2ω2 sin 2φ′ (14.51)

Poincaré-Abbildungen für die Mars-monde Deimos (oben, ε = 0.0005,β = 0.81), Phobos (Mitte, ε = 0.015,β = 0.83) und den Saturnmond Hy-perion (unten, ε = 0.1, β = 0.89)

• nach Multiplikation mit φ′ lässt sich (14.51) ein Mal integrieren,

(φ′)2 =β2

2ω2 cos 2φ′ + C (14.52)

mit der Integrationskonstante C

14.2.2 Chaotisches Taumeln auf der Ellipsenbahn

• der asymmetrische Mond auf der elliptischen Bahn zeigt chaoti-sches Verhalten; um dieses sichtbar zu machen, benutzt man dieso genannte Poincaré-Abbildung: in festen Zeitabständen wird dieLage des Systems im Phasenraum dargestellt

• im Fall des Mondes auf seiner Umlaufbahn wählt man als fe-sten Zeitabstand die Umlaufperiode um den Saturn und gibt etwabei jedem Durchgang des Mondes durch sein Perisaturnion seineOrientierung θ sowie dessen Änderung θ an

• führt man dies für einige zufällig gewählte Anfangswerte θ0 undθ0 durch und betrachtet die Poincaré-Abbildung nach sehr vielenUmläufen, zeigt sich ein charakteristisches Bild: Bereichen, indenen geordnetes Verhalten auftritt, stehen Bereiche gegenüber, indenen sich die Position des Systems im Phasenraum von Umlaufzu Umlauf unkontrollierbar ändert: Der asymmetrische Mondtaumelt; die Abbildungen zeigen die Poincaré-Abbildungen fürdie Marsmonde Phobos und Deimos und für den SaturnmondHyperion